Auf Lateinamerikas wichtigster Buchmesse wurde erneut deutlich, wie schwer es Literatur in einem Land mit hoher Analphabetenrate und extremen Sozialkontrasten, Massenelend hat. In der Lepra-und Todesschwadronen-Megacity mit den über 2000 Slums bekamen dies auch die angereisten und groß angekündigten deutschsprachigen Autoren zu spüren, reflektierten im Website-Interview: Julia Franck, Ulrich Peltzer, Antje Ravic Strubel und Ilija Trojanow, dazu Robert Menasse aus Österreich und Perikles Monioudis aus der Schweiz saßen bei ihren Biennale-Literaturdebatten schlichtweg in leerem Saal. Der große Alt-68er Oskar Negt traf sich im Goethe-Institut mit dem Schriftsteller und Kolumnisten Zuenir Ventura, einem der besten Kenner brasilianischer Slum-Strukturen – beide mußten ebenfalls mit einem halbleeren Saal vorliebnehmen – nicht einmal die geladenen Gäste waren erschienen. Hinweis auf hiesigen Zeitgeist.
Ulrich Peltzer, Julia Franck, Marcelo Backes, Antje Ravic Strubel
Sao Paulo, Todesschwadronen, Folter, Blutbäder: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/10/taglich-ausergerichtliche-exekutionen-in-brasilien-menschenrechts-minister-paulo-vannuchi/
Frankfurter Buchmesse 2013 – Gastland Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/10/09/frankfurter-buchmesse-in-brasilien-scharfe-expertenkritik-an-buchmessen-auf-denen-anders-als-in-deutschland-bucher-verkauft-werden-messe-wie-gang-ins-shopping-center/
Eine bizarre Situation: Durch die Riesenhalle der Buchmesse fluten Menschenströme, doch im großen, keineswegs versteckten Salao das Ideas, dem Salon der Ideen, gesponsert von Volkswagen, reden Ilija Trojanow, Robert Menasse und Perikles Monioudis vor leeren Stuhlreihen über deutschsprachige Literatur in der globalisierten Welt. Der von draußen hereindringende Messelärm ist barbarisch(realitätsfremde Redakteure von „Kultur“-Sendern in Deutschland begreifen wie üblich daher die entsprechenden Korr-Beitrags-O-Töne nicht) und Ilija Trojanow aufgebracht: ”Es geht eigentlich nur um die Liste der Namen, mit denen man nachher angeben kann. Dann sagt man, all diese bekannten Namen waren da, wir haben tolle Arbeit geleistet. Die Buchmesse von Buenos Aires hat dagegen eine ganz andere Intensität”.
Der Wiener Robert Menasse – die angesehenste Qualitätszeitung macht ihn glatt zum Deutschen – war Literaturprofessor an der Bundesuniversität von Sao Paulo, zwei seiner Bücher wurden in Brasilien, wie er ironisch sagt, zwar gedruckt, doch nicht veröffentlicht. Auch Menasse findet die Biennale-Zustände unter aller Kanone, sagt im Website-Interview: ”Die organisatorischen Bedingungen und Umstände waren demütigend für die Autoren. Man kann nicht mit Autoren reden, wo es akustisch gar nicht funktionieren kann, weil Lärm rundherum ist. In Deutschland, in Österreich, überhaupt in europäischen Ländern gilt in der Regel Lesen als Bestandteil der kulturellen Identität des Menschen, eines gebildeten Menschen, gehört zum Selbstverständnis. In Brasilien ist es anders. Dieses Land fetischisiert nicht Allgemeinbildung und Literatur, Kultur, Kunstereignisse. Als ich an der Universität von Sao Paulo unterrichtet habe, konnten jene, die Deutsch studierten, bis zum Ende ihres Studiums nicht gut deutsch, die waren garnicht an Literatur interessiert. Aber an der philosophischen Fakultät gab es Studenten, die perfekt Deutsch lernten, um deutsche Philosophen im Original lesen zu können.”
Menasse nennt Argentinien „viel europäischer – kulturell und in der gesamten Entwicklungsgeschichte “ als Brasilien. „Argentinien ist eigentlich ein europäisches Land, Brasilien indessen wirklich ein lateinamerikanisches.”
„Wir sind Feuilleton-Juden“. DER SPIEGEL 2018, Ausriß
–Julia Franck: „Kriegsverbrecher und jüdische Emigranten“–
Tags darauf diskutieren Julia Franck, Ulrich Peltzer und Antje Ravic Strubel im Salon der Ideen über zeitgenössische deutsche Literatur – wiederum entsetzliche Leere. Julia Franck, deren „Mittagsfrau” von einem großen brasilianischen Verlag auf der Biennale lanciert wird, bleibt gelassen: ”Ich bin, muß ich gestehen, überhaupt nicht perplex – vielleicht ist das sogar falsch, das nicht persönlich auf mich zu beziehen. Der Lärmpegel hier kündet von Fußball, von Schwimmbad, von Eishockeyveranstaltungen, der kündet von Schülern, die hier auch viel unterwegs sind, die sich vielleicht Comics, vielleicht sogar andere Medien, DVDs kaufen. Die Kulturen, zum Beispiel in Deutschland, die Frankfurter Buchmesse, die überfüllten Säle dort, wo Literatur plötzlich in den letzten Jahren eine Art öffentliches Ereignis geworden ist, unterscheiden sich von der südamerikanischen, oder auch von der asiatischen. Aber Literatur war schon immer etwas, das ich – um es böse zu sagen – auch elitär zurückgezogen hat. Aber was mich an Sao Paulo viel mehr interessiert – es ist ein großer Sumpf von unterschiedlichsten Kulturen, die hier zusammenkommen und die sich trotzdem untereinander tolerieren, die sich vielleicht auch untereinander bekriegen, mitunter verfolgen. Aber sie existieren, sie leben in derselben Stadt, also die Kriegsverbrecher mit den jüdischen Emigranten. Es gibt das große jüdische Krankenhaus, es gibt eine orthodoxe jüdische Kultur in Sao Paulo.”
Brasilien hat bisher 143 deutsche Buchlizenzen gekauft – von Thomas Mann und Hermann Hesse bis Günther Grass und Heinrich Böll. Ilija Trojanows „Weltensammler” kommt 2009 heraus. Argentinien erwarb nur 32, Mexiko nur 23 solcher Lizenzen. In Brasilien hat es Literatur dennoch sehr schwer, sagt Dr. Wolfgang Bader, Leiter des Goetheinstituts von Sao Paulo: ”Die Zahl der Leser ist relativ gering – und dann kommen noch deutsche Autoren, die praktisch völlig unbekannt sind. Warum sollte sich ein Brasilianer dafür interessieren? Das Goethe-Institut vermittelt, bietet Literatur hier an, sorgt dafür, daß deutsche Bücher Verleger finden. Es ist ein zaghafter Beginn, es ist ne schwierige Arbeit, ohne Zweifel. Aber das hängt damit zusammen, daß Lektüre und Literatur in diesem riesigen Land eben ein Minderheitenvergnügen ist – hier gibts weniger Leser als in Deutschland – und Deutschland ist nicht so groß wie Brasilien.”
Marcelo Backes, der Julia Francks „Mittagsfrau” für den Verlag „Nova Fronteira” übersetzt hat, ärgert besonders, daß nicht einmal Brasiliens Literaturexperten, Literaturkritiker Notiz von den deutschsprachigen Schriftstellern nehmen – nennt dies schlichtweg ein Zeichen von Inkompetenz. Abenteuerlich schlechte Übersetzungen führen in Brasilien immer wieder zu ebenso abenteuerlichen Kritiken. ”Die Literaturkritik ist im Vergleich zur deutschen Literaturkritik sehr mangelhaft. Und dashier wäre ja eine Chance, sich zu informieren. Es fehlt Interesse – das ist unprofessionell. Und man sieht das Ergebnis, was herauskommt. Wenn die selben Autoren in China sind – die Räume sind voll. Wie viele Leute an der Bundesuni von Sao Paulo, der größten und wichtigsten ganz Lateinamerikas, können deutsche Literatur im Original lesen? Es gibt niemanden dort. Eine völlig andere Situation als in Deutschland – auch die dortige Kultur der Literaturveranstaltungen gibt es hier nicht. Eine Lesung würde in Brasilien überhaupt nicht funktionieren, weil man wahrscheinlich keine Geduld hat, mehr als fünf Minuten zuzuhören. Wenn ich ein Buch übersetze, muß ich versuchen, ein Nachwort zu schreiben, weil andernfalls der Journalist hier nicht weiß, wie er mit dem Werk umgehen, wie er es besprechen soll.”
–„Der Erfolg von Ingeborg Bachmann beruht auf Mißverständnissen“–
Robert Menasse beschreibt im Website-Interview den kuriosen Erfolg von Ingeborg Bachmann in Brasilien: „Ich habe unglaublich lachen müssen, als ich die portugiesische Version eines ihrer Bücher hier in die Hände bekam.” Da wurde u.a. Wiens berühmte Flanierstraße „Der Graben” allen Ernstes nicht als Adresse, sondern als „Abwassergrube” übersetzt, in der dann die Romanfigur mit jemandem Kaffee trinkt. Brasiliens Literaturkritik lobte dann laut Menasse die Schriftstellerin wegen ihrer großen Kunst, aus dem scheinbaren Realismus immer plötzlich ins Absurde und in den Surrealismus zu kippen. Studenten hätten dann sogar diese „Erzähltechnik” Ingeborg Bachmanns in wissenschaftlichen Arbeiten analysiert. „Der Erfolg von Ingeborg Bachmann in Brasilien beruht auf Mißverständnissen.”
Gloria Pasqual de Camargo, Hochschulprofessorin Sao Paulos, zählt zur Handvoll Interessierter, die sich zu den deutschsprachigen Autoren aufmachten. „Ich bin total enttäuscht, glaubte, die Professoren der Bundesuniversität hier zu sehen, alle Experten. Ich kam extra sehr früh, weil ich dachte, andernfalls keinen Platz mehr zu bekommen…” Die ältere Dame sieht bei ihren Studenten, überhaupt bei den Brasilianern kaum Vorkenntnisse über deutsche Literatur, deutsche Kultur. ”Die meisten kennen fast nichts. Wenn ich ein wenig von Schiller oder Goethe spreche – sie haben von denen noch nie gehört. Vielleicht besteht bei Schülern und Studenten das Problem, daß diese zuviel nebenbei noch arbeiten und daher keine Zeit haben, sich für andere Kulturen zu interessieren. Sie lesen nicht viel. Und wenn wir Lehrer nicht über diese Literatur sprechen, finden sie diese nicht alleine. Obwohl hier ein Goethe-Institut existiert, fehlt bei Schülern und Studenten schlichtweg Interesse. Die meisten Schriftsteller, die sie kennen, sind diese Blockbusters – die Liste der zehn bestverkauften Autoren, ja, das lesen sie. Die deutsche Kultur im allgemeinen ist etwas nicht so normal für sie. Wenn sie von Deutschem hören – ach deutsch? – kann man das lesen, ist das nicht komisch, skurril? Die nordamerikanische Literatur dagegen kommt als Blockbuster – das ist das Problem. Ich hoffe, mit diesen neuen Schriftstellern kommt etwas Neues zu uns nach Brasilien. Das neue, moderne Deutschland. Ich liebe die deutsche Literatur, die deutsche Sprache!”
Auffällig, wie größtenteils oberflächlich und lieblos brasilianische Bücher die Realität des Drittweltlandes widerspiegeln, wieviele wichtige Realitätsaspekte schlichtweg fehlen – daß die (literarische) Fiktion gewöhnlich von dieser Realität weit übertroffen wird, ist inzwischen beinahe ein geflügeltes Wort. Kurioserweise war es ein staatlicher Stand, der Postkarten mit dieser Aufschrift verteilt:“O nosso Brasil é ainda uma grande incognita“. In Brasilien ist Buchlektüre als Freizeitbeschäftigung nahezu bedeutungslos, „ein Minderheitenvergnügen“ – in Deutschland steht Bücherlesen gemäß Verbraucheranalysen auf Platz sechs der beliebtesten Freizeitbeschäftigungen: 20, 8 Prozent lesen besonders gern, 34,9 Prozent gern. Von jener Minderheit der Brasilianer, die überhaupt ein Buch lesen und verstehen kann, erklärten laut einer Studie 45 Prozent, daß sie nicht gerne lesen. Die Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ gibt zudem einen Hinweis auf die Bildungspolitik des 2003 in den Präsidentenpalast eingezogenen Staatschefs Lula: Die Grundschulbildung Brasiliens habe sich im Vergleich zu 1995 verschlechtert.
