Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

ARTE TV und OSESP: John Neschlings lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution. Erster Grammy für eine Beethoven-CD seines Orchesters OSESP in Sao Paulo. ARTE-TV-Silvesterkonzert erstmals mit OSESP.

„Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße!“(Neschling)

Podcast OSESP – Lateinamerikas bestes Sinfonieorchester:

http://www.osesp.art.br/podcast/
OSESP-Website: http://www.osesp.art.br/home.aspx


Für Klassik-Fans war Lateinamerika lange Zeit nur ein weißer Fleck auf der Landkarte. Doch inzwischen wissen nicht nur Insider, daß gerade im Sambaland Brasilien die „Musica erudita“ derzeit enorme Fortschritte macht, so populär ist wie nie zuvor. Über 130 Sinfonieorchester, in einer Megacity wie Sao Paulo an die zwanzig Klassik-Konzerte pro Woche, ein jährliches Opernfestival gar in der Urwaldmetropole Manaus, in Amazonien.
Die Verbindungen brasilianischer Dirigenten, Solisten, Konzertmusiker zu Deutschland sind eng, aus keinem anderen Land gastieren so viele Orchester und Solisten in Brasilien. Der spürbare Aufschwung der klassischen Musik in dem Tropenland ist ganz eindeutig persönliches Verdienst von John Neschling, Neffe Arnold Schönbergs. Seit 1997 ist Neschling Dirigent des Sinfonieorchesters von Sao Paulo, hat eine regelrechte Klassik-Kulturrevolution ausgelöst “ durch ihn besitzt Lateinamerika erstmals ein Orchester von Weltgeltung, internationalem Niveau, das bereits in den zwanzig besten Konzertsälen der USA, in Deutschland, Österreich, der Schweiz und anderen europäischen Ländern  auftrat. Kurt Masur ist alle zwei Jahre Gastdirigent. Alle anderen Klangkörper Brasiliens, Lateinamerikas müssen sich an Neschlings Orchester messen lassen “ das gab einen enormen Qualitätsschub. Der von Naomi Munakata geleitete Chor des Orchesters ist ebenso hoch angesehen.
Weltbürger Neschling, der 1947 in Rio de Janeiro geboren wurde, verbesserte durch seine leidenschaftliche Arbeit gleichzeitig das Image von Sao Paulo enorm, festigte den Ruf der Megacity als  Kulturhaupstadt Brasiliens und sogar ganz Lateinamerikas.  Das OSESP-Konzertgebäude wurde durch Neschling  ein ästhetisches Refugium, eine Insel der Kultur im Meer der Häßlichkeit Sao Paulos.
Neschling verblüfft jedes Jahr mit neuen Initiativen, Projekten, noch mehr Konzerten “ durch ihn bekam klassische Musik in den Medien so viel Raum wie selten zuvor.

                       

