Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

John Neschling legt Dirigentenposten in Sao Paulo nieder – Druck und Einmischung der reaktionären Teilstaatsregierung zunehmend höher.

Der brasilianische Dirigent und Komponist John Neschling hat bekanntgegeben, daß er entgegen seinen ursprünglichen Absichten die Arbeit mit dem Sinfonieorchester OSESP aufgibt, seinen Vertrag über das Jahr 2010 hinaus nicht verlängert.  Zu den Gründen zählte Neschling in Medieninterviews  Einmischungen, Druck und Attacken seitens der Regierung des Teilstaates Sao Paulo unter Gouverneur José Serra.

Zwar existiert eine Extra-Loge für die Teilstaatsregierung im OSESP-Konzerthaus, Serra indessen blieb trotz der Neschling-Einladungen sämtlichen OSESP-Auftritten demonstrativ fern. Die Teilstaatsregierung, so Neschling, halte internationale OSESP-Tourneen für unnötig. „Wenn Brasiliens Nationalmannschaft die Fußballweltmeisterschaft gewinnt, wird bei der Rückkehr für das Team ein Defilee veranstaltet. OSESP machte eine geradezu triumphale Europatournee, wird von Le Monde als `brasilianisches Wunder` eingestuft – doch nach der Rückkehr gesteinigt.“

Neschling erklärte sich angesichts der Situation verletzt und enttäuscht, zudem tief besorgt über die Zukunft des Orchesters. Das OSESP-Projekt könne einen Kollaps erleiden.

Hintergrund von 2007:

John-Neschling-Gegner machen wieder mobil

Just als der jüdische Dirigent John Neschling mit seinem Sao- Paulo-Sinfonieorchester OSESP zum ersten Mal für Brasilien einen Grammy einfährt, starten seine vielen Gegner aus der Teilstaatsregierung von Gouverneur Josè Serra sowie aus der Kulturszene eine weitere Kampagne, um die Ablösung des auch international erfolgreichsten Maestro in der Geschichte des Tropenlandes zu erzwingen.

Gleich zwei Nachrichtenmagazine Brasiliens, „Veja” und „Carta Capital”, werden eingeschaltet, um Neschling mit banalsten, absurdesten Vorwürfen zu disqualifizieren. Während Neschling von der gerade in puncto klassischer Musik sehr pingeligen, sehr genauen Kulturkritik Europas und Nordamerikas durchweg nur Bestnoten für seine Orchesterarbeit, die bislang veröffentlichten CDs bekommt, wird er zuhause beschuldigt, beschränkt und unpräzise zu sein. Den Musikern werde von ihm per Taktstock nicht exakt mitgeteilt, wann und wie sie einzusetzen hätten. Der Vorwurf ist denkbar falsch, da gerade bei Vergleichen mit OSESP-Gastdirigenten die außerordentlich perfekte Stabführung Neschlings auffällt, hervorsticht. Der in Rio geborene Neschling “  unabhängig und gerade in Europa als Dirigent zunehmend gefragt, ging das Wagnis ein, im Folter-und Scheiterhaufen-Land Brasilien, in der von Todesschwadronen, Slums, Lepra und extremer Luftvergiftung gezeichneten Megacity Sao Paulo 1997 das fünftklassige OSESP zu übernehmen und zielstrebig zu einem Weltspitze-Orchester aufzubauen – damit neue, bislang nicht geduldete kulturelle Maßstäbe zu setzen. In einem Land von Laissez-Faire, überbordender Korruption und Mißwirtschaft, immer wieder von brasilianischen Intellektuellen beklagter „Mittelmäßigkeit und erschreckender gesellschaftlicher Apathie” hieß dies für Neschling, sich permanent mit Gegnern von Qualität, Präzision und Kulturentwicklung anzulegen – in einem Teilstaat mit miserablen öffentlichen Schulen.

–OSESP und Crack–

Was Bände spricht: Von der Politik wird geduldet, daß nur ein paar Schritte vom OSESP-Konzertsaal entfernt Sao Paulos Hauptumschlagplatz für Crack liegt: In der Rua dos Guaianazes und der Rua Helvetia  fügen sich täglich ganz offen hunderte Kinder und Jugendliche gleich im Gruppen mit der hirnzerstörenden Extremdroge schwerste gesundheitliche Schäden zu. Jedesmal nach dem OSESP-Konzert bei der Heimfahrt ein außerordentlich deprimierender, entsetzlicher Anblick. mit anderen Worten: Während OSESP ein Konzert vor weit über eintausend Menschen gibt, läßt der Staat zu, daß sich nur wenige hundert Meter entfernt  zu selber Zeit junge Leute mit Drogen umbringen. Crack ist laut Medizinerangaben die am raschesten süchtig machende Droge – die zugleich den Organismus am schnellsten zerstört. Crack bewirkt innere Verbrennungen, zudem Paranoia, Verfolgungswahn, macht den Konsumenten gewalttätig – bewirkt zudem Infarkt, Herzstillstand. Welche Folgeprobleme diese Crack-süchtigen Kinder und Jugendlichen der brasilianischen Gesellschaft aufbürden, kann sich jedermann leicht vorstellen. Politisch verantwortlicher Gouverneur ist Josè Serra, bezeichnenderweise von 1998 bis 2002 Brasiliens Gesundheitsminister – 2008 unter öffentlichem Druck auch wegen der im Teilstaate Sao Paulo gängigen Folter, der Erzwingung von „Geständnissen“ völlig unschuldiger Menschen mittels Folterungen.

Das nächste Polizeipräsidium ist vom Crack-Umschlagplatz weniger als 300 Meter entfernt.Für die Neschling-Gegner, darunter gemäß Medienberichten just Sao-Paulo-Gouverneur Josè Serra(Sozialdemokratische Partei) selbst, wurde Neschling umso unerträglicher, je rascher sich Erfolge einstellten: Immer mehr Tournee-Einladungen in die besten Konzertsäle der Welt, CD-Produktionen für das schwedische Klassik-Label BIS geradezu am laufenden Band. Bleibt abzuwarten, wie lange sich der Dirigent diesen stressenden täglichen Kleinkrieg noch antut, wann er wieder nach Europa zurückkehrt.  Für die CD mit der Sechsten Sinfonie des deutschen Komponisten, veröffentlicht vom brasilianischen Label Biscoito Fino, hatte Neschling in Las Vegas den Grammy Latino bekommen.  Lediglich die Dritte Sinfonie wurde von OSESP noch nicht aufgenommen, die Produktion war für Anfang 2008 geplant.

Irineu Franco Perpetuo, Kritiker der größten brasilianischen Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“:“Auch nicht der erbittertste Gegner des Maestro kann bestreiten, daß es ein `Vor Neschling´ und ein `Nach Neschling`in der Geschichte der klassischen Musik Brasiliens gibt. OSESP wurde zum prinzipiellen Qualitätsmaßstab in diesem Land.“

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/22/menschenrechte-in-brasilien-polizei-todesschwadronen-in-lateinamerikas-fuhrendem-wirtschaftszentrum-sao-paulo-konstatiert/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/16/john-neschlings-lateinamerikanische-klassik-kulturrevolution-erster-latino-grammy-fur-ein-beethoven-album-seines-orchesters-osesp/ 

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/22/kulturminister-gilberto-gils-amtszeit-eine-grausige-bilanz-fur-brasilien/ http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/29/berichte-direkt-von-brasiliens-stadtkriegsfront-romanautor-ferrez-aus-sao-paulos-slumregion-capao-redondo/

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, 14. August 2008 um 02:08 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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