“Schönheit und Fäulnis”. Neue Zürcher Zeitung/NZZ – Klaus Hart:https://www.nzz.ch/schoenheit_und_faeulnis-1.700750
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
“Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge.” Gregor Gysi
Blutbad September 2012:
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Wie Lula im Dez. 2012 in Berlin sagte, lebt Lateinamerika derzeit in einer Ära von „Frieden und Fortschritt“. (a „era de paz e progresso“ que a América Latina está vivendo na atualidade)
In mitteleuropäischen Medien wird auch 2012 wahrheitswidrig behauptet, brasilianische Polizeieinheiten hätten in den letzten Jahren die Slums von Rio de Janeiro aus der Herrschaft von Kommandos der Drogenbanditen befreit.
Britischer Premier Cameron in Rio-Slum 2012: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/10/01/brasilien-britischer-premierminister-david-cameron-besucht-unter-starkem-geleitschutz-der-militaerpolizei-beruechtigte-slumregion-complexo-da-mare-in-rio-de-janeiro-laut-landesmedien-offenbar-keine/
2013 startet Deutschlandjahr in Brasilien: http://www.alemanha-e-brasil.org/de
Scheiterhaufen-Rap, anklicken: http://www.topfunk.net/musica/mr-catra-e-raffa-microondas/
Lynchjustiz in Rio de Janeiro – Ausriß – Nachrichtenmagazin „Isto é „. Das Opfer wird lebendig verbrannt. “Isto é interviewt die Lyncherin, die Holz aufschichtete und das Feuer entzündete, schürte.” Wie das Foto zeigt, sind brasilianischen Kindern und Jugendlichen derartige Situationen geläufig – die Fotos davon ohnehin.
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Brasilianische Autoritäten lassen regelmäßig Beteuerungen über eine Besserung der Gewalt-Situation in auflagenstarke europäische Medien durchschalten.
http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/archiv/.bin/dump.fcgi/1999/0102/medien/0019/index.html
Wie in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften die Situation interpretiert wird:
Folter in Lateinamerikas größter Demokratie: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Der UNO-Menschenrechtsrat in Genf begutachtete auch dieses Foto, das einen zerstückelten Häftling in Vitoria zeigt – das Foto wurde 2010 von brasilianischen Menschenrechtsaktivisten dem UNO-Menschenrechtsrat vorgelegt.Manche an Realitätsfremdheit interessierte Medien Europas machen zwar intensive Propaganda für grauenhafteste Gewaltfilme und Gewalt-Games, verharmlosen deren Wirkung auf die Psyche, wollen indessen derartige zu politischem Nachdenken anregende brasilianische Fotos, die immerhin selbst von renommierten Menschenrechtsexperten stammen, den Medienkonsumenten vorenthalten. Brasilianische Qualitätszeitungen wie die führende „O Estado de Sao Paulo“ ermöglichen ihren Lesern natürlich einen Blick auf solche Fotos – und damit auf Realitäten, die nicht zur Auslandspropaganda passen. Brasilianische Medienexperten stellten im Website-Interview klar, daß die Slumkinder allen erdenklichen Horror, von Mord bis Scheiterhaufen und sadistischem Sex, real im Alltag erleben. Von den Eltern werde daher nicht als Problem gesehen, wenn ihre Kinder derartige Dinge auch in TV und Internet konsumierten. Entsprechendes Problembewußtsein, wie es etwa in Ländern Mitteleuropas zu beobachten sei, existiere in Brasilien nicht – was keineswegs nur die Unterschicht betreffe.
Ausriß – Videogame in Deutschland 2012…
„Eine Rechtsanwältin kennt einen Zeugen, der ihr berichtete, wie in Rio de Janeiro inmitten von Freiluft-Discos Jugendliche verbrannt wurden.“
Leonardo Boff 2010 :“Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
“Progressive Regierung”.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/02/28/cnn-brasilien-ist-coolste-nation-der-welt/
Geköpfte im Februar 2011 – Zeitungsausriß.
Foto von 2011 – Zeitungsausriß.
Abgeschlagene Köpfe bei Häftlingsaufstand in Sao Luis November 2010 zum Ende der achtjährigen Lula-Amtszeit – Zeitungsfoto.
“Südamerikas Vorzeigestaat” – Der Spiegel 2012.
„Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge.“ Gregor Gysi, Linkspartei, Deutschland, 2010.
„Hätte jedes Land einen Präsidenten wie Lula, dann wäre unsere Welt ein besserer Ort. Er ist kein Politiker, er ist ein Staatsmann.“ Deutscher Leserbrief an die „Zeit“.
In meinungsbildenden deutschen Analysen wird die brasilianische Regierung ausdrücklich als “progressiv” eingestuft.
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In der größten lateinamerikanischen Demokratie, strategischer Partner der deutschen Bundesregierung, unterscheidet sich die Presse soziokulturell erheblich von der europäischen, darunter der in deutschsprachigen Ländern. Der weltweit übliche Mainstream wird häufiger durchbrochen, das sachliche Gegenüberstellen von Positionen und Beobachtungen ist normal, die Scheu vor unbequemen Fakten ist geringer, die Schilderung von Alltagstatsachen gewöhnlich authentischer, die Darstellung von schockierenden Ereignissen unbefangener und weit weniger politisch korrekt. Anders als in Europa brauchen angesichts der brasilianischen Faktenlage, der Gewaltkultur, auch populäre Boulevardzeitungen nicht zu übertreiben – die Vermischung von Gewaltdarstellungen, Sex und schwärzestem Humor ist indessen nur zu oft auch für viele Brasilianer unerträglich. Blätter dieser Art gehen gerade in der besonders von Gewalt betroffenen Unterschicht von Hand zu Hand, hängen an den Zeitungskiosken offen aus – nicht selten drängen sich davor Erwachsene und Kinder, die Wirkung auf die Psyche von Heranwachsenden besorgt Medienexperten, Therapeuten und Soziologen enorm. Proteste gegen diese Art von „Pressefreiheit“ kommen vor allem von der katholischen Kirche.
Im mitteleuropäischen Mainstream wird auffälligerweise beim Thema Brasilien die gravierende Menschenrechtslage – ob alltägliche Folter, Todesschwadronen, Scheiterhaufen, Slum-Diktatur, Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, Morde an Systemkritikern oder Sklavenarbeit, durchweg u.a. von der Kirche und Amnesty International mit Fakten belegt – fast ausnahmslos gezielt ausgeklammert – was Bände spricht, zahlreiche interessante Rückschlüsse zuläßt.
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Nachfolgend werden Titelseiten und einige Text-Bild-Beiträge aus der Olympia-und Fußball-WM-Stadt Rio de Janeiro dokumentiert – in Europa wird nicht selten dieser Teil der brasilianischen (Medien-)Realität aus den bekannten Gründen gezielt ausgeblendet, verdrängt, fehlt in kommerziellen Hochglanz-Reiseführern jeder Hinweis. Doch derartige Fakten und ihr soziokultureller Kontext gehören zum Verständnis Brasiliens und dortiger Wertvorstellungen. Man stelle sich einfach einmal Titelseiten dieser Art in Deutschland, der Schweiz oder Österreich vor. Texte und Fotos zeichnen aus der Sicht brasilianischer Journalisten u.a. auch Slum-Sozialstrukturen, Brasiliens Demokratiebegriff und Slum-Herrschaftsverhältnisse, brutalen Machismus nach, geben einen Eindruck von der Menschenrechtslage in Brasilien, die der neue Spielfilm „Tropa de Elite 2″ , bezogen auf die Situation unter der Lula-Regierung, entsprechend reflektiert. Die Fotos regen zu Realitätsvergleichen an. Rio de Janeiro zählt zu den „entwickelten Regionen“ Brasiliens – insofern ist unschwer vorstellbar, welche Zustände aus stark unterentwickelten Teilstaaten etwa des Nordostens und Nordens reflektiert werden könnten, wie es dort um die Bürgerrechte der Slumbewohner steht.
