Viele Europäer empfinden die Brasilianer, überhaupt die Lateinamerikaner, als bewunderns-und beneidenswert glücklich. Eine neuere brasilianische Meinungsumfrage bekräftigt diesen Eindruck. Nimmt man für bare Münze, heißt es in der Studie, was die Brasilianer über sich selbst sagen, dann leben sie in einem Land der Glücklichen, hat dort die „Felicidade” die letzten zehn Jahre gar um elf Prozent zugenommen.
Dilma Rousseff 2016 – Bischof Erwin Kräutler und die “Zivildiktatur” in Brasilien. Hintergrundtexte, Fotos:
Nicht wenige brasilianische Fachleute, darunter Psychologen und Therapeuten, halten indessen diese und ähnliche Umfragen zum Thema Glück angesichts der gravierenden sozialen Probleme für unglaubwürdig, sprechen zudem von einem sehr verengten, widersprüchlichen und fatalistischen Glücksbegriff in dem Tropenland. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut Datafolha in Sao Paulo scheint mit der Studie zahlreiche Brasilienklischees vollauf zu bestätigen. Denn immerhin 76 Prozent der rund 185 Millionen Brasilianer bezeichnen sich als glücklich, weitere 22 Prozent als mehr oder weniger glücklich und nur zwei Prozent als unglücklich. Bei den Anhängern der rasch wachsenden evangelikalen Wunderheilerkirchen ist die Glückseligkeit offenbar am allergrößten – nannten sich gar 83 Prozent „feliz”. Stutzig und skeptisch macht indessen, daß nur 28 Prozent der Befragten die anderen Landsleute, also Nachbarn, Bekannte, Freunde, ganz allgemein den Brasilianer, als glücklich einschätzten. Der 35-jährige Luiz Alves beispielsweise haust provisorisch in einer extrem gewaltgeprägten Slumregion der Megacity Sao Paulo, macht schwere, schlechtbezahlte Gelegenheitsarbeit, mußte Frau und Kinder mehrere tausend Kilometer entfernt in einem Elendsviertel des Nordostens zurücklassen und kann sie höchstens ein bis zweimal im Jahr besuchen. Wie fühlt er sich? ”Ich bin mit Sicherheit sehr glücklich. Zwar zähle ich zu denen mit wenig Einkommen, doch ich bin gesund, daher gegenüber anderen direkt privilegiert und deshalb sehr glücklich. Dafür danke ich jeden Tag meinem guten Gott.”Sonia Ramos, vierzig, lebt ebenfalls an der Slumperipherie, hat einen kleinen Sohn. Sie und ihr Mann gingen nur wenige Jahre zur Schule, haben keinerlei Berufsausbildung, machen Gelegenheitsarbeit und gehören ebenso wie Luiz Alves zur armen Bevölkerungsmehrheit. Nennt sich die strenggläubige Sonia Ramos deshalb unglücklich? ”Ich lebe in Frieden, habe die Familie, Gesundheit, und ich habe Gott. In Brasilien ist die Lage schlecht, doch trotz aller Probleme, trotz Gewalt und Arbeitslosigkeit bin ich glücklich.”Psychologen bezweifeln, daß solche Aussagen ehrlich sind, manche empfehlen gar, den Zahlen der Glücksumfrage keinen Glauben zu schenken. Denn Brasilien zählt jährlich über fünfzigtausend Gewalttote, das Hungerproblem ist längst nicht ausgetilgt. Auch die Kirche beklagt fehlende Solidarität in der Gesellschaft. Die renommierte Therapeutin und Buchautorin Anna Veronika Mautner aus Sao Paulo weist auf einen verengten Glücksbegriff im soziokulturellen Kontext Brasiliens. Ihr Urteil über die jüngste Umfrage ist vernichtend. ”Das ist dummes Zeug, das sind Dummheiten. Glück hat zu tun mit Genuß und Zukunftsaussichten. Wenn ich meine Zukunft nicht kenne, fühle ich Unsicherheit. Doch wir in Brasilien wissen nie, wie sich die Organisation der Gesellschaft gestaltet, man hat hier als Person keine Autonomie. Heute ist heute, morgen ist morgen. So gesehen, sind wir nicht verantwortlich für die eigene Zukunft – und können deshalb glücklich sein, falls uns nicht gerade körperliche Schmerzen plagen. Das Potential zum Glücklichsein haben wohl alle hier. Aber diese Fähigkeit auch wirklich auszuleben, ist natürlich etwas ganz anderes. Und fragt mich jemand, ob ich glücklich bin – wieso muß ich dem die Wahrheit sagen?”
