Bahlmanns Sicht auf die brasilianischen Realitäten:Â
Massaker, Blutbäder, Todesschwadronen, lebendig verbrannte Obdachlose, von Mord bedrohte Ordensbrüder “ kann der Franziskanerpriester in Deutschland überhaupt vermitteln, unter welchen Extrembedingungen die Ordensleute in Sao Paulo Seelsorge leisten, Menschen in Not helfen?
 „Ich nenne es „vergessener Krieg”, in dem wir hier leben “ all die unglaublichen, absurden Geschehnisse unseres Alltags kann man vielen Deutschen nur schwer begreiflich machen. Diese komplexe Lage hier ist in Deutschland nur schwierig zu vermitteln. Nur wer hier gewesen ist, die Dinge mit eigenen Augen gesehen hat, kann eigentlich nachvollziehen, in welche Realität wir Franziskaner eingebunden sind. Selbst in verschiedensten Kreisen Brasiliens geht es mir so: Vieles Furchtbare wird verdrängt, man blockt ab, will sich damit nicht auseinandersetzen, will es nicht wahrhaben. In den Medien wird viel über den Irakkrieg, Kriege in Afrika berichtet “ und dabei oft vergessen, daß hier in Sao Paulo ebenso viele Menschen oder sogar noch mehr als in manchem fernen kriegerischen Konflikt getötet werden, auch wir hier im Grunde genommen wie in einem Krieg leben. Es gab sogar Massenmorde an Obdachlosen.
 http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/12/o-iraque-e-aqui-der-irak-ist-hier-hit-von-jorge-aragao/
Wir Franziskaner sind hier in friedensstiftender Mission, wollen hier Frieden schaffen.” Selbst in den eigenen Sozialprojekten haben die Franziskaner permanent mit Gewalt zu kämpfen. „Eine friedensstiftende Aktion war in unserem eigenen Obdachlosenheim nötig: Den Koch hatte man erschossen, der Projektleiter war gleichzeitig Rauschgifthändler und nutzte das Heim als Drogenumschlagplatz. Unser Mitbruder dort bekam immer wieder Morddrohungen. Mit dem Papier-Recyclingprojekt haben wir ähnliche Probleme. Brasiliens mächtigstes Verbrechersyndikat PCC ist sehr aktiv - Kriminelle werden in unsere Projekte infiltriert, suchen dort Unterschlupf. Es gibt in Sao Paulo Müllverwertungsprojekte, in denen Abfallsammler wie Sklaven gehalten werden.” In der Megacity ist das Heer der Obdachlosen nicht zu übersehen “ das Franziskanerkloster ist von ihnen regelrecht umlagert.„1647 wurde unser Kloster gegründet, als Sao Paulo noch ein Dorf war. Schon damals haben wir unsere Nahrung mit den Armen geteilt. Jede Nacht backen wir Brot, verteilen es morgens um sieben an die Bewohner der Straße, geben ihnen Tee, holen sie in einen großen Klostersaal, betreuen alle spirituell und psychologisch. Wir geben diesen Entwurzelten Geborgenheit, ein Zuhause. Unser Ziel ist, möglichst viele in die Gesellschaft wiedereinzugliedern. Daß viele Obdachlose geistig behindert sind, ist für uns eine zusätzliche Herausforderung. Ungezählte hausen weiter auf den Straßen, weil es eben viel zu wenige Projekte dieser Art gibt.” In Sao Paulo, Lateinamerikas reichster Stadt, werden jährlich etwa 6000 neue Leprafälle gezählt, in ganz Brasilien über 50000 “ mehr als neunzig Prozent der Leprakranken Nord-und Südamerikas entfallen auf das Tropenland, nirgendwo auf der Erde ist die Lepradichte höher.„Empörend, daß es die mittelalterliche Elendskrankheit hier immer noch gibt! Wir halten es wie der Heilige Franziskus, der ohne jegliche Berührungsängste auf Lepröse zuging, sie umarmte. Seit über 500 Jahren widmen wir uns hier den Aussätzigen “ wobei sich immer wieder Franziskaner anstecken, selber leprös werden. Bei einem unserer Mitbrüder im Kloster wurde die Krankheit gerade entdeckt. Ich selbst koordiniere die Lepraprojekte ganz Brasiliens. Wir betreuen die Menschen der Leprakolonien, sorgen aber auch dafür, daß Infizierte von den staatlichen Gesundheitsposten, selbst hier in Sao Paulo, auch tatsächlich medizinisch behandelt werden. Denn das ist keineswegs garantiert. Viele denken: Wenn herauskommt, daß ich Lepra habe, werde ich entlassen, von der eigenen Familie nicht mehr akzeptiert “ also besser gar nicht erst zum Gesundheitsposten gehen! Doch so wird alles nur noch schlimmer. Viele brasilianische Politiker interessiert die Krankheit nicht, weil sie nur die Armen betrifft, nicht die Reichen. Uns Franziskanern ist wichtig, bei der Leprabekämpfung mit möglichst vielen Lepraexperten wie dem deutschen