Cragun beim Website-Interview in seinem Haus in Santa Teresa.
Nach Angaben seines langjährigen Partners Roberto de Oliveira verlor Cragun als Folge des Schlaganfalls etwa 14 Prozent des Gehirns. Dies führte u.a. zu Gedächtnisproblemen.
Laut “O Globo” war Cragun zuletzt mit der früheren Ballett-Tänzerin und Tanzlehrerin Rosalia Verlangieri verheiratet, nannte seine finanzielle Situation “fürchterlich” und lebte seit 2010 im Rio-Stadtteil Botafogo in einer Zwei-Zimmer-Mietwohnung. “Ich wohne mitten in Kisten, es ist alles eingepackt.” Cragun mußte während seiner Zeit in Rio de Janeiro u.a. wegen nicht eingehaltener Finanzierungszusagen immer wieder aus eigener Tasche beitragen.
Da könnte sich die Frage aufdrängen, warum Bekannte, Freunde, Ex-Kollegen aus dem Stuttgarter Umfeld nicht die Initiative ergriffen und den gesundheitlich angeschlagenen Cragun aus dieser mißlichen Lage befreiten, ihn beispielsweise nach Deutschland zurückholten.
“Cragun pensa em incluir a historia de sua bisexualidade numa autobiografia.”
Hintergrund von 2004:
„Wir beide sind eigentlich verrückt, so etwas hier zu machen.”
Die Stuttgarter Ballettlegende Richard Cragun – neuer Start am Zuckerhut mit dem brasilianischen Choreographen Ricardo de Oliveira.
Morgens um zehn in der chaotischen, entsetzlich lauten City von Rio de Janeiro, das wunderschöne Theatro Municipal, der alten Oper von Paris nachempfunden, wie ein Fels in der Brandung, verkehrsumtost – überragt von häßlich funktionalen Zweckbauten. Drinnen im Theatro die andere Welt des Richard Cragun, Idealist, wie er im Buche steht.
Der Korrepetitor greift in die Tasten, vor hohen Spiegeln proben Tänzerinnen, Tänzer – ein Augenschmaus – die Ballettmeister – alles Russen, seit Cragun hier das Zepter übernahm. Er hätte in Europa, in Deutschland bleiben können – warum gerade Brasilien?
”Da ist zuerst die große Beziehung durch Marcia Haydee, die berühmte brasilianische Ballerina, mit der ich verheiratet war sechzehn Jahre lang und auch in Stuttgart vierunddreißig Jahre mit ihr zusammen getanzt habe. Und durch diese Beziehung habe ich Brasilien kennengelernt. Und eines Tages sage ich mir, wenn ich aufhöre zu tanzen, möchte ich nach Brasilien ziehen und und hier irgendetwas anfangen. Ich habe so viele, viele gute Jahre gehabt, durch London, Stuttgart, ich habe sehr hart gearbeitet, es war eine goldene Zeit. Diese ganzen Probleme hier – das ist wie die andere Seite des Mondes. Ich muß auch das kennenlernen, um ein lebenserfahrener Mensch zu werden. Ich muß lernen, nicht nachzulassen, hier kein Selbstmitleid zu haben – nur sagen, vorwärts, Cragun, vorwärts. Die hier wissen nicht, was sie tun. Man muß einfach sagen, okay, ich bin hier, euch zu helfen!”
Richard Cragun – einst gefeierter Stargast in Rio de Janeiro – seit zwei Jahren auf einmal Direktor dieses einzigen klassischen Balletts von Brasilien, des wichtigsten von ganz Lateinamerika. Ballettdirektor in einem Land der Dritten Welt, mit den entsetzlichsten Sozialkontrasten – Nobelviertel der Weißen neben Slums, Schwarzenghettos. Dazu der unerklärte Bürgerkrieg mit rund 55000 Gewaltopfern jährlich, mehr Getöteten pro Jahr als im Irakkrieg. Der Start in Rio wie böses Erwachen?
”Tolle Überraschung!”