Studenten an der Bundesuniversität von Sao Paulo halten die neue Glücksumfrage ebenfalls für unglaubwürdig. Zudem herrsche in Brasilien ein regelrechter sozialer Druck, glücklich zu wirken, persönliche Probleme nicht zu zeigen. Philosophiestudent Danilo Mendes Frei: ”Die Leute sagen tatsächlich, sie seien glücklich, werden selbst in Unglück und Elend immer antworten “ alles okay. Doch echtes, wahres Glück ist natürlich etwas ganz anderes. Bei diesen sozialen Kontrasten trifft man sehr häufig unglückliche Menschen. Will man wissen, wie es den Brasilianern wirklich geht, muß man deren Lebensverhältnisse konkret studieren. Brasilianische Fröhlichkeit verkaufen wir ja sogar im Ausland als nationalen Charakterzug “ das gehört zur Tourismuswerbung, obwohl es eine Lüge ist.”
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Wie funktioniert sozialpsychologisch Karneval in einer Scheiterhaufenstadt, die von täglichen Schießereien, Feuergefechten, zahlreichen Morden und No-Go-Areas geprägt ist? Auf der Berlinale wird im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag „Tropa de Elite” erstmals auch eine u.a. zur Einschüchterung der Slumbewohner übliche barbarische Tötungsart, der Scheiterhaufen aus aufgestapelten Autoreifen, genannt „Microondas”, Mikrowelle, gezeigt.
Beim Drehen der Szene in der Favela ”Morro dos Prazeres“ waren laut Presseberichten Dutzende von Banditen, die Mpis, Pistolen und Handgranaten trugen, in der Nähe und schauten zu, gaben aus eigener Scheiterhaufen-Praxis Tips. „Po, der Typ stirbt nicht so, der schreit viel mehr“, sagte einer von ihnen zu den Schauspielern. Die hielten sich, wie es hieß, an die Anweisungen der Banditen, produzierten die Microondas-Szene exakt so. Scheiterhaufen dieser Art loderten bereits häufig in der Amtszeit von Rio de Janeiros Gouverneur Leonel Brizola, der Vizepräsident einer großen weltweiten Parteienassoziation war. Die Favela „Morro dos Prazeres” befindet sich unweit der weltberühmten Paradestraße des Karnevals, dem Sambodrome.
Mancher Zuschauer in Berlin dürfte sich fragen, wie mittelalterliche Scheiterhaufen und ein weltberühmter Karneval in derselben Stadt möglich sind. In Sao Paulo berichteten Augenzeugen, daß in den achtziger und neunziger Jahren bei einer der berühmtesten Sambaschulen der Megacity auf beinahe jeder öffentlichen Vor-Karnevals-Probe im Getümmel Menschen erschossen wurden. Wie es hieß, wurden die Leichen weggeschleift – und das Sambafest ging weiter, ohne Unterbrechung.
Der aus Rio de Janeiro stammende renommierte Therapeut und Kolumnist Jorge Forbes erläuterte entsprechende soziokulturellen Besonderheiten des Tropenlandes im Website-Exklusivinterview und kritisierte dabei auch den Rio-Karneval. „In unserem Land geschehen viele Tragödien, viele schockierende soziale, wirtschaftliche Desaster. Die Brasilianer müßten jedesmal innehalten, und sich einfach sagen: Schluß mit dem Lachen. Doch damit haben Brasilianer im allgemeinen große Probleme – sie sind Selbstbesinnung, Selbstbeobachtung und eben dieses Innehalten nicht gewöhnt. Als ob sie fürchten, an Kreativität, an Lebenslust zu verlieren. Oder gar in eine ausweglose Depression zu verfallen.”
