Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Islam in Brasilien – zögerliches Wachstum. Scheichs warnen vor Überbewertung. „Extremisten und Fanatiker auch unter Juden und Katholiken.“ Hamas in Brasilien

Von der Moschee in Sao Bernardo do Campo bei Sao Paulo blickt man auf wichtige Industriebetriebe Brasiliens, in denen der heutige Staatschef Luis Inacio Lula da Silva 1966 als Metallarbeiter anfing und seine Karriere als Gewerkschaftsführer startete.

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Scheich Ali Abdune, islamischer Führer des Tropenlandes, koordiniert von der Stadt aus die Moslemgemeinden und leitet die übrigen 30 ihm unterstellten brasilianischen „Sheiks”an. Groß aufgemachte Medienberichte, die sich sogar auf die US-Botschaft stützen und ein spürbares Islam-Wachstum just an der Peripherie Sao Paulos betonen, hat Abdune natürlich gelesen. Aber er wiegelt ab, mahnt zur Vorsicht. Statt der immer wieder zitierten drei Millionen Moslems seien es im ganzen Lande derzeit schätzungsweise 1,5 Millionen. Genaue Statistiken habe man auch nicht. „Bis zu den Anschlägen vom 11. September 2001 war die Zahl der brasilianischen Moslems stabil “ danach wuchs sie interessanterweise an. Denn der Medienrummel, die vielen positiven oder negativen Reportagen über uns weckten bei den anderen Brasilianern Neugier. Sie kamen in die mehr als neunzig Moscheen, wollten sich genauer informieren “ und viele davon sind konvertiert, andere sympathisieren jetzt mit uns.” Der Scheich zeigt sich erschrocken von den Zuständen vor seiner Bürotür und in ganz Brasilien, beschreibt drastisch die zunehmende Gewaltkriminalität, den stark ansteigenden Drogenkonsum, gravierende soziale Verwahrlosung besonders an den Slumperipherien der Großstädte. „Diebe, Räuber und Straßenkinder, Frauen, die sich mit jedem einlassen, Betonung des Materiellen statt des Spirituellen “ da fehlt Religion und Nähe zum Schöpfer.” Doch gerade diese komplexe gesellschaftliche Situation sei vielen das Hauptmotiv für einen Übertritt zum Islam. „Die Leute suchen in unserer Religion vor allem die Werte, wollen einen Halt und feste, klar definierte Lebensregeln.”Rauschgift, Alkohol seien im Islam verboten, der Schutz des Lebens und der Ehre habe Priorität. „Deshalb ist eine Moslemin ja verschleiert, um keine Aufmerksamkeit zu erregen und möglicherweise von einem Drogensüchtigen vergewaltigt zu werden. Gerade junge Menschen brauchen feste Regeln, damit sie ihre Gemeinschaft nicht schädigen.” In so gewaltgeprägtem, individualistischen Umfeld betrachteten besonders Jugendliche den hochgradig solidarischen Islam als Refugium. Viele Konvertiten bleiben jedoch nicht lange, wechseln erneut die Religion, was Scheich Abdune viel Kopfzerbrechen macht. Brasilien, die Brasilianer seien wirklich in jeder Beziehung anders, nicht in ihren Glaubensrichtungen verwurzelt, wie man dies aus dem Orient oder Europa kenne. „Heute ist jemand Katholik, dann Evangelikaler, dann Jude, und dann wiederum Anhänger einer afrobrasilianischen Religion.” Den meisten fehlten Grundkenntnisse des eigenen Glaubens, man fließe zwischen den Bekenntnissen  hin und her. „Deshalb ist es auch so schwierig, die genaue Zahl der Moslems festzustellen.” Im größten katholischen Land findet man sie in der Hafenstadt Santos, in Curitiba und Foz de Iguaçu an der Grenze zu Paraguay und Argentinien, vor allem aber in Sao Paulo. Dort steht Lateinamerikas erste Moschee, 1928 errichtet. Die Megacity beherbergt auch Brasiliens größte jüdische Gemeinde. Mit der lebe man problemlos zusammen, sagt Scheich Abdune, wenngleich es auf beiden Seiten Extremisten, Fanatiker gebe, die die Nahostproblematik nach Brasilien importieren wollten. „Es gibt Extremisten, Fanatiker im Islam, imKatholizismus, im Judentum.“ Doch dann gestattet er sich doch noch einen Seitenhieb: „Hier werden sogar junge Juden militärisch ausgebildet, um dann im Nahen Osten Palästinenser zu töten. Diese Juden kehren später nach Brasilien zurück “ und niemand spricht darüber.” Was indessen die islamischen Gemeinden tun oder lassen, wird in der Tat ausführlich kommentiert. Aus den USA kommen immer wieder Vorwürfe, daß brasilianische Moslems terroristische Organisationen wie Hamas oder Hizbullah unterstützen, Gelder aus dem Drogen und Waffenhandel in Brasilien gewaschen und in den Nahen Osten transferiert würden. Als im Büro von al-Kaida in Kabul ein großes Wandposter der weltberühmten Wasserfälle von Foz de Iguaçu gesichtet wurde, galt auch dies als Indiz dafür, daß dort islamische Extremistenbasen und Terroristenverstecke liegen. Die Attentate von 1992 und 1994 auf jüdische Institutionen in Buenos Aires, bei denen weit über einhundert Menschen ums Leben kamen, habe man in Foz de Iguaçu vorbereitet, wurde immer wieder kolportiert.  