Â
Brasilien: Marina Maggessi
Kriminalinspektorin(2005)
Für Rio de Janeiros couragierte Chefinspektorin der Zivilpolizei, Marina Maggessi,(inzwischen Kongreßabgeordnete) neben deren Schreibtisch ein großes Ché-Guevara-Bild steht, leider nichts Neues: Top-Athleten, die als weltbekannte Fußballprofis Millionen scheffeln, halten ebenso wie prominente Schauspieler, Popmusiker, Politiker und Models enge freundschaftliche Kontakte zu übelsten Verbrecherbossen, die neofeudal mit ihren hochbewaffneten Banditenmilizen über Rios riesige Slums herrschen und die Bewohner terrorisieren. Daß Multimillionär Pelé seinen wegen Drogenhandels einsitzenden Sohn Edinho gegenüber der Presse als unschuldig bezeichnet, nötigt der bewundernswerten, unter hohem Lebensrisiko tätigen Chefinspektorin nur ein Hohnlachen ab. Man kennt ja Pelé. Mitten in der härtesten, grausamsten Phase der Militärdiktatur, als man politische Gefangene lebendig den Haien zum Fraß vorwarf, erklärte er im Ausland:”Es gibt keine Diktatur in Brasilien – wir sind ein freies Volk!” Marina Maggessi kämpft mit ihrem viel zu kleinen Team der Zivilpolizei, um den Bewohnern Rios zu mehr Sicherheit, mehr Bürgerrechten zu verhelfen. Aber gegen die Banditendiktatur in den Slums, gegen jenen Parallelstaat der Verbrechersyndikate kommt sie nicht an. Der Kulturminister und Musiker Gilberto Gil fuhr mit dem Arbeitsminister in der Regierungslimousine völlig ohne Polizeischutz, ohne Body-Guards in einen großen Slum Rios ein, hatte sich die Visite, wie die Presse berichtete, zuvor von gefürchteten, berüchtigten Gangsterbossen genehmigen lassen. Schriftsteller beklagten, damit sei von den Ministern die Parallelregierung der Verbrecher legitimiert worden. „Geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London”, so der Sozialwissenschaftler Paulo Sergio Pinheiro in Sao Paulo, „würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen.” Vom hohen Felsen eines Hangslums an der Copacabana werden regelmäßig Mßliebige zur Abschreckung in die Tiefe gestoßen “ die Banditenbosse kennen kein Erbarmen.
Scheiterhaufen „microondas“ in Rio – laut Lokalzeitung.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
„Es sind Tyrannen, ja, richtige Tyrannen, die barbarische Untaten begehen“, sagt Marina Maggessi im Exklusivinterview. „Sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, verüben Greueltaten jeder Art. In den Slums herrschen sie mit aller Bösartigkeit, brutaler Macht. Die Slumbewohner haben zu diesen Banditenbossen ein Verhältnis von Liebe und Haß. Denn es gibt welche, die auf Einschüchterung setzen, während andere die Rolle des Staates übernehmen. Was dieser an Sozialem nicht tut, tun sie. Da gibt es welche, die bezahlen sogar das Kochgas bis hin zu Beerdigungen, zur Miete “ und geben dem Slum Schutz. Diese Banditenmacht ist schon so institutionalisiert, alle Segmente der Gesellschaft sind verwickelt. Ich mache mir nicht viel Kopfzerbrechen über die Lebensgefahr, in der ich mich befinde. Wenn man darüber nachdächte, würde ja niemand mehr diese Arbeit machen wollen. In Rio will der Bandit nur Vorteile – und mich zu töten, brächte ihm keine. Mich zu liquidieren, ist eigentlich gar nicht so schwer – aber danach wäre für ihn Sense, wäre er dran. Doch ich glaube in dieser Lage sehr stark an Gott. Es ist schon sehr eigenartig, daß Prominente diese Kontakte zu den Banditenbossen pflegen. Vor allem Fußballspieler sind verwickelt. Wir sind da auf unseren Nationaltorwart Julio Cesar gestoßen, der jetzt bei Inter Milano ist – und auch auf Jorginho, der zum Beach-Soccer-Weltmeisterteam gehört und bereits zweimal zum besten Spieler der Welt gekürt wurde. Diese Banditen repräsentieren Macht – und die fasziniert, diese Parallelmacht. Vielleicht geht es auch