Die UNESCO hat empfohlen, sich beim Wiederaufbau der Städte Afghanistans auch am positiven Beispiel der südbrasilianischen Großstadt Curitiba zu orientieren. Denn seit den neunziger Jahren ist Curitiba  weltbekannt geworden durch intelligente urbanistische, architektonische Projekte und Problemlösungen.
Curitiba hat rund zwei Millionen Einwohner, darunter besonders viele Nachfahren europäischer Einwanderer. Curitiba ist Brasiliens Großstadt mit der höchsten Lebensqualität und der besten Administration, gewann deshalb auch zahlreiche internationale Preise.Die grandiosen Wasserfälle von Foz de Iguaçu sind weltbekannte Hauptattraktion des südbrasilianischen Teilstaates Paranà . Gleich danach folgt Curitiba, kosmopolitische Musterstadt der brasilianischen Föderation. Wer das urbane Chaos, die Gewaltkriminalität von Rio oder Sao Paulo kennt, wird in Curitiba angenehm überrascht. Der öffentliche Nahverkehr funktioniert reibungslos. Die Haltestellen sind überdimensionale Röhren aus Stahl und Glas, in denen man nur wenige Minuten auf den nächsten Schnellbus wartet. Im berühmten Traditionscafe „Damasio” der City trinkt der Immobilienmakler Francisco Lages einen Espresso – Stimmengewirr, Tassengeklapper. ”Curitiba hat sich seit den achtziger Jahren geradezu stürmisch entwickelt, ist sehr rasch gewachsen. Diese Stadt ist modern, angenehm, relativ sicher – und zudem die sauberste von ganz Brasilien. Ich kann vergleichen, denn ich stamme aus Rio de Janeiro. Das Cafe hier steht in Brasiliens erster Fußgängerzone – auch darin war Curitiba den anderen Städten Vorbild. Leider regnets hier viel, wird es im Winter ziemlich kalt.” Immobilienmakler Lages kommt täglich zu dieser Stelle im Stadtzentrum, die sich Boca Maldita, Lästermaul nennt. ”Hier treffen sich die Männer, stehen in Gruppen und diskutieren über Politik. Unternehmer bereden hier ihre Geschäfte. Hier zieht man über die Regierung her, und auch über die Frauen. Denn die Boca maldita ist ein machistischer Ort. Nur hier erfährt man, was in Curitiba wirklich vorgeht.” Arlindo Zipf ist der erste Herrenschneider am Platze und hat österreichische Vorfahren. ”So eine Tribüne der freien Meinungsäußerung wie die Boca Maldita gibt es nirgendwo sonst in Brasilien. In Curitiba stehen sich alle Einwanderer gut.”Den Espresso servieren einem freundliche Garconetes wie Elvira Sendas:”Die Boca Maldita ist das Herz von Curitiba, der Ort aller öffentlichen Proteste, auch der Studenten. Der Präfekt und selbst der Gouverneur von Paranà kommen jede Woche, trinken einen Espresso, diskutieren mit den Leuten. Dann stehen vor unserem Cafe richtig die Massen.”Gouverneur Roberto Requiao startete in Paranà die erste Kampagne zur Volksentwaffnung, ließ legal oder illegal erworbene Waffen der Bürger einsammeln und zerstören. Dafür zeichnete ihn die UNESCO aus. Alle anderen Teilstaaten folgten seinem Beispiel – immerhin werden in Brasilien jährlich über fünfzigtausend Menschen ermordet. Curitiba ist nach Sao Paulo Brasiliens zweitwichtigster Standort der Autoindustrie, hier produzieren auch Volkswagen und Siemens. Die historische Altstadt ist das Werk deutscher Einwanderer, die Curitiba seit 1833 deutlich mitprägten. Hier steht Brasiliens älteste Universität, hier wird jährlich das größte nationale Theaterfestival veranstaltet. In erstaunlich vielen gemütlichen Kneipen und Restaurants ertönt nachts Livemusik – denn wer Künstler engagiert, wird von der Präfektur mit Steuererleichterungen belohnt. Nicht wenige Brasilianer beklagen, daß die vielen originellen Ideen Curitibas im Rest des Landes kaum Nachahmer finden.
Rio de Janeiro, Sao Paulo, der Norden und Nordosten Brasiliens machen täglich in der Presse des Tropenlandes Negativschlagzeilen – Skandale und Katastrophen jeder Art, Gewaltkriminalität, Blutbäder in den riesigen Slums. Der deutschstämmig geprägte Süden ist davon ausgenommen, gilt als die am humansten entwickelte Region, mit dem höchsten Zivilisationsgrad, der niedrigsten Arbeitslosigkeit. Werden alljährlich die am vorbildlichsten und sozialsten verwalteten Städte und Gemeinden ganz Brasiliens gekürt, liegen die Bestplazierten gewöhnlich tief im Süden.
Jetzt ist es Sao Jose do Hortencio im Teilstaate Rio Grande do Sul, nur sechzig Kilometer von Porto Alegre, der Stadt des Weltsozialforums, entfernt.
Es ist ein ruhiger, gepflegter Ort mit rund viertausend Einwohnern, schönen Einfamilienhäusern und Gärten, vielen Bäumen in leicht hügeliger Landschaft. Anibaldo Petry, 67, haben die Leute nun schon zum dritten Mal zu ihrem Bürgermeister gewählt, weil er seine Sache offenbar gut macht.