– CDs für den internationalen Markt ”
Im alten palastartigen Bahnhof von Sao Paulo spielt sich unverkennbar ein Sinfonieorchester ein. Hinten fahren Züge ab, vorne in der Bahnhofshalle tritt John Neschling ans Pult. Die Halle, man muß es sehen und vor allem hören “ wurde aufwendig umgebaut, zählt heute zu den besten Konzertsälen der Welt, mit hervorragender Akustik. Neschling hebt den Taktstock “ für ihn und das Orchestra Sinfonica do Estado de Sao Paulo/OSESP sozusagen ein historischer Moment. Erstmals nimmt ein lateinamerikanisches Orchester für eine große europäische Plattenfirma Sinfonien brasilianischer Komponisten auf “ inzwischen sind immer mehr OSESP-CDS in den europäischen Musikläden. Noch 1997, als Neschling nach Sao Paulo kam, völlig undenkbar. ”Als ich berufen wurde, stellte ich eine ganze Serie von Forderungen, war überzeugt, die werden nie akzeptiert. Schließlich verlangte ich einen Konzertsaal nur für das Orchester. Denn den gab es bisher nicht, die Musiker verdienten schlecht, die Arbeitsbedingungen unter jeder Kritik. Das in Sao Paulo, Lateinamerikas wichtigster Stadt. Und außerdem – es gab überhaupt keine Nachfrage nach einem lateinamerikanischen Orchester in Europa oder Amerika, man hielt die hiesigen für absolut zweitrangig.” Doch Neschling, Sohn österreichischer Juden, die 1938 vor den Nazis nach Rio flüchteten, hatte Glück “ einflußreiche Leute der Teilstaatsregierung wollten ein ordentliches Sinfonieorchester, und sei es aus Gründen des Imagegewinns. „Ich bin überzeugt, diese Politiker hatten keine Ahnung, wie weit das führen kann, wenn man so einen Elefanten erst einmal zum Traben bringt.” An die achtzig Leute saßen zuvor nur im Konzert “ weniger als oben im Orchester. Längst vorbei. Heute ist Neschlings OSESP ein Hit, hat über 11000 Abonnenten – man muß sich sehr rechtzeitig um Karten kümmern, wie bei Popstars. „Wir sind jetzt über dreihundert Leute, die in diesem Projekt, dieser `Fabrik` arbeiten. Die internationalen Plattenfirmen laufen uns nach.” Neschling holt zudem jährlich an die 18000 Kinder in den Bahnhof, führt sie an die Musica erudita heran “ ebenfalls bisher einmalig. Das Orchester “ auch darauf ist Neschling stolz – zudem eine Augenweide.
— Kraftakt gegen Laissez-faire ”
Jede Woche drei Konzerte, der Saal stets ausverkauft. Neschling sprudelt vor Energie, Temperament, Willen, Ehrgeiz “ stellt an sich, aber auch die Musiker höchste Ansprüche. In einem Land des Laissez-faire nennt ihn deshalb die Presse den „Maestro mit der eisernen Hand”, autoritär, gefürchtet.
„Die Musiker mußten sich auf meine Arbeitsweise einstellen – deswegen kam es zu Konflikten. Denn ich habe das Orchester wirklich umgekrempelt habe, über die Hälfte entlassen, die Hälfte neu berufen. Denn es wird einfach mittelmäßig, wenn einer weiß, die nächsten vierzig Jahre garantiert am vierten Pult der Violinen zu sitzen. Künstler müssen jedes Jahr beweisen, daß sie wirklich gut sind, bei jedem Konzert. Man sagt ja auch im Theater, in der Oper, das Stück sei so gut wie der schlechteste Schauspieler. Aber soziale Sicherheit muß da sein “ jemanden von einem Tag auf den anderen auf die Straße setzen, das geht nicht”, betont er im Interview.
Neschling, in Rio, Wien, den USA aufgewachsen, mußte einen Teufelskreis durchbrechen “ sozusagen erst einmal das Ausland von der OSESP-Qualität überzeugen, um dann auch von den Brasilianern akzeptiert zu werden.