Cragun meint es ernst und ironisch zugleich. ”Das brasilianische Volk hat ein außerordentliches Gefühl für Musik, Rhythmus, Tanz und Humor. Das sind wirklich Elemente, die man unbedingt braucht für eine Tanzkarriere. Was sie nicht haben, ist genügend klassisches Ballett. Die haben zwar verschiedene Schulen, aber die sind die letzten Jahre sehr heruntergekommen. Das System, die Ausbildung eines Tänzers sind sehr zurückgeblieben die letzten Jahre – wie wohl überall in der Welt. Die große Epoche des Tanzes reichte von den 60er Jahren bis spätestens in die 80er Jahre, schon in den 90ern ging es bergab – ziemlich stark.“
Der Dirigent und Komponist John Neschling wechselte 1997 von Deutschland nach Sao Paulo, übernahm das heruntergewirtschaftete Sinfonieorchester der Metropole, initiierte eine regelrechte lateinamerikanische Klassik-Kulturrevolution – durch Neschlings zähe Anstrengungen hat Brasilien, hat Lateinamerika erstmals in der Geschichte ein Orchester von internationalem Niveau, dessen CDs auch in deutschen Plattenläden stehen. Richard Cragun versucht das gleiche mit seinem Ballett in Rio, hat heute sehr ähnliche Probleme wie Neschling damals.
”Es ist wahnsinnig kompliziert. Viele Leute fragen mich, Cragun, warum bleiben sie hier, machen sie das immer noch. Vorauszuplanen ist leider nicht die Methode in Brasilien. In Deutschland planen wir manchmal zwei, drei, vier Jahre voraus, weiß man, was in Berlin und Stuttgart dann läuft. Wir versuchen hier, für mein nächstes Programm diesen Oktober einen Sponsor zu finden. Zu finden! Wir haben noch keinen Sponsoren. Und durch diesen Sponsoren wird das finanziert.”
Die Gagen der Tänzer wenigstens werden pünktlich vom Bundesstaat Rio bezahlt – umgerechnet zwischen achthundert und 1700 Euro – doch dem Ballettdirektor selbst – und sogar ausländischen Solisten, Choreographen bleibt man den Lohn monatelang schuldig. Wird deren Idealismus schamlos ausgebeutet?
”Ich soll eine feste Summe bekommen, aber zwei Monate schon wird mir nichts gezahlt. Und das ist viel, wirklich sehr viel. Ich kann das nicht mehr erlauben , daß die Versprechungen machen für Künstler des Auslands. Neulich, ich habe das erlebt, daß die erst fünf Monate nach der Premiere bezahlt haben. Was glauben sie, was ich für E-Mails bekommen habe aus Deutschland! Cragun, sie haben uns angelogen! Ich sage Kinder, Kinder, das ist Brasilien. Deshalb bin ich wütend geworden, habe gesagt, ich will aufhören hier.”
Und – kaum zu glauben, weil die Kulturbürokratie den Ballettdirektor einfach übergeht, fehlen den Tänzern immer wieder sogar die Schuhe.
”Die Schuhe waren zu spät bestellt von der Verwaltung – warum, das Geld war noch nicht da. Die sagen manhamanhamanha. Es war zu spät, die Tänzer hatten keine Schuhe zur Vorbereitung, hat man also einige Vorstellungen abgesagt. Ich habe mich auf die Seite der Tänzer gestellt – die können doch nicht ohne Schuhe tanzen!”
Doch Ärger, Streit hat Cragun selbst mit einem Teil des Ensembles – bereits viel zu alt, weit über vierzig, doch unkündbar, mit Beamtenmentalität. Neueinstellungen fast unmöglich.
”Ich habe 91 Tänzer, und ich würde sagen, ungefähr 45, 48 kann ich einsetzen. Die anderen können nicht tanzen. Die kriegen ihr Geld, müssen ihr Training machen – und das ist alles. Was kann ein Ballettdirektor mit diesen Leuten tun? Die bleiben nicht aus Bösartigkeit, haben ja keinen anderen Job. Aber jedes Jahr, das die Company älter wird, und kein frisches Blut hinzukommt,geht es auf eine Katastrophe zu. Das ist der Tod jeder Company!”