–Flugzeugunglück und Lachen–
Therapeut Forbes bezog sich u.a. auf das letzte große Flugzeugunglück von Sao Paulo, bei dem rund zweihundert Menschen größtenteils in den Flammen eines Airbus umgekommen waren. Von solchen Geschehnissen wolle sich der Brasilianer so rasch wie möglich entfernen, tue dies indessen auf krankhafte Art. Daß direkt am Schauplatz der Flugzeugkatastrophe lachende Menschen waren, Regierungsfunktionäre minutenlang lachten, zudem obszöne Gesten machten, nennt Therapeut Jorge Forbes ebenfalls manisch, krankhaft. Brasiliens Nachrichtenmagazin „Veja” veröffentlichte Fotos von hohen Funktionären der staatlichen Luftaufsichtsbehörde Infraero, die am Unglücksort auf den brennenden Airbus zeigen, irgendeine Bemerkung machen und dann etwa fünf Minuten lang lachen. Auch über die Scheiterhaufen von Rio werden immer wieder Witze gerissen.
”Ich wünschte mir, die Brasilianer würden anders reagieren. Denn daß wir nicht mit Schmerz, mit Schwäche und eigener Zerbrechlichkeit umgehen können, kommt uns teuer zu stehen. Wer die nötige Trauerarbeit nicht leistet, wird nur zu häufig krank, psychisch gestört oder eben gefühlskalt. Hier zeigen sich auch Entsolidarisierung und Individualismus in einer immer egoistischeren Welt. Man schaue sich nur den Karneval von Rio an – er ist nicht mehr Ausdruck der Fröhlichkeit unseres Volkes, sondern eher ein Festival kollektiver Entfremdung, von Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit. Auf Regierungen können wir nicht mehr hoffen, die Zivilgesellschaft muß sich organisieren, jeder von uns muß Verantwortung übernehmen. Die brasilianischen Eliten schotten sich in ihren Privilegiertenghettos, ihren Privatstraßen ab, hinter Stacheldrahtverhauen unter Strom. Wenn man den anderen nicht mehr als potentiellen Freund, sondern potentiellen Feind ansieht, führt dies zu paranoiden Sozialbeziehungen, führt in die Katastrophe.”
Brasilianische Sozialwissenschaftler sowie bekannte Kommentaristen betonen seit Jahren, daß die Auslandspropaganda nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen das Karnevalsklischee weiterhin fördert. Das Klischeebild Brasiliens als Land von Samba, Karneval, Fußball, unbändiger Lebensfreude und Rassendemokratie sei kurioserweise von Diktator Getulio Vargas, einem Hitlerverehrer und Judenhasser, in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts produziert worden. Diogo Mainardo, provokanter Kolumnist des führenden Nachrichtenmagazins „Veja”, formuliert es so:”D e r Brasilianer existiert gar nicht, ist eine Täuschung, eine Lüge. Wer den Typus des Brasilianers erfunden hat, war die Getulio-Dikatur. Die erfand eine Rasse, glorifizierte die Mischung zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern “ Frucht einer kollektiven Vergewaltigung. Erfunden wurden Mythen, der Fußball, der Karneval, die Populärmusik. Die Getulio-Diktatur erfand d e n Brasilianer, um ihn besser beherrschen zu können.” Mussolinis Italien, aber auch Hitlers Deutschland seien hier vorbeigekommen, es habe ein „ambiente goebbeliano” gegeben. „Der Unterschied ist, daß sich Italien und Deutschland von jenem sechzig Jahre zurückliegenden totalitären Diskurs befreit haben. In Brasilien wird er gleich fortgesetzt, werden Ideen von 1930 wiedergekäut. Die großen Namen unserer Intelligentsia und unserer Kultur sind jene alten Kollaborateure der Getulio-Diktatur, die mitgeholfen haben, jenes Image vom Brasilianer zu schmieden.” Diogo Mainardo von „Veja” nennt den in Europa mit Lob und Hudel bedachten Architekten Oscar Niemeyer, aber auch Namen wie den Brasilia-Entwerfer Lucio Costa, ferner Gilberto Freyre und Vinicius de Morais.