Ein US-Botschafter in Brasilia sagte sogar, selbst Städte wie Rio de Janeiro und Sao Paulo könnten von islamischen Extremisten attackiert werden. Und drei der Attentats-Verdächtigen von New York hätten immerhin brasilianische Pässe, meldeten Zeitungen. Daß der mit einer Brasilianerin verheiratete Bruder Osama bin Ladens, Khalil Mohamed, gelegentlich im Tropenlande Urlaub macht, wurde natürlich auch immer wieder gerne aufgegriffen.  Inzwischen sind die Vorwürfe weitgehend verstummt, und wie Scheich Abdune herausstellt, habe selbst die brasilianische Regierung trotz intensiver Ermittlungen durch Bundespolizei und Geheimdienst keinerlei Beweise gefunden. „Aber an die Opfer israelischer Bombardements schicken wir natürlich Hilfsgelder, das ist doch normal!” Viele Arabischstämmige bekennen sich offen zu ihren Spenden an die Hizbollah, nennen sie eine legale politische Partei, die sich auch hilfsbedürftigen Kindern widme. Bei Moslem-Kundgebungen vor Sao Paulos Kathedrale sind Hizbollah-Spruchbänder am häufigsten. Unweit davon ist die typisch orientalische „Mesquita Brasil”, ganz in der Nähe eines weit größeren Sektentempels der City, Blickfang im häßlichen Beton-Einerlei und eine eine architektonische Preziose. Gelegentlich werden dort scharfe, polemische, aggressive Töne angeschlagen. „Die Schlacht, die wir heute ausfechten, ist die zwischen zwei Kulturen”, erklärt Scheich Mustafa Chukri Ismael aus Ägypten laut brasilianischer Presse vor den Gläubigen während des Freitagsgebets. „Unsere Pflicht ist, solange zu kämpfen, bis wir Jerusalem und all jene geheiligten Gebiete wiederhaben, die die Israelis an sich rissen.” Zwischen den Moscheesäulen nennt ein angesehener Politiker der Moslemgemeinde gegenüber dem Journalisten die Gründung Israels „das größte Verbrechen der Menschheitsgeschichte” “ den Terrorismus hätten die Israelis erfunden. Die Hizbollah definiert er als populäre Volksmiliz und verteidigt auch die Selbstmordattentate. Daß Osama bin Laden ein Terrorist sei, müsse erst noch bewiesen werden. „Solange wir keinen Frieden haben, sagte Osama bin Laden, werden die USA auch keinen haben “ und da hat er Recht!” Im Gebetsraum spielen Kinder, man läßt sie gewähren. Islamische Traditionen werden in Brasilien weit weniger rigide gehandhabt als im Orient. Extrem selten, in den Moslemgemeinden einmal eine verschleierte Frau, gar eine Kopftuchträgerin zu treffen. In Brasilien mache das keinen Sinn, erläutern Mosleminnen, die Kleidervorschriften variierten entsprechend der jeweiligen Kultur. Der Kopftuchstreit in Europa scheint daher umso unverständlicher. Daß Allah und Mohammed fester Bestandteil des brasilianischen Karnevals sind, dort sogar in Samba-Klassikern und Märschen erwähnt werden und man selbst Prophetenkostüme trägt, hat die moslemischen Gemeinden noch nie zu Protesten provoziert. Gemäß seriösen Studien ist das Zusammenleben der verschiedensten Konfessionen in Brasilien jedoch keineswegs spannungsfrei. So wollen 37 Prozent der Brasilianer keine Juden als Nachbarn “ und 32 Prozent keine Arabischstämmigen. Der deutsche Religionswissenschaftler Frank Usarski ist Experte für orientalische Religionen an der Katholischen Universität von Sao Paulo und weist die von Scheich Abdune genannte Gläubigenzahl von etwa 1,5 Millionen als völlig unrealistisch zurück. Die Volkszählung von 2000 habe lediglich rund 27000 brasilianische Moslems ergeben. Bei keiner anderen Landesreligion sei die Diskrepanz zwischen der Selbsteinschätzung und den statistisch mehr oder weniger gesicherten Zahlen so stark, betont Usarski. Genaue Untersuchungen über die Zahl der Moslems fehlten indessen. Als wichtigste Motive für einen Übertritt zum Islam sieht er die Suche nach einem gesünderen Lebensstil mit festen Alltagsregeln sowie eine Gegnerschaft zum Westen. „Wer mit ihm abrechnen, sich von ihm distanzieren will, findet im Islam ein gutes Identitätspotential. Denn dann ist man mit seinem Haß nicht mehr alleine, sondern hat einen gewissen Rückhalt auch in der Gruppe.“

moscheespjpg.jpgMoschee in Sao Paulo

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Dieser Beitrag wurde am Montag, 06. Oktober 2008 um 17:54 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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