In der deutschen Öffentlichkeit wird häufig an soziokulturellen Besonderheiten „des Deutschen” heftige Kritik geübt – in Brasilien sind Mentalitätsanalysen ebenfalls üblich. Joao Ubaldo Ribeiro, der nach Paulo Coelho in Deutschland meistgelesene brasilianische Autor, betreibt sie kontinuierlich, prangert eine „Kultur der Unehrlichkeit und Scheinheiligkeit” ebenso an wie gesellschaftliche Apathie und Lethargie, jenes Bewußtsein und Verhalten von „Schafen”.
Eine seiner vielgelesenen, berühmten Wochenkolumnen überschrieb er mit „Nos somos mesmo um bando de ladroes”(Wir sind tatsächlich eine Bande von Dieben), eine andere „Ovinos pela propria natureza”(Schafe von Natur aus), eine andere mit „Nos somos do bè-bè-bè”, womit er Schafslaute meinte. „Ponto final – pois engolimos tudo.”(Punkt und Schluß – wir schlucken eben alles)
Regelmäßig erscheinen ähnliche Analysen brasilianischer Sozialwissenschaftler, die soziokulturelle Verhaltensweisen in Brasilien mit denen in Ländern der Ersten Welt, vor allem Europas, vergleichen. Die katholische Nachrichtenagentur ADITAL veröffentlichte eine Analyse der Politikwissenschaftlerin und Universitätsprofessorin Dejalma Cremonese, die aus der Studie „Latinobarometro 2007” folgert, daß sich die Prozentzahlen in Bezug auf Solidarität der Lateinamerikaner verschlechtert hätten. Unter den solidarischsten seien Venezolaner und Puertoricaner. Chilenen, Ekuadorianer und die Bewohner Paraguays seien die individualistischsten. Die Brasilianer lägen in puncto Solidarität an elfter Stelle, unter dem Durchschnitt der anderen Länder Lateinamerikas. „Übrigens, dieser wenig solidarische Charakter des Brasilianers ist keine Neuigkeit. Schon im vergangenen Jahrhundert hatte Oliveira Vianna dieses Charaktermerkmal festgestellt. Der Autor betrachtete das Unsolidarische als markantesten Zug unseres Volkes – und aus diesem Grunde setzte er sich für eine aktive erzieherische Rolle des Staates bei der Herausbildung eines, wie er es nannte, kulturellen(culturologico) Verhaltens ein, das in der Lage wäre, den unsolidarischen Geist zu überlagern… Für den Autor geht der unsolidarische Geist auf die Ursprünge der Kolonisierung zurück. Da bildete sich in Brasilien der Homo Colonialis heraus, mit starken Charakterzügen des Individualismus und des Mißtrauens:`Ein Liebhaber der Einsamkeit, der Ödnis, grob und antiurban.` In Bezug auf die Arbeit zeichnete sich der brasilianische Mensch, verglichen mit anderen Menschen der Welt, durch Eigenbrötelei und Individualismus aus:`Die landwirtschaftliche Arbeit in unserem Land war im Gegensatz zu Europa immer essentiell partikularistisch und individualistisch: Sie verdrängte den Menschen, verstieß ihn in die Isolation und in den Sertao`. Es gab keine Herausbildung von gesellschaftlicher Solidarität, von Haltungen der Zusammenarbeit und Mitwirkung, nicht einmal von Bürgersinn. Was existierte, war in Wahrheit eine negative soziale Solidarität. Im Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Völkern und auch in Bezug auf gesellschaftliche und wirtschaftliche Bildung, ist der Brasilianer laut Vianna essentiell individualistisch, braucht keine gemeinschaftliche Hilfe und lebt isoliert. Dies alles hat seine Wurzeln in der kulturellen Tradition. Was in Brasilien existiert, ist lediglich eine verwandschaftliche Solidarität – ausgehend von den abgeschlossenen Interessen der herrschenden Familien: `Diese interfamiliäre Clan-Solidarität ist besonders der Herrschaftsschicht eigen.`
Im Bereich des parteipolitischen Verhaltens bemerkt man ebenfalls das Fehlen kollektiver Motivationen. Außerdem gibt es viele Zitate, in denen sich Oliveira Vianna über die Nichtexistenz von Kooperation im Volke Brasiliens beklagt – auch über dessen geringe Teilnahme am öffentlichen Leben(was sich vom Kaiserreich bis zur Republik fortsetzte) und, warum es nicht klar aussprechen – bis in unsere Tage. Das Bahnbrechende der Studien von Oliveira Vianna, dazu die Daten des Latinobarometro 2007 beweisen, daß die individualistischen und unsolidarischen Praktiken in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Brasilianer weiterbestehen. Ohne die Dimension der Solidarität, staatsbürgerliche Gesinnung und Gemeinschaftssinn wird das Projekt des Aufbaus eines Nationalstaats weiter aufgeschoben, oder im schlimmsten Falle, sogar weggedrängt.”
2008 ergibt eine Studie, daß besonders in der Unterschicht sich Frauen dann sofort scheiden lassen, wenn sie mehr verdienen als der Mann oder dieser arbeitslos wird.
Mentalitätsreflexionen von Austregesilo de Athayde:
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