Offenbar wegen der herannahenden Fußball-WM und der olympischen Spiele wird indessen ab 2010 in den Rio-Medien immer häufiger aus Stadtimagegründen auf Fotos verzichtet, die die dramatische Situation realitätsgetreu abbilden.Wohl wegen neoliberaler Herzenskälte stößt in Mitteleuropa die Lage der brasilianischen Slumbewohner auf soviel Desinteresse und fehlendes Mitgefühl.
Menschen als Schweinefutter: Immer wieder haben Rio de Janeiros Qualitätsmedien darüber berichtet, daß in den Slums von den Banditenkommandos Menschen ermordet und dann den Schweinen als Futter gegeben wurden. In einem Falle waren es nach den Aussagen eines Banditen von Vigario Geral sogar die Leichen von acht entführten jungen Männern, die man zerhackt habe, bevor man sie den Schweinen hingeworfen habe.
Menschenrechtsexperte Paulo Sergio Pinheiro, Mitglied der 2012 gegründeten Wahrheitskommission zur Ermittlung von Diktaturverbrechen, hat diese Favela-Zustände bereits seit den 90er Jahren immer wieder angeprangert – wie man sieht, ohne nennenswerten Widerhall in Mitteleuropa, was Bände spricht.
Auffällig viele Bewohner Sao Paulos, so ist immer wieder in der Stadt zu hören, waren wegen der hohen Kriminalitätsbelastung Rio de Janeiros noch nie am Zuckerhut und haben dies auch bis zum Rest ihres Lebens nicht vor.
Ausriß, Rio-Lokalzeitung, Scheiterhaufen-Opfer, 7.11.2012. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
Ausriß, die andere Sicht – Geo Special Brasilien. “…Rio…ist nun in den touristischen Vierteln so sicher wie eine europäische Großstadt…dieses überraschend moderne, hochsympathische und unendlich vielfältige Land…”
Dokumentarischer Spielfilm „Tropa de Elite 2″: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/08/tropa-de-elite-2-noch-dokumentarischer-als-der-berlinale-gewinner-landeskunde-pur-uber-das-heutige-brasilien/
Brasiliens Zeitungen haben immer wieder dokumentiert, wie Slumbewohner sich auf groteske Weise just mit den blutrünstigsten Banditen und deren Anhang identifizieren(müssen): So wurden u.a. Frauen fotografiert, die T-Shirts mit großen Farbporträts dieser Banditen trugen.
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Zeitungsfoto aus populärer Zeitung Rios – Bewohner eines Viertels betrachten von Banditenkommando Ermordete.
„Parallelmacht organisiertes Verbrechen: Banditenkommandos von Rio exekutierten bereits über einhundert Führer von Favela-Bürgerrechtsorganisationen.“ O Globo
Ausriß, Angela Merkel und Joachim Gauck in der Scheiterhaufenstadt Rio de Janeiro:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/10/bundespraesident-joachim-gauck-ard-agitprop-film-zeigt-ihn-bei-fussball-wm-in-brasilien-doch-unterschlaegt-gaucks-beredtes-schweigen-zu-gravierenden-menschenrechtsverletzungensystematische-folter/
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
Fotos der Menschenrechtsorganisation CONECTAS über Gewalt gegen Häftlinge in Brasilien – anklicken: http://www.estadao.com.br/especiais/2009/11/crimesnobrasil_if_es.pdf
Sozialkritischer Samba „Der Irak ist hier“: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
„Köpfe rollten in Del Castilho“(Stadtteil von Rio de Janeiro) http://www.hart-brasilientexte.de/2009/03/09/todesschwadron-im-teilstaat-sao-paulo-schlug-opfern-die-kopfe-ab-14-verdachtige-militarpolizisten-in-haft/
“Brasilien wird mit gutem Humor, gutem Leben sowie mit Karneval assoziiert”, schreibt Forbes. Der Karneval sei dabei sehr wichtig – es sei jenes klassische Bild, das die Leute von Rio hätten, ein Image der Glückseligkeit, heißt es weiter. Rio sei ein Ort, wo jedermann gerne hinmöchte. Rios Bürgermeister Eduardo Paes sagte dazu:”Die Welt entdeckt, was wir längst wissen: Rio ist der beste Platz zum Leben und Arbeiten.”
„Würde ich die Realität so schildern, wie sie ist, könnte man das gar nicht publizieren“: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/paulo-lins-gesichter-brasiliens/
Junger Schwerbewaffneter eines Slum-Banditenkommandos, laut Zeitung. http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/06/brasiliens-grunen-kandidat-fernando-gabeira-macht-slum-wahlkampf-mit-banditenerlaubnis-laut-landesmedien-waffen-und-wahlerstimmen/
Wo „Favela-Tourismus“ nicht hinkommt… http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/16/der-spiegel-favela-tour-in-rio-de-janeiro-vorzeige-favelas-und-die-uber-1000-anderen/
Zynismus pur…
http://www.studieren-in-brasilien.de/
http://www.schueleraustausch-international.de/brasilien.php
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/04/rio-las-dich-umarmen-gilberto-gil/
Pelé und der damalige (Ex-)Gouverneur Leonel Brizola, Vizepräsident der Sozialistischen Internationale und Chef der PDT(zu der auch die neue Staatspräsidentin Dilma Rousseff gehörte), nach eigenen Worten enger Freund von Willy Brandt- ebenfalls regelmäßig im politischen Teil derartiger brasilianischer Zeitungen. Laut Landesmedien zeigte Brizola 1980 als Gouverneur Willy Brandt noch zur Diktaturzeit den Hangslum Cantagalo über Ipanema und Copacabana. Brizola wohnte in Copacabana neben dem Othon-Hotel.
http://www.n-tv.de/reise/Favelas-dealerfrei-geraeumt-article1386351.html
„Vom Teufel besesessener Schwiegersohn macht Gehacktes aus der Schwiegermutter“.
„Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst“. Deutschsprachige Tourismuspropaganda.
Aufmacherfoto – „Das Schicksal jedes Polizeispitzels“ steht auf dem Blatt, unterzeichnet mit C. V., Abkürzung für Comando Vermelho, eines der größten Verbrechersyndikate Brasiliens.
2011 wurde der TV-Kameramann just in Antares ermordet:
Das Zeitungsfoto und die Filmszene aus „Tropa de Elite 2″: Verbrennen einer Journalistin, eines Fotografen – ein Bandit hält einen verkohlten Menschenkopf in der Hand. http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/15/tropa-de-elite-2-neuer-film-uber-menschenrechtspolitik-in-brasilien-unter-lula-steuert-zuschauerrekord-an/
In den letzten Jahrzehnten, etwa nach Rio – 92, ließen sich aus nächster Nähe die Denkweisen hoher, meist demokratisch bestimmter Staatsgäste aus Europa und den USA sowie deren Anhang, darunter der mitreisenden Journaille, registrieren: Scheiterhaufen – na und? Todesschwadronen – na und? Folter – na und? Slum-Diktatur mit Sondergerichten – na und? Nicht wenige dieser Leute nannten sich kurioserweise sogar offiziell Christen…
Deutscher Gefangenenpastor Wolfgang Lauer in Sao Paulo:
„Es sind einfach die ökonomischen Interessen, die politischen, das gehört zusammen. Da gefährdet man nicht seine Beziehung, indem man den Brasilianern sozusagen mal den Spiegel vorhält und sagt, ihr habt hier ne schöne Verfassung und schöne Gesetze, aber warum werden die nicht eingehalten?“
Kirchliche Bürgerrechtler Brasiliens vermissen seit langem klare Stellungnahmen hochrangiger europäischer Besucher zur gravierenden Menschenrechtslage in Lateinamerikas größter Demokratie. Weil damit der Eindruck entstehe, Wirtschaftsinteressen hätten Vorrang vor den Menschenrechten.