”Wir haben hier keine Reichen, aber wir haben auch keine Armen, keinen Slum, keine Elendsperipherie – sowas gibts hier nicht. Arbeitslosigkeit fehlt auch, jeder hat seinen Beruf – das ist uns ganz wichtig. Deshalb sieht man tagsüber auch kaum Leute auf der Straße, hängt keiner herum. Denn wir haben eine Leder-und eine Schuhfabrik, eine kleine Möbelfabrik und ein Unternehmen für Betonteile. Der Rest arbeitet in der Landwirtschaft oder im Handel. So gut wie alle Kinder sind in der Schule, die wir ordentlich ausgestattet haben. Ein Minihospital mit Ãrzten gibts auch. Kriminalität? Ich glaube, vor vier, fünf Jahren ist mal eine kleinere Sache passiert, für die Polizei gibts hier nichts zu tun.”
Natürlich ist Bürgermeister Petry stolz auf die Auszeichnung – das kleine, unbekannte Sao José do Hortencio auf einmal in den großen Zeitungen, im Fernsehen. Stolz überhaupt auf den „Sul maravilhoso”, den wunderbaren Süden, wie man in Brasilien sagt. Das hochverschuldete Tropenland hat rund 185 Millionen Einwohner und 26 Teilstaaten. Doch der südlichste, Rio Grande do Sul, mit rund zehn Millionen Einwohnern, ist auch dieses Jahr wieder einsame Spitze. Unter den zehn bestadministrierten Städten und Gemeinden sind gleich drei aus Rio Grande do Sul, unter den einhundert besten sogar 39. Bürgermeister Petry:
”Was hat uns geholfen, auf diesen ersten Platz zu kommen? Ich meine, das liegt vor allem daran, wie wir planen und wie wir uns mit den Einwohnern abstimmen. Es wird nicht mehr ausgegeben, als in der Gemeindekasse ist. Die Leute wollen, daß wir sparsam wirtschaften. Anderswo sind die Präfekturen aufgebläht, voller Leute – bei uns nicht. Nur 29 Prozent der Haushaltsmittel geben wir für Löhne und Gehälter aus. Jedes Jahr fragen wir auf Gemeindeversammlungen, was verbessert werden soll. Würde es zu teuer, sage ich nein. Wir haben eine Sporthalle gebaut, aber alle Straßen zu asphaltieren, wie viele wollen, das geht noch nicht.”
Daß die Gemeinde so gut da steht, so betonen die Landesmedien, habe damit zu tun, daß 95 Prozent der Einwohner Deutschstämmige seien, mit traditionell hohem Gemeinschaftssinn, Modernisierungsmentalität, diszipliniert, verläßlich, fleißig. Bürgermeister Petry zögert ein bißchen, das zu bestätigen, will wohl nichts politisch Unkorrektes sagen. ”1828 kamen die ersten Deutschen hierher – und seitdem wird eben hier anders gearbeitet, ist es ein anderes System als anderswo, das hilft uns eben mächtig. Aber oft machen wir auch Fehler, wer macht die nicht!” Die sogenannten deutschen Tugenden, zuhause von Deppen gewöhnlich lächerlich gemacht – im soziokulturell und wirtschaftlich weithin chaotischen Lateinamerika mit seinen zahlreichen hausgemachten Problemen, werden sie einem permanent positiv angekreidet. Bei Deutschen, in deutschen Betrieben habe man erst richtig arbeiten gelernt, kommentieren Einheimische ungefragt immer wieder.
Wie infantil und ineffizient nicht wenige brasilianische Betriebe strukturiert sind, kann sich in Deutschland gewöhnlich kaum jemand vorstellen. In staatlichen Unternehmen werden nicht selten viele extrem unqualifizierte, dazu unkollegiale und frauenfeindliche, das Arbeitsklima vergiftende, die Produktivität senkende Leute geduldet, so daß qualifizierte Mitarbeiter die von ihnen im Grunde überhaupt nicht gewollte Privatisierung letztlich regelrecht herbeiwünschen.
„Man liebt uns nicht gerade, aber respektiert uns”, bekennt ein deutscher Konsul. Das Oktoberfest nach Münchner Vorbild, zuerst im südbrasilianischen Blumenau veranstaltet, fand ungezählte Nachahmer, ist heute gleich nach dem Karneval das landesweit beliebteste, größte Volksvergnügen – selbst Indianer mögen es, tragen Blumenau-Oktoberfest-T-Shirts dann in Amazonien. Die Wertschätzung für große deutsche Persönlichkeiten geht soweit, daß nicht-deutschstämmige Brasilianer, Argentinier, Chilenen ihren Kindern bis heute amtlich registrierte Vornamen wie Goethe, Schiller, Mozart, Beethoven und sogar Beckenbauer und Rummenigge geben. Indessen – manche Schwarze und Weiße heißen Hitler, Himmler oder Rommel. In Brasilien leben gemäß Schätzungen rund sechs Millionen Deutschstämmige und Deutsche(etwa die Hälfte davon in Rio Grande do Sul), in Argentinien etwa 1,2 Millionen, in Mexiko weniger als dreißigtausend.
Und dann erinnert sich Bürgermeister Petry aus Sao José do Hortencio an seine deutschen Vorfahren, schwärmt von den Gemeindefesten mit deutschen Tänzen, deutschen Liedern, spricht auf einmal Hunsrücker Dialekt, wie man ihn häufig in Südbrasilien antrifft. ”Mir spreche, wie ich jetzt spreche, ne, so tun mir spreche. Und so sind viele ältre Leut hier, wo nicht portugiesisch könnt spreche…”
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