Buch zum Berlinale-Film
ORF Wien Kultur: „Tropa de Elite“
posted by KLAUS HART at 4:02 PM
Neuer Spielfilm „Tropa de Elite” macht in Brasilien Furore
Der sozialkritische Streifen über den Kampf der Polizei-Elitetruppe „BOPE” Rio de Janeiros gegen das organisierte Verbrechen ist nach Angaben des brasilianischen Nachrichtenmagazins „Veja” bereits der meistgesehenen und meistdiskutierte Film in der Geschichte des nationalen Kinos. Der von einem großen US-Verleih kommerzialisierte Streifen zeigt das widerspruchsvolle gesellschaftliche Universum brasilianischer Großstädte wie Rio, die dortigen Privilegiertenviertel und Slums im Vorfeld des Besuchs von Papst Johannes Paul dem Zweiten im Jahre 1997. Der Film bricht zahlreiche wohlgepflegte Tabus und weckt beim Publikum zwiespältigste Gefühle und Reaktionen. Ganz im Sinne der Autoren und Schauspieler.Â
Beim Drehen der Scheiterhaufen-Szene in der Favela ”Morro dos Prazeres von Rio waren laut Presseberichten Dutzende von Banditen, die Mpis, Pistolen und Handgranaten trugen, in der Nähe und schauten zu, gaben aus eigener Scheiterhaufen-Praxis Tips.Po, der Typ stirbt nicht so, der schreit viel mehr, sagte einer von ihnen zu den Schauspielern. Die hielten sich, wie es hieß, an die Anweisungen der Banditen, produzierten die Microondas-Szene exakt so. Scheiterhaufen dieser Art loderten bereits häufig in der Amtszeit von Rio de Janeiros Gouverneur Leonel Brizola, der Vizepräsident einer großen weltweiten Parteienassoziation war. Die Favela „Morro dos Prazeres” befindet sich unweit der weltberühmten Paradestraße des Karnevals, dem Sambodrome.
Laut Veja-Umfrage mochten 94 Prozent der Zuschauer den Film. 72 Prozent waren der Meinung, daß in dem Streifen die Banditen so behandelt wurden, wie sie es verdienen. 53 Prozent sehen die Hauptfigur, den Polizeioffizier Nascimento, als einen Helden an. Laut Veja ist 2007 unter Staatschef Lula die Gewalt erstmals Hauptsorge der Brasilianer. Für 59 Prozent ist fehlende Sicherheit ein größeres Problem als Arbeitslosigkeit oder niedrige Löhne.
Wer die konfliktreiche Sozialstruktur brasilianischer Millionenstädte einigermaßen kennt, fühlt sich oft wie in einem Dokumentarfilm “ alles scheint echt, nachvollziehbar, präzise und didaktisch geschildert. Denn der Streifen basiert auf dem Bestseller „Elite da Tropa” des renommierten brasilianischen Sozialwissenschaftlers Luis Eduardo Soares. Dieser war 2003 nur kurze Zeit Staatssekretär für Öffentliche Sicherheit in der Regierung von Staatschef Lula, wurde unter fadenscheinigen Vorwänden entfernt und warf Brasilia wiederholt vor, die gravierende Lage in den Slums, das „Inferno unseres alltäglichen Krieges”, wie er es ausdrückte, hinzunehmen. Da das Gesellschaftssystem kalt und berechnend sei, grausam mit den Verlierern, dazu hierarchisch, machistisch und autoritär, reproduzierten jene jungen Menschen der Verbrecherkommandos dieses System exakt so wie in der Gründerzeit des wilden, kolonialen Kapitalismus. Natürlich freut Soares der enorme Erfolg seines Buches “ und des Films: ”Ich bin deswegen perplex und glücklich “ denn Buch und Film zeigen unsere widersprüchliche Realität, doch auch die widersprüchlichen Erfahrungen der Brasilianer mit dem Thema Gewalt, alle extremen Standpunkte, die in unserer Gesellschaft existieren. Der Film verzichtet auf Vereinfachungen, Stereotype “ und deshalb ist bezeichnend, wenn man mir sagt: Der Streifen ist phantastisch, denn ich hasse diese Elitetruppe und liebe sie zugleich, fühle dasselbe auch gegenüber den Verbrechern im Film. Der Hauptheld Wagner Moura ist einfach spektakulär gut!”