Wie analysiert Pritzker-Preisträger Paulo Mendes da Rocha in Sao Paulo die Stimmungslage im heutigen Brasilien? „Wir verwandeln uns in eine Gesellschaft, die monstruös zynisch sowie niedrig, gemein ist, die konformistisch das Desaster der Obdachlosen akzeptiert. Wir haben eine Gesellschaft, die so kolonialistisch wird wie der originale Kolonialist. Sie ist ausbeuterisch, ohne jegliches Gefühl des Mitleids und der Solidarität mit dem anderen.”
„…die höchst detailgetreuen, für Gerichtsmediziner und Mordkommissionen geeigneten Aufnahmen entsetzen niemanden mehr; auch in anderen Millionenstädten, wo `A Noticia“ verkauft wird, hat sich die Öffentlichkeit an die Banalisierung der Gewalt und sogar die Verspottung der Opfer gewöhnt. Bei der Übernahme des Chefredakteurspostens im Jahre 1991 hatte der landesweit bekannte Journalist und Karikaturist Jaguaribe(Leonardo Boff nennt Jaguaribe, Jaguar, seinen Freund) gegenüber der Qualitätszeitung `O Globo`drastisch die Blattlinie erläutert – `viele nackte Frauen, Sauereien und Schinken`. Letzterer Begriff (Presunto) stammt aus der Vulgär-und Gangstersprache und bezeichnet Ermordete; Zerstückelte sind daher stets `Schinken in Scheiben`(presunto fatiado) oder `Gehacktes`(Picadinho)…Die vom eigenen Mann mit einem Fleischermesser in `Hackfleisch` verwandelte 28-jährige Carmen da Cruz wurde so fotografiert, daß die blutverschmierten großen Brüste der dicken Frau, vor allem aber das glattrasierte Geschlechtsteil deutlich und detailliert zu sehen waren…
–Protest der Kirche, kaum Kritik von Intellektuellen–
Derartiges hat seine Entsprechung auch im Rundfunk und Fernsehen, müßte laut Gesetz und Verfassung eigentlich verboten werden. Interessanterweise üben lediglich Vertreter der katholischen Kirche kontinuierlich Fundamentalkritik.Dom Lucas Moreira Neves, Primas von Brasilien und Kardinal-Erzbischof von Salvador de Bahia, spricht von `Anstiftung zur Gewalt, Verblödung ganzer Bevölkerungsschichten, Vermischung von Gewalt und Pornographie`…“ („Gangster, Favelados, Bischöfe“, Sozialreportagen aus Brasilien, Brasilienkunde-Verlag Mettingen 1997)
Veröffentlicht am November 19, 2011von Bettina Gold-Hartnack (www.traductina.com)
Leonardo Boff
Theologe
Erdcharta Kommission
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Meinem Freund Jaguar, dem Karikaturisten, gewidmet, der eine Vorliebe für Kneipen hat.
Transvestit Roberta Close.
Der renommierte Schweizer Fotograf Barnabas Bosshart hat in den neunziger Jahren das Fototeam der Rio-Tageszeitung O POVO zwei Wochen lang begleitet und sagte im Website-Exklusivinterview: „Drei bis vier Fotografen waren darauf spezialisiert, nur Morde zu fotografieren, jeden Tag (!) und ich fotografierte für mich mit.
Die hatten direkte Funk-Kontakte in die Favelas und waren immer viel früher am Tatort als die Polizei. Die Leichen waren noch warm, als wir ankamen, es war grauenhaft. Ich erinnere mich gut an den mit einem Gewehr exekutierten Jungen aus dem Viertel Santa Cruz, zu sehen auf meiner Website unter `Rio exposto`, vierte Zeile, Foto vier von links nach rechts. Die Mörder steckten den Gewehrlauf ins Ohr des Opfers – auf der anderen Seite spritzt das Hirn an die Wand, auf den Boden. Ich rieche das Blut noch heute, ich konnte kaum fotografieren, mußte mich beinahe erbrechen. Ein unerträglicher Gestank war im Zimmer, in dem noch zwei andere Ermordete lagen. Vor dem Haus saß eine neugierige Menge, viele schluchzten. Man stelle sich vor, die Povo-Fotografen lebten von diesem Job – konnten die nachts überhaupt noch schlafen?“
Zeitungsausriß NZZ.
„Bewaffnete Kinder waren zu Monatsanfang bei einer Banditenaktion im Slum Cavaleiro da Esperanca dabei, als fünfzig Bewohner, vor allem Frauen, zwecks Erniedrigung und Einschüchterung gezwungen wurden, völlig nackt durch den Slum zu marschieren.“(Hintergrundtext)
Bosshart-Website: http://www.barnabasbosshart.com/
Bosshart-Bücher:
Alcantara, eine Stadt in Brasilien, zwischen kolonialer Erinnerung und Raketenträumen
Mit Essays von Josui Montello, Hugo Loetscher und Barnabas Bosshart. Einführung von Charles-Henri Favrod und einem Vorwort von Pietro Maria Bardi. 96 S. /ca.70 s/w Fotografien. ISBN �3-7231-0384-7Edition Stemmle, Schaffhausen/Zürich 1989
Barnabas Bosshart. Drei Welten. Brasilienbilder 1980 – 2005″
Herausgegeben von Peter Pfrunder/Fotostiftung Schweiz www.fotostiftung.ch
Mit Essays von Angela Magalhaes/Nadja Peregrino, William H.Crocker, Markus Landert, Peter Pfrunder und Barnabas Bosshart.222 S./139 s/w Fotografien. Benteli Verlag Bern 2007. ISBN 978-37165-1472-6
SWISSINFO über Barnabas Bosshart: http://www.swissinfo.ch/por/Tres_mundos_brasileiros_de_um_fotografo_suico.html?cid=5932084
„Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst.“ (Deutschsprachige Tourismuspropaganda)
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/12/10/brasilianisierung/
http://www.focus.de/politik/ausland/brasilien-den-boss-nicht-veraergern_aid_156714.html
DAAD: http://rio.daad.de/shared/informationen.htm
(Redakteure einer bekannten, sich mit drei Buchstaben abkürzenden deutschen Tageszeitung wollten einmal brasilianische Blätter dieser Art begutachten, waren indessen trotz mehrfacher Aufforderung nicht bereit, den übersandten Zeitungspacken zurückzugeben. Vielleicht besinnen sich die Kollegen anläßlich des Websitebeitrags ja früher allgemein üblicher journalistischer Redlichkeit und rücken die nicht wiederbeschaffbaren Zeitungen endlich heraus. Somit wäre möglich, an Brasilien-Mainstream desinteressierten Lesern noch weit mehr ausdrucksstarkes Material zugänglich zu machen.)
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/paulo-lins-gesichter-brasiliens/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/marina-maggessi-gesichter-brasiliens/
„M�rder von �ber 50 Menschen erschossen“
„Drei Tage lang lagen die Leichen der drei Jugendlichen an einer Ecke des Morro do Urubu. Genau dort, wo die Kinder immer spielen.“
Hintergrundtext:
Behinderter Junge in Rio zu Tode geschleiftBrasilianische �ffentlichkeit reflektiert �ber Normalit�t sadistischer Verbrechen
Bestsellerautor Paulo Coelho: Wir sind alle schuldig
Rund eine Woche vor dem weltber�hmten Karneval hat die barbarische Tat mehrerer Slum-Banditen Rios in dem Tropenland eine sehr emotionale Diskussion �ber zur Alltagsnormalit�t z�hlende sadistische Verbrechen ausgel�st.
