„City of God“ kam 2002 heraus – selbst viele relativ gut über Brasilien informierte Mitteleuropäer aus der sogenannten alternativen Drittwelt-Szene  hielten die Filmdarstellungen übertrieben und sensationalistisch, obwohl der Streifen die Realität mit Rücksicht auf das Mittelschichts-Kinopublikum nur sehr abgemildert abbildete, nicht einmal Scheiterhaufenszenen zeigte. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
Co-Regisseur Paulo Lins, der das Buch zum Film schrieb: ”Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.” http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/paulo-lins-gesichter-brasiliens/
Steinigen im Iran und in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/14/steinigen-im-iran-unter-ahmadinedschad-und-in-brasilien-unter-lula-lula-konnte-sich-uber-die-tatsache-beunruhigen-das-brasilien-zu-den-landern-gehort-in-denen-am-meisten-gelyncht-wird-jose/
Hintergrundtext von 2003: „Vierteilen, köpfen, lebendig verbrennen“
Auch unter Staatschef Lula herrschen hochgerüstete Banditenmilizen des mit der Politik liierten organisierten Verbrechens über die Slums, terrorisieren Millionen von Bewohnern. Ganz im Interesse der alten Machteliten – denn damit wird perfide Protestpotential erstickt und zudem verhindert, daß die Verelendeten für ihre Grundrechte kämpfen. Deutschlands Menschenrechtsszene interessiert das natürlich kaum einen Deut.
Über ein Dutzend großer schwarzer Geier sitzen auf den Leichen zweier Männer, hacken mit ihren Schnäbeln Fleischstücke aus dem stinkenden menschlichen Aas, das bei Tropenhitze bereits vier Tage auf einem Slumweg liegt. Geschehen im Juli 2003 an der Peripherie Rio de Janeiros. Tageszeitungen bringen Farbfotos von der grausigen Szene, zitieren einen Anwohner: „Das ist hier normal.” Ebenfalls im Juli verurteilt die den Fubà -Slum Rios beherrschende Banditenmiliz einen mutmaßlichen Vergewaltiger zum Tode, verbrennt ihn lebendig auf einem Scheiterhaufen aus Autoreifen. Die Zeitungen jener Millionenstadt, die sich um die Olympischen Spiele von 2012 bewirbt, veröffentlichen wie üblich auch ein Großfoto von den verkohlten Resten dieses Toten.
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Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ mit erster Darstellung der in Rio de Janeiro alltäglichen Scheiterhaufen. Ein Scheiterhaufen-Opfer real: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/16/scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-der-grausame-tod-einer-48-jahrigen-frau-in-der-microondas-laut-lokalzeitung/
Aber auch von den heftigen tagelangen Gefechten zwischen rivalisierenden Verbrechersyndikaten zweier Rio-Slums – hunderte Einschüsse in Katen, Strommasten. Alles in unmittelbarer Nähe einer Kaserne der Militärpolizei, die nicht eingreift, den zehntausenden betroffenen Slumbewohnern nicht zu Hilfe kommt. Alle in Todesangst, weil die Garben aus NATO-MGs natürlich auch Türen und Wände der armseligen Behausungen problemlos durchdringen, deshalb immer wieder sogar auch Babies, alte Menschen getötet werden. Weiterhin verhängen die Banditenmilizen in den Elendsvierteln Rio de Janeiros Ausgangssperren, werden gemäß den arg geschönten offiziellen Daten im Großraum der Zuckerhutmetropole monatlich rund sechshundert Menschen ermordet. Viel mehr Tote, ähnliche Szenen aber auch in der Industriemetropole Sao Paulo, deren Präfektin Marta Suplicy inzwischen zur Vizepräsidentin von Staatschef Lulas Arbeiterpartei PT aufstieg. Im gesamten Teilstaate Sao Paulo sind nach Polizeischätzungen immerhin 1,5 Millionen Feuerwaffen aller Kaliber illegal in Umlauf, ein Großteil in Banditenhand. Über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner Rios, besagen Studien, haben mindestens einem Mord zugesehen, der Anblick verwesender Gewaltopfer ist für sie längst Normalität. Was dies für die Psyche Heranwachsender bedeutet, kann sich jeder ausmalen.
Selbst befreiungstheologisch orientierte Pfarrer, Bischöfe der katholischen Kirche betonen seit Jahren, daß Brasiliens Regierungen in den rasch wachsenden Slums der Großstädte eine Parallelmacht hochgerüsteter Gangstermilizen zulassen, deren Herrschaft über die Bewohner akzeptieren. Dadurch werde perfide verhindert daß diese für ihre Bürgerrechte kämpften – bereits der Faktor Angst verhindere politische Aktivitäten. Und dies sei ganz im Sinne der Eliten. Inzwischen eine Binsenweisheit. Angesichts von weit über vierzigtausend Gewalt-Toten jährlich spricht nicht nur die Kirche von einem „nichterklärten Bürgerkrieg” und „kolumbianischen Verhältnissen” – politische und kriminelle Mordmotive vermengen sich immer öfter. Daß die Slumbewohner der immerhin zwölftgrößten Wirtschaftsnation de facto zu Geiseln des organisierten Verbrechens wurden, ihrer Basis-Menschenrechte beraubt sind, hat auch die brasilianische Sektion von Amnesty International immer wieder angeprangert. Doch die deutsche Menschenrechtsszene, das Politikerpack interessiert all dies – von löblichen Ausnahmen abgesehen – keinen Deut. Nicht zufällig kritisiert 2002 der deutsche Anwalt Sven Liebig aus Berlin, tätig bei der brasilianischen Menschenrechtsvereinigung „Centro da Justica Global” das schäbige, ethisch-moralisch verlogene Verhalten von Ländern der Ersten Welt wie Deutschland:”Ganz offensichtlich in der deutschen Außenpolitik, daß große Länder wie Brasilien, die eine wirtschaftliche Macht darstellen, in denen man wirtschaftliche Interessen verfolgt, längst nicht so kritisiert werden wie etwa kleinere Staaten in Mittelamerika oder im Nahen Osten. Überhaupt nicht in Ordnung, daß Brasilien in der Menschenrechtspolitik Deutschlands keine große Rolle spielt. Im Menschenrechtsausschuß ist Brasilien kein Schwerpunkt.”
Wie wäre das in Berlin, Hamburg oder Frankfurt: Ein Großteil der Einwohner lebt in Vierteln, wo Verfassung, Gesetze, Menschenrechte außer Kraft sind, die Regierungsgewalt von neofeudalen Warlords ausgeübt wird, welche ein strenges Normendiktat mit harter Hand durchsetzen – in Sichtweite etwa des Reichstags, der Präfektur, öffentlicher Verwaltungsgebäude, auch des Polizeipräsidiums. Wer das „Lei do Silencio”, Gesetz des Schweigens bricht, interne Vorgänge des Viertels nach außen trägt, gar der Presse über die Machtstrukturen berichtet, wird zur Abschreckung exekutiert. Etwa per Microonda, Mikrowelle: Über das gefesselte Opfer werden Autoreifen bis in Kopfhöhe geschichtet, mit Benzin übergossen – und dann Streichholz dran. So läuft es in Sao Paulo, Lateinamerikas Industrielokomotive mit über tausend deutschen Unternehmen, mehr als tausend Slums, oder in der touristischen Perle Rio de Janeiro, mit über achthundert Armenvierteln – Fotos von den verkohlten Resten werden regelmäßig veröffentlicht.