Gefragt, ob die Welt Lateinamerika nicht verstehe, antwortete der argentinische Schriftsteller Tomas Eloy Martinez: „Schlimmer noch – die Welt nimmt uns nicht wahr – es ist so, als ob Lateinamerika nicht existierte.“ Ein erfahrener deutscher Rundfunkredakteur bemerkte:“Wir haben immer weniger aus Brasilien im Programm – die ganze Region droht immer mehr in Vergessenheit zu geraten.“
Angesichts der Lage Brasiliens ist das Lob des deutschsprachigen Mainstreams für die Zustände im Tropenland entsprechend groß.
Ulrich Peltzer, scharfer Beobachter der neoliberalen Sozialkontraste Brasiliens, reflektiert über Brasiliens Privilegiertenghettos, die geschlossenen Wohnanlagen mit Privatpolizei, stellt in Sao Paulo entsprechende Recherchen an, sagt im Website-Interview:”Das ist ein Umbau, der zur Zeit in Europa auch stattfindet, daß es immer mehr solcher Gated Comunities gibt, Häuser mit Doorleuten. Städtische Räume, die plötzlich keine öffentlichen Räume mehr sind, sondern privatisiert werden – daß sich sowas wie ne Security-Industrie herausbildet, die in Brasilien ja tatsächlich schon Industriestatus zu haben scheint, also ein grundsätzlicher postfordistischer Umbau von Gesellschaft, der möglicherweise bei den Gated Comunities, den privaten Sicherheitsdiensten in disfunktional werdenden Städten anfängt – und bei den privaten Söldnern im Irak aufhört.”
Hintergrund
Joao Ubaldo Ribeiro: http://www.swr.de/swr2/programm/extra/lateinamerika/stimmen/beitrag20.html
Gilberto Dimenstein, Kolumnist der größten brasilianischen Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, im August 2008: „Inmitten von Chaos, Barbarei und Dummheit, lernt Sao Paulo, Talente in verschiedenen Sektoren zu fördern.“
In Sao Paulo, so Dimenstein in einer anderen Kolumne, existiert noch Misere wie in Afrika.
Julia Franck und Ulrich Peltzer in Sao Paulo:
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Morde an systemkritischen Journalisten in Brasilien – kein Wort darüber bei der Buchmesseeröffnung 2013: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/01/30/brasilien-unter-lula-rousseff-auf-pressefreiheit-ranking-weiter-abgesturzt-nur-noch-platz-108-mali-platz-99-uganda-platz-104-guatemala-platz-95-nicht-zufallig-soviel-lob-aus-mitteleuropa-fur-bra/
Ausriß. “Schluß mit der Straffreiheit!” Straßenprotest gegen Ermordung des systemkritischen brasilianischen Journalisten Rodrigo Neto.
Bisher ist nichts darüber bekannt, ob Neto angesichts seiner politisch hochbrisanten Recherchen über die Todesschwadronen beispielsweise zu einem Blogger-oder Medienkongreß nach Deutschland, Berlin eingeladen worden war, welche mitteleuropäischen Politiker ihm ihre Solidarität und Unterstützung erklärten. Ebenso ist nichts darüber bekannt, ob Neto wegen seines außerordentlichen Muts und Engagements für mitteleuropäische Medienpreise vorgesehen war.
tags: frankfurter buchmesse 2013 – gastland brasilien, glücksspiel in rio und folterer, militärdiktatur brasiliens
http://oglobo.globo.com/pais/bicho-cresceu-no-rio-com-ajuda-de-torturadores-10267365
http://oglobo.globo.com/pais/bicho-cresceu-no-rio-com-ajuda-de-torturadores-10267365
Starker Einfluß der Folterknechte im Karneval von Rio de Janeiro, laut Dokumenten.
Einer der bekanntesten Folterer war jahrelang Chef der Liga der besten Sambaschulen von Rio de Janeiro…
http://www.ila-web.de/brasilientexte/koks.htm
Ausgerechnet ein Vizepräsident der Sozialistischen Internationale(SI), der inzwischen verstorbene Linkspopulist und Ex-Gouverneur Leonel Brizola, gilt als politisch hauptverantwortlich dafür, daß die Verbrechersyndikate in Rio de Janeiro seit den 80ern soviel Macht und Einfluß erreichten, sich derart mit der Politik verquickten. Soziologen, Kolumnisten, selbst Bischöfe der katholischen Kirche betonen einhellig, daß er in zwei Amtszeiten dem organisierten Verbrechen faktisch freien Lauf ließ – im Tausch gegen politische Unterstützung. Schließlich sind die Slumbewohner auch ein wichtiges Wählerreservoir, müssen gewöhnlich für jene Kandidaten stimmen, die die Slumbosse vorgeben. Brizola, reicher Großgrundbesitzer, Chef der „Demokratischen Arbeitspartei“(PDT), rühmte sich immer seiner Freundschaft zu Willy Brandt – und erntete von der SPD, in deren Gazetten, viel Lob für seine Politik. Nur ganz, ganz wenige in der Partei griffen sich deshalb stets an den Kopf, konnten sich aber nicht durchsetzen. Ein Filialleiter der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung räumte zumindest ein, Brizolas PDT sei aus „pragmatischen Gründen“ in die Sozialistische Internationale aufgenommen worden:“Man war froh, daß überhaupt eine Partei aus Lateinamerika wie die PDT dazugehört – und schaute nicht so genau hin, was diese tut.“ Brizola hielt beste Beziehungen zum letzten Diktaturpräsidenten, dem Geheimdienst-General Joao Figueiredo, seine PDT ging immer wieder Wahlbündnisse mit der Partei des Militärregimes ein. Alles kein Problem für SI und SPD. Die Gangsterbosse tauften eines ihrer wichtigsten Produkte, jene kleinen Kokaintütchen, auf „Brizola“ – ihm zu Ehren. Des PDT-Chefs rechte Hand, der von Europas Intelligentsia bis heute vergötterte „Anthropologe“, Schriftsteller und Kongreßsenator Darcy Ribeiro, verstand sich gemäß hiesigen Medienberichten ebenfalls bestens mit dem organisierten Verbrechen. Historisch wurde ein Foto von 1986: Gouverneurskandidat Ribeiro auf einem Wahlkampfbankett mit schwerreichen Unterwelt-Bossen – Capitao Guimaraes, laut Zeugenaussagen einer der berüchtigtsten Folterknechte aus der Diktaturzeit sagt neben ihm ins Mikrophon:“Wir unterstützen den Kandidaten, der uns unterstützt.“(Hintergrundtext)
Literatur: Jürgen Roth, Schmutzige Hände – Wie die westlichen Staaten mit der Drogenmafia kooperieren, Bertelsmann-Verlag München, 2000,
“Höchstes Lob erntete der Diktator und Judenhasser stets von dem “Anthropologen” Darcy Ribeiro:”Getulio Vargas war der größte brasilianische Staatsmann. Er wurde vom Volk am meisten geliebt und von den Patronal-Eliten am meisten gehaßt.” Ribeiros Partei PDT ist Vollmitglied der Sozialistischen Internationale und betrachtet Vargas als geistigen Ziehvater.”
“O ultimo amigo que enterrei, a pedido dele proprio, foi Darcy Ribeiro.”(Leonardo Boff) (”Der letzte Freund, den ich auf dessen Bitten beerdigt habe, war Darcy Ribeiro”)
Cecilia Coimbra, langjährige Leiterin von “Tortura nunca mais”(Nie mehr Folter): ”Nach Ustra, sagt sie, sollte auch der berüchtigte Capitao Guimaraes angeklagt werden. In Rio de Janeiro gab er Folter-Lehrvorführungen für jeweils über einhundert Offiziere, demonstrierte laut Zeugenaussagen an politischen Gefangenen die sadistischsten Techniken. Seit dem Diktaturende mischt der Ex-Folterer im brasilianischen Kulturbetrieb mit, organisiert die weltberühmte Karnevalsparade der besten Sambaschulen Rios, ist Chef ihrer Liga. Für Angehörige der Diktaturopfer, für Gefolterte von damals ist besonders absurd, daß die zuständigen Autoritäten, welche genauestens von dessen Taten wissen, ihm diesen Posten nicht entziehen.”
Köln und Rio de Janeiro – Partnerschaft der politisch Verantwortlichen: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/rio-film-tropa-de-elite-2-fur-oscar-nominiertbester-auslandischer-streifen-stadtepartnerschaft-koln-rio-de-janeiro-trailer-anklicken/
“Folter ohne Ende”: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Folter unter der Rousseff-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/07/26/brasilien-folter-unter-der-rousseff-regierung-folter-ist-routine-in-gefangnissen-allgemein-verbreitet-und-institutionalisiert-seit-der-militardiktatur-rechnet-die-gewaltpraxis-in-den-brasiliani/
Caros Amigos – Zeitschrift, in der auch Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe Frei Betto in jeder Ausgabe eine große Kolumne hat.
Günther Zgubic, Gefangenenpriester aus Österreich, zu Folter unter der Lula-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/29/osterreichischer-pfarrer-und-gefangenenseelsorger-gunther-zgubic-in-brasilien-weiter-folter-in-allen-varianten-eine-deutsche-frau-wurde-unglaublich-mit-elektroschocks-kaputtgemacht-psychisch-ner/
Brasiliens populäre Drogen-Baile-Funks – Massendiscos, häufig vom organisierten Verbrechen veranstaltet, vom Staat gewöhnlich toleriert:
“In der Hölle hinter Gittern”: http://www.welt-sichten.org/artikel/221/der-hoelle-hinter-gittern
Scheiterhaufenopfer in Rio de Janeiro von 2013: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/05/16/brasilien-die-sondergerichte-des-organisierten-verbrechens-in-den-slums-polizei-konnte-zufallig-ein-gefesseltes-und-bereits-gefoltertes-opfer-in-rio-de-janeiro-befreien-am-tage-des-besuchs-von-bu/
Auf dem UNO-Ranking für menschliche Entwicklung liegt Brasilien auf Platz 85, Deutschland auf Platz 5.
Paulo Coelho: ”Die Gewalt in Rio de Janeiro ist ein Riesenproblem. Der Gouverneur versprach, es zu lösen. Das hat er aber nicht gemacht. Und egal wo man hinschaut, überall springt dich der Teufel der Korruption an.”(Die Welt)
Die Sondergerichte des organisierten Verbrechens: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/05/16/brasilien-die-sondergerichte-des-organisierten-verbrechens-in-den-slums-polizei-konnte-zufallig-ein-gefesseltes-und-bereits-gefoltertes-opfer-in-rio-de-janeiro-befreien-am-tage-des-besuchs-von-bu/
Gilberto Gil als Kulturminister: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/22/kulturminister-gilberto-gils-amtszeit-eine-grausige-bilanz-fur-brasilien/
Luiz Ruffato, Mitglied der offiziellen brasilianischen Buchmesse-Delegation, in der Neuen Zürcher Zeitung 2013:
”Allerdings sind wir im Alltag noch immer mit einer institutionalisierten Barbarei konfrontiert, die sich nicht nur in einer konstanten physischen Bedrohung, sondern auch in der Korruption und in der absoluten Missachtung des menschlichen Lebens äussert. In Brasilien ist der Begriff des «wilden Kapitalismus» keine Metapher.”