Die Banditen hatten gem�� den Polizei-und Medienberichten in der Zuckerhutstadt zwecks Autoraub den Wagen einer Frau gestoppt, die mit ihrer 13-j�hrigen Tochter und dem behinderten sechsj�hrigen Sohn unterwegs war. Die Insassen wurden zum Aussteigen gezwungen, wobei es nicht gelang, den Sitzgurt des auf der Hinterbank befindlichen Jungen zu l�sen. Die Banditen fuhren mit dem Wagen los, obwohl der Junge noch au�erhalb der hinteren Wagent�r im Gurt festhing. Er wurde auf rund zehn Kilometern durch vier Stadtviertel Rios mitgeschleift, was eine enorme Blutspur hinterlie�. Die Banditen wollten durch verschiedene Man�ver, wie Zickzackkurs und nahes Vorbeifahren an Verkehrshindernissen, sich des K�rpers entledigen, was indessen mi�lang. Zahlreiche Passanten, andere Verkehrsteilnehmer versuchten, die Banditen im Interesse des Lebens des Jungen zum Anhalten zu bewegen, wurden indessen mit der Waffe bedroht. Einem Zeugen wurde gesagt, bei dem Mitgeschleiften handele es sich um eine Judas-Puppe. Die Gangster stoppten den Wagen schlie�lich an ihrem Slum, gingen kurz zum Umziehen nach Hause, am�sierten sich dann auf einem Stra�enfest. Von dem behinderten Jungen waren nur noch zerfetzte Reste �brig. Aufgrund von telefonischen Anzeigen konnte Rios Polizei mehrere T�ter rasch fassen, die die Tat den Berichten zufolge sofort gestanden haben. Wie in Brasilien �blich, wurden zwei im Fernsehen interviewt – ein 18-j�hriger Bandit beschrieb dabei die Tat und sagte, man habe den Jungen nicht gesehen. Der Bandit war, wie es hie�, als Minderj�hriger bereits wegen Raubmordes vor Gericht. Ein 16-j�hriger Mitt�ter d�rfte gem�� brasilianischen Gesetzen h�chstens drei Jahre in Gewahrsam bleiben.
An der Beerdigung des Jungen beteiligten sich sogar Rios Sicherheitschef sowie der Chef der Milit�rpolizei. In Rio de Janeiro weinten spontan viele Menschen auf den Stra�en, darunter auch Polizeibeamte. Die Medien erhielten eine Rekordzahl von Leser-und H�rerreaktionen, in denen unter anderem die Einf�hrung der von der Bev�lkerungsmehrheit bef�rworteten Todesstrafe gefordert sowie die allgemeine Straffreiheit angeprangert wurde. In Rio de Janeiro werden j�hrlich deutlich weniger als f�nf Prozent der Morde aufgekl�rt.
Angesichts dieser barbarischen Tat, hie� es au�erdem, sollte man den Rio-Karneval boykottieren. Erinnert wurde zudem an andere Verbrechen der j�ngsten Zeit, bei denen u.a. Banditen Stadtbusse mit Benzin angez�ndet hatten, wodurch zahlreiche Menschen verbrannt waren.
Indessen handelt es sich bei diesen bekanntgewordenen Untaten nur um die Spitze des Eisberges, weil Brasiliens Medien im Interesse des Landesimage nur �ber einen Bruchteil der sadistischsten Taten �berhaupt berichten. Gew�hnlich wird nur �ber Verbrechen informiert, die Angeh�rige der Mittel-und Oberschicht betreffen, nicht jedoch �ber schier unbeschreiblichen Sadismus, dem die Slumbev�lkerung seit Jahrzehnten ausgesetzt ist. Da� von den die Slums neofeudal beherrschenden Banditenmilizen Mi�liebige lebendig verbrannt oder zerst�ckelt werden, mit abgeschlagenen Köpfen Fußball gespielt wird, man Menschen durch Schweine auffressen l��t, haben zahlreiche Zeugen best�tigt. Ein Gro�teil der Slumbewohner, darunter bereits kleine Kinder, hat solchen Verbrechen zugesehen – mit den entsprechenden Wirkungen auf die Psyche. Es gibt zudem Berichte, demzufolge auf Rap-und HipHop-Massendiscos, die an der Slumperipherie Rios h�ufig vom organisierten Verbrechen veranstaltet werden, Jugendliche lebendig verbrannt worden sind. Die auf diesen „Bailes Funk“ gespielten Titel sind extrem machistisch bzw. frauenfeindlich und verherrlichen detailliert sadistische Taten. Nicht zuf�llig wird in Deutschland von interessierter Seite versucht, derartige brasilianische Musik aus dieser Gewaltkultur gesellschaftsf�hig zu machen, zu popularisieren.
Marina Maggessi, seit kurzem Kongre�abgeordnete und zuvor Rio de Janeiros Chefinspektorin der Zivilpolizei, hatte immer wieder die vom organisierten Verbrechen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen angeprangert. Die Banditenbosse, mit denen sich sogar weltbekannte Topathleten und Prominente einlassen, nannte sie Tyrannen:“Sie verbrennen Menschen lebendig, zerst�ckeln Personen, begehen Greueltaten jeder Art, herrschen �ber die Slums mit aller Brutalit�t.“
Auffällig, daßzahlreiche NGOs, die auch mit europäischen Spendengeldern finanziert werden, in den Slums der größten bürgerlichen Demokratie Lateinamerikas zwar t�tig sind, jedoch zu den Vorg�ngen weitestgehend schweigen. Gleiches gilt f�r teils vom Steuerzahler finanzierte Alibi-Menschenrechtsorganisationen.
In Brasilien werden j�hrlich �ber 55000 Menschen ermordet. In Rio de Janeiro wurde jetzt eine Website eingerichtet, die die aktuelle Zahl der Ermordeten angibt: http://www.riobodycount.com.br/
Im Teilstaate Rio de Janeiro wurde 2006 gem�� neuesten Angaben eine Rekordzahl von Homosexuellen umgebracht. Wie es hie�, waren es mindestens 45. „Dies zeigt den machistischen und gewaltt�tigen Charakter der Gesellschaft Rio de Janeiros“, wurde betont. Rio de Janeiro hat etwa die gleiche Einwohnerzahl wie Kuba, das indessen auch gem�� dem UNO-Index f�r menschliche Entwicklung völlig andere soziokulturelle Bedingungen aufweist.
Auch in Deutschland nimmt machistische Gewalt st�ndig zu, wird sogar von den Autorit�ten ganz bewu�t, u.a. durch Tolerierung, stark gef�rdert. Die deutsch-t�rkische Anw�ltin Seyran Ates, die jetzt den Margherita-von-Brentano-Preis der FU Berlin erhielt, hat �ber Machismus und Gewaltbereitschaft sowie �ber Sexualit�t und Gewalt zahlreiche Analysen angestellt.
Viele Deutsche, auch aus der Drittweltszene, reden gerne von der sogenannten „Einen Welt“, lehnen es indessen ab, darüber zu reflektieren, wie die Öffentlichkeit reagierte, wenn sich Verbrechen wie die oben beschriebenen in deutschen Städten wie Berlin oder München ereignen w�rden. Verdr�ngungsmechanismen funktionieren gut.