Manche, die in deutschen Kinos den brasilianischen Streifen „City of God” sahen, hielten die vielen Gewaltszenen für reichlich übertrieben – die paßten nicht zum sozialromantischen Bild vom Tropenstaat. Dabei wurde in dem Film weder gezeigt noch erwähnt, daß in dieser Rio-Favela „Cidade de Deus” das Verbrennen von Mißliebigen ebenfalls üblich ist. Als alternative Hinrichtungsmethode gilt dort, sie Alligatoren zum Fraß vorzuwerfen. Köpfen, Zerhacken sind ebenfalls gängige Slum-Strafen – Leichenteile werden absichtlich an verschiedenen Punkten des Armenviertels ausgestellt, tagelang und selbst bei größter Hitze. Immer wieder beobachtete, fotografierte man sogar Kinder, die mit abgeschlagenen Köpfen Fußball spielten. Vergewaltiger werden kastriert – Banditen natürlich ausgenommen. „Harmlosere” Strafen sind Folterungen oder das Durchschießen der Hände und Füße. Etwa für jene, die Ausgangssperren mißachten, gar Banditenbefehlen nur murrend nachkommen. Denn jedermann muß mit den global vernetzten Verbrechersyndikaten kooperieren, Drogen, Waffen, Raubgut, Entführte, bei Razzien selbst Bandidos in seiner Kate verstecken. „Weil ich ein Auto habe”, so ein Slumbewohner, „muß ich andauernd schwerbewaffnete Gangster in der ganzen Stadt herumfahren, sogar zu Überfällen transportieren – bitter ist, daß es unter uns keine Solidarität mehr gibt, jeder mißtraut jedem. Im Drogenrausch hat ein Bandido auf meine Tür gefeuert, beinahe meine Kinder getroffen!” Ohne Zustimmung der Gangster darf niemand Besucher, nicht einmal Verwandte in den Slum mitbringen, hat auch kein Politiker Zutritt. Als jetzt der angesehene Kongreßsenator Eduardo Suplicy aus Staatschef Lulas Arbeiterpartei PT die Rio-Favela Vila do Joao besuchte, hielt er sich ebenfalls streng an die Banditenvorgaben, verschwand mit dem Journalistentroß pünktlich zur geforderten Zeit. Eigentlich ein haarsträubender Vorgang, politisch höchst bedenklich. Suplicy war in NGO-Sozialprojekten – auch diese brauchen grundsätzlich das Banditen-Okay, werden kontrolliert.
„Neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte”
Die Favelas sind Hochburgen, Operationsbasis der Milizen, die angesichts zunehmender Massenarbeitslosigkeit keine Nachwuchsprobleme haben, sogar zehntausende von Kindern in den Arbeitsmarkt der Syndikate integrieren, ihnen Top-Löhne zahlen, mit denen diese ganze Großfamilien ernähren. „In den Slums”, so die Anthropologin Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, „ ist eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte inzwischen fest installiert – alles hingenommen von den Autoritäten.” Selbst minderjährige Mädchen drängeln sich geradezu danach, Geliebte von Banditen zu werden, damit Status und Schutz zu gewinnen, in den besten Restaurants zu speisen, den teuersten Boutiquen einzukaufen, Gepflogenheiten der Geldelite zu kopieren. „Hier oben ist es spannend, geil, richtiges echtes Abenteuer”, sagten in einem Hangslum Rios zwei Vierzehn-Fünfzehnjährige in superkurzen Shorts, Bikini-Oberteil. Sie haben wachsende Bäuche und erklären stolz, von zwei Top-Gangstern, über die man sogar in TV und Radio spricht, schwanger zu sein. Jugendliche Banditen betonen ganz offen, jeden sofort zu killen, der als Polizeiinformant gilt. „Uns machts Spaß, Leute zu töten – wir sind tatsächlich finstere Typen, stehen zu unserem Job.” Einer erschoß bereits drei Polizisten, ein anderer köpfte einen Mann, „zur Abschreckung der Bewohner”, wie er sagt. Und alle wissen, daß sie im „Stadtkrieg”, der jährlich zehntausende Opfer fordert, meist keine fünfundzwanzig Jahre alt werden. Sechzehn Slumkids verschiedener Teilstaaten ließen sich für einen neuen Dokumentarfilm interviewen – nach zwei Jahren lebte nur noch einer. Natürlich hausen die Bosse des organisierten Verbrechens nicht in den Favelas: „Die wohnen in den Nobelvierteln”, betont die aus der Oberschicht stammende Sozialarbeiterin und Menschenrechtsaktivistin Yvonne Bezerra da Silva. Das „Crime organizado”, so Roberto Precioso, neuer Chef der Bundespolizei in Rio de Janeiro 2003, „durchdringt inzwischen die gesamte Gesellschaft.” In der achtjährigen Amtszeit des neoliberalen Staatschefs Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, haben die Verbrechersyndikate ihre Parallelmacht zügig ausgebaut, auch Politiker-Wahlkämpfe finanziert, besitzen für die „Guerra urbana” inzwischen sogar Bazookas zum Abschießen von Panzern, schwere MGs zur Flieger-und Hubschrauberabwehr, deutsche G-3-Mpis, hochmoderne Sturmgewehre des Schweizer Bundesheeres, Handgranaten en masse. Und setzen all diese Waffen auch unter Cardoso-Nachfolger Luis Inacio „Lula” da Silva gezielt ein, attackieren neuerdings immer häufiger Armeestützpunkte, Kasernen, erbeuten Munition, blockieren Stadtautobahnen, Straßentunnel, um serienweise Fracht-LKW abzufangen. Und um Macht zu demonstrieren, wird selbst in Mittelschichtsvierteln tageweise die Schließung tausender Geschäfte erzwungen, mußte erst im Mai wieder einmal für über zehntausend Schüler Rio de Janeiros der Unterricht ausfallen. Doch das ist neu: Zahlreiche Militärpolizisten, vom Staate entsetzlich schlecht bezahlt, lassen sich von Verbrecherorganisationen für hohen Sold anheuern, um in voller Beamtenuniform am Sturmangriff auf Slum-Hochburgen rivalisierender Syndikate teilzunehmen.
Aber auf der Erscheinungsebene sind Sao Paulo und Rio de Janeiro aufregend attraktiv wie immer – wer nur an der Copacabana, in Ipanema Bade-und Kultur-Urlaub macht, merkt gewöhnlich von all dem nichts.