Hintergrundtext von 2003:
Fliegende Brandbomben überm Airport
Brasiliens Feuerballon-Freaks riskieren mit ihrem Irrsinnsleidenschaft bewußt-fahrlässig sogar Flugzeugabstürze
Wilson Costa sitzt auf seinem Copacabana-Balkon, säuft ein Zuckerrohrschnäpschen, genießt die erfrischende Abendbrise – da kracht vor ihm ein zwanzig Meter hoher Feuerballon in den völlig ausgetrockneten Hangwald. Silvesterraketen, Böller aller Art explodieren, in Minuten lodern Flammen. Er rennt zum Telefon, alarmiert die Feuerwehr. Weil die sich wie üblich sehr viel Zeit nimmt, greifen solange Costa und die anderen Nachbarn der Rua Santa Clara zu Schlauch und Eimer, richten jedoch kaum etwas aus. Vorne an der Strandavenida ruft alles Ah und Oh, die Touristenmeile hat eine Zusatzattraktion, wenigstens sind es keine Banditenschießereien der Hangslums. Doch was da brennt, ist Naturschutzgebiet mit seltenen, vom Aussterben bedrohten Löwenäffchen, Stinktieren, Fledermäusen, richtigen Vampiren und einer Unzahl brütender Vögel. Tags darauf sind Costa und die Nachbarn verärgert, bedrückt. Das Feuer machte den meisten Tieren den Garaus, die putzigen Äffchen kommen nicht mehr an die Garagen, um sich mit Bananen füttern zu lassen; Jungtiere, Jungvögel verkohlten, zerfielen zu Asche. ”Alles wegen dieser beknackten, verantwortungslosen Ballonfreaks, an denen alle Aufklärungskampagnen abprallen!, schimpft Anwalt Andrè Amorim. Es hätte schlimmer kommen können – mit Mühe und Not gelingt den Feuerwehrleuten, die Flammenwand vor einem nahen Slum zu stoppen; Tausende hätten ihre armseligen Behausungen verloren. Ein wunderschöner Juliabend, Vollmond – ich gehe wie viele Cariocas auf der Promenade direkt unterm Zuckerhut spazieren, schaue auf die Baia da Guanabara. Gelächter, lautes Stimmengewirr aus der offenen Bar ”Garota da Urca, Fußballfans debattieren davor mit dem Bierbecher in der Hand, Angler schauen konzentriert ins Dunkel, wild knutschende Pärchen auf der Mauer vorm Penthaus von Superstar Roberto Carlos. Gegenüber düst eine vollbesetzte Boeing auf Rios Santos-Dumont-Airport zu, das passiert alle paar Minuten. Doch von links aus Richtung Zuckerhut taucht plötzlich fliegender Feuerzauber auf, droht dem Jet in die Quere zu kommen. Von meinem Standort aus scheint eine Kollision fast unabänderlich. Doch der Pilot drückt die Boeing zügig nach unten, landet sicher, nur Sekunden später schlägt der ”Balao de Fogo“ neben der Startbahn auf, verglüht, Feuer lodern noch mindestens eine Viertelstunde. Ob die Airportfeuerwehr eingriff, kann ich nicht erkennen. Bei stärkerem Wind wäre in dieser Nacht ein Zusammenstoß dringewesen – seit Jahren Horrorvision in den Cockpits. Denn so ein bis zu sechzig Meter hoher Feuerballon wiegt eine halbe Tonne und schießt, wenn er Rio überfliegt, nicht selten an die einhundertünfzig Kilo Feuerwerksraketen ab. Toll sieht das aus, ein Meisterstück – anfangs bin ich ebenfalls begeistert, klatsche Beifall, finde das Schauspiel klasse, rufe mit den anderen ”Olhai!, mache Passanten auf das Himmelsspektakel aufmerksam. Doch dann attackieren mich Berufspiloten:Was meinst Du denn, was passiert, wenn ein vollbesetzter Lufthansa-Langstrecken-Airbus beim Landeanflug auf so einen Ballon trifft? Ein Wunder, daß noch keine Katastrophe geschah! Denn wegen der niedrigen Anfluggeschwindigkeit sind abrupte Ausweichmanöver nicht mehr drin. Da wird mir mulmig, schließlich sitze ich regelmäßig in solchen Fliegern. Der Experte von der Luftraumüberwachung des Internationalen Airports auf der