Marina Silva und die evangelikalen Wunderheilersekten: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/11/erst-bandit-und-gefurchteter-killer-dann-sektenpastor/
Menschenrechtssamba von Jorge Aragao, anklicken: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/12/o-iraque-e-aqui-der-irak-ist-hier-hit-von-jorge-aragao/
–Hintergrundtext:
Kunstbiennale Sao Paulo 2006/Motto:“Wie miteinander leben/118 Künstler auf 25000 Quadratmetern in Lateinamerikas Kulturhauptstadt/Erfolgreichste Biennale der Erde
In Lateinamerikas Kulturmetropole Sao Paulo, der drittgrößten Stadt der Welt, beginnt heute die 27. internationale Kunstbiennale. Wiederum werden mindestens eine Million Besucher erwartet, so daß die nach Venedig zweitälteste Biennale die mit Abstand erfolgreichste des Erdballs ist. 118 Künstler, nur etwa zwanzig Prozent davon Brasilianer, setzen im riesigen Biennale-Gebäude des Stadtparks auf 25000 Quadratmetern diesmal das sehr politische Motto: „Como viver junto“, wie miteinander leben, um. Dazu zahlreiche Seminare, Filme, Debatten bis zum Schlußtag, dem 17. Dezember. Zu den Kuratoren der Biennale zählt der deutsche Kunsthistoriker Jochen Volz – die vier deutschen Biennale-Beiträge sind von drei in Deutschland lebenden Ausländern – und Jeanne Faust aus Hamburg
Die erste Provokation gleich am Eingangsportal, passend zum Biennale-Motto. Saftig grüner Rasen, eingezäunt von hohen Metallgittern, obendrauf NATO-Stacheldraht, wie man ihn alle paar Schritte in den besseren Vierteln Sao Paulos sieht. Dem italienischen Künstler Francesco Jodice sind sie gleich aufgefallen, diese geschlossenen Villen-Wohnanlagen hinter hohen Mauern mit Stacheldraht und mißtrauischer schwerbewaffneter Privatpolizei. Zwischen den Slums, mitten in der Misere, wirken die Privilegierten-Ghettos wie Festungen. Der deutsche Kunsthistoriker Jochen Volz ist Gastkurator der Biennale.
“Wir haben versucht, all diese Konflikte in ihrer Bandbreite zu reflektieren. Es sind alles Künstler, die recht politisch arbeiten, über soziale Themen arbeiten, viel über das Zusammenleben reflektieren, oder auch das Alleinleben als Gegenpol. Ich denke, das Thema Como viver junto in Brasilien ist hoch spannend, aber ist auch auf internationaler Ebene ein hoch spannendes Thema, eine wirklich wichtige Frage. Und es ist natürlich auch klar, daß die Ausstellung überhaupt keinen Anspruch stellt, daher ne Antwort zu geben.“
Sao Paulo wird seit Mai von Terroranschlägen des organisierten Verbrechens heimgesucht, Brasilien zählt auch dieses Jahr wieder über fünfzigtausend Gewalttote, mehr als im Irakkrieg. Bemerkenswert, daß in einem solchen Land, in einer solchen Stadt eine internationale Kunstbiennale dieser Qualität und Größenordnung stattfinden kann. An den elektrisierenden Widersprüchen, den entsetzlichen Sozialkontrasten reiben sich die Künstler, auch die zugereisten aus Europa.
Jochen Volz nennt die deutsche Beteiligung sensationell – ein Kubaner, eine Koreanerin, ein Argentinier, die in Deutschland leben – und Jeanne Faust aus Hamburg.
Der Argentinier Tomas Saraceno aus Frankfurt am Main liefert den spektakulären Blickfang der Biennale – sogenannte utopische Architektur, drei Stockwerke hoch im Lichthof. Enorme, miteinander verbundene transparente Plastikballons, in denen die Besucher per Strickleiter hochklettern können.
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Ballettlegende Richard Cragun kündigt am Opernhaus von Rio de Janeiro/unzumutbare Arbeitsbedingungen, Sabotieren seiner Projekte, fatalste Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit der Kulturbürokratie
Rio de Janeiros Opernhaus hatte vor zwei Jahren das unverschämte Glück, die Stuttgarter Tanzlegende Richard Cragun, einen der fünf besten, wichtigsten Tänzer des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts, als Ballettdirektor engagieren zu können. Cragun gehörte über drei Jahrzehnte zum Stuttgarter Ensemble, schrieb dort mit seiner brasilianischen Partnerin Marcia Haydee unter dem nicht weniger legendären Choreographen John Cranko geradezu Ballettgeschichte. Vor vier Jahren entschloß er sich indessen, mit seinem brasilianischen Ensemblekollegen und Stuttgarter Hauschoreographen Roberto de Oliveira in Brasilien das DeAnima-Ballett für modernen Tanz zu gründen. Daß er nach langem Überlegen die Einladung des Opernhauses annahm, zusätzlich das einzige klassische Ballettensemble des Tropenlandes zu leiten, erwies sich indessen als fatale Fehlentscheidung – man beutete Craguns Idealismus auf absurdeste Weise aus, sabotierte seine Projekte – jetzt hat er deshalb gekündigt – und ist wieder offen für Engagements in Deutschland.
Noch in den achtziger Jahren war Rio de Janeiro die Kulturhauptstadt des Tropenlandes – und Richard Cragun dort immer wieder gefeierter Stargast. Doch die goldenen Zeiten Rios sind längst vorbei – Sao Paulo, das New York tropical, gibt den Ton an. Die Zehn-Millionen-Stadt am Zuckerhut rutschte in tiefe Dekadenz, hochbewaffnete Verbrechersyndikate beherrschen einen Großteil des Stadtgebiets, sind eng verquickt mit Eliten und Politik. Die kritische Masse an Künstlern und Intellektuellen migrierte nach Sao Paulo – im Kulturbereich von Rio überwiegt entsetzliches Mittelmaß. Richard Cragun wollte in der Strandstadt eigentlich sein Lebenswerk beenden, den Rest seines Lebens verbringen. Jetzt will Cragun nur noch weg.
“Ich habe es einfach satt, es geht nicht, es geht nicht. ..Ich innerlich weiß, es ist nicht zu machen in dieser jetzigen Situation hier – wegen der Inkompetenz, wegen der Planung innerhalb des Hauses…Was mich wütend macht, ist, daß viele Leute in Europa denken, Cragun hat das nicht geschafft, Cragun war nicht gut, Cragun war ein schlechter Direktor.“
Davon kann keine Rede sein – trotz chaotischer Arbeitsbedingungen hat er enormen Publikumserfolg, will Ballett nicht länger nur als Elitevergnügen, boxt viel mehr Vorstellungen, halbierte Eintrittspreise durch, holt erstmals Slumbewohner ins Opernhaus – viele Karten kosten umgerechnet nur 28 Cents. Doch Cragun ist zwar Ballettdirektor, bekommt jedoch ebenso wie seine vier Ballettmeister nie einen Vertrag, wird nur nach Produktion bezahlt, durchweg zwei, drei Monate verspätet. Die Leitung des Opernhauses kündigt der Öffentlichkeit großartig neue Ballette an, läßt Cragun monatelang alle Vorarbeiten leisten, degradiert ihn zum Mädchen für alles – obwohl die nötigen Mittel gar nicht bereitstehen.
“Ich habe ungefähr acht Ballette absagen müssen. Wir haben in meiner Zeit, in zwei Jahren, nie eine Produktion angefangen zum Studieren, zum Produzieren, mit einem unterschriebenen Vertrag. Das ist illegal. Es fällt denen überhaupt leicht, umzudenken – ach ja, das ist jetzt zu teuer, wir machen was anderes. Die Leute, die dieses Theater leiten, haben keine Kompetenz. Und das bringt einen Ballettdirektor in einen Streß, du kannst es nicht glauben.“
Als es um die Aufführung des Dornröschen –Balletts geht, möchte die zuständige Kulturfunktionärin von Cragun wissen, wer eigentlich die Musik geschrieben habe. Bekanntlich Tschaikowsky. „Und wieviel müssen wir Herrn Tschaikowsky für die Aufführungsrechte bezahlen?“, wird er daraufhin gefragt. Ignoranz allerorten.
Daß Cragun zu den fünf wichtigsten Tänzern des 20. Jahrhunderts zählt, Ballettgeschichte mitschrieb, interessiert in Rios Kulturszene, in den lokalen Medien niemanden, man will es auch gar nicht wissen.
Das Ensemble des Opernhauses völlig überaltert, die Mitglieder unkündbar, mit fürchterlicher unkreativer Beamtenmentalität, Laissez-Faire-Haltung. Neueinstellungen unmöglich.
“Man hat 91 Tänzer, die älteste Tänzerin ist 68 Jahre alt – eine Frau kann wählen, bis siebzig noch dort zu bleiben. Ich habe dreißig Leute älter als 48. Man hat 38 Tänzer, die einfach nicht tanzen können. Es ist zum Weinen, es ist sowas von trist. Es gab einen Jungen, kurz vor einer Vorstellung wieder besoffen. Hat bei Proben gefehlt, ruft aus Sao Paulo an, daß er nicht kommen könne für ein paar Tage, weil sein Hund krank ist. Und er hat Onegin studiert – Hauptrolle!“
Cragun will ihn entlassen – doch die Tänzerassoziation setzt per Anwalt durch, daß er bleibt, die wegen der Ausfälle gestrichenen Gagen dennoch bekommt. Cragun steht da wie ein Hampelmann, ohne Autorität.
“Das System hat sich selbst blockiert. Die nicht tanzen können, machen mir das Leben zur Hölle, so ist es.“
Cragun als Ballettdirektor sozusagen auf verlorenem Posten – jeder Tag länger vergeudete Zeit. Zudem macht die mittelmäßige, provinzielle Tanzszene der Stadt, deren Leute in den wichtigsten Medien, von Anfang an Front gegen Cragun und seinen Stuttgarter Kollegen Roberto de Oliveira – auch gegen das von ihnen gegründete DeAnima-Ballett für modernen Tanz. Intrigen, absurd schlechte Kritiken, Verleumdungen.
“Das ist eine Mafia, ein Komplott. Leute, die den Tanz in der Stadt kontrollieren – und jeder, der von auswärts kommt. Die wollten mich nicht haben hier, die wollten DeAnima nicht haben – das war klar.“
Cragun und Oliveira werden nicht als Bereicherung empfunden, sondern als lästige Gegner, Konkurrenten. Denn beide hätten Qualitätsmaßstäbe gesetzt, an denen alle Tanzkompanien Rios, gar Brasiliens, künftig gemessen würden. Oliveira sagt:
“Die Atmosphäre in Brasilien ist sehr wenig kreativ – man ist neidisch, engstirnig, kleinlich, will keine Ausländer. Die Situation ist kompliziert, nicht so einfach, wie ich dachte. Ich denke oft, ach, ich packe meine Koffer und gehe zurück nach Europa.“
Auch Cragun ist jetzt soweit. Er hätte die Tanzszene Rios auf internationales Niveau heben, damit das Image der Stadt kräftig aufbessern können.
“Sie haben nicht die Klugheit, um das hier attraktiv zu machen. Die Leute in Europa werden die hier einfach auslachen, sagen, das gibts doch nicht. Es ist nicht diskutabel.“
Craguns Kündigung bedeutet für Rios Kulturbürokratie, den Bürgermeister, die Gouverneurin eine schallende Ohrfeige, ist eine Riesenblamage.
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Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil und die Banditendiktatur: Slumvisite nach Okay der Gangsterbosse / Kritik von Kulturschaffenden, Intellektuellen
Brasiliens Kulturminister – und Musiker – Gilberto Gil verliert derzeit beträchtlich an Glaubwürdigkeit, weil er sich von gefürchteten, berüchtigten Gangsterbossen den Besuch eines Rio-Slums genehmigen ließ. Nach Darstellung von Kulturschaffenden, Intellektuellen hat Gilberto Gil damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel, den Terror gegen die Slumbewohner sozusagen offiziell anerkannt, legitimiert. Immerhin terrorisieren diese Milizen des organisierten Verbrechens auf grausame Weise die Bewohner, köpfen, foltern, verbrennen Menschen lebendig – und verhindern, daß die Slumbewohner für ihre Menschenrechte kämpfen können.
Gilberto Gil gibt sich derzeit rätselhaft und sehr widersprüchlich. Der begnadete Musiker tritt alle paar Tage in Rio de Janeiro auf und spielt jedesmal zur Freude seiner Fans endlich wieder einen ganz alten, sehr sozialkritischen Song, der sich für die Rechte der Slumbewohner einsetzt, deren ausweglose Lage beschreibt.
In den Hütten der Stadt, heißt es da, hat niemand mehr Illusionen über die Macht der Autoritäten, Maßnahmen zu ergreifen, sich den Haien entgegenzustellen, etwas für die Slumbewohner zu tun. Die Profite sind hoch – und niemand will davon etwas abgeben. So viele stupide, scheinheilige Leute.