Guerillataktik aus der Diktaturzeit
Die immer ausgefeiltere Guerillataktik wurde ausgerechnet von politischen Gefangenen erlernt, die die Diktaturgeneräle in den sechziger und siebziger Jahren auf der damaligen Gefängnisinsel „Ilha Grande” bei Rio mit Schwerstverbrechern zusammengesperrt hatten. Vor der Ankunft der „Politischen” terrorisierten sich die verschiedenen Häftlingsfraktionen untereinander, herrschte pure Barbarei – Folter, Morde, Vergewaltigungen waren an der Tagesordnung. Die Diktaturjustiz nahm an, daß die Regimegegner in diesem Kerker zerrieben, zermahlen würden, doch das Gegenteil geschah. Die „Presos politicos” überzeugten die anderen, daß alle aus dieser Hölle nur lebend herauskommen würden, wenn Einigkeit und eine klare Organisationsstruktur bestehe. Diese wurde aufgebaut, trug militärische Züge – über Hungerstreiks ließen sich bessere Haftbedingungen durchsetzen. Und sollten Schwerkriminelle doch einmal einen „Politischen” bedrohen, bekamen sie zu hören:”Der lange Arm der Revolution packt euch, wo immer ihr seid, falls uns hier was passiert.” Das wirkte. Die ideologische Motivation der „Politischen” wurde nur von ganz wenigen Gangstern übernommen, den meisten war sie zu kompliziert, zu fremd. Aber die praktischen Erfahrungen, die eingeschmuggelten Guerillapostillen mit raffinierten Anleitungen für Banküberfälle und Entführungen, für das Irreleiten von Polizei und Behörden – das war für alle brennend interessant. Bevorzugter Lesestoff – „Das kleine Handbuch des Stadtguerillheiros” von Carlos Marighela, Gründer der Widerstandsorganisation „Aliança Libertadora Nacional”, oder gar „Guerra de Guerillhas”, von Chè Guevara höchstselbst, mit guten Tips für den Einsatz von Granaten, Bomben, Maschinenpistolen, Fallen und Hinterhalten – ob im Urwald, in Agrarregionen oder in der Großstadt. 1979 erließen die Generäle eine Amnestie für politische Gefangene – die Zurückbleibenden gründeten im Inselknast das „Comando Vermelho” (Rotes Kommando), das erste und bis heute mächtigste Verbrechersyndikat ganz Brasiliens. Die Initialen CV findet man vor allem in Rio, aber auch mehreren anderen Millionenstädten an zahlreiche Wände, darunter von Schulen, gesprüht. Der berüchtigte Bankräuber Vadinho, einer der CV- Mitgründer:”Als die Politischen wegwaren, wurden deren Schüler zu Lehrern. Wir haben die Gefangenen überzeugt, daß sie lernen, studieren, sich organisieren müssen. So hat das doch alles angefangen.” Die Komplizen in Freiheit übernahmen sofort die hierarchisch-militärische CV-Struktur, übertrugen sie auf die Banditenhochburgen in Rios Steilhangslums, mit bis heute fulminantem Erfolg. Der ausgedehnte bergige Nationalpark „Floresta da Tijuca” dahinter wird immer mehr von Slums zerfressen, deren rasches Wachstum auch rivalisierende Syndikate wie das „Terceiro Comando” (TC, Drittes Kommando) oder die „Amigos dos Amigos” ( ADA, Freunde der Freunde) ganz im Eigeninteresse nach Kräften fördern. Neuerdings brennen sie sogar großflächige Fluchtwege in den Nationalpark, errichten gelegentlich Straßensperren – sogar ein Umweltminister auf Inspektionsfahrt mußte deshalb schon einmal umkehren.
Schwer zu übersehen, daß sich ein Großteil der Slumjugend mit CV, TC oder ADA identifiziert, Banditenwerte übernimmt, Heranwachsende aus „gegnerischen” Favelas unnachgiebig attackiert. Selbst kriminelle Straßenkinder teilen ihre Stadtreviere entsprechend auf:”Wenn jemand von einer anderen Fraktion im Gebiet unseres Kommandos Überfälle macht, ist er sofort dran”, erläutert ein Sechzehnjähriger im Juni in Rio de Janeiro. „Einem haben wir jetzt die Beine gebrochen und den Schädel eingeschlagen. Wir waren sieben gegen einen.”
Rogerio Reis, Scheiterhaufen: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/07/rogerio-reis-microwaves-microondas-fotoinstallation-uber-scheiterhaufen-brasiliens-vom-maison-de-la-europeenne-de-la-photographie-in-paris-angekauft/
Schonungslos und schockierend wie nie zuvor kritisieren immer mehr Künstler die tiefe sozialökonomische Krise ihres Landes – und haben damit sogar kommerziellen Erfolg. Filme, Theaterstücke, Raps wollen politisieren, polemisieren, polarisieren. Staatschef Lulas „Neoliberalismo“ wird immer schärfer attackiert.
Über ein Jahrzehnt lang galt engagierte Kunst in Lateinamerikas „größter Demokratie” als out “ jenes kleine Häuflein, das davon einfach nicht lassen wollte, wurde von den tonangebenden Medien ausgelacht, fertiggemacht, hatte nicht einmal mehr an den Universitäten ein nennenswertes Publikum. Ausnahmen bestätigten die Regel. Kulturkonsumenten aus Mittelschicht und Intelligentsia zogen es mehrheitlich vor, die sich zuspitzende sozialökonomische Krise des Riesenlandes zu verdrängen. Was sich immer bedrohlicher an den Peripherien der Millionenstädte, in den Ghettos der Bevölkerungsmehrheit zusammenbraute, wurde ausgeblendet. Das scheint bis auf weiteres vorbei “ die Fronten in Brasiliens „Guerra nao-declarada”, dem nichterklärten Bürgerkrieg, rücken immer näher an die Viertel der Schicken, Reichen, Hochgebildeten heran. Die Erfolgsgeschichte des Streifens „City of God”, der 2004 als erster brasilianischer Spielfilm gleich viermal für den Oscar nominiert wurde, zeigt es beispielhaft. Das Kuriose, aber so Typische “ alle vier brasilianischen Oscar-Anwärter, durchweg hellhäutige Mittelschichtler, hatten gar nicht lange vor Drehbeginn noch keine Ahnung von der Filmmaterie, nämlich den barbarischen, unmenschlichen Zuständen, der neofeudalen Herrschaft zumeist jugendlicher Banditen in brasilianischen Slums. Regisseur Fernando Meirelles gab das in Interviews offen zu. Erst der fesselnde Romanerstling „Cidade de Deus” des Schwarzen Paulo Lins über ein real existierendes Elendsviertel von Rio öffnete ihm die Augen. „Das Buch nahm mich vollkommen gefangen: Ein Strudel der Gewalt, unauflösbar scheinende Teufelskreise. Ich war überrascht, Leute wie ich, aus dem Mittelstand, sind sich gar nicht bewußt, daß es so einen Pfuhl in unserer Nähe gibt.”
Cidade de Deus, inzwischen in über zwölf Sprachen verlegt, wurde Drehbuchvorlage für „City of God”. Doch da auch die brasilianischen Feuilleton-Kritiker meist realitätsfremde Mittelschichtler sind, verrissen sie den Film sofort als „schädlich, schlecht, reißerisch, unrealistisch” “ in drei Monaten werde sich kein Mensch mehr an „City of God” erinnern. Nur zu typisch für Brasiliens soziale Apartheid, analysierte Paulo Lins im Interview “ die oben wissen nicht, wollen nicht wissen, wie die unten, immerhin die übergroße Bevölkerungsmehrheit, leben, überleben. Auffallend, daß selbst manche progressiven bis linksstehenden, drittweltbewegten Europäer, die regelmäßig Brasilien bereisen, den Streifen als „überdreht gewalttätig, unrealistisch, sensationalistisch”, als unpolitischen Thriller einstuften. „Wichtig ist doch gerade, daß dieser Film die bisher so gerne versteckte Realität zeigt und sogar weltweit in den Kinos läuft”, so Lins, der sich seit jeher zur Linken zählt. „Daher wird sich die brasilianische Gesellschaft für diesen Film schämen “ und die Regierung muß etwas unternehmen. Denn die Gewalt im Lande ist eben nicht nur ein Fall für die Polizei. Hier geht es um Menschenrechte, um eine kraß ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wir nicht die Misere, den Hunger abschaffen? Brasilien stirbt noch mal an dieser Indifferenz. Nach diesem Film wird man Brasilianer im Ausland fragen: Wußtest du von diesen Zuständen? Und sie werden antworten müssen: Nein, ich wußte nichts davon. Wenn einer im Ausland sagt, ich bin Brasilianer, wird er hören: Ich habs gesehen, ein Scheißland.”
„City of God” machte im Herkunftsland Furore, wurde heiß diskutiert, erschütterte einen Großteil des Publikums wie keine andere Produktion zuvor. Und “ wie immer, wenn brasilianische Kunstproduktionen unerwartet in der Ersten Welt hervorragend bewertet werden, zog die einheimische Kritik schließlich gleich. Arnaldo Jabor, Cineast, zudem einer der wichtigsten Kolumnisten, gab den Ton an, nannte den Film ein wichtiges nationales Ereignis – „er wird für immer unser Geheimnis enthüllen: Wir sind eines der grausamsten Länder der Welt. Cidade de Deus zeigt, daß die Hölle hier ist, hinter Ipanema und Jardins. Dieser Film demaskiert uns für immer.”