Ilha do Governador ist genauso schwer beunruhigt und empört wie die Piloten, erklärts mir genau:Das Aufschlagsgewicht eines mittleren Ballons läge bei mindestens dreißig Tonnen. Wenn so ein oft in den Wolken versteckter Balao de Fogo mit seinen Feuerwerkskörpern und Gasbehältern die Maschine streift, gar in eine Turbine gerät – was dann geschieht, kann sich jeder leicht ausmalen. Das Dumme – die Ballons sind mit Radar nicht zu orten. Schon 1996 stürzen über zwanzig dieser ”fliegenden Brandbomben direkt aufs Airport-Gelände, im Jahr darauf bereits über hundert. An Feiertagen starten die Ballonfreaks besonders gerne ihre gefährlichen Dinger. So gehen allein am Muttertag 1998 gleich zwanzig Ballons zwischen Düsenjets aller Größen herunter, es brennt überall, die Feuerwehr hat voll zu tun, Schläuchegewirr auf den Pisten, überall Löschwasserströme. Ein ausländischer Pilot bricht den Start ab, tritt hart auf die Bremsen, als vor ihm so ein Riesending auftaucht, ruft den Tower an:Was ist denn hier los, sowas habe ich noch nie gesehen! Den Passagieren hinter ihm ist ebenfalls überhaupt nicht wohl. Mitte der Neunziger fordern Swissair, Lufthansa und andere Linien Brasiliens Behördern erstmals auf, zwecks Vermeidung von Flugzeugkatastrophen endlich wie vorgeschrieben, gegen die Ballonstarter vorzugehen. Die IATA weist alle angeschlossenen Airlines auf die auch über Sao Paulo und Belo Horizonte genauso drohende Gefahr hin. Denn die ist real – 1995 wird ein argentinischer Jet über Sao Paulo von einem Ballon gestreift, gottseidank geht das glimpflich aus. Einige Gesellschaften wollen daraufhin ihre Flüge in die Zuckerhutmetropole sogar stoppen, lassen sich jedoch von den brasilianischen Autoritäten beschwatzen, davon abbringen. Wie üblich, siehe Menschenrechte oder Amazonasvernichtung, wird nicht Wort gehalten. 1998 etwa schweben mehr Feuerballons als je zuvor im Luftraum, zwingen Piloten zu jähen Kursänderungen. Ich höre es von Nachbarn, Freunden, kriege es mit eigenen Augen mit – selbst Volksfeste, Einweihungen und natürlich die Fußballweltmeisterschaft sind willkommene Anlässe, um die farbenprächtigen Kunstwerke aufsteigen zu lassen. Brigadegeneral Mauro Gandra, Präsident des Syndikats der nationalen Fluggesellschaften spielt erneut den Rufer in der Wüste, warnt vor ”bisher unbekannten Katastrophen der Zivilluftfahrt über den Großstädten, erläutert die Wirkung aufprallender Ballon-Gasbehälter. Auf dem Airport kann man jene dreiunddreißig speziell ausgebildeten Feuerwehrleute beobachten, wie sie rund um die Uhr damit beschäftigt sind, anfliegende Ballons per Fernglas zu erkennen, mühselig mittels Stangen und Hochdruck-Wasserstrahlen möglichst von Pisten und Treibstofftanks fernzuhalten – was offensichtlich selten gelingt – wie am Muttertag. Unweit des Airports stehen Großraffinerien – deren Ballon-Warntrupps konnten bisher eine Katastrophe verhindern, Feuer aber nicht. Allein in Brasiliens Festmonat Juni stürzen schließlich pro Tag drei fliegende Brandbomben aufs Werksgelände. Garnicht weit von der Airport-Insel Ilha do Governador liegt das kleine idyllische Eiland Paqueta – wäre ich an einem wunderschönen Sonntag erst mit dem letzten Dampfer in die Stadt zurückgefahren, hätte mich wohl eine besonders fulminante Explosion halbwegs erwischt. Denn offenbar ist es ein Balao de Fogo, der in der Baia da Guanabara aufs größte Munitionslager der Kriegsmarine fällt, eine Kettenreaktion auslöst, die mehrere Tage andauert. Ein Depot nach dem anderen fliegt in die Luft, sogar