Filmkritiker entsetzt, daß in Rio ein Mittelschichtspublikum im Kino jedesmal applaudiert, wenn BOPE-Offizier Nascimento Banditen tötet oder durch Folter aus gefangenen Kriminellen wichtige Informationen etwa über den Aufenthaltsort von Gangsterbossen herauspreßt.
Ist der Streifen gar faschistisch, wie ein Kritiker fragt, werden hier brutale Polizeigewalt und sogar Folter gerechtfertigt, verherrlicht? Jose Padilha, Regisseur von „Tropa de Elite”, weist dies scharf zurück. ”Auf meiner Werteskala ist Folter schlimmer als Korruption “ ich sehe nicht, daß dieser Film diese Polizei und deren Methoden glorifiziert.” Es sei notwendig, endlich einmal das Denken und Fühlen der Polizisten im permanent lebensgefährlichen Einsatz zu verstehen. Brasilianische Streifen über Gewalt zeigten stets nur die Perspektive des Verbrechers oder des Slumbewohners, während nordamerikanische, französische, italienische Filme durchaus Polizisten in den Vordergrund stellten. Laut Statistik werden in Brasilien täglich Polizeibeamte Opfer von Attentaten oder bei Schußwechseln mit Gangstern getötet, selbst in der Freizeit unerbittlich verfolgt.
„Tropa de Elite” verzichtet darauf, die von den Banditenkommandos auch zwecks Einschüchterung der Slumbewohner verwendeten Terrormethoden darzustellen. Eine übliche, seit Jahren alltägliche barbarische Tötungsart namens „Microondas”, Mikrowelle, wird indessen gezeigt. Hoch über Rio de Janeiro und weithin sichtbar werden Autoreifen über einen Mann gestapelt und dann mit Benzin angezündet.
Weder Kulturminister Gilberto Gil noch Tourismusministerin Marty Suplicy hatten sich bisher zur Frage der alltäglichen Scheiterhaufen Rios geäußert, die dem Image Brasiliens und dem Fremdenverkehr der Zuckerhutstadt immerhin erheblich schaden könnten. Interessanterweise bleiben auch sogenannte Menschenrechtsorganisationen bisher stumm.
Rio de Janeiro hat etwa die gleiche Einwohnerzahl wie der Karibikstaat Kuba, der auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung deutlich vor Brasilien rangiert.
Erstmals wird in „Tropa de Elite” zudem thematisiert, daß zweifelhafte regierungsunabhängige Organisationen in Slums fragwürdige Sozialprojekte betreiben, dabei mit Gangstersyndikaten kooperieren. Zu sehen ist, wie Universitätsstudenten eines solchen Projekts gemeinsam mit extrem grausamen Banditen harte Drogen konsumieren “ und sogar als Rauschgifthändler agieren. Der schwarze, aus der Unterschicht stammende Polizist Andre Matias studiert im Film gemeinsam mit diesen weißen Studenten. Als er sie in der Universität bei einer scheinheiligen Anti-Gewalt-Demonstration trifft, gehen ihm die Nerven durch, stellt er sie alle zur Rede, schlägt zu. Danach wird Polizist Matias ein Offizier jener Eliteeinheit „BOPE”, der zwar unbestechlich ist, doch nicht davor zurückschreckt, einen blutrünstigen, verwundet am Boden liegenden Verbrecherboß außergerichtlich zu exekutieren, der zuvor das lebendige Verbrennen eines Mannes ebenso befohlen hatte wie die Ermordung eines BOPE-Beamten.