Und immer wenn die Stelle mit dem bösen System kommt, das Nein sagt zu sozialen Verbesserungen für die Slumbewohner, hebt Minister Gil betonend, anklagend den Zeigefinger in die Höhe. Auf manche wirkt das wie Ironie, denn Gil gehört ja jetzt zum System, ist einer von den Autoritäten.
Die Leute in den Slums werden bekanntermaßen vom organisierten Verbrechen beherrscht, terrorisiert, leben in einer Banditendiktatur. Heiligabend und in der Silvesternacht schossen die Banditenmilizen sogar nahe von Gilberto Gils Luxus-Strandappartement, im Slum Rocinha, wieder wie üblich mit Maschinenpistolen stundenlang Salut – um Macht zu demonstrieren.
Als Minister akzeptiert Gilberto Gil indessen die Herrschaft des organisierten Verbrechens über deren Parallelstaat der 600 Rio-Slums. In den sogenannten Complexo da Marè mit über hundertdreißigtausend Bewohnern fuhren Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini in der schwarzen Regierungslimousine ein – ohne Polizeischutz oder Bodyguards, wie von den Banditen gefordert. Und ließen sich dort mit Breakdance und Rap unterhalten, stellten Qualifikationsprogramme für Jugendliche vor.
Jose Murilo de Carvalho, Mitglied der nationalen Dichterakademie, ein renommierter Historiker:
“Ein gravierender Fall, die Minister begingen einen schwerwiegenden Fehler – alles unakzeptabel, durch nichts zu rechtfertigen, unvereinbar mit der Demokratie im Lande. Der Staat muß solche Gangster dingfest machen. Stattdessen wurde das organisierte Verbrechen vom Staat als Parallelregierung, als Institution legitimiert – ein Eingeständnis der Schwäche, der Niederlage. Leider kein Einzelfall – die lokalen und regionalen Autoritäten schließen mit den Banditenbossen häufig solche Abkommen. Das organisierte Verbrechen blockiert die Politisierung der Slumbewohner, hält sie ruhig, verhindert Rebellionen, dient somit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität. Die Slumbewohner besitzen nicht einmal die elementarsten Bürgerrechte.“
Professor Paulo Sergio Pinheiro, angesehener Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo:
“All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen. Damit ist bestätigt, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliert.“ Gil und Berzoini hätten sich zudem im Slum von fünfzehn Männern unterstützen lassen, die just von den Gangstern ausgesucht worden seien.
In der berühmten Sambaschule Mangueira wurde jetzt der Vizedirektor und Chef der hundertköpfigen Perkussionsgruppe gemäß Polizeiermittlungen von einer Banditenmiliz bestialisch ermordet. Minister Gil besucht die Sambaschule, übergeht den brisanten Fall aber mit Schweigen, bezieht als Regierungsvertreter keineswegs öffentlich Position gegen den zunehmenden Druck des organisierten Verbrechens auf die Sambaschulen. Stattdessen geheuchelte Fröhlichkeit, Sambagetrommel, ein Minister, der Optimismus und Karnevalsvorfreude auszustrahlen sucht.
Vor wenigen Tagen trat Gil mit seiner Tochter, der bekannten Sängerin und Schauspielerin Preta Gil auf, sang natürlich wieder jenen sozialkritischen Hit, erntete Riesenbeifall. Preta Gil indessen spricht anders als der Vater die Zustände ganz offen an.
„Es ist aussichtslos, nicht nur die Slums werden von der gutorganisierten Drogenmafia beherrscht. Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert – alle sind doch verwickelt, das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt! Niemand tut etwas – die Gewalt verfestigt sich immer mehr!“
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Vierteilen, köpfen, skalpieren, lebendig verbrennen
Der Alltag in brasilianischen Favelas
Eine neunzehnjährige Frau wird 2003 von einer Banditenmiliz Rio de Janeiros zuerst vergewaltigt, dann bestialisch gefoltert, schließlich skalpiert und totgeschlagen. Das Opfer findet man hinter einem öffentlichen Krankenhaus, unweit dem Nobelviertel Barra da Tijuca, Brasiliens „Miami“. Nur eine einzige Zeitung bringt eine winzige Notiz von wenigen Zeilen, nennt die von der Banditenmiliz beherrschte Favela. In Mitteleuropa gäbe es einen öffentlichen Aufschrei, würden Politiker, Menschenrechtler, Frauenverbände reagieren, die Sicherheitsbehörden alles daransetzen, die Täter zu fassen. In Rio, in Brasilien nichts dergleichen, der Fall dringt überhaupt nicht ins öffentliche Bewußtsein, wird von der Mittel-und Oberschicht, den Autoritäten, gar nicht mehr wahrgenommen. Denn seit Kolonialzeiten gehört derartiges zur Normalität, für die Bevölkerungsmehrheit in den Elends-und Armenvierteln erst recht. Wenige Tage später in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt mit über tausend deutschen Unternehmen – die gleiche Untat. Wieder wird eine junge Favela-Frau skalpiert, dann bestialisch ermordet. Und wieder nur eine winzige Notiz in einer einzigen Zeitung, keinerlei Reaktion auch von der größtenteils mit Frauen bestückten Präfektur, gar von Bürgermeisterin Marta Suplicy, Vizechefin der Arbeiterpartei von Staatspräsident Lula. In den Slums von Sao Paulo, mit dem Mehrfachen der Bevölkerung Tschetscheniens, werden Menschen von Banditenmilizen auch lebendig verbrannt – nur in Rio de Janeiro und Millionenstädten des Nordostens jedoch veröffentlicht die Presse sogar Fotos der verkohlten oder völlig zu Asche zerfallenen Opfer, aus lokalen Favelas. Oder von Geköpften. Von blutigen, aufgedunsenen, nackten Leichen, über die sich große Aasgeier hermachen. Entsetzlicher Verwesungsgeruch. Tote sollen oft zwecks Abschreckung bei Tropenhitze tagelang im Gassenlabyrinth liegenbleiben – jedermann jeden Alters muß so mit ansehen, wie freilaufende Schweine diesen die Gedärme meterlang herauszerren, die Leichen schließlich ganz oder teilweise auffressen. Die Liste von nahezu unvorstellbaren Untaten ließe sich beliebig verlängern. Jurandir Freire Costa, Therapeut, Uni-Dozent, einer der führenden Intellektuellen Brasiliens, hat eine Erklärung für das Desinteresse der Bessergestellten Rios, Sao Paulos, Salvadors oder Fortalezas am Los der Slumbewohner:“Die Mittel-und Oberschicht spricht diesen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiert sie quasi als Nicht-Menschen, reagiert daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Bevölkerungsteil. Daß Slumbewohner kaum ein Minimum an Menschenrechten genießen, ist somit irrelevant.“ Favelas – eines der gravierendsten hausgemachten Probleme des Tropenlandes.
Die Verbrechen – alles nur Einzelfälle, sensationalistisch ausgeschlachtet, aufgebauscht? In Deutschland werden jährlich über eintausend Menschen umgebracht – bei einer Gewaltrate wie in Brasilien, mit nur etwa doppelt so hoher Einwohnerzahl, wären es indessen weit über zwanzigtausend. Zudem befänden sich mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat-bzw. Gangsterhand. Jeder kann erahnen, wie Deutschland dann aussähe. An Sao Paulos Slumperipherie – monatlich über achthundert Morde. Bei weit höherer Dunkelziffer, überall im Lande sind die offiziellen Zahlen nachweislich arg geschönt. Und die meisten Verbrechen werden von den Favelados gar nicht angezeigt, aus Angst vor landesüblicher Rache. Wurde etwa der Vater von den Banditenmilizen erschossen, geht man lieber nicht zur Polizei. Damit riskieren, daß die Gangsterkommandos den Rest der Familie auch noch liquidieren? Alle, fast alle halten sich an das „Lei do Silencio“, das Gesetz des Schweigens. Nur nach 5,4 Prozent aller registrierten Verbrechen, so neue Studien aus Sao Paulo, wird überhaupt jemand festgenommen, bei über achtzig Prozent aller registrierten Mordfälle werden die Ermittlungen ergebnislos eingestellt. In Rio, dem zweitwichtigsten Wirtschaftszentrum, mit einem Bruttosozialprodukt über dem ganz Chiles, hat die Polizei 2003 nicht einmal drei Prozent aller Mordfälle wenigstens aufgeklärt. Ergo: Wer in Favelas wohnt, kennt Mörder, mehr als genug, hat mit ihnen täglichen Kontakt. Über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner sahen mindestens einem Mord zu. Was dies für die Psyche der Favelados bedeutet, ist vorstellbar. Man muß sich diese Basisfakten vor Augen führen: In Südamerikas reichster Stadt, eine Art New York tropical, genießen gerade 3,46 Prozent einen europäischen Sozialstandard und nur zehn Prozent den durchschnittlich asiatischen – doch über die Hälfte lebt wie in Afrika, fast ein Drittel wie in Indien – in rund 1600 Favelas, gemäß amtlichen Statistiken. Die Medien berichten jedoch fast nur über jene Metropolenbewohner mit europäisch-asiatischem Standard – nicht zuletzt, weil Recherchieren in Favelas für Journalisten häufig lebensgefährlich ist. Wer einen realistischen Artikel schreibt, die Dinge beim Namen nennt, kann beim nächsten Mal von Banditen erkannt und ermordet werden.
Wie erlebt eine Afghanin, größtenteils in Aachen aufgewachsen, den Favelaalltag? Maryam Alekozai machte ihr soziales Jahr in Sao Paulos Slum Jardim Angela, nahe jener Formel-Eins-Piste von Interlagos, auf der Michael Schumacher seine Rennen fährt. „Es herrscht hier eine Art Bürgerkrieg, gar nicht mal so anders, wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder wird jemand umgebracht, Kinder verlieren ihre Väter. Von den Müttern, deren Sprößlinge ich betreue, sind nicht wenige deshalb alleinstehend. Ganz normal für die Kinder, daß jemand erschossen wird – die wachsen damit auf. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut! Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die in diesem Lande herrscht, spiegelt sich in den Augen der Kinder – unübersehbar.“ Doch gleichzeitig weist sie auf einen scheinbaren Widerspruch:“Ein Bewußtsein über soziale Ungleichheiten existiert hier nicht – weder bei den Armen noch bei den Reichen. Aufklärung, kritisches Denken, das einem in Deutschland beigebracht wird, fehlt hier.“ Doch auch in den Favelas täuscht die Erscheinungsebene, der oberflächliche Eindruck nur zu oft. „Viele sagen – ihr kommt aus Deutschland, seht uns fröhlich und gut drauf, könnt euch aber nicht vorstellen, wie es uns wirklich geht, wie es zuhause hinter unseren vier Wänden aussieht.“ In Brasilien übertrifft die Realität nur zu oft jede Fiktion – die Favela Jardim Angela hat eine Rua Afeganistao…
Doch in Sao Paulo gibt es auch die Bilderbuch-Favela „Monte Azul“, mit außergewöhnlich erfolgreichen Sozial-und Kulturprojekten, ohne jeglichen Banditeneinfluß, alles initiiert von der Thüringerin Ute Crämer, landesweit leider die ganz große Ausnahme – von den Autoritäten gerne als Vorzeigeobjekt benutzt.
Denn nahezu überall regieren hochgerüstete neofeudale Banditenmilizen die Slums wie einen Parallelstaat, terrorisieren Millionen von Bewohnern, weitgehend toleriert von der Politik. Ein strenges Normendiktat wird mit harter Hand durchgesetzt. Wer das „Lei do Silencio“ bricht, interne Vorgänge des Viertels nach außen trägt, gar der Presse über die Machtstrukturen berichtet, wird zur Abschreckung exekutiert. Etwa per Microonda, Mikrowelle: Über das gefesselte Opfer werden Autoreifen bis in Kopfhöhe geschichtet, mit Benzin übergossen – und dann Streichholz dran.