Durch ihn verdienen die Musiker heute das dreifache “ umgerechnet über 2500 Euro “ im Billigstlohnland Brasilien ein hervorragendes Gehalt. Auch Neschling verdient nicht schlecht, ähnlich wie Dirigenten in Europa. Der Erfolg schuf ihm Feinde und Neider, die keinen Pelè oder Ronaldo, keine Popstars oder Banker wegen ihrer Jahres-Millionen attackieren würden “ aber gegen Neschling wegen dessen vergleichsweise harmlosen Salärs eine üble Medienkampagne starteten. Ohne Erfolg.
— „Kein Mensch kennt Guarnieri!”–
Nur ein Orchester leiten? Das ist jemandem wie Neschling zu wenig: Er gründete eine Musikakademie für den Nachwuchs, einen sinfonischen und einen Kinderchor, einen Verlag, ein Dokumentationszentrum “ alles lebte auf in einem völlig heruntergekommenen alten Stadtteil, macht ihn wieder attraktiv. „Die meisten Top-Musiker Brasiliens sind schon bei uns “ viele, die in erstklassigen Orchestern Nordamerikas und Europas spielten, weil in Brasilien für sie kein Platz war, kamen zurück, spielen jetzt im OSESP.”
Hat sein Orchester eine typisch brasilianische Klangfarbe?
” Nur wenn wir brasilianische Musik spielen “ denn gäbs die bei Brahms, wärs schlecht. Andererseits muß ein gutes Orchester eine eigene Klangfarbe haben “ und entwickeln: Die Streicher sind manchmal dunkler, manchmal heller, oder virtuoser, wärmer oder unterkühlt. Die Bläser eher amerikanisch, europäisch, mit präziserem Einsatz, oder eher französisch oder deutsch “ das gibts alles. Ich möchte ein Orchester aufbauen, das sozusagen die besten Qualitäten aller Länder hat: Den warmen Klang der Wiener oder Leipziger Streicher, aber mit der Virtuosität der Chicagoer – dazu eher amerikanisches Blech, aber mit der Weichheit des deutschen. Doch das Schlagzeug muß brasilianisch sein, sehr brasilianisch.”
Kurios, er, der Weltbürger, legt sich für die selbst im eigenen Land verkannten, mißachteten brasilianischen Komponisten “ wie Claudio Santoro oder Francisco Mignone, ins Zeug. Ein Camargo Guarnieri habe dieselbe Qualität wie Prokoffjew oder Hindemith oder Schostakowitsch. „Nur kennt kein Mensch Camargo Guarnieri!”, ärgert er sich heftig.
Schon die Mitte-Rechts-Regierung des Staatschefs und FU-Berlin-Ehrendoktors Fernando Henrique Cardoso kritisierte er wegen ihrer mediokren Kulturpolitik. „Brasiliens Kulturministerium ist eigentlich inexistent “ ohne Idee, Ideologie, Geld wird aus dem Fenster geworfen.” Und die Lula-Regierung bat er vergeblich, wenigstens einen Teil der allerersten OSESP-Tournee 2004 durch ganz Brasilien zu finanzieren. Die Tournee war für das Orchester direkt triunfal “ nie zuvor hatte man bei Sinfonieorchestern solche Beifallsstürme erlebt. In Rio direkt peinlich für das dortige provinzielle Sinfonieorchester, das manche vor dem OSESP-Auftritt für ganz achtbar gehalten hatten.
Neschling erlitt anfangs dasselbe Drama wie Musiker, Komponisten, Bands der Musica Popular Brasileira, die von den eigenen Leuten zuhause, Betonköpfen, engstirnigen Managern, der laut Chico Buarque „kulturlosen Elite” blockiert werden, keinen Rückenwind, keine Unterstützung bekommen “ etwa für Auslandsauftritte, die Brasiliens Ansehen als Musiksupermacht nützen würden. So viele Musiker und Komponisten, die keine Lobby haben. „Meine Idee, Absicht ist, diese Lobby jetzt zu schaffen “ Platten brasilianischer Komponisten aufzunehmen, brasilianische Orchester in die ganze Welt zu schicken.”
An Auslandserfahrung mangelt es Neschling wahrlich nicht, er dirigierte “ und dirigiert “ in Berlin, Hamburg, Lübeck, Stuttgart, Bonn, Rom, Neapel, Palermo, Wien, Genf, Bordeaux, Washington, ob als Gast oder fest engagiert.