Wochenzeitung „Freitag“: „Streichholz für die Mikrowelle“
Favelas in BrasilienSchweizer Birkhäuser – Verlag für Architektur
Basel – Boston – BerlinFavelaMetropolis
Elisabeth Blum
Peter Neitzke(Hg.)Favela-Kapitel
Menschenrechte und moderne Scheiterhaufen in Rio de Janeiro
posted by KLAUS HART at 3:43 PM
Scheiterhaufen-Szene aus Berlinale-Film „Tropa de Elite“
„Totquälen, zerstückeln, lebendig verbrennen”
Brasiliens populäre Gangsta-Raps verherrlichen sadistische Gewalt und die Verbrechersyndikate
Vor Lateinamerikas Leitbörse, vor Banken, Kirchen, Armee-und Polizeikasernen, dem Gouverneurspalast “ überall in der brasilianischen Megacity Sao Paulo wird die nationale Gangsta-Rap-Produktion seit den neunziger Jahren ganz offen und massenhaft von Straßenhändlern verkauft. Die CDs sind unter denen mit Samba, Sertaneja, Forrò oder Rock leicht zu erkennen, kosten umgerechnet keinen Euro. Auf den Covern prangen Totenköpfe, Leichen, das World Trade Center in Flammen, Zielfernrohr-MGs, Granaten, die Namen der Verbrecherorganisationen und ihrer Bosse, aber auch von Osama Bin Laden. Eine CD-Serie nennt sich „Taliban “ Park der Monster”. Die vorbeischlendernden Militärpolizisten, aber auch die theoretisch zuständigen Behörden für Jugendschutz wissen genau, daß es sich um verbotene, gesellschaftlich brisante Ware handelt. Doch niemand greift ein, für Europäer schwer nachvollziehbare Indifferenz dominiert.
Sao Paulo erlebte jetzt eine Serie von Terroranschlägen, die die drittgrößte Stadt der Welt mit ihren rund tausend deutschen Firmen zeitweise regelrecht lahmlegte. Über vierzig Polizisten, Feuerwehrleute und Gefängniswärter wurden erschossen; Banken, Geschäfte, Busse standen in Flammen. Nichts anderes hatte das „Erste Kommando der Hauptstadt”(Primeiro Comando da Capital), kurz PCC, Brasiliens führende Verbrecherorganisation, in seinen Gewalthymnen dem Staat seit Jahren angedroht, in Stadtguerillataktik bereits nadelstichartig praktiziert. PCC-Hits sind mit MG-Salven und Granatenexplosionen, Todes-und Schmerzenschreien untermalt. Die Botschaft ist in abgewandelter Form stets die gleiche: Unser Gegner ist der Staat, dessen Polizei “ unsere Feinde mähen wir nieder, quälen sie zu Tode, verbrennen sie lebendig. Zahlreiche Radios der rasch wachsenden Slumperipherie spielen die PCC-Songs sogar als Wunschmusik. Denn die Slums der brasilianischen Großstädte sind Hochburgen des organisierten Verbrechens, werden von ihm wie ein Parallelstaat neofeudal regiert.
Wer gewisse sozialromantische Vorstellungen über Brasilien kultiviert, könnte sie auf den Bailes Funk, gewalttätig-machistischen Rap-und HipHop-Massenfeten, verlieren. Denn dort singen nicht selten gleich Tausende von tanzenden jungen Leuten diese viehischen Hits lauthals und begeistert mit, identifizieren sich offen mit dem PCC. In den Hallenecken wird mit Kokain und Crack gedealt, der DJ bellt ein Rap-Stakkato mit finsterem Höllenecho in die Menge: „Vai dançar”. Du wirst tanzen, heißt es mechanisch-harmlos übersetzt. Doch jedermann verstehts im Slang-Sinne: Du wirst sterben, gekillt werden, Blei fressen. Tudo mundo vai dançar “ alle sind dran.
Der PCC veranstaltet einen Großteil der Bailes Funk in Sao Paulo und seinen Satellitenstädten, das populäre DJ-Duo „Renatinho e Alemao” komponiert und produziert einen Gangsta-Rap nach dem anderen. „Im Morgengrauen singt das MG, startet ein Kommando neue Aktionen”, heißt es. „Messer an die Kehle, Schuß ins Genick, Hochspannung, Terror, Kopf ab “ der Unterdrückte gegen die Unterdrückung.” Und immer wieder der PCC-Held Bin Laden in den Texten: ”Ich plane mit dem Kopf Aktionen nach Art Bin Ladens, zeige so meine Macht/ ich gehöre zur terroristischen Organisation, bin Terrorist, bin Taliban…” Kein Problem für das Duo, gelegentlich auch Chè Guevara, Saddam Hussein und Jesus Christus als PCC-Vorbilder in einem Rap zu bejubeln. Hohe Politiker, darunter der Gouverneur Sao Paulos, werden als Attentatsziele konkret genannt.