Die Oscar-Nominierung nahmen engagierte Künstler, vor allem jene Regisseure als zusätzlichen Ansporn, die den brasilianischen Film aus seiner tiefen Krise holten, das skeptische Publikum seit dem letzten Jahr mit einer ganzen Reihe guter bis hervorragender – und durchweg sehr gesellschaftskritischer Streifen zurückeroberten. 2003 sahen insgesamt 22 Millionen Brasilianer einheimische Streifen, 200 Prozent mehr als 2002. Die rund 1800 Kinos des Tropenlandes müssen ab 2004 brasilianische Filme doppelt so lange auf dem Spielplan lassen als bisher, dekretierte Kulturminister Gilberto Gil. Die meisten haben eines gemeinsam:”Sie zeigen die sozioökonomische Degradierung der brasilianischen Städte, erfüllen eine soziale, didaktische Funktion”, betont Arnaldo Carillho, Präsident des wichtigen Verleihs „Rio-Filme”.
Und auch in Deutschland trennten sich Zuschauer bereits durch Filme wie „Central do Brasil” von sozialromantischen Brasilienklischees.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst/DAAD bewies Gespür, lud den Schwarzen Paulo Lins sofort – schließlich d i e literarische Entdeckung der letzten Jahre in Brasilien – für mehrere Monate nach Berlin ein, finanzierte ihm den Aufenthalt “ so wie einer ganzen Reihe anderer brasilianischer Schriftsteller vor ihm. Die waren indessen alle bereits gestandene, bekannte Autoren Brasiliens, alle weiß und aus der Mittelschicht.
„Dreißig Jahre habe ich in der Gottesstadt gelebt, ohne Zutritt zu irgendeiner anderen sozialen Klasse, zur Mittelschicht. Ich hatte richtig Angst, durch Copacabana, Ipanema zu gehen – fühlte mich ausgeschlossen, richtig unwohl, direkt schlecht “ ich spürte Angst. Die Leute dort schauten mich so anders an “ aha, ein Slumbewohner. Das geht mir bis heute so “ ich fühle immer noch diesen Rassismus.”
Jetzt wohnt Paulo Lins, Anfang vierzig, mit der Familie in einer guten, geräumigen Wohnung “ oben im grünen Bergstadtteil Santa Teresa “ Kolonialhäuser, kleine Paläste, malerische, romantische Straßen und Gassen. Doch wieder mal trügt der Schein, wie so oft in Rio. Das Haus von Paulo Lins grenzt fast unmittelbar an Slums “ ich höre Mpi-Salven, den kurzen, trockenen Knall von Pistolenschüssen, abgefeuert von rivalisierenden Banditenmilizen des organisierten Verbrechens. Sie terrorisieren auch die Slumbewohner, wie in der Cidade de Deus. Immer wieder werden in Santa Teresa, unweit der Residenz des deutschen Generalkonsuls, sogar Menschen lebendig verbrannt, in Stücke gehackt. Paulo Lins kennt das alles aus der Nähe – kein anderer Schriftsteller ist Insider wie er, kritisiert die Zustände schärfer, schonungsloser:
„Gewalt gibts überall auf der Welt “ aber hier erfaßt sie schon die Kleinsten. Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren “ und macht bereits Kinder zu Mördern. So viele tote Minderjährige, nie gezählt, nie registriert “ die sterben schlimmer als die ärmsten Teufel. Erst die Sklaven, die Indianer “ und heute die Schwarzen, Mischlinge. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.”
Etwa 45000 Menschen werden jährlich umgebracht, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Und meist trifft es trifft es Kinder, Jugendliche, weit mehr als in den aktuellen Konfliktherden wie Nahost oder Afghanistan.
An Fakten, wirklichen Ereignissen orientiert, zeigt Paulo Lins all das aufwühlend, analysierend im Buch “ und auch im Film, an dem er mitarbeitete.
–Verantwortung der Eliten”
Andere brasilianische Schriftsteller hätte man als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter beschimpft “ mit Paulo Lins war man vorsichtig.
”Ich bekam nur ganz wenige negative Kritiken “ weil das Buch eben hinter die Kulissen schaut, geschrieben von einem der dort lebt “ das war ja das Interessante “ das gab es noch nie. Die Schriftsteller heute sind doch alle aus der Mittelschicht “ nur ich stamme aus dieser Misere. In Wahrheit habe ich dieses Buch geschrieben, um den Eliten zu sagen “ das ist euer Werk, ihr wart das, ihr seid dafür verantwortlich. Die Geschichte dieses anderen Brasiliens wurde bisher nur mündlich weitergegeben “ das ist jetzt vorbei, ab jetzt wird man darüber schreiben, öffentlich reden “ ich habe schon `Nachfolger´.”
Ob das Buch von Paulo Lins auch in Deutschland herauskommt “ bisher schwer zu sagen. Kritiker, Rezensenten, Feuilletonredakteure mit echter, nicht klischeehafter Sensibilität für Brasilianisches sind nach wie vor die ganz große Ausnahme, mehr denn je. Ein Verlagskritiker lehnte den Roman ab:”Das alles ist ungemein grausam und schrecklich(und oft anschaulich geschildert), und trotzdem hat es mich kalt gelassen…Das ständige Fortissimo wirkte auf mich eher ermüdend…Was dabei herauskommt, ist ein Realismus um jeden Preis, ein Realismus, der sich seines fiktiven Charakters nicht bewußt ist und deshalb immer wieder ins Klischee abgleitet. So sind die Handlung und die agierenden Personen in höchstem Maß vorhersehbar und bestätigen nur, was man vorher zu wissen meinte.” Paulo Lins scheitere an seinem überzogenen Anspruch.
„In Deutschland erwarte ich solche Reaktionen”, sagte Paulo Lins, „widerspreche aber diesem Kritiker. Denn ich habe das alles gelebt, erlebt, zuvor in der Cidade de Deus für eine Gewalt-Studie sogar wissenschaftliche Recherchen angestellt, alles im Roman stark vertieft.” Immer noch gibt es Verlagsprobleme “ eine erste und auch eine zweite Übersetzung hätten die Slumsprache leider nicht stimmig-korrekt wiedergegeben, seien deshalb von seinem Literaturagenten abgelehnt worden.
Eine Bemerkung von Paulo Lins macht besonders nachdenklich:”Würde ich die Realität wirklich so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.” Auch der Film zeigt schließlich keine lebendig Verbrannten, Geköpften, Zerstückelten.
Ein Teil des Publikums reagiert wie üblich: In Sao Paulo und Rio de Janeiro wird der eigentlich tief bedrückende Streifen auch in den Kinos der Mittelschicht und Intelligentsia immer wieder von Lachsalven unterbrochen “ für Feuilletonkritiker ein Hinweis auf die fortdauernde Indifferenz der Bessergestellten gegenüber dem Leben der Slumbewohner. „Die Mittelschicht lacht im Dunkel der Kinos, als ob der Film eine hyperrealistische Story über einen frei erfundenen Ort wäre, ohne jeglichen Bezug zu Brasilien”, schreibt Rio de Janeiros auflagenstärkste Qualitätszeitung „O Globo”.