mit Napalm, mit Exocet-Raketen, nahebei auf den Ausflugsdampfern geraten die Leute nicht nur wegen des enormen Feuerscheins, des unaufhörlichen Krachens, sondern auch wegen der Druckwellen in Panik, die jedes Schiff hin-und herwedeln. Ich sitze schon im Stadtteil Lapa auf dem Balkon, wundere mich, wo urplötzlich diese starken Böen herkommen, Bananenstauden, Baumäste abbrechen. Hinter mir, in der City, immerhin zwölf Kilometer vom Munitionsdepot entfernt, zersplittern in Geschäftshäusern die Scheiben, fallen auf die belebte Avenida Rio Branco am Opernhaus. Doch die Ballonfans ficht all dies nicht an – ihre landesweit rund achthundert Clubs mit etwa siebzigtausend Mitgliedern halten sogar Jahreskongresse ab, lassen dabei hunderte Ballons aufsteigen, getreu dem Motto, daß erst richtig scharf macht, was verboten ist. Runter kommen die Dinger immer, jedes Jahr gibts deshalb auch mehr Waldbrände.1997 sind es allein im Teilstaat Rio de Janeiro fast fünftausend; die schlecht bezahlten und noch schlechter ausgerüsteten Bombeiros riskieren deshalb immer öfter ihr Leben. Ballons fallen in entlegene Täler, Wasser kann dorthin nicht mitgenommen werden, Löschflugzeuge gibts nicht. Die Lösung: Feuer gegen Feuer – von den Bombeiros selber wird Urwald abgefackelt, um einen Isolationsgürtel zu schaffen, an dem sich der eigentliche große Waldbrand totläuft. Gerne lassen die Freaks ihre Werke um den Zuckerhut herum schweben – da war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Ballon in das kleine Naturschutzgebiet am Granitkegel fällt, auch dort Flora und Fauna vernichtet. Läßt sich dieser Irrsinn nicht durch Polizei und Umweltbehörden verhindern, fragten sich viele. Zumal die letzten Jahre kein geringerer als Brasiliens Grünen-Präsident Alfredo Sirkis auf dem Chefsessel von Rios Umweltsekretariat saß. Der bekleckert sich überhaupt nicht mit Ruhm, wendet auch das Gesetz gegen Ballonstarter nur äußerst lahm an. Zwar werden jährlich hunderte Baloes de Fogo beschlagnahmt, doch ist das nur ein Bruchteil der gestarteten. Theoretisch muß ein ”Baloeiro für drei Jahre hinter Gitter – nur ist das noch niemandem passiert. 1999 appelliert Oberstleutnant Josè Luis Knoller, Kommandant des Bataillons der schwerbewaffneten Forstpolizei inständig an die Bewohner Rios, doch Ballonverstecke mitzuteilen. Es gibt sogar eine spezielle Telefonnummer dafür. Nur sind die allermeisten Anrufe von Ballonfreaks, die sich einen Spaß daraus machen, falsche Adressen zu nennen, damit das Bataillon auf Trab zu halten, unnütz in Rios enormem Stadtgebiet herumzuscheuchen. Was Comandante Knoller besonders beunruhigt: Immer mehr junge Leute zwischen dreizehn und fünfundzwanzig Jahren werden Baloeiros, fahren zu den entferntesten Festivals in dem Riesenland. 1999 wird in Rio wieder eine Anti-Ballon-Kampagne ausgerufen, zwei Tage später brennt das erste Naturschutzgebiet, haben sechzig Feuerwehrleute die ganze Nacht voll zu tun, die Flammen von menschlichen Siedlungen fernzuhalten. Denn der Ballon geht wieder mal direkt neben Häusern runter, und wieder fliegen zuerst zentnerweise Böller und Raketen in die Luft, versetzen Leute in Angst und Schrecken. Auch kultursoziologisch durchaus hochinteressant, solche Ballonstarts. Bei den ”Festivals der Ignoranz machen immerhin selbst Reiche, hohe Militärs, Richter und sogar die Verbrechersyndikate mit, lassen sich die Herstellung eines einzigen Riesenballons bis zu umgerechnet fünfzehntausend Euro kosten. Einmal geht so ein immenses Ding im Andarai-Slum