Missionar Manfred Göbel, den Maltesern und anderen Hilfsdiensten zu kooperieren, von deren Erfahrungen zu lernen.”Aids ist in Brasilien weiterhin eine Epidemie, längst nicht unter Kontrolle “ auch die Franziskaner beklagen, daß Medikamente für die Aidskranken fehlen, Infizierte deshalb sogar sterben, die ganze Wahrheit über die Seuche versteckt wird. „Theoretisch ist die medizinische Behandlung der Aidskranken per Gesetz bestens geregelt, müßte jeder Betroffene regelmäßig und gratis seinen Medikamentencocktail bekommen. Doch in fast allen Bereichen, ob Lepra oder Obdachlose, erfüllt der Staat seine gesetzlichen Pflichten nicht “ so daß wir dann über unsere Sozialprojekte Druck ausüben, politisch aktiv werden, notfalls sogar gegen die Regierung vorgehen. Ja, wir legen uns mit den Autoritäten an, da entstehen Spannungen. Es muß doch jemanden geben, der auf solche Tatsachen hinweist, Opposition betreibt!” Auffällig ist, wie eng und problemlos die Franziskaner in Sao Paulo zugunsten der Armen und Verelendeten, der sozial Ausgeschlossenen  mit Parteien und Gruppierungen zusammenarbeiten, die manche zu den radikalen System-und Regierungsgegnern rechnen.„Uns leitet dabei der Heilige Franziskus, der mit seinen Ideen und Visionen auch der heutigen Zeit weit voraus ist: Wie er wollen wir die Grenzen, Mauern und Todeslinien in dieser Gesellschaft überwinden, auch Unkenntnis und Abschottung in Privilegiertenghettos. Wir akzeptieren die Menschen in ihrer Andersartigkeit, arbeiten mit allen zusammen, die guten Willens sind, machen genau wie Franziskus keine Unterschiede, sehen die anderen als Brüder und Schwestern an. Daher agieren wir gemeinsam mit vielen politischen Gruppierungen, die sich dasselbe Ziel gesetzt haben. Das heißt jedoch nicht, daß wir uns mit ihnen vermischen, dieselben Meinungen und Ideen vertreten, uns vereinnahmen lassen. Wir haben unsere Identität “ die haben ihre. Priorität hat stets die humanistische, barmherzige, solidarische Aktion. Dafür hat Franziskus immer wieder die unterschiedlichsten Menschen an einen Tisch geholt “ und so machen wir es auch.  Wir sehen als unsere Aufgabe, in den verschiedensten Realitäten präsent zu sein. So viele Bewohner werden mit der Stadt, mit dem in jeder Hinsicht ungesunden Leben hier nicht mehr fertig, rennen uns regelrecht die Türen ein, flehen um Hilfe. Ein kleines Almosen reicht da nicht “ wir wollen und müssen mehr tun.”Sao Paulo wird auch „größte deutsche Industriestadt” genannt “ wegen der rund eintausend deutschen Unternehmen, von VW bis Mercedes und Bayer. „Derzeit planen wir mit Hilfe der deutsch-brasilianischen Industrie-und Handelskammer ein kleines Projekt für zehn Obdachlose, die in einer deutschen Firma beschäftigt werden sollen. Die Handelskammer will zudem ein Projekt für Körperbehinderte fördern. Von ADIDAS haben wir Produkte bekommen. Eine engere Zusammenarbeit, wie wir sie uns jetzt vorstellen, gab es noch nicht. Uns ist wichtig, nicht von in-und ausländischen Firmen oder Organisationen unterstützt zu werden, die nur ihr Gewissen beruhigen und uns für Eigenwerbung benutzen wollen. Bislang ist uns das gelungen.” Die Arbeit der Franziskaner kostet Geld, Priester Johannes Bahlmann kümmert sich auch um die Mittelbeschaffung.
„Das Gros stammt von Einzelpersonen “ denn wir machen Telemarketing, rufen bei Stadtbewohnern an, bitten um Spenden. Natürlich unterstützen uns auch Misereor, Adveniat, die Missionszentrale der Franziskaner. Doch ich denke, die katholische Kirche braucht bessere Netzwerke und muß sich effizienter artikulieren. Man sagt, nur fünfzehn Prozent aller geplanten Sozialprojekte werden schließlich realisiert “ das gilt auch für die kirchlichen.”
Paulo Lins – „City of God“: http://www.swr.de/swr2/programm/extra/lateinamerika/stimmen/beitrag21.html
http://www.bpb.de/themen/AG8OHL,0,0,Brasiliens_Widerspr%FCche.html
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« Evangelikale Pastorin und Gospelsängerin Carla Nascimento mit Franziskanerpadre Johannes Bahlmann. – „Unter Lula hat die soziale Ungleichheit zugenommen“ – Chico Whitaker, Träger des Alternativen Nobelpreises, Weltsozialforum-Mitgründer, katholischer Menschenrechtsaktivist Brasiliens. »
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