Fast alle Darsteller sind Laien, stammen aus den Favelas von Rio “ Paulo Lins hat sie mit ausgesucht, geschult. Jetzt alle wieder wegschicken, in den Slums ihrem Schicksal überlassen, dankeschön, tschau, das wars “ nicht die Art von Paulo Lins. Er gründete die NGO „Wir vom Film”, mit zweihundert eingeschriebenen Kindern und Jugendlichen, will möglichst alle bei TV und Film unterbringen “ als Schauspieler, Fotografen, Maskenbildner, Soundtechniker. „Alle sind furchtbar arm, wir fördern die in der Schule, helfen ihnen, kritisches Bewußtsein zu erwerben “ der Film öffnet ihnen ein Universum!” Das klappt bisher geradezu hervorragend “ einige machen in neuen Filmen, Fernsehserien richtig Karriere.
Doch die Branche, die ganze Szene drumherum wird nur von Weißen, meist aus der Mittelschicht, beherrscht “ „die ganze Struktur ist nur für Weiße gemacht”. Deshalb gibt es jetzt krachende Kollisionen, wenn Lins mit seiner „Turma” auftaucht. „Diese jungen Schauspieler waren einfach wundervoll, haben alle überrascht. Wir bringen jetzt hochtalentierte Schwarze auf diesen Markt, ins Filmgeschäft. Und jetzt sind die Weißen über uns erschreckt “ wissen nicht, wie sie reagieren sollen, sind richtig perplex. Denn wir ändern die Realität des brasilianischen Kinos, des Fernsehens, sind sogar schon bei TV Globo, der größten Anstalt! Wir öffnen uns die Türen, nach „City of God”, in den größten Verleihen der Welt, muß man sich um die jungen Darsteller kümmern, sie einstellen “ und pronto!”, sagt Paulo Lins, unverbesserlich optimistisch.
Daß er mit Regisseur Fernando Meirelles weiterhin in den Slums dreht, störte ausgerechnet die Polizei “ weil von den Chefs der hochgerüsteten Banditenmilizen vorher erst das notwendige Okay eingeholt werden mußte, wurden Ermittlungen eingeleitet. „Scheinheilig”, reagierten die Medien, jedermann wisse, daß niemand ohne Einwilligung der Gangsterbosse eine Favela betreten dürfe. „Dieselbe Polizei besitzt Telefonmitschnitte, in denen Wahlmanager von Politikern die lokalen Banditen darum bitten, Kandidatenwerbung zu verteilen.”
Laut Meirelles mußte vor den Slum-Dreharbeiten von „City of God” dem Milizenchef der betreffenden Favela sogar das Drehbuch zur Abnahme vorgelegt werden. Bizarre Brasilien-typische Probleme gab es jedoch, weil später entgegen den Absprachen Polizisten in den Slum eindrangen, zwei Banditen entführten und für deren Freilassung umgerechnet über dreitausend Euro verlangten. Die Gangsterbosse forderten daraufhin das Filmteam auf, das Lösegeld zu zahlen. Notgedrungen sammelte man unter den Mitarbeitern Geld, die Banditen kamen frei, es konnte weitergedreht werden. Und die Medien fragten: Wieso eigentlich ist die Polizei unfähig, einem Filmteam die Sicherheit zu garantieren?
Hat die neue engagierte Kunst bereits irgendwelche konkreten Auswirkungen, bewegt sie etwas in der Gesellschaft? Bisher so gut wie nichts. Auch der Film „Carandiru” über die unhaltbaren Zustände in den total überfüllten Haftanstalten war 2003 ein Renner. Doch 2004 kommt heraus, daß sich in Lulas erstem Amtsjahr die Lage in den Knästen gravierend verschlechtert hat, als „explosiv” eingestuft wird, doppelt soviele Haftplätze fehlen wie 2002, man dennoch weiter Zehntausende in bereits volle Zellen pfercht.
Auch Paulo Lins und Fernando Meirelles sind frustriert: Nach dem Filmstart von „City of God” in Brasilien wurden die jugendlichen Hauptdarsteller sogar von Staatschef Lula empfangen, versprachen gleich sieben Ministerien soziale Verbesserungen in der Cidade de Deus von Rio. Inzwischen alles wieder vergessen.
„Lula und sein Zivilkabinettschef Jose Dirceu haben keine soziale Sensibilität”, urteilt der wegen Kritik an der neoliberalen Linie geschaßte Bildungsminister Cristovam Buarque – Lulas populistische Reden, Versprechungen sind für zunehmend mehr Brasilianer nur noch leere Rhetorik. „Im In-und Ausland sagt er immer dasselbe”, kontert Kardinal Geraldo Agnelo, Präsident der Bischofskonferenz, „doch die Wirklichkeit sieht anders aus.” Und der ebenfalls mit fadenscheinigen Vorwänden entfernte Staatssekretär für Öffentliche Sicherheit, Luiz Eduardo Soares, wirft Brasilia vor, die gravierende Lage in den Slums hinzunehmen.”Die Regierung bleibt untätig angesichts eines wahren Genozids an jungen Schwarzen, Armen der Favelas und Problemdistrikte!”
Bezahlte Killer morden serienweise Gewerkschaftsführer, Indios und sogar mit der Sklavereibekämpfung befaßte Beamte des Arbeitsministeriums “ Filme über Brasiliens nach wie vor sehr aktive Pistoleiros werden auch auf deutschen Festivals gezeigt. Doch Brasilia sitzt all diese Probleme aus, kürzt sogar die Mittel für öffentliche Sicherheit. Vielbeschäftigte neue Drehbuchschreiber wie Paulo Lins dürften sich schon bald auch der grassierenden Kinderprostitution annehmen “ im Teilstaat Ceara verkaufen sich Mädchen an einheimische Männer derzeit bereits für umgerechnet einen Euro fünfzig Cents.
Auch der Präsidentenpalast taugt womöglich irgendwann als Schauplatz eines Politkrimis: Seit Juni 2003 forderte Brasiliens Bundespolizei laut Presseberichten vergeblich weitreichende Ermittlungen gegen den hochgestellten Palastbeamten Waldomiro Diniz, wegen des Verdachts der Mittelabzweigung sowie seiner Beziehungen zur einheimischen und sogar italienischen Mafia. Der schwerreiche berüchtigte Diniz “ rechte Hand von Zivilkabinettschef Dirceu, dessen langjähriger Freund, Kumpel. Dirceu, der ihm den Posten verschafft hatte, wiederum rechte Hand Lulas. Im Februar 2004 flog Diniz schließlich auf, mußte über Nacht entlassen werden, nachdem die Medien enthüllten, daß er bereits im Wahlkampf von 2002 bei einem Glücksspiel-MafiosoWahlgelder für Politiker aus Lulas Arbeiterpartei eingetrieben sowie ein hohes Bestechungsgeld für sich selber ausgehandelt hatte. Und die Glücksspiel-Mafia ist in dem Tropenland traditionell mit dem organisierten Verbrechen verquickt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse läßt Lula indessen mit allen Mitteln verhindern, auch dieser Skandal soll wie alle bisherigen unter den Teppich gekehrt werden.
Im Palast dürfte sein Berater und Zimmernachbar Frei Betto, Befreiungstheologe, Romanautor, ebenfalls Stoff für einen weiteren Polit-Thriller sammeln. Denn gegenüber der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” beschrieb er jetzt, wie in Brasilia Politik gemacht wird: Speichelleckerei, Inkompetenz, Prinzipienverrat, Effekthascherei, gröbste Lügen, Krokodilstränen, Wiederholung alter politischer Sünden, Irritationen über eingeforderte Wahlversprechen und Kritik. Worten folgten nicht notwendigerweise Taten. Und wie zugeschnitten auf den Korruptionsskandal um Waldomiro Diniz: In die Politik steige man ein „ohne Prüfung der Kompetenz, fordert man kein Attest moralischer Integrität “ in dieser Suppe der Gewählten vermischen sich Ehrliche und Gerissene, Rechtschaffene und Korrupte.”
