Hintergrund von 2007:
Brasiliens Mordrate weit höher als in Deutschland
„Brasiliens Gesellschaft ist krank“
In Deutschland wird im Durchschnitt statistisch auf 100000 Einwohner jährlich ein Mord gezählt – in Rio de Janeiro sind es indessen über 57, in Recife über 91 und in Städten des Hinterlands bis zu 165 Mordfälle. Dies geht aus einer neuen Studie über Gewalt(Mapa da Violencia) in der zehntgrößten Wirtschaftsnation hervor, die lediglich auf den tatsächlich registrierten Morden basiert, nicht aber auf der weit höheren Zahl amtlich nicht erfaßter Taten. Brasilianische Politiker hatten die sehr hohe Gewaltbereitschaft sowie die erschreckende Mordrate in den letzten Jahrzehnten häufig mit dem Argument zu verharmlosen versucht, Länder wie Frankreich oder Deutschland hätten ebenfalls gravierende Gewaltprobleme. Die neue Studie stellt die Dimensionen klar und zeigt, wie durch Verbrechen und Verbrechensbereitschaft die Menschenrechte der 185 Millionen Brasilianer immer stärker eingeschränkt werden. Nur theoretisch garantiert die Verfassung den Schutz des Lebens der Bürger.
„Zivilisation“, so der progressive Schriftsteller Zuenir Ventura aus Rio, „ist nicht nur kultureller und technologischer Fortschritt, Wirtschaftswachstum – sondern bedeutet auch, sich tagsüber oder nachts frei bewegen zu können, ohne Angst, überfallen zu werden…“ Dieses Zivilisationskriterium trifft indessen auf den allergrößten Teil der Brasilianer nicht zu, wie aktuelle Untersuchungen über gravierende Verhaltensänderungen im Alltag zeigen.
Europäer, darunter Deutsche, Schweizer oder Franzosen, werden in Brasilien regelmäßig Opfer von Morden. Die Tötung von drei französischen Menschenrechtsaktivisten Ende Februar an der Copacabana hat diesen Fakt erneut bestätigt.
Die Franzosen, darunter eine Frau, Mutter eines zweijährigen Kindes, waren zuerst sadistisch gefoltert, danach barbarisch ermordet worden. Die drei brasilianischen Täter, die das Verbrechen laut polizeilichen Ermittlungen begingen, hatten, wie es hieß, noch blutige Hände, als sie die Polizei nach Hinweisen der Bevölkerung fassen konnte.
Der 25-jährige Anführer ist ein früheres Straßenkind, dem die Franzosen laut Presseberichten mit ihrer NGO für Slumprojekte einst das Leben gerettet, ihn zum festen Mitarbeiter ausgebildet hatten. Als sie entdeckten, daß ihr besonderer Schützling hohe Spendensummen abzweigte, plante dieser gemäß den Polizeiangaben kaltblütig die Morde an den drei Idealisten.
Brasilianische Intellektuelle wie der Universitätsprofessor Andrea Lombardi bezeichneten die brasilianische Gesellschaft angesichts einer neuen Welle besonders sadistischer Gewalttaten als krank.
Wie die neue Gewalt-Studie betont, ist zwischen 1999 und 2004 die Mordrate in den Städten des brasilianischen Hinterlands um 5,4 Prozent jährlich gestiegen, in den großen Ballungszentren um 0,8 Prozent jährlich. Von allen brasilianischen Teilstaaten hat das durch deutsche Einwanderer geprägte Santa Catarina mit elf Morden pro 100000 Einwohner jährlich die niedrigste Rate. Der nordöstliche Teilstaat Pernambuco liegt an der Spitze, gefolgt von Espirito Santo, Rio de Janeiro und Rondonia.
Vier der zehn brasilianischen Städte mit der höchsten Mordrate liegen im nordwestlichen, an Amazonien grenzenden Teilstaat Mato Grosso.
Wie Professor Naldson da Costa, Leiter des Studienzentrums für Gewaltprobleme an der Bundesuniversität von Mato Grosso erläuterte, zählt das Geschäft mit der illegalen Abholzung von Urwäldern zu den Motiven der Verbrechen. Von Holzfirmen würden verelendete Slumbewohner bewaffnet, damit diese invasionsartig in theoretisch per Gesetz geschützten Regenwald eindrängen und die gefällten Edelholzbäume diesen Firmen verkauften. Später würden dann die Invasoren vertrieben, um auf den gerodeten Flächen Soja anzubauen, das zu einem beträchtlichen Teil in Länder wie Deutschland exportiert wird. Laut Professor Costa kämen die staatlichen Waldhüter gewöhnlich zu spät – erst dann, wenn der Urwald bereits vernichtet sei. Zudem würden Waldhüter und Polizisten bedroht oder korrumpiert.
Gemäß den Experten spielt die Regierung den Naturzerstörern Amazoniens direkt in die Hände, fördert das Verbrechenswachstum durch Untätigkeit.
Der wegen Morddrohungen ständig von Polizei bewachte Amazonas-Bischof Erwin Kräutler aus Österreich nennt am Bistumssitz in Altamira/Teilstaat Parà ein groteskes, treffendes Beispiel:“Wir haben hier in Altamira acht Männer, die für die Überwachung eines Gebiets von der Größe ganz Italiens verantwortlich sind.“
Gewalt und Verbrechen zählen laut Angaben von Psychologen in Brasilien zu den wichtigsten Gründen für psychische Krankheiten wie Depression oder Paniksyndrome. In der Wirtschaftsmetropole Sao Paulo sind danach rund vierzig Prozent der Bewohner schwach bis stark psychisch gestört, jeder zehnte müßte in psychische Behandlung. Grund der Störungen ist auch die Tatsache, daß die allermeisten Brasilianer Mörder persönlich kennen, darunter nicht selten die von eigenen Familienangehörigen oder Freunden. Pro Jahr werden statistisch über 55000 Menschen ermordet, jedoch nur wenige Prozent der mehr als 50000 Täter gefaßt, verurteilt.
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