Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

„In Brasilien ist die Aids-Ausbreitung nicht unter Kontrolle – Aids ist weiterhin eine Epidemie.“ Maria Cristina Abbate, Leiterin der Aids-Programme in Sao Paulos Gesundheitsbehörde. „Indianer Sao Paulos haben ebenfalls Aids.“ Soziokulturelle Faktoren – „purer Individualismus“. Aids in Gefängnissen.

Etwa zwanzig Prozent der registrierten Aids-Fälle Brasiliens entfallen auf die Stadt Sao Paulo mit rund elf Millionen Bewohnern, hat die Psychologin Maria Cristina Abbate, Leiterin der Aids-Programme in der städtischen Gesundheitsbehörde, im Exklusivinterview gegenüber dieser Website erklärt. Junge heterosexuelle Frauen bildeten heute in Sao Paulo die größte Gruppe der Aids-Infizierten, gefolgt von den Homosexuellen.

 „In Brasilien ist die Aids-Ausbreitung nicht unter Kontrolle – Aids ist noch eine Epidemie. Die Behandlung von Aids-Kranken ist sehr schwierig, die sehr starken Medikamente bewirken häufig üble Nebenwirkungen – zu den gravierendsten zählt heute Krebs. Der Verlust von Muskelmasse führt dazu, daß sich Aids-Kranke nicht mehr setzen können, weil sie sonst auf den eigenen Knochen säßen. Andere Folgen sind eingeschrumpfte Gesichter, ein höherer Cholesterin-und Zuckerspiegel, die unregelmäßige Verteilung des Körperfetts. Früher überlebten Aids-Infizierte nur etwa zwei Jahre, heute aufgrund der Gratis-Behandlung bis zu 15, 20 Jahre.“ Maria Cristina Abbate bestätigte, daß in Brasilien jährlich rund 11000 Menschen an Aids sterben.

Die Vergleichszahl aus Deutschland, mit weniger als halb so viel Einwohnern: 2004 starben dort an Aids etwa 700 Menschen, seit 1982 über 13800. 2006 wurden 2611 Neuinfektionen registriert.

Die Immunschwäche, so Abbate, löse Krankheiten wie Hepatitis und Tuberkulose aus, was ebenfalls zum Tod führe. Über 400000 Brasilianer hätten Aids, wüßten dies indessen nicht, steckten weitere Personen an. „Heute sehen die Leute oft erst dann ihre Aids-Diagnose, wenn sie zum ersten Mal in schlechtem immunologischen Zustand in ein Hospital eingeliefert werden mußten. “ Beobachtet werde ein deutlicher Zuwachs an Aids-Infektionen in Sao Paulo bei jungen Frauen zwischen 13 und 19 Jahren. Noch Jahre zuvor seien auf zehn infizierte junge Männer dieser Altersgruppe vier infizierte Mädchen entfallen. Heute sei es fast umgekehrt: Auf zehn infizierte junge Frauen entfielen fünf infizierte junge Männer. Da viele Frauen regelmäßig zu Vorsorgeuntersuchungen gehen, wird bei ihnen Aids viel eher festgestellt als bei Männern.

„Es gibt den kulturellen Aspekt, wir haben in Brasilien noch eine machistische Kultur. Männer sagen, ich lebe homosexuelle Praktiken aus, habe aber keine homosexuelle Identität, bin verheiratet, habe Kinder. Wir müssen Scheinheiligkeit und Tabus bekämpfen.“ In Sao Paulo gebe es Indiodörfer, unter deren Bewohnern ebenfalls Aids anzutreffen sei. Zu den interessanten neuen Phänomenen zähle, daß es bei Menschen mit acht-bis elfjähriger  Schulbildung eine Aids-Zunahme gebe, mehr Information also nicht automatisch Werte und Verhaltensänderungen bewirke. Im Grunde wisse in Sao Paulo jedermann, wie man sich vor Aidsinfektionen schütze.

Soziokulturelle Faktoren – „purer Individualismus“

Sao Paulos Gesundheitsbehörde weist im Aids-Kontext auf soziokulturelle Faktoren sowie auf Verhaltensweisen, die es vor einigen Jahrzehnten noch nicht gegeben habe. Als eines der Hauptcharakteristiken der heuten Gesellschaft wird der „pure Individualismus“ genannt, ferner der „kollektive Narzissmus“. „Wir können als Hypothese in unserer Arbeit betrachten, daß jener junge Mensch, der ungeschützten Sex ausübt und damit den Körper und dessen Gesundheit einem Risiko aussetzt, damit den Wunsch ausdrückt, zeigen zu wollen, wie sehr er immun ist.“ Dies scheine die Denkweise der Heranwachsenden mit oder ohne Aids zu sein, „zumindest in unserer Kultur“.

Psychisch Gestörte und Aids

In Sao Paulo wird der beträchtliche Prozentsatz von leicht oder schwer psychisch Gestörten als speziell anfällig für die Aids-Infektion betrachtet. In Brasilien macht jeder zweite an Aids Gestorbene gemäß den Studien Kinder und Jugendliche zu Waisen, was für diese enorme Probleme, darunter Stigmatisierung und Diskriminierung, schaffe. Wenig beachtet wird zudem, daß körperlich  Behinderte auf verschiedenste Weise anfällig für eine Aids-Infektion sind, u.a. durch sexuellen Mißbrauch. In einer von der  Gesundheitsbehörde Sao Paulos veröffentlichten Studie heißt es:“Die Aids-Epidemie ist heute ein großes Problem der öffentlichen Gesundheit Brasiliens. Derzeit ist das Risiko der Ansteckung praktisch für jedes Individuum gleich.“ Dies gelte auch für Behinderte.

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/06/aids-in-brasilien-nicht-unter-kontrolle-gesundheitsministerum-weist-auf-deutlichen-anstieg-bei-jungen-homosexuellen/

Aids in Gefängnissen: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/04/01/aids-haufigkeit-in-brasiliens-gefangnissen-zehnmal-hoher-als-im-rest-der-bevolkerung-meldet-landespresse-aids-epidemie-nicht-unter-kontrolle/

http://www.kindernothilfe.de/Rubriken/Themen/HIV_+Aids-p-816/Projekte/Crescer+e+Conviver_+Gemeinsam+gegen+Aids-p-1949.html

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/11/brasiliens-heer-der-geistesgestorten/

http://www.bpb.de/themen/AG8OHL,0,Brasiliens_Widerspr%FCche.html

Dieser Beitrag wurde am Donnerstag, 18. September 2008 um 02:29 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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