Aus all diesen Gründen leere Häuser, böse Kritiken? Genau das Gegenteil, denn das Ensemble tanzt deutlich besser. Vor Cragun war Ballett nur ein Elitevergnügen, Eintrittskarten absolut unerschwinglich für die Masse jener, die Stundenlöhne um die fünfzig Cents umgerechnet bekommen. Cragun boxte durch, daß die Eintrittspreise halbiert werden – manche Vorstellungen kosten gar nur 28 Cents. Auch deshalb volle Häuser, viel mehr Vorstellungen, erstmals sogar sehr viele Slumbewohner in dem noblen Theater mit dem Schriftzug „Goethe” an der Vorderfront. Slumbewohner, Arme ohne Bildung, ohne eine Idee von der Kunst des Balletts. Cragun macht daher dasselbe wie Dirigent Neschling in Sao Paulo, spricht zum Publikum, ”…um denen beizubringen, um was es geht. Ein bißchen Kunsthistorie. Ich rede mit ihnen, lade ein paar auf die Bühne, damit sie einen Spitzenschuh anfassen können. Oder ich spreche mit der Tänzerin Ana Botafogo. Das ist enorm erfolgreich, man muß nur in die Gesichter schauen.”
Die zierliche Ana Botafogo – beste, auch populärste Solistin des Theatro Municipal. Sie betont vor allem den Qualitätssprung durch Cragun.
”Für uns ist er ein Geschenk – wenngleich er sehr viel fordert, sehr hohe Ansprüche an uns hat. Er will Technik u n d Seele, setzt besonders auf die Interpretation. Cragun gibt uns sehr viel Sicherheit, weil er ja selbst Tänzer war, und weiß, wie unser Leben ist, unser Alltag. Cragun hat einfach sehr gute Ideen. Durch ihn wurde unser Theatro Municipal auf einmal weltweit bekannt – alle Welt weiß, daß hier in diesem so fernen Brasilien derzeit etwas Wichtiges, Großes passiert. Cragun leidet sehr unter dieser Bürokratie, diesen Geldproblemen. Denn manchmal denkt er noch, er sei in Deutschland, wo doch im Vergleich zu hier alles funktioniert. Er muß verstehen, daß er jetzt in Brasilien ist.”
Immer wieder Übernahmen aus Stuttgart – darunter den Onegin, von John Cranko.
Und schon wirbt man Cragun Tänzer ab – etwa ans Royal Ballett in London. Das zählt für ihn ebenso wie Stuttgart, Leningrad, New York zu den A-Kompagnien, zur Weltspitze.
”Ich zähle unsere am Theatro Municipal zur B-Kategorie, die sind noch nicht auf dem A-Level, aber die machen gute Fortschritte, die sind sehr professionell. Neulich sagte einer: Die Staatsoper in Berlin ist gar nicht besser wie das hier. Das waren Ballettouristen aus Deutschland.”
Richard Cragun ärgert sich über den Rassismus in Brasilien – und attackiert ihn sogar im Theater. “Natürlich gibt es Rassismus – und manchmal ist er sogar sehr stark.” Erstmals in der Ballettgeschichte Brasiliens gibt er einem Schwarzen eine Hauptrolle – dem einzigen Nicht-Weißen in seinem Ensemble. Jener Bruno Rocha tanzt den Albrecht im Ballett Giselle, als Partner von Ana Botafogo.
”Es war ein Riesenerfolg – er war der erste Schwarze in der ganzen Geschichte von Brasilien und dem Theatro Municipal “ in fast hundert Jahren. Man fragte mich vorher, warum haben sie ausgerechnet einen Schwarzen da eingesetzt. Ich habe gesagt, ja, ist der schwarz – ich habe das nicht bemerkt. Der ist ein toller Tänzer, der ist elegant, der hat alle Fähigkeiten – daß der schwarz ist, oder grün oder blau, das ist mir egal. So habe ich darauf reagiert.”
Und Bruno Rocha?
