Brasilien hat noch richtige große Ballorchester, die jede Woche irgendwo in dem Riesenland aufspielen, die Paartänzer mit Sambas, Boleros oder Forró in Verzückung versetzen. Die bekannteste, beliebteste Ballkapelle ist das Orquestra Tabajara aus Rio de Janeiro “ zugleich die älteste der Welt.
Orquestra Tabajara bei „Virada Cultural“ 2007 in Sao Paulo.
http://www.youtube.com/watch?v=UWXamE9jS7s&feature=related
http://www.youtube.com/watch?v=Ur4CJ741uJI&feature=related
Tanzido Jaime Aroxa – häufiger Gast auf den Bällen des Orquestra Tabajara im „Circo Voador“: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/25/jaime-aroxa-und-seine-ilha-da-sensualidade-brasiliens-nationales-paartanz-idol-macht-furore-mit-einem-spektakularen-vermutlich-weltweit-einmaligen-kurs-uber-weibliche-sinnlichkeit-nur-fur-f/
Nach über hundert Platten und einem Dokumentarfilm kann man die Geschichte der 1933 gegründeten Big Band nun endlich auch in einem dicken Wälzer nachlesen – noch ist die Biographie allerdings nur in Portugiesisch erhältlich. Insgesamt mehr als sage und schreibe 14000-mal hat das Orquestra Tabajara bis zum heutigen Tage zum Tanz aufgespielt – nicht nur in Südamerika, sondern auch in Europa. Ausgerechnet ”Espinha de Balcalhau“, Kabeljaugräte, wurde zu einem Klassiker der brasilianischen Populärmusik, in immer neuen Versionen hat er sich rund um den Erdball verbreitet. Entstanden ist der Titel schon 1937 – komponiert von Severino Araujo . Der Bandleader, Klarinettist und Arrangeur hat  mit seinem Orchestra Tabajara  in Brasilien Musik-und Tanzkulturgeschichte geschrieben – ein Musiker der Extraklasse. Severino Araujo, der Rio zu seiner Wahlheimat erklärt, wuchs in einem Dorf Tausende Kilometer entfernt im Nordosten auf – unter professionellen Musikern. ”Ja – ich bin aus einer Musikerfamilie. Mein Vater leitete eine Militärkapelle und spielte fast alle Orchesterinstrumente – unglaublich. Als ich sechs war, entdeckte er mein Talent, mein absolutes Gehör, mit zwölf komponierte ich die erste Partitur für die Militärkapelle. Und mit 20 beförderten sie mich vom Musiker zum Chef des Orquestra Tabajara in der Provinzhauptstadt Joao Pessoa.”
Im zweiten Weltkrieg spielt Severino Araujo mit seinen 22 Musikern auf einem Militärstützpunkt der US-Streitkräfte in Nordostbrasilien, ist landesweit live im Radio zu hören. Noch kurz vorm Ende des Krieges, 1944 wird die Kapelle in Rio das führende Rundfunkorchester Brasiliens, prägt den Kriegskarneval 1945, spielt auf den Straßen zum Tanz. Schon im gleichen Jahr nimmt die Kapelle ihre erste Schellack-Platte auf. Danach folgen für die Bigband goldene Jahrzehnte und Brasilien wird dank Severino Araujo zum weltweit letzten Paradies der Paartänzer. Araujo inspiriert alle anderen Orchester, verjüngt seine eigene Kapelle ständig. Und so strömen selbst die ganz jungen Leute zu seinen Bällen. Hier in dieser Art Schule lernt man erotisch-sinnliches Körpergefühl, den lustvollen und sensiblen Tanz-Dialog zwischen Dame und Cavalheiro,  erlebte das brasilianische Klima  aus Romantik und Leidenschaft.  Severino Araujo kommt ins Schwärmen: „Es war einfach phantastisch, meinem Lieblingsinstrument, der Klarinette, habe ich Dutzende von Kompositionen gewidmet.” Und dann erzählt er von den über 30 Auftritten 1952 in Paris, sogar auf Künstlerfesten und in der deutschen Botschaft, den brasilianischen Erfolgsfilmen, in denen das Orchester mitspielt, darunter „Liebe in Rio” und „Anos Dourados”, den Stars, die er musikalisch begleitet – ob Tom Jobim, Joao Gilberto, Chico Buarque, Jamelao, Elis Regina oder Ney Matogrosso . Und er berichtet von den Musikstunden bei Hans-Joachim Koellreutter, jenem deutschen Paul-Hindemith-Schüler, der vor den Nazis nach Brasilien floh und dort zum Superprofessor, zum Guru so vieler großer Namen der brasilianischen Musikszene wurde.
Ich hatte das unverschämte Glück, Koellreutter noch persönlich kennenzulernen und in den siebziger, achtziger und neunziger Jahren die letzte Erfolgsphase des Orquestra Tabajara, das Ende der goldenen Jahre des Paartanzparadieses Brasilien mitzuerleben. Die Bigband trat jeden Tag auf, doch der Sonntagsschwoof in Rios Kulturzentrum „Circo Voador”, unter Königspalmen, im Freien, war stets absoluter Höhepunkt der Tanzwoche im feierfreudigen Rio de Janeiro. An die 2000 Paartänzer “ und ein Severino Araujo, der zumeist mit dem Rücken zum Orchester dirigierte, um das Getümmel auf der Tanzfläche beobachten zu können. Doch seit Beginn der neunziger Jahre liefert Brasilien immer mehr Negativschlagzeilen, häufen sich politische Skandale, wächst die Macht der Verbrechersyndikate, fordert zunehmende Gewalt Jahr für Jahr über 50000 Tote, nehmen auch in Rio de Janeiro Streß und Spannung zu, kippte das gesellschaftliche Klima, mischt die Rechte im Kulturbetrieb immer stärker mit. Statt romantisch-leidenschaftlicher Bälle dominiert auf einmal sexistisch-vulgärer Baile Funk, hört man pornographisch-sadistische Raps nun sogar im Kulturzentrum „Circo Voador”. Zwielichtige Politiker, die die Parallelmacht der Banditenkommandos tolerieren, fördern Baile Funk und stoßen ausgerechnet das Kulturphänomen der Bigbands und der Sambabälle ins Abseits, die vielen in Europa als typisch brasilianisch gelten. Auch der große Musiker und Komponist Dori Caymmi trat mit dem Orquestra Tabajara auf. „Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent – unsere Musikkultur wird regelrecht demoliert.”
Clärchens Ballhaus – wo man sich vor 1990 gut amüsieren konnte: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/menschen/ballhaus-urgestein-im-gespraech-ick-mach-bis-ich-den-arsch-oben-hab-12567915.html
“Im Westen haben sie nur Scheiß erzählt über den Osten, als ob wir Untermenschen wären. Das hat sich immer noch nicht geändert.”
1990 endete vorhersehbar die große, jahrzehntelang aufregende Zeit des Tanzlokals – heute dominiert nur noch das übliche Berliner Banal-Programm.
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