Manche, die in deutschen Kinos den brasilianischen Streifen „City of God“ sahen, hielten die vielen Gewaltszenen für reichlich übertrieben, überdreht, überzogen – die paßten nicht zum sozialromantischen Bild vom Tropenstaat. Dabei wurde in dem Film weder gezeigt noch erwähnt, daß in dieser Rio-Favela „Cidade de Deus“ das Verbrennen von Mißliebigen ebenfalls üblich ist. Als alternative Hinrichtungsmethode gilt dort, sie Alligatoren zum Fraß vorzuwerfen. Paulo Lins, in der Cidade de Deus aufgewachsen, schrieb das gleichnamige Buch:“Gewalt gibts überall auf der Welt, aber bei uns erfaßt sie schon die Kleinsten. Brassilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren – und macht bereits Kinder zu Mördern. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.“ Ein anderer Satz von Paulo Lins macht ebenfalls sehr nachdenklich:“Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das garnicht publizieren.“
Köpfen, Zerhacken sind ebenfalls gängige Slum-Strafen. Immer wieder beobachtete man sogar Kinder, die mit abgeschlagenen Köpfen Fußball spielten. Vergewaltiger werden kastriert – Banditen, die bis zu hundert Frauen, Mädchen mißbrauchten, natürlich ausgenommen. Wie das selbsternannte Gangster-„Tribunal“ der Rio-Favela Morro do Fuba’ 2003 mit Luis do Nascimento, 22, verfuhr, schien den Taliban entlehnt. Der Vergewaltigung von Minderjährigen angeklagt, wurde er vor einer großen Menschenmenge zunächst gefesselt, geschlagen, danach mit Pflastersteinen gesteinigt, schließlich auf dem modernen Scheiterhaufen, der Microonda, verbrannt. Rios auflagenstarke Zeitung „O Dia“ brachte anderntags ein Großfoto seiner Überreste, mit sachlicher Bildunterschrift. Es hätte schlimmer kommen können: Ein anderes populäres Rio-Blatt pflegte solche Fotos mit zynischen Texten zu versehen: „Er wurde Grillfleisch, gut durchgebraten“, stand unter dem Foto eines angezündeten Schwarzen, zahlreiche Kinder stehen drumherum.
„Harmlosere“ Strafen sind Folterungen oder das Durchschießen der Hände und Füße. Etwa für jene, die Ausgangssperren mißachten – immer wieder verhängt für weit über fünfzigtausend Favelabewohner, ob in Rio oder Sao Paulo – oder gar Banditenbefehlen nur murrend nachkommen. Denn jedermann muß mit den global vernetzten Verbrechersyndikaten kooperieren, Drogen, Waffen, Raubgut, Entführte, bei Razzien selbst Bandidos in seiner Kate verstecken. „Weil ich ein Auto habe“, so ein Slumbewohner, „muß ich andauernd schwerbewaffnete Gangster in der ganzen Stadt herumfahren, sogar zu Überfällen transportieren – bitter ist, daß es unter uns keine Solidarität mehr gibt, jeder mißtraut jedem. Im Drogenrausch hat ein Bandido auf meine Tür gefeuert, beinahe meine Kinder getroffen!“ Ohne Zustimmung der Gangster darf niemand Besucher, nicht einmal Verwandte in den Slum mitbringen, hat auch kein Politiker Zutritt. Als ein angesehene Kongreßsenator aus Staatschef Lulas Arbeiterpartei eine Rio-Favela besucht, hält er sich ebenfalls streng an die Banditenvorgaben, verschwindet mit dem Journalistentroß pünktlich zur geforderten Zeit. Eigentlich ein haarsträubender Vorgang, politisch höchst bedenklich. Der Senator war in NGO-Sozialprojekten – auch diese brauchen grundsätzlich das Banditen-Okay, werden kontrolliert. „Hilfe zur Selbsthilfe“ – funktioniert das? Wie brasilianische Sozialarbeiter betonen, ist die Banditenherrschaft inzwischen dermaßen perfekt und brutal – und vor allem regelrecht sozial und kulturell verwurzelt, daß normale Projektarbeit unmöglich wurde. Denn mit den Gangsterbossen muß über beinahe jede Aktivität verhandelt werden – sie stimmen nur zu, wenn Vorhaben deren Image, Interesse dienen, nutzen sogar Projekteinrichtungen für ihre Feste. Die Banditen sorgen für Ordnung im Revier auf ihre Weise: Als aus einem Projektgebäude Rios ein Videogerät gestohlen wird, drohen die sich einmischenden Gangster damit, solange Menschen zu erschießen, bis der Apparat wieder auftaucht. Das ist erst nach dem achten Toten der Fall.
Jahrzehntelang hielt sich bei Gutmenschen Brasiliens und Drittweltbewegten die These, man müßte die Slums nur mit einem Netz von Sozialprojekten überziehen, um die entsetzlich hohe Mordrate drastisch zu senken, die Herrschaft der Banditenmilizen zu schwächen. Hohe Spendensummen wurde investiert – doch selbst laut Unesco-Angaben wurden weder die Gewaltrate noch der Banditenterror gegen die Bewohner gebremst. Manche ausländischen Hilfsorganisationen suchen all dies vor ihren Spendern, Förderern zu verheimlichen. Und wenn NGO-Chefs, gar Politiker, Staatspräsidenten aus der Ersten Welt in Favelas auftauchen, die Sozialkosmetik begutachten, wird peinlichstes Theater gespielt, prostet man sich mit Caipirinha zu, lächeln die Gäste freundlich, applaudieren höflich den Samba-Tanzgruppen – wird die andere Realität versteckt, ausgeblendet. Natürlich wissen auch die lokalen Projektleiter, wer welche Verbrechen beging, in welcher Slum-Barraca Entführte unter grauenhaften Bedingungen festgehalten, gefoltert werden – doch alle halten lieber die Klappe. Wer will schon die Projektarbeit gefährden, gar in der „Microonda“ enden? Wenn Sozialarbeiter in Slums bemerken, daß Alte von jungen Leuten mißhandelt, belästigt werden, diese gar Sozialarbeiter attackieren, entsteht eine bizarre Situation:“Da bleibt uns nichts weiter übrig, als mit dem Gangsterchef zu sprechen – denn der herrscht absolutistisch, spielt manchmal den Sozialhelfer für alleinstehende Senioren, hilft uns mit Sicherheit, greift sich die Täter. Und verwarnt sie nach dem Motto – noch einmal soetwas, und du weißt, was dir passiert!“ Das wirkt, schließlich drohen dann Handabhacken, Kastrieren, lebendig Verbrennen.
Wurden etwa durch einen Erdrutsch viele Leute verschüttet, rücken Feuerwehr und Sanitäter an, dürfen jedoch erst nach Banditen-Okay zur Unglücksstelle.
Und auch das Favela-Bairro-Projekt der Präfektur Rio de Janeiros funktioniert nur mit Banditenerlaubnis. Die Milizen passen auf, daß dank gepflasterter, asphaltierter Slumstraßen und Wege nun nicht auf einmal die Polizei besseren Zugang hat, lassen Betonsperren errichten, schließen ganze Straßen mit schweren Eisentoren, dicken Schlössern. Zuviel Pfuscharbeit, kritisieren die Bewohnerassoziationen, zuviele geplatzte Abwasserrohre, zuviel Halbfertiges. Und immer wieder unterbrechen Milizen einfach die Favela-Bairro-Arbeiten, jagen die Beschäftigten davon. Nicht günstig, bei den Gangsterkommandos in Mißkredit zu fallen: Ende 2003 findet man nach einem anonymen Hinweis die sterblichen Überreste des Bauleiters Paulo Ferreira Lima Filho, 39 – ermordet, verbrannt an einer Favela-Stelle, an der die dortige Banditenmiliz gewöhnlich auch andere Mißliebige foltert, verbrennt.
Die Favelas sind Hochburgen, Operationsbasis der Milizen, die angesichts zunehmender Massenarbeitslosigkeit keine Nachwuchsprobleme haben, sogar Zehntausende von Kindern in den Arbeitsmarkt der Syndikate integrieren, ihnen Top-Löhne zahlen, mit denen diese ganze Großfamilien ernähren. Brasiliens Mindestlohn liegt bei umgerechnet etwa siebzig, achtzig Euro monatlich – schon Kindersoldaten der Favelas kommen dagegen bereits in der Woche auf fünfhundert Euro. Manche killten über vierzig Menschen. „Normale kindliche Abenteuerlust“, sagen selbst katholische Padres, „wird von den Banditen schamlos ausgenutzt, in den Köpfen der Jungen werden diese zu Helden und Vorbildern.“ Bereits als Minderjähriger Prestige und Macht zu haben – ein tolles Gefühl. Denn außerhalb, in der City, den schicken Strandvierteln, spüren nicht nur die Heranwachsenden die „soziale Apartheid“ Brasiliens, unnütz, ein Nichts, überflüssig zu sein, entsprechend behandelt zu werden. Aber wenn sie mir, dem Gringo, in ihrem Parallelstaat begegnen, lässig die NATO-Mpi umgehängt, durch die Favela schlendern, Respekt und Unterwerfung fühlen, heiße Blicke der Slummädchen – das wertet auf. Die Internationale Arbeitsorganisation ILO in Genf hat es untersucht. Auffälligstes Resultat: Obwohl es in Millionenstädten wie Rio de Janeiro inzwischen mehr Schulen für Slumkinder gibt, hat das, wie fälschlich angenommen, die Attraktivität des organisierten Verbrechens nicht vermindert, ihm keine jugendlichen „Arbeitskräfte“ entzogen – ganz im Gegenteil. Junge Gangster sagten den ILO-Befragern immer dasselbe:“Warum soll ich jahrelang zur Schule gehen, wenn mir das später weder beruflichen noch finanziellen Nutzen bringt?“ Denn der Unterricht in den Favela-Schulen hat ein extrem niedriges Niveau – kein Vergleich mit den unerschwinglichen Privatschulen für die Kinder der Mittel-und Oberschicht, die folgerichtig später alle besserbezahlten Jobs besetzen. „In den Slums“, so die Anthropologin Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, „ ist eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte inzwischen fest installiert – alles hingenommen von den Autoritäten.“ Selbst minderjährige Mädchen drängeln sich geradezu danach, Geliebte, First Lady, Primeira Dama von Banditen zu werden, damit Status und Schutz zu gewinnen, in den besten Restaurants zu speisen, den teuersten Boutiquen einzukaufen, Gepflogenheiten der Geldelite zu kopieren. „Für die Mädchen verkörpert der Gangster Attraktivität, Schönheit, Erstrebenswertes, gar ein Lebensideal.“ Gemäß surrealer Favela-Logik kein Widerspruch angesichts des Drucks, der Gewalt, die von den Banditenmilizen ausgeht. „Hier oben ist es spannend, geil, richtiges echtes Abenteuer“, sagten in einem Hangslum Rios zwei Vierzehn-Fünfzehnjährige in superkurzen Shorts, Bikini-Oberteil. Sie haben wachsende Bäuche und erklären stolz, von zwei Top-Gangstern, über die man sogar in TV und Radio spricht, schwanger zu sein. Gangsterbosse halten sich bis zu dreißig Geliebte, die alle voneinander wissen. Gelegentlich sind fünf und mehr zur selben Zeit schwanger, versammelt jeder Warlord auf Kinderfesten seinen gesamten Favela-Nachwuchs – nicht selten über dreißig Kinder. Und stirbt er, etwa im Gefecht mit Rivalen oder der Polizei, gibts ein Heldenbegräbnis, werfen sich seine Geliebten schluchzend über den Sarg. Viele werden dann dem Nachfolger zugeteilt.
Die Parallelwelt der Favelas ist außergewöhnlich sexualisiert – Mädchen, Frauen geben sich häufig unerhört aufreizend, weit über der Landesnorm, auch auf den Massendiscos „Baile Funk“, greifen gelegentlich selber zu Revolver und Mpi. Weibliche Drogendealer verkauften nur jenen Kokain, Heroin, Haschisch, die auch mit ihnen schliefen – Fälle sind bekannt, in denen Banditinnen Männer mit der Waffe zum Geschlechtsverkehr zwangen, das ganze Wochenende über. Erwachsene Frauen initiieren gelegentlich die Jungen einer ganzen Favela sexuell, beinahe so ähnlich, wie man es von brasilianischen Indianerstämmen kennt. Mädchen, die sich in Banditen verlieben, riskieren viel. Perverse Logik mancher Milizen:“Weil sie mit einem gepennt hat, muß sie auch alle anderen ranlassen – oder wir greifen sie uns mit Gewalt.“ Selbst der Verbrecherslang ist völlig sexualisert – für Rauben, Morden werden gleiche drastische Begriffe wie für den Sexualakt verwendet.