”Damit wurde sozusagen ein Tabu gebrochen – denn nie hat ein Schwarzer hier eine Hauptrolle getanzt. Erst seit ich Solist hier bin, fühle ich mich gleich wie die anderen hier, glaube ich an mich.”
Nachmittags wechselt Cragun im Sauseschritt vom noblen City-Opernhaus ins arg heruntergekommene Hafenviertel, in einen dunklen früheren Lagerschuppen. Wieder intensive Proben, ein Korrepetitor.
Craguns zweiter Arbeitsplatz – abgewetzt, extrem simpel und provisorisch eingerichtet, Lärm der Hafenstraße dringt herein. Das DeAnima-Ballett für zeitgenössischen Tanz – vor zweieinhalb Jahren hat er es mit dem Brasilianer Roberto de Oliveira gegründet, zuvor Solotänzer und Hauschoreograph in Stuttgart. DeAnima hat sechzehn feste Bailarinos, Bailarinas – im angeschlossenen Sozialprojekt zusätzlich zweihundert Talente aus den Slums, zu 99 Prozent Schwarze. Sprach-und Informatikkurse, für die Zeit nach dem Tanzen. Probleme, weit komplizierter als im Theatro Municipal. Präfekt Cesar Maia hatte Cragun und Oliveira nach Rio eingeladen, DeAnima sollte die offizielle Tanzkompagnie der Zuckerhutstadt sein, finanziert von der Präfektur. Doch schon bald kommt kein einziger Centavo mehr.
„Für mich eine sehr große Enttäuschung – alles war von einem Tag auf den anderen futsch.”
Die Rettung kommt kurioserweise aus Deutschland.
”Das ist der Witz, und ich bin dermaßen froh und dankbar. Deutsche Sponsoren, die Firma Bosch. Wir haben auch von Siemens in Deutschland Geld bekommen. von der Birgit-Keil-Stiftung.”
Wenigstens schlossen sich zwei Stiftungen Rios an. Roberto de Oliveira – Star der Stuttgarter Bühne, hochgelobt von den deutschen, europäischen Ballettexperten. Doch hier werden der Choreograph und sein DeAnima-Ballett von der Tanzszene, den anderen freien Gruppen der Zehn-Millionen-Stadt extrem negativ empfangen, von den Medien, in denen die Gegner stark sind, mit furchtbaren Kritiken niedergemacht. Oliveira, DeAnima werden als lästige Konkurrenz behandelt, die nicht hochkommen soll. Craguns, Oliveiras Biographie zählt hier nur wenig.
”Wir beide sind eigentlich verrückt, so was hier zu machen. Manchmal denke ich, ach, ich packe jetzt meine Koffer und kehre zurück nach Europa. Ich denke das oft bis heute. Die Situation hier ist kompliziert, nicht so einfach, wie ich dachte. Die Atmosphäre in Brasilien ist sehr wenig kreativ heute. Selbst die Ballettkompagnie Grupo Corpo, die wichtigste von Brasilien, bringt nur alle zwei Jahre ein neues Stück heraus. Wir haben dagegen schon 28 Stücke im Repertoire, zweieinhalb Jahre nach der Gründung. Wir haben einfach die europäische Mentalität mitgebracht. In Stuttgart hatten wir jährlich drei Premieren, vier Wiederaufnahmen, dort produziert man viel, schafft man viel Neues. Ich glaube, Brasilien ist in vielen Dingen noch ganz am Anfang, man ist neidisch, engstirnig, kleinlich. Doch das Schlimmste haben wir hinter uns, jetzt stabilisieren wir DeAnima. Und stopfen unsern Gegnern den Mund – erst jetzt wird unsere Qualität langsam anerkannt. Jetzt sehen es die Leute!”
Immer wieder stoßen Talente aus den mehr als 800 Rio-Slums hinzu.
”So unglaublich es klingt, von Richard Cragun hörte ich erstmals, kurz bevor ich hier als Fester anfing”, sagt Marcus Dias aus Brasilia. „Der hat keine Starallüren, der mag dieses Land, tanzt sogar Samba. DeAnima fordert viel, holt viele neue Choreographen, wie keine andere Ballettkompagnie hier – phantastisch für uns.”