Schriftsteller Paulo Coelho von der Copacabana zum sadistischen Verbrechen:
„Wir sind alle schuldig“
Ent�o estamos nos aproximando cada vez mais do Mal Absoluto. Quando rapazes, em pleno controle de suas faculdades mentais, s�o capazes de arrastar um menino pelas ruas de uma cidade, isso n�o � apenas um ato isolado: todos n�s, em maior ou menor escala, somos culpados. Somos culpados pelo sil�ncio que permitiu que a situa��o em nossa cidade chegasse a este ponto. Somos culpados porque vivemos em uma �poca de �toler�ncia�, e perdemos a capacidade de dizer N�O. Somos culpados porque nos horrorizamos hoje, mas nos esquecemos amanh�, quando h� outras coisas mais importantes para fazer e para pensar. Somos os olhos que viram o carro passar, o medo que nos impediu de telefonar para a pol�cia. Somos a pol�cia, que recebeu alguns telefonemas atrav�s do n�mero 190, e demorou para reagir, porque o Mal Absoluto parece j� n�o pedir urg�ncia para nada. Somos o asfalto por onde se espalharam os peda�os de corpo e os restos de sonhos do menino preso ao cinto de seguran�a. A cada dia uma nova barb�rie, em maior ou menor escala. A cada dia algum protesto, mas o resto � sil�ncio. Estamos acostumados, n�o � verdade?Muitos s�culos atr�s, John Donner escreveu: �nenhum homem � uma ilha, que se basta a si mesma. Somos parte de um continente; se um simples peda�o de terra � levado pelo mar, a Europa inteira fica menor. A morte de cada ser humano me diminui, porque sou parte da humanidade. Portanto, n�o me perguntem por quem os sinos dobram: eles dobram por ti.� Na verdade, podemos pensar que os sinos est�o tocando porque o menino morreu, mas eles dobram mesmo � por n�s. Tentam nos acordar deste cansa�o e torpor, desta capacidade de aceitar conviver com o Mal Absoluto, sem reclamar muito � desde que ele n�o nos toque. Mas n�o somos uma ilha, e a cada momento perdemos um pouco mais de nossa capacidade de reagir. Ficamos chocados, assistimos �s entrevistas, olhamos para nossos filhos, pedimos a Deus que nada aconte�a conosco. Sa�mos para o trabalho ou para a escola olhando para os lados, com medo de crian�as, jovens, adultos. Entra ano, sai ano, mudam-se governos, e tudo apenas piora. O que dizer? Que palavra de esperan�a posso colocar aqui nesta coluna?Nenhuma. Talvez apenas pedir que os sinos continuem tocando por n�s. Dia e noite, noite e dia, at� que j� n�o consigamos mais fingir que n�o estamos escutando, que n�o � conosco, que estas coisas se passam apenas com os outros. Que estes sinos continuem dobrando, sem nos deixar dormir, nos obrigando a ir at� a rua, parar o tr�nsito, fechar as lojas, desligar as televis�es, e dizer: �basta. N�o ag�ento mais estes sinos. Preciso fazer alguma coisa, porque quero de volta a minha paz�. Neste momento, entenderemos que embora culpemos a pol�cia, os assaltantes, o sil�ncio, os pol�ticos, o h�bito, apenas n�s podemos parar estes sinos. Nosso poder � muito maior do que pensamos � trata-se de entender que n�o somos uma ilha, e precisamos us�-lo. Enquanto isso n�o acontecer, o Mal Absoluto continuar� ampliando seu reinado, e um belo dia corremos o risco de acreditar que ele � a nossa �nica alternativa, n�o existe outra maneira de viver, melhor ficar escutando os sinos e n�o correr riscos. N�o podemos deixar que chegue este dia. N�o tenho f�rmulas para resolver a situa��o, mas sou consciente de que n�o sou uma ilha, e que a morte de cada ser humano me diminui. Preciso parar minha cidade. N�o apenas por uma hora, um dia, mas pelo tempo que for necess�rio. E recome�ar tudo de novo. E, se n�o der certo, tentar n�o apenas mais uma vez, mas setenta vezes. Chega de culpar a pol�cia, os assaltantes, as diferen�as sociais, as condi��es econ�micas, as mil�cias, os traficantes, os pol�ticos. Eu sou a minha cidade, e s� eu posso mud�-la. Mesmo com o cora��o sem esperan�a, mesmo sem saber exatamente como dar o primeiro passo, mesmo achando que um esfor�o individual n�o serve para nada, preciso colocar m�os � obra. O caminho ir� se mostrar por si mesmo, se eu vencer meus medos e aceitar um fato muito simples: cada um de n�s faz uma grande diferen�a no mundo.�
„Menino de rua massacrado“ – Straßenkind massakriert.
Anschlag auf Polizist von Rio de Janeiro in Lula-Amtszeit.
Vermummte, möglicherweise eine Todesschwadron, exekutieren laut Bericht drei Jugendliche Rio de Janeiros.
Zwei ermordete Frauen, eine davon laut Bericht von mehr als 10 Schüssen getroffen.
Banditenkommando zwingt laut Bericht einen LKW-Fahrer der Olympiastadt, Leichen abzutransportieren.
„Lynchjustiz“ laut Bericht im City-Stadtteil Catete der Fußball-WM-Stadt Rio de Janeiro – die meisten dokumentierten Verbrechen ereigneten sich unweit der Touristenstrände und des internationalen Flughafens.
In Lula-Amtszeit lebendig verbrannte Frau von Rio de Janeiro, Terror gegen Slumbewohner – totales Desinteresse im NGO-Business.
Lula-Pressekonferenz in Berlin: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/03/pressekonferenz-mit-lula-in-berlin-keine-einzige-frage-zu-gravierenden-von-amnesty-international-kritisierten-menschenrechtsverletzungen-wie-folter-scheiterhaufen-todesschwadronen-sklavenarbeit/
In Mitteleuropa dürften(müßten) die im Beitrag dargestellten Tatbestände, die scharfen soziokulturellen Unterschiede allgemein bekannt sein, Schülern u.a. aus dem Medienkunde-Unterricht und den entsprechenden Schulbüchern.
Há alguns dias atrás noticiou-se, com relativa discrição que uma cabeça decapitada foi arremessada numa avenida suburbana do Rio de Janeiro, durante um período de combate entre facções criminosas. Mais recentemente, noticiou-se que durante um assalto em Búzios o bandido, insatisfeito com o resultado de sua investida, enraivecido, decepou o dedo de uma criança. O que mais impressiona é como essas notícias são dadas, já sem grande alarde, pouca perplexidade e indignação. Parece que é natural numa sociedade, como a nossa, cabeças serem atiradas no meio de uma avenida e que crianças tenham seus dedos decepados por meliantes. O fato é que o noticiário sobre crueldades e violência dos mais variados tipos banalizou-se expressando, provavelmente, um estado de amortecimento, desânimo e conformismo da sociedade em geral diante desse cotidiano brutal e, imagina-se, sob qualquer ponto de vista, assustador. Anthropologe Gilberto Velho, Rio de Janeiro
Die Wirtschaftszeitschrift “Brasil Economico” zitiert einen Regierungsfunktionär zum Ziel der Auslandspropaganda:”Unsere Priorität ist, das Image Brasiliens als einer großen, sozial, politisch und wirtschaftlich stabilen Demokratie zu positionieren.”
„O Rio è o trailer do Brasil.“(Arnaldo Jabor)
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/03/iranerin-sakineh-neue-weltproteste/
In Rio-City von Gangster erschossener Polizist, November 2010, Zeitungsausriß O Globo.