Jugendliche Favela-Banditen betonen ganz offen, jeden sofort zu killen, der als Polizeiinformant gilt. „Uns machts Spaß, Leute zu töten – wir sind tatsächlich finstere Typen, stehen zu unserem Job.“ Einer erschoß bereits drei Polizisten, ein anderer köpfte einen Mann, „zur Abschreckung der Bewohner“, wie er sagt. Und alle wissen, daß sie im „Stadtkrieg“, Guerra Urbana, der jährlich zehntausende Opfer fordert, meist keine fünfundzwanzig Jahre alt werden. Sechzehn Slumkids verschiedener Teilstaaten ließen sich für einen neuen Dokumentarfilm interviewen – nach zwei Jahren lebte nur noch einer. Natürlich hausen die Bosse des organisierten Verbrechens nicht in den Favelas: „Die wohnen in den Nobelvierteln“, betont die aus der Oberschicht stammende Sozialarbeiterin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra da Silva, eine der wichtigsten Favela-Expertinnen Brasiliens. Selbstzensur aus „politischer Korrektheit“ zu üben, wie in der Ersten Welt geradezu üblich, ist ihre Sache nicht – sie nahm noch nie ein Blatt vor den Mund. Was passiert mit Minderjährigen, die bei kriminellen Aktionen nicht mitziehen, gar schwer drogensüchtig werden, statt Profit Verluste einbringen? „Die werden eliminiert, die Leichen läßt man verschwinden. In den Slums gibt es Ställe mit Schweinen, die Überreste von Kindern auffressen. Oder auch das: Ein Junge, oft nur dreizehn Jahre oder jünger, muß dem an einen Baum gefesselten Opfer mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden, bis es stirbt – sogar das Herz wird herausgetrennt – alles zur Einschüchterung der Slumbewohner.“ Über die Verbindungen von Politik, globalisierter Wirtschaft und organisiertem Verbrechen weiß Yvonne Bezerra de Mello mehr als genug. Das „Crime organizado“, so Roberto Precioso, neuer Chef der Bundespolizei in Rio de Janeiro, „durchdringt inzwischen die gesamte Gesellschaft.“ Die Slumbewohner, so sein Vorgänger Marcelo Itagiba, „sind Geiseln der Banditenmilizen, werden unterdrückt, weil der Staat abwesend ist – alles eine Katastrophe.“ Doch nie ein Thema, wenn hochrangige Politiker aus Europa nach Brasilien kommen, den wichtigsten deutschen Industriestandort Lateinamerikas. Auch in-und ausländische Popstars haben mit dem Banditenterror keine Probleme, nutzen gerne mal eine Favela als exotischen Videoclip-Background, so wie Michael Jackson – dessen Prduktionsfirma an den Boß des Rio-Hangslums Dona Marta für die Dreherlaubnis tüchtig hinblättern mußte.
Bereits 1992 hatte der progressive Abgeordnete Carlos Minc betont:“In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Rio-Bewohner mißachten.“ Mincs Analyse wurde von einer parlamentarischen Untersuchungskommission für große Teile Brasiliens, zahlreiche andere Millionenstädte bestätigt. Befreiungstheologisch orientierte Bischöfe und Pfarrer argumentieren, daß die Banditenherrschaft über die Favelabewohner zugelassen werde, weil dies auch perfide verhindere, daß sie für ihre Bürgerrechte kämpfen. Bereits der Faktor Angst verhindere politische Aktivitäten – und das sei ganz im Sinne der Eliten. Fehlendes Bewußtsein mache zusätzlich passiv.
In der achtjährigen Amtszeit des neoliberalen Staatschefs Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, haben die Verbrechersyndikate ihre Parallelmacht zügig ausgebaut, auch Politiker-Wahlkämpfe finanziert, besitzen für die „Guerra urbana“ inzwischen sogar Bazookas zum Abschießen von Panzern, schwere MGs zur Flieger-und Hubschrauberabwehr, deutsche G-3-Mpis, hochmoderne Sturmgewehre des Schweizer Bundesheeres, Handgranaten en masse. Und setzen all diese Waffen weiterhin gezielt ein, attackieren selbst Armeestützpunkte, Kasernen, erbeuten Munition, blockieren Stadtautobahnen, Straßentunnel, um serienweise Fracht-LKW abzufangen. Und um Macht zu demonstrieren, wird selbst in Mittelschichtsvierteln tageweise die Schließung tausender Geschäfte erzwungen, mußte gelegentlich für über zehntausend Schüler Rio de Janeiros der Unterricht ausfallen. Doch das ist neu: Zahlreiche Militärpolizisten, vom Staate entsetzlich schlecht bezahlt, lassen sich von Verbrecherorganisationen für hohen Sold anheuern, um in voller Beamtenuniform am Sturmangriff auf Slum-Hochburgen rivalisierender Syndikate teilzunehmen. Andere fühlen sich im „Guerra Urbana“ verheizt, als Kanonenfutter, extrem schlecht bezahlt, gehen äußerst brutal vor, foltern, killen auch Unschuldige, fangen Banditenbosse ein, lassen sie aber gegen Lösegeld wieder frei. Razzien in Favelas, liest man alle Tage, ändern an den dortigen Machtstrukturen nichts, sind bestenfalls Nadelstiche. Die Banditen erschießen in den Millionenstädten jährlich jeweils bis zu hundert Beamte – und mehr.
Aber auf der Erscheinungsebene sind Sao Paulo, Rio de Janeiro, Salvador aufregend attraktiv wie immer – wer nur in den besseren Vierteln, etwa an der Copacabana, in Ipanema Bade-und Kultur-Urlaub macht, merkt gewöhnlich von all dem nichts.
Doch selbst laut UNESCO ist das Leben an der Rio-Peripherie weit gefährlicher als etwa in Israel und Palästina – kommen dort monatlich nur ein Sechstel so viele durch Gewalt um wie am Zuckerhut. Bezeichnend, wie zensierte Medien Europas jedoch ihre Schwerpunkte setzen.
Der ausgedehnte bergige Nationalpark „Floresta da Tijuca“ Rios wird immer mehr von Slums zerfressen, deren rasches Wachstum auch rivalisierende Syndikate wie das „Comando Vermelho“(CV, Rotes Kommando) „Terceiro Comando“ (TC, Drittes Kommando) oder die „Amigos dos Amigos“ ( ADA, Freunde der Freunde) ganz im Eigeninteresse nach Kräften fördern. Neuerdings brennen sie sogar großflächige Fluchtwege in den Nationalpark, errichten gelegentlich Straßensperren – sogar ein Umweltminister auf Inspektionsfahrt mußte deshalb schon einmal umkehren.
Schwer zu übersehen, daß sich ein Großteil der Slumjugend mit CV, TC oder ADA identifiziert, Banditenwerte übernimmt, Heranwachsende aus „gegnerischen“ Favelas unnachgiebig attackiert. Selbst kriminelle Straßenkinder teilen ihre Stadtreviere entsprechend auf:“Wenn jemand von einer anderen Fraktion im Gebiet unseres Kommandos Überfälle macht, ist er sofort dran“, erläutert ein Sechzehnjähriger in Rio de Janeiro. „Einem haben wir jetzt die Beine gebrochen und den Schädel eingeschlagen. Wir waren sieben gegen einen.“
Favela-Schicksale
„Arm, aber glücklich“ – lautet eines der unzähligen Klischees über Brasilianer, deren überschäumende Lebensfreude, Zukunftsoptimismus einfach unschlagbar seien. Gespräche mit Favelados sind jedoch mehr als ernüchternd – überwiegend Pessimismus und Apathie.
„Nichts wird besser – die Reichen Brasiliens lassen nie zu, daß Lula irgendwas ändert, uns hier rausholt“, sagt Eloisa; mit ihren vier Kindern, ihrer Bretterhütte zwischen den Fronten im „Guerra urbana“ der Peripherie von Sao Paulo, reichste Stadt Südamerikas, mit über zweitausend Slums. Wenn ein Tropengewitter runtergeht, und das passiert oft, laufen Scheiße, Urin und andere Abwässer des Elendsviertels in ihre „Barraca“ und die der Nachbarn; wenn sich die beiden rivalisierenden Gangstermilizen der Region ein Feuergefecht liefern, verstecken sich die Kinder unterm Bett, gehen bei der ersten Mpi-Salve so routiniert wie Eloisa und ihr jetziger Lebensgefährte in die Horizontale. Die in provosorischen Backsteinkaten haben oft schon Kühlschrank, Fernseher, viele sogar Videogeräte – ob gebraucht gekauft, von den Wohlstandsmüllbergen der Betuchten geholt, oder geschenkt genommen von Banditenmilizen, die sich immer mal als Wohltäter aufspielen, Fracht-LKW überfallen, in die Favela fahren, alles verteilen. Wenns zufällig einen Kosmetik-LKW traf, freuen sich die Frauen auch mal über französisches Parfüm, ungewöhnliche Duftnote im üblichen Favela-Gestank.
„Andauernd“, so Eloisa, „machen die Drogenbanditen hier Ausgangssperre – dann dürfen wir sogar bei Affenhitze nicht mal den Kopf aus der Tür stecken – oder sind geliefert – die legen jeden um, der sich nicht dran hält!“ Mehr Tote monatlich als in den aktuellen Konfliktherden dieser Erde. „Eine richtige Revolution müßte es geben, da würde sich wirklich was ändern – aber sowas bringen die Brasilianer nicht fertig, dazu sind die viel zu träge. Schrecklich, mitansehen, miterleben zu müssen, wie Kinder, Erwachsene der Familie neben einem in den engen Barracas dahinsiechen, wegsterben, weil Pillen gegen Hepatitis, Diabetes, Bluthochdruck, andere Krankheiten, eben unerschwinglich sind.“ Das desillusioniert, raubt Zukunftshoffnungen. Hunderttausende Favelados enden so jährlich – systemkritische Mediziner nennen es „Projeto genocida“. Eloisa entschuldigt alles, was ihre Nachbarn an Lula kritisieren – daß die Drogenbosse und ihre schwerbewaffneten Milizen sich in Favelas wie Sapopemba, Elba, Pantanal wie Herrscher über Leben und Tod aufführen, ist für sie unabänderlich, wie ein Naturgesetz. „Das ändert sich nie – Lulas Arbeiterpartei hat doch auch Angst vor den Banditen.“ Zu einer Präfektur-Arbeitsgruppe, so Eloisa, gehört auch die Mutter mehrerer Favela-Gangsterbosse, hat in Slum-Angelegenheiten das letzte Wort:“Ich glaube nicht, daß meine Söhnchen das akzeptieren werden…“ Laut amtlichen, jedoch sehr unvollständigen Angaben hat Brasilien Ende 2003 weit über 16000 Favelas.
–Migrantenbiographien–
In Sao Paulo leben mehr „Nordestinos“ als in Nordost-Millionenstädten wie Recife, Salvador oder Fortaleza – alle zugewandert, aus Not, Hoffnung auf irgendeine Arbeit, ein besseres Leben. Die allermeisten kamen aus Favelas – hausen in Sao Paulo wieder dort. Viele Männer sind Bauarbeiter – errichten selbst am Wochenende Villen, Penthouse-Siedlungen, auch für ausländische Multi-Manager – für umgerechnet keine siebzig Cents pro Stunde. Wieviel verdient doch gleich ein Bauarbeiter in Deutschland, der Schweiz stündlich? Nicht zufällig sehen selbst katholische Bischöfe daher die Sklavenhaltermentalität noch sehr lebendig, wohlakzeptiert von der globalisierten Wirtschaft.