”Hier werde ich nicht reich, aber eine Persönlichkeit”, urteilt der Schwarze Claudio Cardoso. „Viele meiner Freunde sind zu den Banditen gegangen, alle schon tot. Roberto und Richard zeigen uns hier Alternativen, andere Perspektiven.”
”Nur durch Roberto habe ich überhaupt entdeckt, daß ich Ballett mag, daß mir das liegt”, meint Thiago de Silva aus dem Slum Vila de Joao, „ich will Tänzer und Choreograph werden. Falls ich hier keine Anstellung kriege, versuche ichs eben im Ausland – dort schätzt man ja Kultur viel mehr als hier. Immer diese Schießereien in Vila de Joao finde ich furchtbar.”
Drei Schwarze, mühsam ausgebildet, wurden bereits für sehr gute Gagen nach Europa abgeworben, zwei davon sogar nach Deutschland – stets ein Verlust für uns, ein Jammer, wie Cragun beklagt.
Roberto zeigt auf zwei hochbegabte Jungen – deren Brüder sind Killer, die Mutter ist Prostituierte.
”Oft können wir mit Slumjugendlichen nicht arbeiten, weil die Gangsterkommandos es verbieten. Für ein Ballett im Theatro Municipal hatte ich für vierzig Leute Gratiskarten besorgt. Doch niemand kam! Die Gruppe war in ein Feuergefecht rivalisierender Banditenmilizen geraten, alle wären um ein Haar erschossen worden. Und sowas passiert hier viel! Unsere Jugendlichen leben wie in einem Parallelstaat, unter einer Parallelmacht! Deshalb ist unser Sozialprojekt so wichtig. Aber für all das braucht man viel Idealismus, Selbstvertrauen, Beharrlichkeit, unendlich viel Geduld…”
Mit der Zeit bemerkt Cragun, daß man am Opernhaus seinen Idealismus auf absurdeste Weise ausbeutet, Projekte sabotiert. Rio de Janeiros Opernhaus hatte das unverschämte Glück, einen der fünf besten, wichtigsten Tänzer des gesamten zwanzigsten Jahrhunderts, als Ballettdirektor engagieren zu können – nutzte diese Chance indessen nicht, kein Einzelfall in Brasilien. Cragun kündigt: “Ich habe es einfach satt, es geht nicht mehr – angesichts von Inkompetenz und Fehlplanung in diesem Haus. Ich habe acht Ballette absagen müssen. Ich konnte nicht ein einziges Mal eine Produktion mit unterschriebenem Vertrag anfangen. Das alles bedeutet für den Ballettdirektor einen Streß, du glaubst es nicht.”
Als es um die Aufführung des Dornröschen-Balletts von Tschaikowsky geht, möchte die zuständige Kulturfunktionärin wissen, wer eigentlich die Musik geschrieben habe. “Und wieviel müssen wir dann Herrn Tschaikowsky für die Aufführungsrechte bezahlen?”, wird Cragun gefragt. Wie Neschling in Sao Paulo hat er auch Probleme mit brasilianischen Gewerkschaften, eine ganz besondere Sorte. “Es ist teilweise zum Weinen hier. Ein Tänzer ist immer wieder kurz vor einer Vorstellung besoffen. Er fehlt bei Proben, ruft aus Sao Paulo an, daß er nicht kommen könne, weil der Hund krank ist. Der Tänzer hat immerhin eine Hauptrolle!” Cragun will ihn entlassen, doch die Tänzergewerkschaft setzt per Anwalt durch, daß er bleibt, die wegen der Probenausfälle gestrichenen Gagen dennoch bekommt. Cragun steht da wie ein Hampelmann, ohne Autorität. “Das System blockiert sich selbst.”