um eine Art Geleitbrief. Freund eines Banditen zu sein, schützt davor, Verbrechensopfer zu werden. Wenn einer überfallen wird, kann er sagen, olha, ich bin der Freund dieses oder jenes Gangsters, der dich umbringen wird. Das ist es – dieser Glamour, sozusagen Freund des Königs zu sein! Dieses Mannes, der im Slum befiehlt! Aber ethisch-moralisch ist die Haltung dieser Leute erbärmlich. Doch so ist die Realität in Rio – da sehen wir die Scheinheiligkeit. Diese Prominenten gehen zu den Banditenfesten, spielen dort unter anderem Fußball. Alles läuft so ab: Der Gangsterboß organisiert ein Wohltätigkeitsfest, ein Fußballspiel, eine Musikshow zugunsten einer regierungsunabhängigen Organisation, die zum Beispiel Kinder unterstützt. Und bei dem Fest erscheint dann mittendrin der Gangsterboß, stellt sich allen vor, läßt gratis Bier, Whisky, Energiedrinks ausschenken, es gibt viel zu essen, Grillfleisch und Samba. Und alle sind eben dabei. Einige gehen dorthin und kommen aber nie wieder – andere werden Freunde des Gangsterbosses, halten Kontakt per Telefon, kehren immer wieder dorthin zurück. Der Boß läßt sie auch mit seinen MGs schießen, stellt ihnen sein Waffenarsenal vor – alles supermodern, die neueste Generation. Waffen, die kaum eine Guerillha der Erde besitzt. Rios Banditenmilizen haben zum Beispiel die Sturmgewehre AK, das (deutsche) G 3, das Fuzil 762, das sind sehr teure Waffen. Heute haben wir mehr AR 15 aus nordamerikanischer Produktion, russische Kalaschnikows, auch viele chinesische MGs. Die Prominentenkontakte sind keineswegs für uns was Neues, ganz im Gegenteil. Diese Beziehung zum Fußball ist auch nicht neu. Die Mehrheit der Spieler ist ja aus armen Familien solcher Slums, ist zu Geld und Ruhm durch eigenes Talent, durch die Kunst des Fußballs gelangt. Aber die Wurzeln haben diese Leute im allgemeinen an solchen Orten. Der Sohn von Pele ist ein Krimineller, ein Drogenhändler, gehört zu einer Bande, die an Rauschgift verdient. Diese Prominentenkontakte sind laut Strafgesetzbuch kein Verbrechen. Die Spieler haben von einer solchen Freundschaftsbeziehung weiter keine Vorteile – doch der Banditenboß, der hat welche. Denn wenn er Prominente zu seinen Drogenhandelsplätzen lockt, wenn er solche Veranstaltungen organisiert, kriegt er viele Kunden. Das ist gut für sein Image, für seine Legitimation als König des Slums. Doch Athleten dürften sowas einfach nicht tun, die müßten jeden Kontakt vermeiden, der nach Doping stinkt. Wie kann so einer Freund von einem Drogenboß sein, der bereits Kinder anlockt, rekrutiert, der sozusagen vom Doping lebt. Das ist doch absurd, das geht doch nicht! Wenn es sich um Rock-oder Sambasänger handelte, hätte ich es ja vielleicht noch verstanden. Die trinken Alkohol, schnupfen Kokain. Aber wenn sich Athleten der Nationalmannschaft mit Drogenbossen, Drogenhändlern mischen – das ist das Ende.“http://www.hart-brasilientexte.de/2009/06/08/jose-murilo-de-carvalho-mitglied-der-brasilianischen-dichterakademie-fuhrender-historiker-brasiliens/http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/joao-ubaldo-ribeiro-gesichter-brasiliens/Wie starb der TV-Reporter Tim Lopes? Laut Polizeibericht entdeckten ihn Banditen in der Favela Vila Cruzeiro von Rio de Janeiro – Tim Lopes wurde zuerst gefoltert, dann rammten ihm die Gangster einen Spieß in den Brustkorb, hackten seine Füße ab und verbrannten ihn lebendig in Autoreifen – siehe Szene aus ”Tropa de Elite. http://www.focus.de/politik/ausland/brasilien-den-boss-nicht-veraergern_aid_156714.html
« Paulo Lins – Gesichter Brasiliens. Schriftsteller, Filmemacher, Menschenrechtsaktivist. „City of God“. – Jaime Aroxa – Gesichter Brasiliens. »
Noch keine Kommentare
Die Kommentarfunktion ist zur Zeit leider deaktiviert.