Auch Autor und Kolumnist Gilberto Dimenstein, von dem Bücher in Deutschland verlegt wurden, macht sich indessen keine Illusionen, daß, etwa angetrieben von der veröffentlichten Meinung, engagierter Kunst, die Bevölkerung angesichts von Rekordarbeitslosigkeit, schrumpfenden Einkommen, rasch wachsenden Slums unruhig werden, rebellieren könnte. Dimenstein weist vor allem auf den niedrigen Bildungsgrad der Massen
–von Klaus Hart, Rio de Janeiro–
Schonungslos und schockierend wie nie zuvor kritisieren immer mehr Künstler die tiefe sozialökonomische Krise ihres Landes – und haben damit sogar kommerziellen Erfolg. Filme, Theaterstücke, Raps wollen politisieren, polemisieren, polarisieren. Staatschef Lulas „Neoliberalismo“ wird immer schärfer attackiert.
Über ein Jahrzehnt lang galt engagierte Kunst in Lateinamerikas „größter Demokratie” als out “ jenes kleine Häuflein, das davon einfach nicht lassen wollte, wurde von den tonangebenden Medien ausgelacht, fertiggemacht, hatte nicht einmal mehr an den Universitäten ein nennenswertes Publikum. Ausnahmen bestätigten die Regel. Kulturkonsumenten aus Mittelschicht und Intelligentsia zogen es mehrheitlich vor, die sich zuspitzende sozialökonomische Krise des Riesenlandes zu verdrängen. Was sich immer bedrohlicher an den Peripherien der Millionenstädte, in den Ghettos der Bevölkerungsmehrheit zusammenbraute, wurde ausgeblendet. Das scheint bis auf weiteres vorbei “ die Fronten in Brasiliens „Guerra nao-declarada”, dem nichterklärten Bürgerkrieg, rücken immer näher an die Viertel der Schicken, Reichen, Hochgebildeten heran. Die Erfolgsgeschichte des Streifens „City of God”, der 2004 als erster brasilianischer Spielfilm gleich viermal für den Oscar nominiert wurde, zeigt es beispielhaft. Das Kuriose, aber so Typische “ alle vier brasilianischen Oscar-Anwärter, durchweg hellhäutige Mittelschichtler, hatten gar nicht lange vor Drehbeginn noch keine Ahnung von der Filmmaterie, nämlich den barbarischen, unmenschlichen Zuständen, der neofeudalen Herrschaft zumeist jugendlicher Banditen in brasilianischen Slums. Regisseur Fernando Meirelles gab das in Interviews offen zu. Erst der fesselnde Romanerstling „Cidade de Deus” des Schwarzen Paulo Lins über ein real existierendes Elendsviertel von Rio öffnete ihm die Augen. „Das Buch nahm mich vollkommen gefangen: Ein Strudel der Gewalt, unauflösbar scheinende Teufelskreise. Ich war überrascht, Leute wie ich, aus dem Mittelstand, sind sich gar nicht bewußt, daß es so einen Pfuhl in unserer Nähe gibt.”
Cidade de Deus, inzwischen in über zwölf Sprachen verlegt, wurde Drehbuchvorlage für „City of God”. Doch da auch die brasilianischen Feuilleton-Kritiker meist realitätsfremde Mittelschichtler sind, verrissen sie den Film sofort als „schädlich, schlecht, reißerisch, unrealistisch” “ in drei Monaten werde sich kein Mensch mehr an „City of God” erinnern. Nur zu typisch für Brasiliens soziale Apartheid, analysierte Paulo Lins im Interview “ die oben wissen nicht, wollen nicht wissen, wie die unten, immerhin die übergroße Bevölkerungsmehrheit, leben, überleben. Auffallend, daß selbst manche progressiven bis linksstehenden, drittweltbewegten Europäer, die regelmäßig Brasilien bereisen, den Streifen als „überdreht gewalttätig, unrealistisch, sensationalistisch”, als unpolitischen Thriller einstuften. „Wichtig ist doch gerade, daß dieser Film die bisher so gerne versteckte Realität zeigt und sogar weltweit in den Kinos läuft”, so Lins, der sich seit jeher zur Linken zählt. „Daher wird sich die brasilianische Gesellschaft für diesen Film schämen “ und die Regierung muß etwas unternehmen. Denn die Gewalt im Lande ist eben nicht nur ein Fall für die Polizei. Hier geht es um Menschenrechte, um eine kraß ungerechte Einkommensverteilung. Wie wollen wir die Gewalt beseitigen, wir nicht die Misere, den Hunger abschaffen? Brasilien stirbt noch mal an dieser Indifferenz. Nach diesem Film wird man Brasilianer im Ausland fragen: Wußtest du von diesen Zuständen? Und sie werden antworten müssen: Nein, ich wußte nichts davon. Wenn einer im Ausland sagt, ich bin Brasilianer, wird er hören: Ich habs gesehen, ein Scheißland.”
„City of God” machte im Herkunftsland Furore, wurde heiß diskutiert, erschütterte einen Großteil des Publikums wie keine andere Produktion zuvor. Und “ wie immer, wenn brasilianische Kunstproduktionen unerwartet in der Ersten Welt hervorragend bewertet werden, zog die einheimische Kritik schließlich gleich. Arnaldo Jabor, Cineast, zudem einer der wichtigsten Kolumnisten, gab den Ton an, nannte den Film ein wichtiges nationales Ereignis – „er wird für immer unser Geheimnis enthüllen: Wir sind eines der grausamsten Länder der Welt. Cidade de Deus zeigt, daß die Hölle hier ist, hinter Ipanema und Jardins. Dieser Film demaskiert uns für immer.”
Die Oscar-Nominierung nahmen engagierte Künstler, vor allem jene Regisseure als zusätzlichen Ansporn, die den brasilianischen Film aus seiner tiefen Krise holten, das skeptische Publikum seit dem letzten Jahr mit einer ganzen Reihe guter bis hervorragender – und durchweg sehr gesellschaftskritischer Streifen zurückeroberten. 2003 sahen insgesamt 22 Millionen Brasilianer einheimische Streifen, 200 Prozent mehr als 2002. Die rund 1800 Kinos des Tropenlandes müssen ab 2004 brasilianische Filme doppelt so lange auf dem Spielplan lassen als bisher, dekretierte Kulturminister Gilberto Gil. Die meisten haben eines gemeinsam:”Sie zeigen die sozioökonomische Degradierung der brasilianischen Städte, erfüllen eine soziale, didaktische Funktion”, betont Arnaldo Carillho, Präsident des wichtigen Verleihs „Rio-Filme”.
Und auch in Deutschland trennten sich Zuschauer bereits durch Filme wie „Central do Brasil” von sozialromantischen Brasilienklischees.
Der Deutsche Akademische Austauschdienst/DAAD bewies Gespür, lud den Schwarzen Paulo Lins sofort – schließlich d i e literarische Entdeckung der letzten Jahre in Brasilien – für mehrere Monate nach Berlin ein, finanzierte ihm den Aufenthalt “ so wie einer ganzen Reihe anderer brasilianischer Schriftsteller vor ihm. Die waren indessen alle bereits gestandene, bekannte Autoren Brasiliens, alle weiß und aus der Mittelschicht.
„Dreißig Jahre habe ich in der Gottesstadt gelebt, ohne Zutritt zu irgendeiner anderen sozialen Klasse, zur Mittelschicht. Ich hatte richtig Angst, durch Copacabana, Ipanema zu gehen – fühlte mich ausgeschlossen, richtig unwohl, direkt schlecht “ ich spürte Angst. Die Leute dort schauten mich so anders an “ aha, ein Slumbewohner. Das geht mir bis heute so “ ich fühle immer noch diesen Rassismus.”