Die mittelmäßige, provinzielle Tanzszene Rios macht weiter auch über die wichtigsten Medien gegen DeAnima mobil – Intrigen, absurd schlechte Kritiken, Verleumdungen. “Das ist eine Mafia, ein Komplott. Die wollten mich hier nicht haben, die wollten DeAnima nicht.” Typisch Brasilien – Cragun und Oliveira werden nicht als Bereicherung empfunden, sondern als lästige Gegner, Konkurrenten. Denn beide hätten Qualitätsmaßstäbe gesetzt, an denen alle Tanzkompagnien Brasiliens, Rios künftig gemessen würden. Oliveira sagt:”Die Atmosphäre in Brasilien ist sehr wenig kreativ, man ist neidisch, engstirnig, kleinlich, will keine Ausländer. Die Situation ist kompliziert, nicht so einfach, wie ich dachte. Ich denke oft, ach, ich packe meine Koffer und gehe zurück nach Europa.” Auch Cragun, inzwischen in Rio überfallen und ausgeraubt worden, ist skeptisch:”Die hier haben nicht die Klugheit, die Tanzszene attraktiv zu machen. Die Leute in Europa werden die hier einfach auslachen und sagen, das gibts doch nicht, das ist nicht diskutabel.”
Richard Cragun – gefeiert mit dem Stuttgarter Ballett in Sao Paulo. (Programmheft)
Brasiliens absichtlich zerstörte Paartanz-Kultur, Severino Araujo. „Bailes estao morrendo?“(Tanzzeitung „Dance“): http://www.hart-brasilientexte.de/2012/08/04/brasilien-severino-araujo-dirigent-des-seelenvollsten-dienstaltesten-ballorchesters-der-welt-mit-95-gestorben/
http://de.wikipedia.org/wiki/Richard_Cragun
Richard Cragun – eine außergewöhnliche Persönlichkeit – sinnlich und hochsensibel.
Cragun sprach gegenüber O Globo auch über seine Bisexualität, die zur Trennung von Marcia Haydee geführt habe. Cragun habe ein Verhältnis mit dem Masseur des Stuttgarter Balletts gehabt – was die Trennung bewirkte. “Vier Monate tanzten wir nicht mehr zusammen. Bis sie sagte: Ricky, ich habe Sehnsucht, wieder mit dir zu tanzen. Laß es uns versuchen. Marcia ist meine beste Freundin und die Frau meines Lebens.”
Brasilien gilt als größtes bisexuelles Land der Welt.
Mit welchem kulturellen Umfeld Richard Cragun konfrontiert war, das ihn tagtäglich auch psychisch stark belastete – Brasilien auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung nur Platz 84 – die entsetzliche Gewaltkultur von Rio de Janeiro, siehe Website-Fotoserie”Rio+20.Brasiliens Zeitungen, brasilianischer Fotojournalismus”. Für einen Idealisten wie Cragun war grauenhaft, in einer Scheiterhaufen-Stadt zu leben, die aus seinem früheren deutschen Lebensumfeld viel Lob, Hudel, Bewunderung erhielt. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Roberto de Oliveira in Website-Interviews: “Wir haben die europäische Mentalität mitgebracht. Dort produziert man viel, schafft man viel neu.Das hängt von einem kulturellen Apparat ab, der in Brasilien leider nicht existiert. Der Brasilianer ist sehr neidisch, sehr kleinlich, wenn es darum geht, die Arbeit, das Talent anderer anzuerkennen…Wir mußten unser Sozialprojekt schon dreimal stoppen, weil das Geld fehlte. Die Präfektur hat uns im Stich gelassen – das war das Problem. Der Präfekt ist leider eine Person mit dem denkbar schlechtesten Charakter, er lügt. Das schuf für uns eine sehr komplizierte Situation. Das Problem hier ist auch die Desinformation. In Brasilien wird die Kultur in Sao Paulo gemacht. Ich arbeite hier nur, weil ich an das glaube, was ich hier schaffe. Und das hat für mich keinen Preis. Unsere berufliche Vergangenheit interessiert hier nur sehr wenig. Tanzen – da überträgt ein Körper die Geheimnisse des anderen Körpers – das ist für mich etwas Spirituelles.”(Zitate aus langen Interviews)
http://www.maisde50.com.br/editoria_conteudo2.asp?conteudo_id=7088