Hintergrundtext
Köpfen, vierteilen, lebendíg verbrennen
Luxus und Elend von Rio
Reinaldo Guarany, Stadtguerrilhero im Ruhestand, weiß, wie man mit Maschinenpistolen umgeht. 1970, wãhrend der Militärdiktatur, richtet er eine in Rio auf die Bewachertruppe des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben. Setzt sie mit einigen Feuerstõßen außerGefecht, reißt den verdatterten Dlplomaten aus seiner Luxuskarosse, packt ihn mit Hilfe eines Companheiro in eine nach Chloroform duftende Holzkiste. Die Entführung gelingt, von Holleben kommt frei, nachdem 40 Gegner der Foítergeneräle aus den Verließen geholt und nach Algerien ausgeflogen worden sind. Deutsche, belgische oder nordamerikanische Maschinenpistolen, die Guarany seinerzeit vom chilenischen Exil aus für die Guerrilla in Argentinien, Uruguay und Brasiiien importierte, faßt der inzwischen úber 50-jährige heute nicht mehr an,sieht sie indessen alleTage, nurSchritte von seinem Hãuschen entfernt, auf sich gerichtet. Wir fahren eine enge steile Straße des malerisch wirkenden Bergstadtteils Santa Teresa hinunter – an der ersten Biegung blinkt bereits eine verchromte MPi. In fünfzehn langen Minuten, bis ein verkeilter LKW endlich weiterkommt, brauchte der nur mit Shorts bekleidete 12-jährige nur einmal durchzuziehen, und alle im Auto wären hinüber. Guarany wird nicht ein bißchen mulmig: ,,Noch vor zwei Jahren habe ich hier viele Jungs Murmeln spielen sehen, die mir heute mit MPis begegnen – sie wurden Soldados des organisierten Verbrechens, prahlen damit herum, rühmen die Banditenchefs ais ihre Helden!“Die Zeiten haben sich geändert – seit 1985 ist Brasilien wieder eine Demokratie, und Entführungen von Geldleuten, nicht mehr Diplomaten und Politikern, wurden in Rio so hãufig, daß sich kaum noch jemand darüber aufregt und die Medien längst nicht mehr alle Fälle registrieren. Der illegale Besitz von eingeschmuggelten Mpi stieg enorm. ,,Wáren wir damals nur fünfzehn Minuten bewaffnet in Santa Teresa auf der Straße geblieben“, so Guarany bitter-humorig, ,,hätten die sicher sogar ein Kriegsschiff hierher in die Berge geschickt.“Einen Steinwurf von Guaranys Häuschen entfernt,beginnt das pompöse Anwesen einer der reichsten Familien Brasiliens, die ein Bataillon von Hausbediensteten beschäftigt. Schaut deralsRomanschreiber.Fachbuchautor, Ghostwriter, Úbersetzer, Rechtsexperte, Betriebswirt und auch noch erfolgreicher Bildermaler vielbeschàftigte Ex-Guerrilheiro dagegen von seinem Balkon die Santa-Teresa-Berge hinunter, sieht er nur Slums, Favelas, die wie sämtliche rund 800 Rios in Feudalmanier grausam wie im Mittelalter von Herren úber Leben und Tod regiert werden. Manche lassen sich sogar die Füße küssen, haben mit Dutzenden von Geliebten Dutzende von Kindern, erhalten Heldenbegräbnisse. Banditenchefs mit Namen wie Rambo oder Robocop und Minireichen wie Ratolândia(Rattenland) oder Buraco Quente (Heißes Loch) dinieren in den besten Restaurants, kaufen in den teuersten Boutiquen der Mittel- und Oberschichtsviertel Ipanema, Leblon oder Barra, benutzen nicht selten sogar Computer, Laptop und Internet, haben indessen keine Hemmungen, Mißliebige, vom Normendiktat abweichende Slumbewohner zu kastrieren, zu köpfen, zu vierteilen, aufzuspießen oder sogar lebendig zu verbrennen.lm Slum Vidigal, der direkt an das Sheraton-Hotel grenzt, ließ Banditenboß Giovani zwei 14-jährige Màdchen von seinen meist minderjährigen Soldados aus ihren Baracken holen und auf die wichtigste Favela-Straße, die Avenida Presidente João Goulart bringen. Dort wurden ihnen vor allen Leuten die Füße durchschossen. Sie hatten gewagt, einem anderen, mit Giovani verwandten Mädchen eine Ohrfeige zu verpassen, weil es mit dem neuen Freund einer der beiden ausgegangen war. Ein Bewohner kommentíerte: „Die beiden baten, bei der Liebe Gottes, nicht zu schießen, aber das half nichts. Hier ist es so. Wer sich nicht an die Regeln hält, hat die Strafe sicher.“ Zu den Regeln gehört das „Lei do Silencio“, Gesetz des Schweigens: Zu niemandem ein Wort über Favela-Vorgänge!Zuvor verdächtigt Gringo, ein anderer Neofeudalist von Vidigal – den Bewohner Boca Mole, für die Polizei zu spionieren. Zeugen sehen, wie dem Mann mit einer Zange die Zunge herausgerissen und mit einem Messer die Ohren abgeschnitten werden. Zunge und Ohren werden auf öffentlichem Platz fúr jedermann sichtbar an einem Pfahl angenagelt.Nebenan in Ipanema, stimuliert derartiges keinen aus derreichlich vertretenen intellektuellen Elite mit den Sorbonne-und Harvard-Diplomen zu tieferem Nachdenken, Reflektieren oder gar zu einer Aktion. Staatschef FernandoHenrique Cardoso, Soziologe, und seine Frau Ruth, Anthropologin, úbergehen das Thema schließlich auch mit Schweigen. Die Boys und Girls from Ipanema, viele davon Uni-Studenten, mucksen sich gleich gar nicht. Sie haben Wichtigeres, Hehreres im Auge – für das Recht auf freien Marihuana-Konsum am vielbesungenen, weltbekannten Strand wurde mit allen politischen Mitteln, darunter Demos, Pfeifkonzerte, Flugblattaktionen und sogar Rund-Tisch-Gesprãche mit Politikern und Intellektuellen heftig gekämpft, die Presse war voll davon. Daß Marihuana (und die anderen ebenso rege verbrauchten Modedrogen wie Kokain und Crack) nur von moralisch-ethisch einwandfreien Lichtgestalten wie Giovani, Gringo und dessen Anhang zu haben ist, die freundschaftliche Beziehungen zu den immer unentbehrlicheren, sozial zusehends aufgewerteten Dienstleistern vom nahen Hügel als Kehrseite, Nebenprodukt das Terrorregime in den Slums haben, fällt dabei glatt unter den Tisch. Charles Fábio Vidal, 18, wollte in der an einem Steilhang úber Ipanema gelegenen Favela ‚Morro do Cantagalo‘ kein Soldado an den von Studenten, Alternativen und Jungunternehmern frequentierten Drogendepots sein – zur Strafe durchschossen ihm die Banditen seines Slums die Hände mit einem Revolver. Wer die Rekrutierung ablehnt, kann sogar getòtet werden. In einem Slum der Nordzone wurden nicht weniger ais 21 Jugendlichen nach Folterungen die Hánde mit Schüssen perforiert Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, eine Art einsame Ruferin in der Wüste, sieht in den rasch wachsenden Slums eíneneue tyrannische Kultur feudalistisch-machistiscner Werte inzwischen fest installiert. Von den Autoritäten werde dies hingenommen.Ex-Guerrilheiro Guarany geht noch einen Schritt weiter – spricht von einer „Komplizenschaft des Staates“ mit den Drogengangstern dês organísierten Verbrechens. Diese sind übrigens verrúckt nach importierten Brutalo-Filmen, holen sich aus ihnen womõglich Anregungen: Ein Geistlicher sieht, wie in einem Slum Rios mit einem abgehackten Kopf Fußball gespielt wird. Eine Rechtsanwältin kennt einen Zeugen, der ihr berichtete, wie inmitten von Freiluft-Discos Jugendliche lebendig verbrannt wurden. Derartiges tat auch der 1995 von Rivalen erschossene Gangsterboß Nem Maluco: Ais die Eltern einer Jugendlichen nicht einverstanden waren, daß er ihre Tochter zur Geliebten machte, befahl er Kumpanen, ein großes Loch zu schaufeln. Die Eltern wurden gezwungen, sích hineinzulegen.Nem Maluco úberschüttete sie mit Spiritus, ließ sie ver-brennen. Der Geruch verkohlten Fleisches zog úber dieFavela – doch jedermann blieb aus Angst passiv in seinerHútte. Ein Mädchen wollte sich nicht hingeben – derGangsterboß einer anderen Favela schlitzte sie daraufhinvon unten bis oben mit einem Messer auf. Leichen sollenoft zwecks Abschreckung ím Gassenlabyrinth liegenbleiben- jedermann jeden Alters muß mit ansehen, wieGeier und freilaufende Schweine diesen die Gedärme meterlang herauszerren, die Toten schlíeßlích ganz oder teílweíse auffressen.Die Liste von nahezu unvorstellbaren Untaten läßt sich beliebig verlângern. Jurandir Freire Costa, Therapeut und Direktor des Instituts für Sozialmedizin an der Universitát von Rio, hat eine Erklärung fúr das Desinteresse der Bessergestellten Rios, Sao Paulos, Salvadors oder Fortalezas am Los der Slumbewohner: Die Mittel- und Oberschicht spricht diesen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiert sie quasi ais Nicht-Menschen, reagiert daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Bevölkerungsteil. Daß Slumbewohner kaum ein Minimum an Menschenrechten genießen, ist somit irrelevant.