Jetzt wohnt Paulo Lins, Anfang vierzig, mit der Familie in einer guten, geräumigen Wohnung “ oben im grünen Bergstadtteil Santa Teresa “ Kolonialhäuser, kleine Paläste, malerische, romantische Straßen und Gassen. Doch wieder mal trügt der Schein, wie so oft in Rio. Das Haus von Paulo Lins grenzt fast unmittelbar an Slums “ ich höre Mpi-Salven, den kurzen, trockenen Knall von Pistolenschüssen, abgefeuert von rivalisierenden Banditenmilizen des organisierten Verbrechens. Sie terrorisieren auch die Slumbewohner, wie in der Cidade de Deus. Immer wieder werden in Santa Teresa, unweit der Residenz des deutschen Generalkonsuls, sogar Menschen lebendig verbrannt, in Stücke gehackt. Paulo Lins kennt das alles aus der Nähe – kein anderer Schriftsteller ist Insider wie er, kritisiert die Zustände schärfer, schonungsloser:
„Gewalt gibts überall auf der Welt “ aber hier erfaßt sie schon die Kleinsten. Brasilien mordet seine Kinder seit vielen, vielen Jahren “ und macht bereits Kinder zu Mördern. So viele tote Minderjährige, nie gezählt, nie registriert “ die sterben schlimmer als die ärmsten Teufel. Erst die Sklaven, die Indianer “ und heute die Schwarzen, Mischlinge. Brasilien hat eine Gabe zum Töten, Brasilien ist ein Mörderstaat.”
Etwa 45000 Menschen werden jährlich umgebracht, mehr als in jedem anderen Land der Welt. Und meist trifft es trifft es Kinder, Jugendliche, weit mehr als in den aktuellen Konfliktherden wie Nahost oder Afghanistan.
An Fakten, wirklichen Ereignissen orientiert, zeigt Paulo Lins all das aufwühlend, analysierend im Buch “ und auch im Film, an dem er mitarbeitete.
–Verantwortung der Eliten”
Andere brasilianische Schriftsteller hätte man als Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter beschimpft “ mit Paulo Lins war man vorsichtig.
”Ich bekam nur ganz wenige negative Kritiken “ weil das Buch eben hinter die Kulissen schaut, geschrieben von einem der dort lebt “ das war ja das Interessante “ das gab es noch nie. Die Schriftsteller heute sind doch alle aus der Mittelschicht “ nur ich stamme aus dieser Misere. In Wahrheit habe ich dieses Buch geschrieben, um den Eliten zu sagen “ das ist euer Werk, ihr wart das, ihr seid dafür verantwortlich. Die Geschichte dieses anderen Brasiliens wurde bisher nur mündlich weitergegeben “ das ist jetzt vorbei, ab jetzt wird man darüber schreiben, öffentlich reden “ ich habe schon `Nachfolger´.”
Ob das Buch von Paulo Lins auch in Deutschland herauskommt “ bisher schwer zu sagen. Kritiker, Rezensenten, Feuilletonredakteure mit echter, nicht klischeehafter Sensibilität für Brasilianisches sind nach wie vor die ganz große Ausnahme, mehr denn je. Ein Verlagskritiker lehnte den Roman ab:”Das alles ist ungemein grausam und schrecklich(und oft anschaulich geschildert), und trotzdem hat es mich kalt gelassen…Das ständige Fortissimo wirkte auf mich eher ermüdend…Was dabei herauskommt, ist ein Realismus um jeden Preis, ein Realismus, der sich seines fiktiven Charakters nicht bewußt ist und deshalb immer wieder ins Klischee abgleitet. So sind die Handlung und die agierenden Personen in höchstem Maß vorhersehbar und bestätigen nur, was man vorher zu wissen meinte.” Paulo Lins scheitere an seinem überzogenen Anspruch.
„In Deutschland erwarte ich solche Reaktionen”, sagte Paulo Lins, „widerspreche aber diesem Kritiker. Denn ich habe das alles gelebt, erlebt, zuvor in der Cidade de Deus für eine Gewalt-Studie sogar wissenschaftliche Recherchen angestellt, alles im Roman stark vertieft.” Immer noch gibt es Verlagsprobleme “ eine erste und auch eine zweite Übersetzung hätten die Slumsprache leider nicht stimmig-korrekt wiedergegeben, seien deshalb von seinem Literaturagenten abgelehnt worden.
Eine Bemerkung von Paulo Lins macht besonders nachdenklich:”Würde ich die Realität wirklich so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren.” Auch der Film zeigt schließlich keine lebendig Verbrannten, Geköpften, Zerstückelten.
Ein Teil des Publikums reagiert wie üblich: In Sao Paulo und Rio de Janeiro wird der eigentlich tief bedrückende Streifen auch in den Kinos der Mittelschicht und Intelligentsia immer wieder von Lachsalven unterbrochen “ für Feuilletonkritiker ein Hinweis auf die fortdauernde Indifferenz der Bessergestellten gegenüber dem Leben der Slumbewohner. „Die Mittelschicht lacht im Dunkel der Kinos, als ob der Film eine hyperrealistische Story über einen frei erfundenen Ort wäre, ohne jeglichen Bezug zu Brasilien”, schreibt Rio de Janeiros auflagenstärkste Qualitätszeitung „O Globo”.
Fast alle Darsteller sind Laien, stammen aus den Favelas von Rio “ Paulo Lins hat sie mit ausgesucht, geschult. Jetzt alle wieder wegschicken, in den Slums ihrem Schicksal überlassen, dankeschön, tschau, das wars “ nicht die Art von Paulo Lins. Er gründete die NGO „Wir vom Film”, mit zweihundert eingeschriebenen Kindern und Jugendlichen, will möglichst alle bei TV und Film unterbringen “ als Schauspieler, Fotografen, Maskenbildner, Soundtechniker. „Alle sind furchtbar arm, wir fördern die in der Schule, helfen ihnen, kritisches Bewußtsein zu erwerben “ der Film öffnet ihnen ein Universum!” Das klappt bisher geradezu hervorragend “ einige machen in neuen Filmen, Fernsehserien richtig Karriere.
Doch die Branche, die ganze Szene drumherum wird nur von Weißen, meist aus der Mittelschicht, beherrscht “ „die ganze Struktur ist nur für Weiße gemacht”. Deshalb gibt es jetzt krachende Kollisionen, wenn Lins mit seiner „Turma” auftaucht. „Diese jungen Schauspieler waren einfach wundervoll, haben alle überrascht. Wir bringen jetzt hochtalentierte Schwarze auf diesen Markt, ins Filmgeschäft. Und jetzt sind die Weißen über uns erschreckt “ wissen nicht, wie sie reagieren sollen, sind richtig perplex. Denn wir ändern die Realität des brasilianischen Kinos, des Fernsehens, sind sogar schon bei TV Globo, der größten Anstalt! Wir öffnen uns die Türen, nach „City of God”, in den größten Verleihen der Welt, muß man sich um die jungen Darsteller kümmern, sie einstellen “ und pronto!”, sagt Paulo Lins, unverbesserlich optimistisch.
Daß er mit Regisseur Fernando Meirelles weiterhin in den Slums dreht, störte ausgerechnet die Polizei “ weil von den Chefs der hochgerüsteten Banditenmilizen vorher erst das notwendige Okay eingeholt werden mußte, wurden Ermittlungen eingeleitet. „Scheinheilig”, reagierten die Medien, jedermann wisse, daß niemand ohne Einwilligung der Gangsterbosse eine Favela betreten dürfe. „Dieselbe Polizei besitzt Telefonmitschnitte, in denen Wahlmanager von Politikern die lokalen Banditen darum bitten, Kandidatenwerbung zu verteilen.”
