In der größten Demokratie Lateinamerika sorgen Kindermorde derzeit täglich für Schlagzeilen, wird Gewalt gegen Heranwachsende so heftig wie selten zuvor diskutiert. Für Entsetzen sorgt zudem, daß Kinder selbst  in Mittelschichtsfamilien teils jahrelang tagtäglich von Müttern gefoltert, wie in einem Kerker gehalten wurden.
Wieso haben Nachbarn angeblich nichts bemerkt, warum hat niemand eingegriffen, fragen polizeiliche Ermittler ebenso wie Stadtsoziologen. „Das ist der blanke Horror”, warnt Bischof Angelico Bernardino aus dem deutschstämmigen Blumenau. „Das Schlimme ist – die Gesellschaft läuft Gefahr, sich an sexuelle und andere Gewalt gegen Kinder aller sozialen Schichten zu gewöhnen!” Da die meisten Untaten mitten in den Familien geschähen, müßten deren sozioökonomische und emotionale Bedingungen untersucht werden. Was läuft da falsch? Die Zahl solcher Verbrechen, so Bischof Bernardino, nehme zu – der Staat müsse für die exemplarische Bestrafung der Täter sorgen. Dominierende Straflosigkeit hält die Bischofskonferenz für eines der Hauptprobleme Brasiliens. Denn von den jährlich über 50000 Morden werden gemäß amtlichen Statistiken nicht einmal fünf Prozent aufgeklärt. Und immer wieder belegen Experten, daß die amtlichen Kriminalstatistiken geschönt sind und der Regierung in Brasilia aus Imagegründen nicht daran gelegen ist, das ganze Ausmaß der Verbrechen offenzulegen. Gemäß einer neuen Studie werden zudem nur zehn Prozent aller Fälle von Gewalt gegen Heranwachsende angezeigt. Die angesehene Zeitung „O Globo” titelt nach detektivischen Recherchen im Gesundheitsministerium:”Alle zehn Stunden wird in Brasilien ein Kind ermordet.” In den letzten sechs Jahren seien es über 5000 gewesen. Allein 2002 habe man mindestens 90 Babies, im Alter bis zu einem Jahr, umgebracht. Eine neue Studie spricht dagegen sogar von rund viertausend Kindermorden jährlich, die Opfer stets. nicht einmal vier Jahre alt. Nicht mitgerechnet sind dabei derartige Fälle bei brasilianischen Indianerstämmen. Nach Angaben der auflagenstarken Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” werden bei rund 20 der über 200 Ethnien üblicherweise Zwillinge, Kinder alleinstehender Mütter sowie Kinder mit Geburtsfehlern, Behinderungen  getötet. Daß Gewalttaten gegen Kinder der nichtindianischen Bevölkerung Brasiliens deutlich zunehmen, resultiert gemäß den Psychologen unter anderem aus dem Faktor Streß, allgemeiner Verrohung und Entsolidarisierung sowie dem steigenden Konsum von harten Drogen wie Kokain und Crack. Danach schrecken viele Menschen gewöhnlich davor zurück, Gewaltphantasien zu realisieren. Im Drogenrausch dagegen fehlten die Hemmschwellen. Aus den brasilianischen Slums ist bekannt, daß dort immer wieder Kinder von rauschgiftsüchtigen Gangstern erschossen werden. Unter dem Eindruck eines besonders grausamen Mordes an einem behinderten sechsjährigen Jungen hatten sich letztes Jahr 55 Prozent der Brasilianer für die Einführung der Todesstrafe ausgesprochen. Vier verrohte junge Männer hatten in Rio de Janeiro den Jungen während eines Autoraubs auf etwa zehn Kilometern durch die Stadt zu Tode geschleift, sodaß von ihm nur noch Fetzen übriggeblieben waren. Zahlreiche Passanten, andere Verkehrsteilnehmer, die das sadistische Verbrechen beobachteten, wollten die Banditen zum Anhalten bewegen, wurden indessen mit der Waffe bedroht. Die Gangster stoppten den Wagen schließlich an ihrem Slum, gingen kurz zum Umziehen nach Hause, amüsierten sich dann auf einem Straßenfest der Scheiterhaufenstadt. Da sich die Tat kurz vor dem Karneval ereignete, wurde öffentlich gefordert, das Fest zu boykottieren – wichtiger sei, wenn die Stadtbewohner einmal über die Ursachen, die Normalität sadistischer Verbrechen reflektierten. Ein Großteil der Slumbewohner, darunter bereits kleine Kinder, hat solchen Verbrechen zugesehen – mit den entsprechenden Wirkungen auf die Psyche. Unlängst wurden die Täter zur Höchststrafe von 30 Jahren verurteilt, was die brasilianische Öffentlichkeit mit tiefer Genugtuung zur Kenntnis nahm.  Â
Der Fall kam nur deshalb in die Medien, weil sehr viele Menschen Zeugen des Verbrechens waren. Laut Meinungsumfragen beklagen die Bewohner Rios immer wieder, daß über das Ausmaß der alltäglichen Gewalt nur sehr begrenzt berichtet werde. Wenn beispielsweise ein Straßenjunge an der Copacabana durchs Wagenfenster dem hinter der Mutter angeschnallten Baby gemäß Zeugenberichten mit der Rasierklinge die Kehle durchschneidet, wäre ein solcher Fall beispielsweise in Berlin jahrelang Gesprächsthema – in Brasilien erscheint über diesen Kindermord u.a. aus Gründen des Image-Schutzes keine Zeile.
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