Brasilien, annähernd so groß wie Europa, sehr widersprüchlich. Zehnte Wirtschaftsnation, aber noch Teil der Dritten Welt, enorme regionale Unterschiede. Misere wie in Afrika und sogar noch Sklaverei. Doppelt so viele Einwohner wie Deutschland, immerhin jene über 130 Sinfonieorchester “ doch 95 davon und fast alle nennenswerten Konzerte im Südosten, in den Teilstaaten Sao Paulo, Minas Gerais und Rio de Janeiro.
Neschlings Publikum ist absolut nicht elitär, sogar Leute aus den Slums sind darunter. „Ich meine, in Brasilien ist es heute politisch wichtig, daß ein Großteil der Bevölkerung diese Musik hören kann, die er nie hörte. Mein Saal ist heute der demokratischste in Südamerika. Es kommen alle, wirklich alle Klassen, und hören alle den Kurt Masur hier für ein Zehntel des Preises von New York. Das ist mir wichtig, das habe ich als Bedingung gestellt.”
Wie reagiert das Publikum, anders als in Europa, in Deutschland?
”Ich spüre, daß es hier vielleicht aufrichtiger reagiert als woanders – manchmal überreagiert, manchmal zu enthusiastisch, auch wenn die Qualität nicht so gut ist. Man weiß noch nicht ganz genau, was phantastisch ist und was nicht.Vor jedem Konzert spreche ich ja zum Publikum, erzähle n`bißchen die Geschichte der Musik, die wir spielen, und auch die des Orchesters. Das hat einen Riesenerfolg hier, die Leute fühlen sich als Teil der Orchester-Familie, sagen `unsere` Musiker”.
— „Schweinemusik in Neapel” ”
Seit Neschling, man siehts auch in den Medien, ist klassische Musik auf einmal ein Thema in Brasilien, wird zunehmend höher bewertet.
Deutsche Komponisten von heute, zu Gast in Brasilien, sind geschockt über den unglaublichen Krach in Brasiliens Städten “ dazu die Billigstpopmusik in Supermärkten, Aufzügen, Fußgängerzonen. Das nervt auch Neschling: ”Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße. Sogar in Neapel, ich habs grade erlebt, hat die Präfektur überall Lautsprecher angebracht, spielt nur Schweinemusik, einfach furchtbar.” Das heißt keinesfalls, daß Neschling, wie im Elfenbeinturm, nur Klassisches erträgt und akzeptiert. Immerhin komponiert er seit Jahrzehnten Filmmusik, sogar für Brasiliens hochpopuläre allabendliche Telenovelas, mag Jazz und natürlich besten Samba, von Chico Buarque, Edu Lobo, Ivan Lins, Guinga. Und bringt es fertig, seine Musiker einen ganzen Abend lang nur Samba, Bossa Nova und Karnevalsmusik, in eigenem, vorzüglichsten Orchesterarrangement spielen zu lassen, daß der Bahnhof in Schwingungen gerät. Natürlich muß Chico Buarques „Würdigung eines Gauners” mit dabeisein “ Anspielung auf die politischen Zustände von heute “ auf tiefkorrupte Kongreßabgeordnete, Regierungspolitiker, Kandidaten, Polizisten, Unternehmer…
Über letztere Klasse hat sich Neschling schwarzgeärgert. Zum ersten Mal für Brasilien, wollte er Wagners „Ring” sinfonisch aufführen, fand jedoch nicht einen einzigen Sponsor:”Eine Schande für das nationale Unternehmertum “ ich mußte das Projekt notgedrungen wieder abblasen. Ich habe auch bei allen großen deutschen Firmen hier angeklopft, die in Brasilien immerhin Vermögen verdienen “ keine hat mir auch nur einen Pfennig gegeben. Das ist die Kultur der Mittelmäßigkeit.”
Neschling weicht offenem Streit nicht aus, legt sich an, sagt ganz erfrischend und notfalls herrlich politisch unkorrekt, was er denkt “ hängt an seiner Idee: „Brasilien ist so ein unglaublich musikalisches, so unglaublich talentiertes Land “ und verdient es einfach, eines der größten Orchester zu haben!”