Laut Meirelles mußte vor den Slum-Dreharbeiten von „City of God” dem Milizenchef der betreffenden Favela sogar das Drehbuch zur Abnahme vorgelegt werden. Bizarre Brasilien-typische Probleme gab es jedoch, weil später entgegen den Absprachen Polizisten in den Slum eindrangen, zwei Banditen entführten und für deren Freilassung umgerechnet über dreitausend Euro verlangten. Die Gangsterbosse forderten daraufhin das Filmteam auf, das Lösegeld zu zahlen. Notgedrungen sammelte man unter den Mitarbeitern Geld, die Banditen kamen frei, es konnte weitergedreht werden. Und die Medien fragten: Wieso eigentlich ist die Polizei unfähig, einem Filmteam die Sicherheit zu garantieren?
Hat die neue engagierte Kunst bereits irgendwelche konkreten Auswirkungen, bewegt sie etwas in der Gesellschaft? Bisher so gut wie nichts. Auch der Film „Carandiru” über die unhaltbaren Zustände in den total überfüllten Haftanstalten war 2003 ein Renner. Doch 2004 kommt heraus, daß sich in Lulas erstem Amtsjahr die Lage in den Knästen gravierend verschlechtert hat, als „explosiv” eingestuft wird, doppelt soviele Haftplätze fehlen wie 2002, man dennoch weiter Zehntausende in bereits volle Zellen pfercht.
Auch Paulo Lins und Fernando Meirelles sind frustriert: Nach dem Filmstart von „City of God” in Brasilien wurden die jugendlichen Hauptdarsteller sogar von Staatschef Lula empfangen, versprachen gleich sieben Ministerien soziale Verbesserungen in der Cidade de Deus von Rio. Inzwischen alles wieder vergessen.
„Lula und sein Zivilkabinettschef Jose Dirceu haben keine soziale Sensibilität”, urteilt der wegen Kritik an der neoliberalen Linie geschaßte Bildungsminister Cristovam Buarque – Lulas populistische Reden, Versprechungen sind für zunehmend mehr Brasilianer nur noch leere Rhetorik. „Im In-und Ausland sagt er immer dasselbe”, kontert Kardinal Geraldo Agnelo, Präsident der Bischofskonferenz, „doch die Wirklichkeit sieht anders aus.” Und der ebenfalls mit fadenscheinigen Vorwänden entfernte Staatssekretär für Öffentliche Sicherheit, Luiz Eduardo Soares, wirft Brasilia vor, die gravierende Lage in den Slums hinzunehmen.”Die Regierung bleibt untätig angesichts eines wahren Genozids an jungen Schwarzen, Armen der Favelas und Problemdistrikte!”
Bezahlte Killer morden serienweise Gewerkschaftsführer, Indios und sogar mit der Sklavereibekämpfung befaßte Beamte des Arbeitsministeriums “ Filme über Brasiliens nach wie vor sehr aktive Pistoleiros werden auch auf deutschen Festivals gezeigt. Doch Brasilia sitzt all diese Probleme aus, kürzt sogar die Mittel für öffentliche Sicherheit. Vielbeschäftigte neue Drehbuchschreiber wie Paulo Lins dürften sich schon bald auch der grassierenden Kinderprostitution annehmen “ im Teilstaat Ceara verkaufen sich Mädchen an einheimische Männer derzeit bereits für umgerechnet einen Euro fünfzig Cents.
Auch der Präsidentenpalast taugt womöglich irgendwann als Schauplatz eines Politkrimis: Seit Juni 2003 forderte Brasiliens Bundespolizei laut Presseberichten vergeblich weitreichende Ermittlungen gegen den hochgestellten Palastbeamten Waldomiro Diniz, wegen des Verdachts der Mittelabzweigung sowie seiner Beziehungen zur einheimischen und sogar italienischen Mafia. Der schwerreiche berüchtigte Diniz “ rechte Hand von Zivilkabinettschef Dirceu, dessen langjähriger Freund, Kumpel. Dirceu, der ihm den Posten verschafft hatte, wiederum rechte Hand Lulas. Im Februar 2004 flog Diniz schließlich auf, mußte über Nacht entlassen werden, nachdem die Medien enthüllten, daß er bereits im Wahlkampf von 2002 bei einem Glücksspiel-MafiosoWahlgelder für Politiker aus Lulas Arbeiterpartei eingetrieben sowie ein hohes Bestechungsgeld für sich selber ausgehandelt hatte. Und die Glücksspiel-Mafia ist in dem Tropenland traditionell mit dem organisierten Verbrechen verquickt. Parlamentarische Untersuchungsausschüsse läßt Lula indessen mit allen Mitteln verhindern, auch dieser Skandal soll wie alle bisherigen unter den Teppich gekehrt werden.
Im Palast dürfte sein Berater und Zimmernachbar Frei Betto, Befreiungstheologe, Romanautor, ebenfalls Stoff für einen weiteren Polit-Thriller sammeln. Denn gegenüber der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” beschrieb er jetzt, wie in Brasilia Politik gemacht wird: Speichelleckerei, Inkompetenz, Prinzipienverrat, Effekthascherei, gröbste Lügen, Krokodilstränen, Wiederholung alter politischer Sünden, Irritationen über eingeforderte Wahlversprechen und Kritik. Worten folgten nicht notwendigerweise Taten. Und wie zugeschnitten auf den Korruptionsskandal um Waldomiro Diniz: In die Politik steige man ein „ohne Prüfung der Kompetenz, fordert man kein Attest moralischer Integrität “ in dieser Suppe der Gewählten vermischen sich Ehrliche und Gerissene, Rechtschaffene und Korrupte.”
Auch Autor und Kolumnist Gilberto Dimenstein, von dem Bücher in Deutschland verlegt wurden, macht sich indessen keine Illusionen, daß, etwa angetrieben von der veröffentlichten Meinung, engagierter Kunst, die Bevölkerung angesichts von Rekordarbeitslosigkeit, schrumpfenden Einkommen, rasch wachsenden Slums unruhig werden, rebellieren könnte. Dimenstein weist vor allem auf den niedrigen Bildungsgrad der Massen:”Unser funktioneller Analphabetismus ist das Schlimme. Brasilien ist ein Land der Analphabeten. Die Leute verstehen nicht, was sie im Radio hören, was in der Zeitung steht. Die meisten lesen ohnehin keine Zeitung. In Argentinien wird die Bevölkerung in Krisenzeiten gewöhnlich aktiv, weil das Bildungsniveau dort eben viel höher ist.”
Nur fünfundzwanzig Prozent der Brasilianer können laut neueren Studien wirklich lesen und schreiben, einen Zeitungs-oder Buchtext auch verstehen.Nur fünfundzwanzig Prozent der Brasilianer können laut neueren Studien wirklich lesen und schreiben, einen Zeitungs-oder Buchtext auch verstehen.
Rio de Janeiros Stadtkrieg: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/17/krieg-auf-dem-morro-dos-macacos-von-rio-de-janeiro-youtube-anklicken-bope-im-einsatz/
Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/07/09/tropa-de-elite-berlinale-gewinner-brasilianischer-filmhit-uberraschend-doch-noch-in-den-deutschen-kinos-start-am-6-august-fur-brasilieninteressiertebeinahe-ein-mus-dokumentarischer-spielfilm/
Niemeyer-„Huldigungsfilm“: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/01/14/oscar-niemeyer-das-leben-ist-ein-hauch-pr-film-nun-auch-in-den-deutschsprachigen-kinos-was-alles-fehlt/
« Frau in der City Sao Paulos. Gesichter Brasiliens. – Sklavenarbeit unter der Lula-Regierung. Frankreichs Botschaft ehrt französische Menschenrechtsaktivisten, die in Brasilien „trabalho escravo“ bekämpfen. Xavier Plassat, Henri des Roziers, Jean Raguenes. Sozialdumping und Sklavenarbeit. »
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