hoch, der vom Comando Vermelho beherrscht wird. Darunter hängen in kilometerweit lesbarer Leuchtschrift die Namen der zwei Gangsterbosse Danielle und Feijao, welche grade Geburtstag haben, sowie von dreien ihrer vielen Geliebten. Alles wunderschön, in wochenlanger Kleinarbeit von den Slumbewohnern entworfen, komponiert, zusammengebastelt – wers dann schließlich an Rios Nachthimmel sah, zusammen mit dem Ballon-Feuerwerk, vergißt es so bald nicht wieder. Beim Streit um Ballons schießen sich regelmäßig Freaks über den Haufen, Unfälle sind sehr häufig: 1996 sieht in Rio beim Ballonstart ein Vater den neben ihm stehenden kleinen Sohn in Flammen aufgehen und sterben, der einen offenen Eimer mit Benzin trug. 1997 fällt ein Ballon mitten in Rios Zentrum auf eine Hochschwangere, die ganz knapp überlebt. Eine Matratzenfabrik wird komplett zerstört, auch ein großes Möbellager – in einem Autodepot brennen einhundertfünfzig Neuwagen aus, ein von Ballons verursachter Kurzschluß legt die ganze Innenstadt mit ihren zahllosen Banken, Firmensitzen, Kaufhäusern lahm. Manchmal kommen die Ballons gar nicht hoch, explodieren gleich unten, im Gewühl zwischen Garküchen und Schnapsbaracken der traditionellen Juni-und Juli-Feste, Eltern werfen sich über ihre Kinder, Menschen mit Brandwunden schreien vor Schmerz. ”Das ist unsere Kultur der bewußten Fahrlässigkeit, sagt mir ein Carioca, ”schließlich erschießt sich auch alle paar Tage jemand beim Russisch Roulette. Daß wie im niederländischen Enschede ganze Lager mit Feuerwerkskörpern in die Luft fliegen, jeweils zwanzig und mehr Menschen sterben, kommt nicht nur in Rio regelmäßig vor. Auch in Sao Paulo ist ebensowenig Verlaß auf die Ordnungshüter: Militärpolizisten beschlagnahmen immer mal wieder mit finsterer Amtsmiene die schönsten Ballons, starten sie dann mit den Kumpels im Garten als Höhepunkt der Grillfete. Skurril-Bizarres gehört zu Brasiliens Alltag, fehlt Deutschland in diesen Dimensionen fast völlig. Deshalb mußte es in Rio de Janeiro irgendwann zu diesem Zwischenfall kommen: Wegen der zunehmenden Umweltschäden durch Feuerballons trifft sich die staatliche Naturschutzbehörde zu einer Dringlichkeitssitzung, um über Gegenmaßnahmen zu beraten. Die Tagung wird ein Desaster, alle Fachleute müssen fluchtartig das Weite suchen – ein Balao de Fogo ist auf das Gebäude gestürzt, das Dach brennt lichterloh. Seit über zwei Jahren ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei PT des gewählten Präsidenten Luis Inacio ”Lula da Silva im Teilstaat Rio de Janeiro mit an der Regierung, seit Jahresanfang ist die Sektenanhängerin Benedita da Silva sogar Gouverneurin. Hatte unter ”progressiver PT-Oberhoheit der Feuerballonspuk endlich ein Ende? Ganz im Gegenteil – da die Gouverneurin nicht gewillt ist, die Macht der hochgerüsteten Verbrechersyndikate über die riesigen Slums zu brechen, starten von dort aus weiterhin Ballons jeder Größe in Rios Nachthimmel. In Sao Paulo, von der PT-Präfektin Marta Suplicy regiert, zeigt das Fernsehen Mitte November 2002 einen riesigen Feuerballon, der abends stundenlang vom Wind getrieben in den Einflugschneisen der Stadtflughäfen schwebt, erst nach Stunden irgendwo ins Häusermeer der Megametropole kracht. Kommentar des TV-Moderators: ”Wieso wird dieser Irrsinn nicht verhindert – dieser Ballon kann bei dem extrem dichten Flugverkehr über Sao Paulo jederzeit einen Absturz mit vielen Toten verursachen – was denken sich diese Ballonstarter eigentlich!“
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