„Feel Brazil. Go Bayao!“: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/20/feel-brazil-go-bayao-deutsche-getrankefirma-veltins-wirbt-mit-brasilianischem-lebensstil-trotz-der-menschenrechts-und-sozialdaten-brasiliens/
Brasilianische Protestsongs:
Paralamas do Sucesso: http://www.youtube.com/watch?v=sI4ZF2qEzpE
Jorge Aragao: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
Bezerra da Silva: http://www.youtube.com/watch?v=8i69t5BI3KI
Legiao Urbana: http://www.youtube.com/watch?v=zy2-b8Ze90A&feature=fvwrel
Rita Lee: http://www.youtube.com/watch?v=XTPV8cJoqSU
Cazuza: http://www.youtube.com/watch?v=NkNv2BflaSU
Capital Inicial: http://www.youtube.com/watch?v=5xShbngQdaI
Titas: http://www.youtube.com/watch?v=0LXil87V6jQ
Biquini Cavadao: http://www.youtube.com/watch?v=lR4GeUpk-LE
Raul Seixas: https://www.youtube.com/watch?v=S2cWf8lrQAQ
Manche stellen sich Fragen: http://www.dailytalk.ch/wenn-aus-lebensfreude-mordlust-wird/
München (ots) – Am 29. August 2011 ist die erste Klappe für eine neue Folge von “Das Traumhotel” gefallen. Dieses Mal entführt Das Erste seine Zuschauer ins farbenfrohe und temperamentvolle Brasilien. Die Reise mit Hotelbesitzer Markus Winter führt nach Rio de Janeiro und Salvador da Bahia.(Pressetext)
http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=242992&rubrik=2&ausg=201102
http://das-blaettchen.de/2011/06/brasiliens-kreuz-mit-dem-sex-5182.html
Baile Funk, neoliberaler Zeitgeist in Deutschland – verrohende Texte, verrohende Musik:
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/terror-rap-statt-samba/763272.html
Köln schließt eine Städtepartnerschaft mit Rio de Janeiro:
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Brasiliens TV-Ratte
Reality-Shows im Tropenland – Brutalo-Moderator Ratinho wurde Kultfigur
Stärkeren Tobak präsentiert, wie es aussieht, weltweit kein anderer Kollege – Carlos Massa alias Ratinho, kleine Ratte, traut sich, darf mehr als die Konkurrenten, und das allabendlich bis zu vier Stunden. Beim Beschreiben programmtypischer Szenen sträubt sich die Feder: Ratinho, 41, Ex-Kongreßabgeordneter, stellt einen Jungen vor, dem ein Schwein das Geschlechtsteil abfraß. Wie üblich, feuert jemand die mehreren Hundert im Studio an, per Sprechchor den Verschüchterten zum Herunterlassen der Hosen zu veranlassen. Schließlich tut er es, steht ganze fünf Minuten da, zeigt die entsetzliche Wunde, die Kamera geht ganz nahe ran – das Publikum reagiert zufrieden bis begeistert. Ein Lump, der an platten Voyeurismus denkt, kommentiert Ratinho, ein medizinischer Fall werde realistisch vorgeführt, weiter nichts, dem armen Jungen solle auf Senderkosten geholfen werden. Das gleiche Schema bei den Riesenbrüsten von Slumbewohnerinnen: Sie leiden unter der Last, werden gehänselt, haben Probleme bei der Arbeitssuche – ganz menschlich-mitfühlend interviewt Ratinho; dann wieder die Sprechchöre, alle wollen die Brüste sehen. Achtzehnjährige, Frauen über sechzig haben sichtlich Hemmungen, Ratinho redet gut zu, alles diene der Volksaufklärung und der Medizin; schließlich heben sie, eine nach der anderen, sehr Dicke und sehr Magere, die T-Shirts hoch bis zum Hals, oder knöpfen Blusen auf, grotesker gehts nimmer. Ratinho verspricht Gratis-Operationen, schielt in den Einschaltquoten-Monitor. Der sogenannte „Ibope“, ständig gemessen, steigt sprunghaft – freudestrahlend, lauthals herauslachend, teilt der populistische Demagoge jeweils mit, wenn das private TV Globo, meistgesehener Kanal der immerhin fünfzehnten Wirtschaftsnation der Erde, wieder einmal überrundet wurde, verspottet dessen Programm-Macher. Ratinhos SBT(Sistema Brasileiro de Televisao), im Besitze eines ehemaligen Straßenhändlers, rangiert auf Platz zwei, legte seit dem Ankauf des neuen Nationalidols deutlich zu. Zuvor war das Medienphänomen beim einst Ibope-schwachen Sektensender „Rede Record“, katapultierte ihn mit seiner Kult-Reality-Show auf den dritten Rang. Stoff, der ähnliche US-Programme in Poesiealbum-Nähe rückt, fehlte nie – schließlich werden in Rio de Janeiro oder Sao Paulo täglich Menschen lebendig verbrannt, zerstückelt, in Gruppen massakriert. Ratinho, der zum Karrierestart laut Nachrichtenmagazin „Isto è“ den Finger in die Einschußlöcher Ermordeter steckte, stimulierte bereits unter den wohlwollenden Augen der Sektenbischöfe überzogen-grotesk die Paranoia des kriminalitätsgeplagten Durchschnittsbrasilianers, appellierte ans rechtsextremes Volksempfinden – liegt damit im Trend: Allein in der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro( schon 1997 offiziell über zwölftausend Morde) sind 52 Prozent für Lynchjustiz, die täglich praktiziert wird. „Nur Intellektuelle mögen Banditen“, schimpft Ratinho und wünscht Kriminellen den Tod, fordert die Todesstrafe:“Der Entführer ist ein Tier, muß sterben, muß verfaulen!“ Gelegentlich springt er auf die Kamera zu, schreit solche Sprüche so heftig heraus, daß die Linse beschlägt. Und schaltet seine Ansichten auch in Kolumnen fürBoulevardblätter durch. Vergewaltiger müßten entmannt werden:“Mit dem Messer die Eier abschneiden, den Katzen hinwerfen – und fertig.“ Obszöne Kraftausdrücke der Vulgär-und Fäkalsprache, die jedem deutschen Moderator sofort den Job kosten würden, gehören zu Ratinhos Standardrepertoire. Bricht unterm Zuckerhut wieder einmal eine Tropenkrankheit epidemienartig aus, konstatiert er:“ Die Rio-Bewohner werden grade vom Dengue-Fieber gefickt.“Eine eher noch harmlose Bemerkung. Bezeichnend für Brasiliens gesellschaftliches Klima, daß weder Öffentlichkeit noch Medien auf eine Ratinho-Spezialsendung zum Jahrestag des ungesühnten Polizeimassakers von 1992 an mindestens 111 Häftlingen Sao Paulos reagieren: Einen Menschenrechtler läßt er durch Blutbad-Befürworter niederbrüllen, ruft die Zuschauer zu Pro-und Contra-Anrufen auf. Neben dem Studiotisch, auf den Ratinho alle paar Minuten kommentarverstärkend mit einem Polizeiknüppel haut, dort sogar gelegentlich tanzt, steht der lockende Hauptgewinn – ein nagelneuer Import-BMW. 77,7 Prozent sind schließlich für den grauenvollen Militärpolizeieinsatz von 1992, der weltweit Schlagzeilen machte.