Denkwürdiger Villa-Lobos-Klavierwettbewerb in Sao Paulo(2006)

Sieger aus China, Frankreich und Estland
Erstklassige Pianisten – doch Medienboykott und wenig Publikum
Öffentlicher Streit um angebliche Betrügereien bei der Kandidatenauswahl
Lateinamerikas größter Komponist ist der Brasilianer Heitor Villa-Lobos aus Rio de Janeiro, der von 1887 bis 1959 lebte. Vor allem seine Freundschaft mit dem polnischen Pianisten Arthur Rubinstein war ihm Anregung, eine Vielzahl von Klavierstücken, Klavierkonzerten zu schaffen. Denen ergeht es indessen wie den meisten anderen fabelhaften Kompositionen – über eintausend. Der große Villa-Lobos ist zwar auch in Europa recht bekannt – mancher hörte womöglich die „Bachianas brasileiras“ – doch seine Werke werden kaum gespielt. Und selbst in Brasilien existieren von nicht wenigen Stücken bis heute keinerlei Tonaufnahmen. Um all dem abzuhelfen, veranstaltete der Komponist und Dirigent John Neschling im August in der brasilianischen Megametropole Sao Paulo mit seinem Sinfonieorchester den ersten „Concurso Internacional de Piano Villa-Lobos“. Der in Rio geborene Weltbürger Neschling, ein Großneffe Arnold Schönbergs, hatte das drittklassige Orchester 1997 übernommen – heute ist es das beste Lateinamerikas, zählt zu den besten der Welt, bereitet sich auf die zweite Deutschlandtournee vor. Überschattet wurde der Klavierwettbewerb von Sao Paulo indessen bereits im Vorfeld von einem erstaunlich hochgespielten Streit um eine angeblich unsaubere Kandidatenauswahl – von Brasiliens Kommerzmedien wurde das einwöchige hochklassige Musikereignis daraufhin bedenklicherweise boykottiert, blieb der Saal nur zu oft beinahe leer. Nicht nur Sao Paulos Konzertpublikum, sondern auch die komplett fehlenden Musikstudenten der Universitäten und Konservatorien stellten sich ein peinliches, blamables Armutszeugnis aus.