Maria und ihre zwei Schwestern, ein Bruder kamen aus dem Nordosten – teilen sich in der Barraca einen einzigen Raum mit den beiden kleinen Kindern. Väter? Nicht präsent. Alle machen Aushilfe – Handlanger, Putzfrau, Wäscherin, Straßenverkäufer; arbeiten wie über sechzig Prozent der Brasilianer ohne Vertrag, unregistriert, auch sonnabends, sonntags. Eine Schwester prostituiert sich zwei, dreimal im Monat, schläft mit verheirateten Japanern der Mittelschicht, für ein paar Real. „Da komme ich wenigstens mal raus hier, die nehmen mich mit in ein Stundenhotel, das ist wie Paradies, mit Abendessen. Wenn das immer so weiterginge, wäre ich mit dem Leben zufrieden. Mehr ist doch für unsereinen nicht drin. Und hier in der Favela gibts doch nur brutale Machos, jeder hört, wenn irgendwo einer vögelt, die eigenen Kinder kriegens mit, sehen oft sogar zu.“
Rios Favela-Expertin Yvonne Bezerra de Mello beobachtet:“Die große Mehrheit der Unterschichtskinder ist Teil völlig zerrütteter Familien; nicht selten hausen auf nur neun Quadratmetern zehn Personen; Jungen und Mädchen sehen täglich homo-und heterosexuellen Verkehr, betrachten diesen Umstand gleichwohl als natürlich, nicht etwa als unmoralisch oder Sünde. Auch der Umgang mit Rauschgift ist alltäglich. Für die Mädchen gehört zu den gängigen Erfahrungen, mit acht, neun oder zehn Jahren vergewaltigt zu werden.“
Im Sao-Paulo-Slum sind Maria und die anderen wegen des Prostituta-Nebenjobs der einen Schwester erleichtert, weil er die Haushaltskasse der „Barraca“ aufbessert. „Wenn ich jeden Tag das Essen für mich und die Kinder auftreibe, bin ich schon zufrieden, mehr will ich eigentlich gar nicht.“ Für sie ist das viel, jedesmal ein enormer Sieg; Träume, große Hoffnungen hat sie nicht. Aber so viel Fatalismus in der Stimme, daß es wehtut, wie bei anderen Favela-Gesprächen. Müll wird in den stinkenden Bach nebenan geschmissen, der Strom für die Barraca ist geklaut, allein in Sao Paulo über zehn Prozent aller eingespeisten Energie. Deshalb dieses unglaubliche Strippengewirr in beinahe allen Großstadt-Favelas. Kurzschlüsse lösen immer wieder Großfeuer aus, ganze Slums brennen wiederholt ab, Babies, Alte, Kranke kommen in den Flammen um – fast jede Woche davon Fotos in der Zeitung. Nachbarn haben ihre Barraca so nahe an Gleisanlagen errichtet, daß Frachtzüge nur dreißig Zentimeter vorm Eingang vorbeibrausen. Fahren sie zu langsam, springen junge Männer auf, holen raus, was rauszuholen ist, demontieren sogar Export-PKW. Verunglückt an der nahen Autobahn ein LKW, rennen alle sofort los, machen sich über die Ladung her. Oft brüllt, stöhnt der eingeklemmte, blutende Fahrer vor Schmerz, versuchen Ärzte, Feuerwehrleute ihn zu befreien, doch gleich daneben streitet die Menge bereits erbittert um die Fracht. Brennt ein Vorratslager ab, wird auch das gestürmt, trotz Polizeibarrieren, Tränengas: „Angst vor schlechtem Essen haben wir nicht – besser mit vollem Magen zu sterben als vor Hunger.“ Gehen an Favelas von Rio und Sao Paulo heftige Tropengewitter herunter, verstopfen Jugendliche rasch mit Plastiktüten die Gullys vorbeiführender Straßen, damit Autofahrer im Wasser steckenbleiben. Und dann wird reihenweise per Revolver abkassiert. Wenn der Verkehrsfunk deshalb vor diesen Abschnitten warnt, ist es längst zu spät. Einmal im Jahr besucht Maria die Eltern, die anderen fünf Geschwister an der Peripherie von Recife – ist immer entsetzt:“Wie könnt ihr so leben, die Lehmhütte steht viel zu nahe am Kloakefluß, das ist gefährlich!“ Der Vater, die anderen kontern:“Wo sollen wir denn sonst hin?“ Im kraß archaischen Nordosten hofft erst gar keiner auf Politiker, Gouverneure, wählt den, der T-Shirts, Nahrungspakete verschenkt. „So Gott will, ändert sich was“, sagen die meisten Favelados, erscheinen tiefreligiös. „Nur Gott kann mir helfen – wir leben hier so, weil Gott es eben so wollte.“ Nicht die Linie der katholischen Kirche, befreiungstheologisch orientiert, beständig darauf aus, die Verelendeten zu mobilisieren, aus ihrer Apathie und Lethargie zu holen. Doch das gelingt nur punktuell, zumal in den Favelas Sekten dominieren. „Du wirst in so einer Hütte geboren, kaum was zu essen, du siehst, daß deine Eltern nicht vorankommen, nur Schläge einstecken, irgendwann aufgeben, müde werden. Und da wirst du auch pessimistisch, machst dir keine Hoffnungen mehr,“ meint Maria. Ihre Schwester, vierzehn, inzwischen mit einem Baby, von wem, weiß sie nicht, winkt ab:“Da wurde ein Berufskurs gratis angeboten – doch ich hatte das Geld für den Bus nicht, mußte dorthin über eine Stunde laufen, bei Hitze. Mittendrin bin ich vor Erschöpfung ohnmächtig geworden, hatte ja nichts im Bauch. Ich habe so geheult deswegen, das wäre eine Chance gewesen – aber ich habe aufgegeben.“ So viele Barrieren für Favelados, die lethargisch, apathisch machen. „Wie soll ich denn mein Leben verbessern, hier rauskommen, wenn ich nicht mal den Bus bezahlen kann, um irgendwo dort, wo es vielleicht Arbeit, Kurse gibt, nachzufragen?“ Marias Eltern sind Analphabeten, ihre Geschwister der Recife-Favela Halbanalphabeten, kaum zu begrifflichem, abstraktem Denken fähig, überfordert mit simplen Gebrauchsanweisungen, Einnahmevorschriften auf Medikamenten, gar Verhütungsmitteln. Sie könnten mit anderen Favelados rebellieren, zu den Vierteln der Reichen, zum Gouverneurspalast ziehen, auf ihre Rechte pochen, damit sich was bessert, die perverse Einkommensverteilung aufhört – Brasilien ist schließlich ein reiches Land, unter den fünfzehn führenden Wirtschaftsnationen.“Wenn du Hunger hast, fühlst du dich schwach, fehlt dir der Antrieb, aus der Hütte zu gehen – wegen Hunger, Elend protestiert hier in Brasilien keiner“, meint ein Jugendfreund Marias, der einst mit ihr einen kleinen Analphabetisierungskurs aufzog, als „Roter“ verschrien war, vom eigenen Vater deshalb immer wieder Dresche bekam. Maria wurde aus gleichem Grund von der eigenen Mutter, fanatische Sektenanhängerin, in der Lehmhütte blutig geschlagen, die riß ihr dabei sogar sämtliche Kleider vom Leibe.
„Die im Slum hier denken nicht politisch – Wut oder Haß auf die Reichen, die schuld sind an der Misere – das kennen die Favelados nicht – die denken, das sei normal so, schon immer so gewesen“, meint er. Die Politiker, die Reichen, das Fernsehen, vermitteln doch den Verelendeten, daß sie es nicht schaffen, nie weiterkommen im Leben, nie aufsteigen. Zukunft – das sei was für die in den besseren Vierteln der Strandzone, wo viele Favelamädchen als Hausdienerinnen schuften – täglich, außer sonnabends, ab sechs Uhr früh bis in die Nacht, für umgerechnet etwa fünfundzwanzig Euro monatlich.
Doch, politisch denken viele Favelados durchaus, nur wie: Marcia Soares unterrichtet Kinder und Erwachsene, macht ebenfalls die Erfahrung, daß Slumbewohner nur in Ansätzen zum abstrakten Denken fähig sind, kaum verstehen und durchschauen, was in ihrem Lebensumfeld wirklich geschieht. Zu ihrer Überraschung muß sie sich mit reaktionären, archaischen Wertvorstellungen und Denkmustern auseinandersetzen, die sie gerade bei Verelendeten am wenigsten erwartet hatte. Favelados seien fast ausnahmslos rechts, nicht linksorientiert. Brasilianische Soziologen trennten sich auf ähnliche Weise von bestimmten sozialromantischen Vorstellungen. Selbst ein Polizei-Massaker an mindestens 111 Häftlingen in Sao Paulo wird bejaht:“Das war richtig, die da drinnen kosten nur Steuergelder, die müssen alle umgelegt werden.“ Die heutige brasilianische Gesellschaft nennt Marcia Soares „superindividualistisch“. Schüler bieten auch ihr immer wieder Raubgut an, mal einen Fernseher, mal einen Mikrowellenherd.
Lernen in einer Slumkate, geht denn das? Neun, zwölf und mehr Personen leben, schlafen in einem einzigen Raum – unmöglich, ungestört Hausaufgaben zu erledigen. Jüngere Geschwister bekritzeln, zerreißen immer wieder Hefte und Bücher. Das familiäre Chaos erschwert, daß die Kinder lernen, ihren schulischen Alltag zu überschauen und zu organisieren. Fehl –und Unterernährung in den ersten Lebensjahren bewirken bei vielen zudem irreparable Lern-und Konzentrationsschwierigkeiten. Kinder, denen zuhause kaum Grenzen gesetzt werden, sind auch im Unterricht schwer zu bändigen, fehlen sehr häufig. Bekriegen sich rivalisierende Banditenmilizen, rückt gar die Polizei an, rennen selbst dann alle ans Fenster, wenn das Geräusch draußen kein Schuß war. Schülern fordern bisweilen mit vorgehaltener Waffe die Versetzung.
Joao Ricardo Dornelles, lehrender Soziologe an der Katholischen Universität Rio de Janeiros, nennt den in der brasilianischen Gesellschaft, in den menschlichen Beziehungen tiefverwurzelten Autoritarismus als wichtige Ursache, gar Hauptgrund der hohen Gewaltrate – und gerade in den Favelas trifft man auf rücksichtslose Machos, Machistas, wie sie im Buche stehen. In den Elendsvierteln Recifes gehören die Hütten, Pfahlbauten meist nicht ihnen, sondern den Müttern, sie sind das Oberhaupt der Familien. In häufigem Wechsel, „Rotativa masculina“, ziehen Männer ein, zeugen manchmal ein bis zwei Kinder und gehen dann mit verblüffender Leichtigkeit, ohne Intervall, direkt zu einer anderen, bereits ausgewählten Partnerin. Somit haben die Mütter ihre fünf, acht oder mehr Sprößlinge häufig jeweils von einem anderen Mann – und das nicht nur in Recife. Die dortige angesehene Anthropologin Fatima Quintas nennt diese Machos hochgradig verantwortungslos, ohne familiäre Ethik. „Das Leben in absoluter Misere macht hoffnungslos und nihilistisch, der Machismus wird hingenommen, als wäre er gottgegeben. Der Mann wird sogar idealisiert – er ist oberste Autorität und intelligenter, er baut die Hütte, Backsteinkate, er macht ein Kind, wenn er will, die Welt ist eben so eingerichtet.“ Recifes Favelafrauen haben laut Fatima Quintas eine sehr aktive Sexualität, über siebzig Prozent erleben diese, so unglaublich es scheint, jedoch ohne Lustempfinden und Orgasmus – dieser werde nur beim häufigen Masturbieren erreicht. Sie nennt den Hauptgrund:“Menschen dieses Miserestadiums haben kein Liebesspiel, kein Spiel der Verführung, alles geschieht sehr direkt, als mechanischer Akt. Der Mann kommt müde und oft sehr schmutzig in die Behausung, benutzt so die passive Frau kurz sexuell, dreht sich um und schläft wie sie.“ Promiskuität und auch der häufige Inzest können nicht geheimgehalten werden, daß Töchter mit den Stiefvätern schlafen, ist geradezu häufig. „Sex vor anderen wird akzeptiert, ist kein Problem, es geht ja gar nicht anders.“ Elvira aus einer Favela in Belem:“Ich habe allen meinen elf Geschwistern beim Ficken zugesehen, im Bett, in der Hängematte, auch meinen Eltern. Bin, als ich noch klein war, manchmal richtig nahe rangegangen, weil ich das interessant fand, wie der Schwanz vom Freund meiner Schwester zwischen ihre Lippen fährt, wie sie dabei stöhnt.“ Als sich eine ältere Schwester von ihrem parasitären „faulen“ Macho trennt, mit dem sie mehrere Kinder hat, läßt sich auf der Stelle die fünfzehnjährige Schwester von ihm schwängern.
