„Wenn ich meine Zigeuner in ihren Camps besuche, fühle ich mich wie in einer lebendigen Oper, wie auf einem anderen Planeten”, schwärmt der katholische Priester Jorge Pierozan aus Brasiliens Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. Dort hausen rund 150000 der etwa 800000 Zigeuner des Landes zumeist nahe den Bahnhöfen in Zelten und Hütten.
„Sie hören kein Radio, sehen kein Fernsehen – was außerhalb ihrer Lager geschieht, beeinflußt Sitten und Gebräuche nicht“, sagt er im Website-Exklusivinterview. In Brasilien ist Padre Pierozan soetwas wie die oberste Autorität in Zigeunerfragen, leitet zusammen mit Bischof Paulo Moreto die nationale Nomadenseelsorge – eine Arbeit, die ihm sichtlich Spaß macht, seinem Temperament und Naturell entspricht. Denn vor dem Priesteramt war Pierozan jahrelang Zirkusclown – und kennt aus dieser Zeit das Leben der Fahrenden wie kaum ein anderer. Jetzt hat der Vatikan „Orientierungen für eine Pastoral der Zigeuner” in der ganzen Welt herausgebracht – Pierozan trug mit Vorschlägen, Hinweisen zur Formulierung bei. Festgeschrieben werden das Recht auf eine eigene Identität, die Achtung der Kultur und aller gesunden Traditionen der Zigeuner. Daß dabei differenziert werden solle, die Zigeuner neben ihren Rechten aber auch Pflichten gegenüber den anderen Völkern zu beachten hätten, ist ganz im Sinne von Padre Pierozan. Wie jedes Volk der Erde hätten auch die Zigeuner bestimmte kulturelle Eigenheiten, die man nicht verteidigen könne, meint er. Die Seelsorge verlangt von ihm viel Improvisationstalent: ”Unsere Zigeuner leben im Heute, planen nicht weit voraus, sind morgen womöglich schon woanders. Also gehe ich in ihr Lager und frage, wollt ihr, daß ich eure Kinder schon am Nachmittag taufe? Ich erkläre ihnen den Sinn des Ganzen, katechisiere sie auf der Stelle – und nach dem Taufakt gibts natürlich ein rauschendes Fest mit Tanz und Musik, schießen die Zigeuner Feuerwerksraketen ab, ballern Schüsse in die Luft.” Konflikte, Probleme sind natürlich vorprogrammiert. Denn einige Gruppen pflegen ihre Kinder in einem anderen Lager erneut taufen zu lassen – um zusätzliche Taufpaten zu gewinnen, die als Beschützer dienen können. „Ich erkläre den Zigeunern dann, daß das heilige Sakrament der Taufe gemäß den Kirchennormen nur einmal im Leben gewährt wird. Aber wenn mich der Clan für eine solche neue Zigeunertaufe ruft, segne ich das Kind natürlich.” Nach wie vor werden von den Familien Kinderehen vereinbart, gelten die Mädchen, ähnlich wie bei den Indianern, bereits nach der ersten Menstruation als heiratsfähig. Häufig lernen sich beide nur wenige Tage vor der Trauung zum ersten Mal kennen. Auch da kommt Padre Pierozan in eine heikle Situation, nennt ein Beispiel: ”Das Mädchen ist erst dreizehn, der Junge erst fünfzehn. Beide entdecken, daß sie zusammen schon Kinder haben, Vater und Mutter sein könnten – und werden zusammenwohnen, werden gemäß dem Clanritual heiraten. Aber eigentlich verbietet das doch der Staat, erlaubt das auch die Kirche nicht. Was tun? Ich gehe also hin, segne sozusagen den Brautstand, die Verlobung, aber noch nicht die Ehe. Wenn die beiden Kinder haben, taufe ich die natürlich. Wenn beide dann erwachsen sind, ruft mich der Chef des Clans und dann holen wir die Eheschließungszeremonie nach, machen alles ganz korrekt. Diese Kinderehen funktionieren, halten das ganze Leben lang, denn darüber wacht der Clan. Die Kirche muß sich solchen Gepflogenheiten eben anpassen.”
Bei den brasilianischen Indianern, etwa halb so viel an Zahl wie die Zigeuner, stellt sich die katholische Indio-Seelsorge ebenfalls auf das sehr frühe Geschlechtsleben ein. Isarire Lukukui, Ex-Häuptling der Karajà -Indianer:”Indiomädchen schlafen gleich nach der Geschlechtsreife mit jemandem, bekommen, falls sie das wollen, mit elf, zwölf Jahren die ersten Kinder.”
Gemäß den neuen Vatikanorientierungen soll in den Zigeunergemeinden die Gleichstellung von Mann und Frau gefördert, die Würde der Frau geachtet werden. Denn ebenso wie bei den Indianerstämmen, regiert auch bei den brasilianischen Zigeunern teils extremer Machismus. Padre Jorge Pierozan bestätigt das. „Zu den machistischen Regeln gehört, daß eine Zigeunerfrau nie alleine auf die Straße gehen darf – womit verhindert werden soll, daß sie ihren Mann betrügt. Selbst der Jungverheiratete muß zeigen, daß er ein echter Macho ist, der sich überall mit Courage und Wut durchsetzt, der Herr im Hause ist. Und so schlägt er bisweilen seine Frau sogar in aller Öffentlichkeit, demonstriert damit Macht vor allen Leuten. Vor solchen Dingen verschließt die Kirche natürlich nicht die Augen. Ich versuche derartiges zu korrigieren.”
Pierozan weiß, daß solche Art von Gewalt gegen Frauen leider die gesamte Macho-Gesellschaft Brasiliens prägt – und sogar weiter ansteigt. Zur Zigeunerseelsorge gehören auch Alphabetisierungs-und Hygienekurse, das Schlichten von Konflikten mit der Polizei. „Die Ciganos sind Kinder Gottes, menschliche Wesen wie ich – wenn niemand sie verteidigt, ist es die Rolle der Kirche, sich für sie einzusetzen, ihnen eine Stimme zu geben.”
http://www.arede.inf.br/index.php?Itemid=99&id=605&option=com_content&task=view
http://www.meionorte.com/noticias,Cigano-e-assassinado-com-15-tiros-no-interior-do-PI,33657.html
http://www.meionorte.com/noticias,Confronto-entre-ciganos-PM-deixa-6-mortos-na-Bahia,22115.html
« Brasilien: Zigeunerfest mit vier Toten und fünf Verwundeten – in Bahia drei Gefesselte lebendig verbrannt, zwei weitere in Lebensgefahr. Weihnachtsverbrechen. – Marcio Atherino, Copacabana, Rio de Janeiro. »
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