Sogar die New York Times hatte von einem Skandal gesprochen “ John Neschling und die gesamte Jury wiesen indessen Korruptionsvorwürfe in einer Erklärung als haltlos zurück. Jurypräsident des Villa-Lobos-Wettbewerbs war kein geringerer als Brasiliens international bekanntester Pianist Nelson Freire “ schwerlich denkbar, daß dieser seine Reputation aufs Spiel gesetzt und Betrügereien gedeckt hätte.
–Preisträger Chun Wang aus Peking”
Bei dem einwöchigen hochklassigen Concurso versetzte der 16-jährige Chun Wang aus Peking Jury und Publikum immer wieder in Erstaunen und Verzückung.
Letztes Jahr kam er in Weimar beim Franz-Liszt-Wettbewerb für junge Pianisten auf den dritten, beim Ausscheid von Sankt Petersburg sogar auf den ersten Platz “ und auch in Sao Paulo spielte er sich jetzt souverän an die Spitze.
Nelson Freire nannte ihn geradezu überschwenglich ein phantastisches, außergewöhnliches Talent, von der ersten bis zur letzten Note auf höchstmöglichem Niveau, trotz seines Alters bereits ein kompletter Musiker.
Der zweite Preis ging an die zwanzigjährige Jie Chen, ebenfalls aus China, die das Publikum wohl wegen des Charismas am liebsten auf dem ersten Platz gesehen hätte. Dritter wurde der 28-jährige Franzose Romain David, vierte die aus dem russischen Kaliningrad stammende und heute in Estland lebende Irina Zahharenkova, 30. Als bester brasilianischer Kandidat wurde der 24-jährige Aleyson Scopel geehrt, der einen Teil seines Klavierstudiums an der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik in Ostberlin absolviert hatte.
Bei der letzten Prüfung des Wettbewerbs dirigierte John Neschling das 1952 von Villa-Lobos komponierte Klavierkonzert Nummer vier, von dem bisher jegliche Tonaufnahme fehlt, und lachte zwischendurch vom Pult aus dem schwarzhaarigen Chun Wang immer wieder aufmunternd zu. „Dieser Junge hat eine unglaubliche Musikalität, Technik, Reife und Natürlichkeit – ich hoffe, daß er auch phantastisch bleibt. Denn da er nur 16 Jahre alt ist, kann das kann rasch kaputtgehen “ aber ich glaube nicht.”
–Chinas starker Pianistennachwuchs”
Daß gleich zwei Bewerber aus China in Sao Paulo an der Spitze liegen, kommt für Neschling nicht überraschend:”Es gibt dort in China eine Schule mit zwanzigtausend Pianisten “ es muß unter diesen zwanzigtausend einfach zehn geben, die phantastisch und außerordentlich sind.”
Chun Wang ergänzt:“Das Klavier ist derzeit das populärste Instrument in China. Wollen die Eltern, daß ihr Kind ein Instrument erlernt, empfehlen sie natürlich das Piano.“ Laut Jurymitglied Gilberto Tinetti studieren derzeit etwa fünf Millionen junge Chinesen Klavier. Wieviel mögen es in Deutschland sein, warum hat dieses Instrument dort so stark an Popularität eingebüßt?
Maestro Neschling sieht das Ziel des Wettbewerbs erreicht: Über hundert hochtalentierte junge Pianisten aus aller Welt studierten teilweise zum ersten Mal intensiv Villa-Lobos “ und werden ihn hoffentlich bei ihren künftigen Konzerten immer wieder spielen. „Die Kandidaten sagten mir, dessen Werk habe sie bei der Vorbereitung begeistert, fasziniert.”
Chun Wang, Jie Chen oder Irina Zahharenkova machen bereits Tourneen auch in Europa, erzielen gute Gagen, spielen vor vollen Häusern. Sao Paulos Orchestersaal mit über 1500 Plätzen, eine umgebaute Bahnhofshalle mit ausgezeichneter Akustik, war indessen selbst zum Preisträgerkonzert nur sehr mäßig gefüllt. Wo blieben die Heere von Musikstudenten, die anderswo in der Welt auf der Suche nach Orientierung und Erfahrung wegen solcher Pianisten Schlange stehen “ ist der schwache Publikumszuspruch nicht ein Armutszeugnis für die Zwanzig-Millionen-Stadt Sao Paulo? „Ja, ich glaube schon”, sagt Neschling vorsichtig. Die künstlerische Leiterin des Sinfonieorchesters, Rosana Martins:”Wir haben den Piano-Studenten Sao Paulos sogar Gratis-Einladungen angeboten – doch die kamen einfach nicht, es ist nicht zu fassen!”
–Dekadenz, gravierender Kulturverlust–