Wie empfindet Elvira ihr eigenes Sexualleben?“Die Männer vögeln doch alle viel zu schnell, daß es oft sogar wehtut – sie sind selten mal zärtlich,äHängematt vögeln eigentlich für sich alleine. Wenn ich sage, mach langsamer, sagen sie, du weißt nicht, was gut und richtig ist. Die Schwarzen halten sich für die Größten, sind aber noch schneller, noch gröber mit uns. Aber einem Macho sagen, daß er schlecht fickt, nein, das geht nicht in Brasilien. Die kopieren doch alle, was sie in den Pornofilmen sehen, deshalb fehlt immer Gefühl. Man müßte auch die Prostituierten abschaffen – wegen denen sind doch die Männer an Ficken ohne Zärtlichkeit gewöhnt. Und weil die Machos auch noch so oft fremdgehen, sogar mit Männern, stecken sie uns mit Geschlechtskrankheiten, Aids und dem ganzen Zeug an. Es gibt welche, die schwängern gleich drei Frauen zur selben Zeit.“
Mehr Kinder als andere Männer zu machen, so eine Soziologin drastisch, ist für viele Machos ein Wettbewerb. Ebenfalls sehr kinderreiche Zweit-und Drittfamilien bedeuten Prestigezuwachs. Viele Machos verbieten ihren Frauen, Verhütungsmittel zu nehmen – viele Frauen niedriger Bildung sind zudem schlichtweg unfähig, effizient zu verhüten, verhalten sich bewußt-fahrlässig. „Ich bin schwanger, weil Gott das so wollte.“ Natürlich gehört auch in Drittweltländern wie Brasilien das Thema Machismus zu den fast durchweg tabuisierten Seiten der Unterentwicklung.
In Brasiliens Schwarzen-Stadt Salvador da Bahia, von riesigen Slums übersät, lehrt Anthropologe Roberto Albergar an der Universität, ist Machismus-Experte:“Mann sein heißt, die Frauen der eigenen Familie, die eigenen Geliebten maximal zu kontrollieren – und gleichzeitig maximalen sexuellen Zugang zu den Frauen der anderen zu haben, mit der größtmöglichsten Zahl zu vögeln – ob Mutter, Gattin, Tochter – und viele Kinder zu machen. Das ist die Logik des brasilianischen Machismo – besonders in der Unterschicht, also der Bevölkerungsmehrheit anzutreffen.“ Doppelmoral, Ambivalenz gelte auch für Frauen:“Alle sagen natürlich, nur einen guten, verläßlichen, treuen, verantwortungsvollen Mann als Lebenspartner zu wollen – tatsächlich aber bevorzugen sie bad Boys, Hengste, solche starken, ungestümen Machos, die verführen – und verlassen.“ Er könne ruhig fremdgehen, das werde verziehen – solange sie die Hauptfrau bleibe.
Joyce in einem Rio-Slum war mit dreizehn schwanger – die Oma füllte sie mit Haschisch-Tee, heißem Zuckerrohrschnaps voll, um eine Abtreibung zu provozieren – vergeblich. Der Vater schlug sie, trat ihr wenigstens nicht, wie oftmals in den Favelas üblich, in den Bauch – mit der gleichen Absicht wie die Oma. „Als der Kopf unten rauskam, tat das so weh, daß ich aus dem Bett gesprungen bin. Da hat mich meine Mutter verdroschen.“
–Elendsviertel wachsen immer rascher—
Alle acht Tage ein neuer Slum in Sao Paulo – landesweit explodieren die Favelas regelrecht. „Da sieht mans doch – wir kommen hier nie raus, hocken nur immer enger aufeinander. Das ändert sich nie“, höre ich immer wieder. Viele hoffen, träumen, daß es vielleicht den Kindern besser geht – aber dafür aktiv werden, etwa eine bessere Schule für sie suchen? Man wartet fatalistisch ab, daß die „oben“, die Kirche oder sonstwer was anbieten.
Eine Favelada hat schon drei Kinder, will sich endlich sterilisieren lassen, Verhütungsmittel sind zu teuer. Sie rennt monatelang von Hospital zu Hospital, auch zu kleinen Gesundheitsdiensten, Ambulanzen, aus Angst, erneut schwanger zu werden – aber alle machens nur gegen Geld. Jetzt kriegt sie das vierte – und weiß, daß damit Essen, Kleidung für alle noch knapper werden – das desillusioniert, frustriert noch mehr. Bohnen und Reis, Reis und Bohnen, Aber helfen sich wenigstens die Ärmsten gegenseitig, damit das Leben in der Favela erträglicher wird, nutzen sie die wenigen Zukunftschancen? „Alle schön gemeinsam, schön solidarisch – so ist das leider nicht – oder nur ganz, ganz selten“, sagen viele in den Favelas von Rio, Sao Paulo oder Belem an der Amazonasmündung. „Cada um por si“ – jeder für sich, lautet die immer wiederholte Verhaltensregel. „Jeder hat so wenig“, meint eine Frau an Fortalezas Peripherie“, „und soviel Angst, das bißchen auch noch an die zu verlieren, die garnichts haben. Da sind die Leute eben egoistisch. Von Solidarität wird nur immer viel geredet – aber die gibts kaum, jeder muß für sich alleine zurechtkommen.“ Auch sie verneint Zukunftshoffnungen, irgendeine Besserung. Egal, wer grade an der Regierung ist, so ihre Erfahrung, „a coisa nao melhora“, nichts bessert sich.
Doch, manches schon. Weil es in den meisten öffentlichen Schulen Essen gratis gibt, gehen mehr Kinder gerne dorthin, lernen wenigstens etwas. Die Regierung hat magere Hilfsprogramme gestartet, Lebensmittel werden verteilt, manche Familien erhalten sogar monatlich etwas Geld. Lediglich ein Almosen, das nichts an der Misere ändert, sagen die Kritiker, Arbeitsplätze müßten her. Arnaldo Jabor, Cineast, bekanntester Kolumnist Brasiliens, spricht von „Sozialprojektchen“, nennt sie lächerlich. Die Städte würden von den Slums geschluckt. „Eine Lösung? Vorbei…“
Europäer verstehen kaum, daß Favelados dennoch oft so fröhlich wirken, so viel lachen – viel mehr etwa als Deutsche. „Wir sind in der Lage, über unser eigenes Unglück zu lachen, darüber groteske Witze zu reißen; schwarzer Humor, schwärzer gehts nicht“, kommentiert ein Mann, „das ist eine Art Ventil, um damit fertigzuwerden. Wahrscheinlich ist das bei euch anders.“
In europäischen Städten sind Bars, Restaurants, Diskotheken mit Namen wie „Favela chic“ derzeit der Renner – etwas Müll clever postiert, dazu Mulattinnenposter; selbst in Paris findet man das hochexotisch. Kein Hinweis auf die Realität. „Brasiliens Armseligkeit verkauft sich gut in Europa“, bemerkt dazu Rios Qualitätszeitung „O Globo“.
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Brasiliens Ehrenmorde/ Strafrechtsänderungen sollen Machismus schwächen/Soziologin Pasinato:“Wichtigere Mentalitätsänderungen viel schwieriger“
Im Macholand Brasilien werden jährlich weit über 45000 Menschen ermordet, ein beträchtlicher Teil der Opfer sind Frauen. Die Täter nennen vor Gericht die Rettung der persönlichen Ehre als Motiv und kommen damit bis heute nur zu oft durch, werden freigesprochen. Anläßlich des Internationalen Frauentages am 8. März wird Staatschef Lula nunmehr ein vom Nationalkongreß beschlossenes Paket von Strafrechtsänderungen in Kraft setzen, das mit dem juristischen Argument jener sogenannten „legitimen Verteidigung der Ehre“ Schluß machen und Verhaltensänderungen bei den Männern des Tropenlandes bewirken soll.
Brasiliens Zeitungen melden täglich zahlreiche Morde, die fast immer den gleichen Hintergrund haben. Ein Mann tötet eine Frau, weil sie ihm nicht gehorchte, sich nicht länger seinen Launen unterwerfen wollte, gar vorhatte, sich wegen erlittener brutaler Gewalt von ihm zu trennen. Oder von ihm des Seitensprungs verdächtigt wurde. In Teilstaaten wie Rio de Janeiro und Sao Paulo werden jährlich tausende solcher Verbrechen registriert – und immer wieder kommen die Täter vor Gericht mit dem Argument durch, in „legitimer Verteidigung der Ehre“ gehandelt zu haben. Zu den Opfern zählt keineswegs selten die bereits rechtmäßig von dem Täter geschiedene Ex-Frau, die frühere Freundin, die Geliebte oder Ex-Geliebte. Ein Gesetzespaket soll jetzt mit der Straffreiheit Schluß machen, der Abgeordnete Antonio Carlos Biscaia aus Staatschef Lulas Arbeiterpartei hat es im Nationalkongreß von Brasilia auf den Weg gebracht.
“Unser Strafrecht stammt noch aus dem Jahre 1940, wurde seitdem nicht verändert. Und bei den sogenannten Verbrechen gegen die guten Sitten rückte es die Frau stets in eine subalterne Position. Selbst der Ehebruch war ja bisher strafbar – angeklagt und verurteilt wurden jedoch stets nur Frauen. Jetzt fällt dieser Paragraph. Und bei Morden bleibt künftig die These von der legitimen Verteidigung der Ehre wirkungslos. Ich habe keinerlei Zweifel, daß dies die Tatbereitschaft bei machistischen Männern hemmen wird. Denn unglücklicherweise geschehen solche Verbrechen eben nicht nur in fundamentalistischen arabischen Ländern, sondern auch in Brasilien.“
Biscaia räumt ein, daß das brasilianische Strafrecht damit noch längst nicht der Verfassung von 1988 entspricht, die erstmals Frauen und Männer völlig gleichstellt. Die nationale Frauenbewegung habe entsprechende Vorschläge gemacht – doch wegen des starken konservativen Lagers im Kongreß seien die leider noch nicht durchsetzbar.
An Brasiliens führender Bundesuniversität in Sao Paulo befaßt sich die Soziologin Wania Pasinato speziell mit Macho-Gewalt, den Ehrenmorden – und ist mit dem neuen Gesetzespaket auch nur teilweise zufrieden. Dennoch meint sie:
“Es sind nur kleine Änderungen – aber sie sind es wert, gefeiert zu werden. Denn dafür haben viele Frauen Brasiliens die letzten zwanzig Jahre immerhin hart gekämpft. Wenn indessen eine absurde Formulierung wie die „legitime Verteidigung der Ehre“ gestrichen wird, bedeutet dies zunächst nur wenig. Das Argument dürfte weiter benutzt werden, da es der Durchschnittsbrasilianer ja akzeptiert. Wichtiger ist, die Mentalität des Justizapparats, der ganzen Gesellschaft zu ändern – und das ist viel, viel schwieriger. In allen Klassen und Schichten Brasiliens herrscht weiter ein patriarchalisches Beziehungsmodell vor, wonach die Frau unterwürfig sein muß und Eigentum des Mannes ist. Im Strafgesetz gilt auch künftig nicht gleiches Recht für Frau und Mann, wie in der Verfassung definiert – wir müssen also weiterkämpfen. “
Soziologin Pasinato beobachtet, daß sich Anwälte vor allem in den Großstädten bereits geschickt auf das veränderte Strafrecht einstellen. Das Argument „legitime Verteidigung der Ehre“ wird ersetzt durch „plötzliche unkontrollierbare Gefühlsaufwallung“, also Handeln im Affekt, selbst wenn der Mord lange und sorgfältig vorausgeplant worden war. Und das funktioniere vor Gericht ebenfalls bestens.
“Wenn der Mann weiß, daß seine Frau oder Freundin sich trennen will, wenn sie gar vorhat, arbeiten zu gehen oder zu studieren, wenn sie ihm das Essen nicht machte oder sich gar einen Geliebten anschaffte, dann kann er eben eine solche Gefühlsaufwallung erleiden und die Frau umbringen. Wahrscheinlich hat man inzwischen noch ganz andere Argumente erfunden, um gewalttätige Männer freizusprechen.“
Nach Ansicht der Expertin handelt es sich um eine komplexe Thematik, da Machismus schließlich auch unter den Brasilianerinnen existiere. “Der Machismus ist nicht nur ein Charakteristikum des brasilianischen Mannes, sondern der brasilianischen Frau ebenfalls. Macho-Ideologie wird von ihr stark reproduziert.“
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