In Rio de Janeiro, Brasiliens zweitwichtigstem Wirtschaftszentrum, haben die beiden mächtigsten Gangstersyndikate „Comando Vermelho”(Rotes Kommando) und „Terceiro Comando”(Drittes Kommando), die mit dem PCC kooperieren, ebenfalls zahlreiche Rapper unter Vertrag. Was Slumbewohnern blüht, die sich dem Normendiktat der Banditenmilizen nicht beugen wollen, wird detailliert beschrieben: „Wir hacken den Kopf, die Beine, die Arme ab, wir töten und vierteilen “ wenn du dich nicht an die Regeln hältst, machen wir dich zu gerösteten Grillhuhnstückchen…” Erst kürzlich hatte Brasiliens Grünen-Abgeordneter Fernando Gabeira, der einst als Diktaturgegner Jahre im Westberliner Exil zubrachte, auf Felsenhöhlen Rio de Janeiros verwiesen, in denen Mißliebige zur Einschüchterung lebendig verbrannt werden. Eine schwarze Menschenrechtsanwältin kennt einen Zeugen, dem zufolge inmitten von Bailes Funk Jugendliche Rios den Feuertod starben. Fotos verkohlter Opfer veröffentlichen die Horror-und Crime-Blätter beinahe täglich. Gruppen junger Männer haben nach Bailes Funk wiederholt Bettler verbrannt.
In zahlreichen Raps stellen die Gangstersyndikate ihre Waffen vor: Das deutsche G 3 von Heckler und Koch, die israelische Uzi, das schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehr, die österreichische Glock-Pistole, das nordamerikanische M-16-MG, schwedische Bazookas zum Abschießen von Helikoptern, Handgranaten aus Argentinien…
Auch im populären „Rap da Bandida” wird als vergnüglich beschrieben, Leute aus gegnerischen Syndikaten oder Polizisten mit Mpi-Salven zu durchsieben, sie aufzuhängen, zu köpfen. Am Schluß heißt es:”Ich bin Rauschgifthändler und Straßenräuber, mache massenhaft Entführungen, ich will dich an meiner Seite, Banditin von guter Rasse.” Gelegentlich richtet sich der Rap direkt an potentielle Verbrechensopfer, beschreibt gar die häufigen Überfälle auf Autofahrer:”Laß die Hände am Lenkrad, schau mich nicht an, rühr dich nicht/ los, raus aus dem Wagen, her mit dem Audi, Civic, Citroen und Corolla/ willst du flüchten, kriegst du sofort die Kugel/ das ist der Terror der Nordzone Rios, hier ist Bagdad, ganz im Stile Osama Bin Ladens…” In Brasilien werden jährlich mehr als fünfzigtausend Menschen getötet, selbst laut UNO-Angaben weit mehr als im Irakkrieg.
Sozialwissenschaftler und Psychologen analysieren regelmäßig neue populäre Gangsta-Raps, die Faszination von deren Texten gerade auf junge Menschen. „Da das Gesellschaftssystem kalt und berechnend ist, grausam mit den Verlierern, dazu hierarchisch, machistisch und autoritär”, so der Anthropologe Luiz Eduardo Soares, „reproduzieren jene Jungen, die beim Verbrechen mitmachen, dieses System exakt so wie in der Gründerzeit des wilden, kolonialen Kapitalismus.” Ihre Gewalthymnen dokumentierten das „Inferno unseres alltäglichen Krieges”, die Spaltung der Gesellschaft, die perversen Sozialkontraste. Jene auch in Deutschland systematisch gepflegten Brasilienklischees sollen all dies verdecken. Arnaldo Jabor, Schriftsteller, Filmemacher und dazu Brasiliens bekanntester TV-und Zeitungskommentator:”Auf den Bailes Funk pulsiert ein brutaler Strom des Wollens, der Lust “ die Gewalt als Hunger nach Ausdruck, das Töten als Erleichterung und Trost nach Erniedrigungen. Eine Normalität des Mordens entsteht, bar jeder Schuld und Sünde. Die Masse der Unglücklichen wächst jeden Tag, wir können sie nicht mehr ignorieren. Die Peripherie wird zur Avantgarde der Verhaltensnormen. Unsere hübschen Sozialprojektchen “ wie sind die doch lächerlich. Eine Lösung? Zu spät, vorbei…”
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