Wer sich für klassische, komplexe, interessante Musik interessiert, die entsprechende Szene in Mitteleuropa kennt, mußte sich hier als Concurso-Beobachter zwangsläufig an den Kopf greifen, sah Auswirkungen niedrigen Bildungsniveaus. Dabei hatte Brasilien, wie Neschling sagt, schon einmal eine große Tradition von Klavierwettbewerben, mit dem Höhepunkt in den fünfziger und sechziger Jahren. Dekadenz, Kulturverlust, die in voller Absicht stark abgesenkte Qualität des öffentlichen Bildungswesens machen heute unmöglich, was damals Normalität war: Wie Nelson Freire erinnert, kamen die berühmtesten Pianisten der Welt für große Tourneen nach Brasilien. Rubinstein gab einmal siebzehn(!) Konzerte, Brailowsky spielte sämtliche Werke Chopins – und Gulda trat allein im Opernhaus von Rio de Janeiro, heute grausig schlecht administriert, 1954 gleich dreizehnmal(!) auf. „Das waren andere Zeiten“, bemerkt Freire.
Die besten jungen Pianisten der Welt spielen in Sao Paulo “ und kaum einer geht hin… „Meine Generation, die Jungen heute sind konservativ, träge, bequem, eng, suchen nicht nach Neuem”, bemerkt der junge Schriftsteller Joao Paulo Cuenca.
–Rachefeldzug gegen John Neschling?”
Beim Abschlußempfang des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs wollten weder Jurypräsident Nelson Freire noch Neschling den öffentlichen Streit um eine angeblich betrügerische Kandidatenauswahl erneut kommentieren. Brasilien hat heute das beste Sinfonieorchester seiner Geschichte, weil der temperamentgeladene, streitbare Neschling nicht bereit war, übliches Mittelmaß und Laissez-Faire, Respektlosigkeit, stumpfe, lähmende Bürokratie und Schlamperei zu akzeptieren, und weil er mit hierzulande selten anzutreffendem Idealismus eine regelrechte lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution in Gang setzte. Er hat dabei Erfolg “ und deshalb entsprechend viele Feinde, Neider. Neschlings schon klassischer Ausspruch angesichts der weltweit dominierenden Berieselung mit einfältig-banaler Primitivmusik, mit musikalischem Schrott:“Fünfundneunzig Prozent von dem, was wir täglich hören müssen, ist Scheiße!“
Jetzt sollte Neschling dafür gesorgt haben, daß schlechtere, ihm genehmere Kandidaten den eindeutig besseren vorgezogen wurden. Entsprechende Vorwürfe kamen vor allem von dem israelischen Pianisten Ilan Rechtman, der zunächst als Direktor des Wettbewerbs fungiert hatte. Weil Rechtman indessen in einer E-Mail an Neschling u.a. eingeräumt hatte, bei der Kandidaten-Vorauswahl eigenmächtig die Bewertungsnoten des brasilianischen Juroren Gilberto Tinetti, eines Pianisten und Musikprofessors, verändert zu haben, war er bereits im April von Neschling entlassen worden. Der über gute Kontakte verfügende Rechtman, so bewerten es brasilianische Musikexperten, startete daraufhin einen Rachefeldzug gegen Neschling, mobilisierte die Anti-Neschling-Lobby in Medien und Kulturszene. Selbst die großen Qualitätsblätter Brasiliens waren nicht bereit, die Position von Neschling und Nelson Freire im journalistischen Teil zu erwähnen, so daß, wie der bekannte brasilianische Stefan-Zweig-Biograph Alberto Dines hervorhob, der Leitung des Villa-Lobos-Klavierwettbewerbs nichts weiter übrigblieb, als auf die haarsträubenden Vorwürfe aus der Ilan-Rechtman-Ecke mit teuren Gegendarstellungen zu reagieren. Bezeichnend, daß Sao Paulos Kommerzmedien daraufhin den Pianistenwettbewerb mit einem Boykott überzogen, über die Konzerte der Kandidaten die ganze Woche lang keine einzige Zeile veröffentlichten. Ein Eigentor sondergleichen.
Bei der Preisverleihung erinnerte der Maestro hintersinnig an einen Auspruch des großen Bossa-Nova-Miterfinders Tom Jobim aus Rio de Janeiro, von dem das berühmte „Girl from Ipanema” stammt: ”In Brasilien Erfolg zu haben, ist sehr gefährlich. Denn wer erfolgreich ist, sagte Tom Jobim, muß ständig auf der Hut sein, muß wachsam sein, sich vorsehen. Wegen des Wettbewerbs hatten wir Kämpfe, ja, regelrechte Schlachten zu bestehen. Doch ich meine: Die Hunde bellen, aber die Karawane zieht weiter.”

Deutschlandradio Kultur: Brasiliens Sinfonieorchester kritisieren Kulturminister Gilberto Gil-

http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/573062/

pianoneschchunfreire.jpg

John Neschling, Preisträger Chun Wang, Nelson Freire

pianistchunwang.jpg

Preisträger Chun Wang

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/07/24/50-jahre-bossa-nova-und-hitler-mussolini-die-ultrarechte-wo-standen-die-bossa-nova-stars-politisch/

Dieser Beitrag wurde am Sonntag, 16. März 2008 um 03:16 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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