Natürlich erntet Ratinho in den Qualitätszeitungen nur gröbste Verrisse, muß sich nachweisen lassen, daß die üblichen Studio-Schlägereien zwischen Ehepartnern, verschmähten oder betrogenen Liebhabern wie anderes Hanebüchene gelegentlich getürkt, inszeniert waren. Oder die beliebte Szene, wenn Ehegatten nachgewiesen wird, daß ihre Kinder nicht von ihnen, sondern von anderen Männern sind – die auch noch live auftauchen. Falls eine Geschichte mal nicht stimmte, schiebt Ratinho alles Dritt-Produktionsfirmen in die Schuhe – seine Glaubwürdigkeit, Popularität bleibt hoch. Den Massen gefällt offensichtlich, daß Ratinhos Programm politisch unkorrekt, handwerklich eher stümperhaft, reine Improvisation ist, der Chef live Kritiker, patzende Mitarbeiter zurechtweist:“Ich mache , was ich will – in dieser Scheiße hier befehle ich!“ Als die Firmen-Selbstkontrolle von ihm vergeblich fordert, nicht länger ein unwirksames Haifischmehl „gegen brüchige Knochen“ permanent anzupreisen, kommt abends nach acht prompt die Begründung:“Warum mache ich die Propaganda? Jedesmal, wenn ich das Pulver erwähne, kriege ich siebenhundert Dollar!“ Ein Klacks gegen die über hunderttausend Dollar Monatsgage. Längst ist Ratinho nebenbei auch noch Unternehmer, unterstützt Politiker im Wahlkampf, wird sogar von der großen Sambaschule Mangueira in Rio gefeiert.
Im europäischen Fernsehen, betonen Soziologen, sorgten sich Kommissionen um ethisch-moralische Fragen, existierten Regeln – das brasilianische TV, bis auf einen kleinen öffentlichen Kanal durchweg privat, werde dagegen von der Gesellschaft überhaupt nicht kontrolliert, banalisiere Sex, Tod und Misere. Jurandir Freire Costa, Uni-Prof und Therapeut in Rio, geht noch weiter:“In Europa gibt es noch verantwortungsbewußte kulturelle, politische und moralische Eliten, die sich um die Erhaltung einer lebendigen, eigenen Kultur sorgen, gegen solche Medien vorgehen würden. Derartige Eliten hat Brasilien nicht mehr, die existierenden bleiben untätig und indifferent. Praktiziert wird eine Demokratie der Apartheid, im Lande herrscht ethisch- moralische Schizophrenie.“
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Hintergrund Kirche und Sexualität:
In Brasilien, dem größten katholischen Land der Welt, hat sich der angesehene Bischof Amaury Castanho gegen eine absurd verantwortungslose, unethische, kommerzielle Sex-Verherrlichung gewandt – wie sie in Europa nicht anzutreffen sei. Die Folgen für den Einzelnen, die Familie, die ganze Gesellschaft seien gravierend – schließlich begünstige der übersteigerte Sex-und Pornographie-Kult auch Vergewaltigungen, Pädophilie. Bischof Amaury Castanhos Stimme, seine Warnungen werden in Brasilien gehört – er zählt zu den Journalisten der Bischofskonferenz CNBB. Seine Diözese der Großstadt Jundiai liegt in Brasiliens politisch-wirtschaftlich führendem Teilstaat Sao Paulo – der Industrielokomotive ganz Lateinamerikas, mit weit über tausend deutschen Unternehmen, von VW bis BASF und Daimler-Benz.
Bischof Amaury Castanho gilt bei den Priestern seiner Diözese als Workoholic, als einer, der die Vorgänge, die Veränderungen in seiner Region, in Brasilien, überhaupt in der Welt besonders scharf beobachtet, analysiert, als gelernter Journalist beschreibt, auffällig engen Kontakt zu den Menschen von Jundiai hält, über deren Sorgen bestens im Bilde ist. Daß Castanho gerade das Thema Sex aufgreift, ist nicht zufällig – abgesehen von den Geistlichen, den Pädagogen, haben sehr viele Eltern und natürlich die Heranwachsenden damit ihre Probleme, wenden sich an ihn, erwarten klare Antworten. Und bekommen sie auch:
“Sex, Sexualität ist etwas Positives, Gutes, ein Wert – eine Gabe der Natur, eine Gabe Gottes – etwas Edles. Sex zielt auf die legitime Befriedigung der Lust, des Fortpflanzungstriebs. Doch Sex existiert aus christlicher Sicht eben nicht nur des Sexes wegen, wie es heute massiv propagiert wird. Ein Sex-Kult, die Suche nach Lust um der Lust willen – eine grenzenlose Ausbeutung des Erotischen, des Pornographischen – als Ware, zum Verhökern. Bier, Zigaretten, Autos werden in der Propaganda zusammen mit halbnackten Frauen angepriesen – die Massenmedien nutzen die Übersteigerung des Sex, der Pornographie zur Verkaufsförderung. Ich glaube, wir sind derzeit in einer Phase des Pansexualismus – die Geschichte bewegt sich in eine Richtung wie vor Christus, im römischen Imperium. Wir sehen eine Umkehrung der Werte.”
Bischof Castanho bemerkt viel Pharisäertum, Scheinheiligkeit, Zynismus. Einerseits fördert die Gesellschaft diesen überdrehten Sex-und Pornographie-Kult – oder verhält sich zumindest passiv – beklagt dann aber lautstark den Zerfall der Verhaltensnormen, die Zerstörung der Familien, zunehmende auch sexuelle Gewalt gegen Mädchen, Frauen, dazu verfrühte Sexualität, ausufernde Kinderprostitution.
“Überall sieht man die Resultate – im Leben des Einzelnen und der Ehen, der Familien – und selbst im Leben der Kirche.”
Überall die Ersatzbefriedigung von Ersatzbedürfnissen – Bischof Castanho macht besonders das Fernsehen für die Situation, den Wertewandel verantwortlich.
“Unser TV ist technologisch hochmodern – aber was die Wertevermittlung betrifft, das denkbar schlechteste. Anders als in Europa sieht hier in Brasilien ein aufgewecktes Kind vorm Schlafengehen, zur besten Sendezeit Dinge, für die es psychisch noch nicht vorbereitet ist, noch ohne ohne kritisches Bewußtsein.”
Gelingt es Brasiliens Kirche, in irgendeiner Weise gegenzusteuern? Schließlich gibt es anders als in Deutschland sehr viele katholische Radiosender, katholisches Fernsehen.
“Wir wollen Orientierung geben, jungen Menschen, aber auch den Ehepaaren – uns geht es um den Respekt vor dem eigenen Körper – und gerade um die Aufwertung der menschlichen Sexualität. Doch in einem solchen gesellschaftlichen Ambiente ist das sehr, sehr schwierig. Denn ein einziges abendliches Kapitel einer Fernsehserie von TV Globo, dem quotenstärksten Privatsender Brasiliens, macht nicht selten unsere jahrelange Bildungsarbeit etwa mit Jugendlichen zunichte, anulliert alles. Bildung zu vermitteln, ist heute weit schwieriger als vor fünfzig, hundert Jahren. Und eine so erotisierte, so geprägte Gesellschaft fördert letztlich eben Vergewaltigungen, Pädophilie.”
“Folter noch jeden Tag.”(2011)
Handabhacken in Rio de Janeiro – drakonische Strafen des organisierten Verbrechens:
Eine Menschenrechtsanwältin zählte laut eigener Aussage in relativ kurzem Zeitraum an dem betreffenden Slum neun abgehackte Köpfe.Weniger als die Hälfte der in den Slums Ermordeten gehe in die offizielle Statistik ein.
Ausriß.
Ausriß Neue Zürcher Zeitung.
Erschossene Frau aus Finnland, brasilianisches Medienfoto, Dezember 2011.
http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=234729&rubrik=31&ausg=200304
Fotojournalismus aus dem nordöstlichen Teilstaat Paraiba:
http://www.afonteenoticia.com.br/detalhe_noticias.php?id=13942
Ausriß Rio.
Amnesty Journal 2009:
“KOPF UNTER WASSER
Gravierende Menschenrechtsverletzungen offiziell abzustreiten oder zu vertuschen, kommt heutzutage bei der internationalen Gemeinschaft schlecht an. Das weiß auch die brasilianische Regierung und geht deshalb seit langem einen anderen Weg: Mit erstaunlicher, entwaffnender Offenheit wird in- wie ausländischen Kritikern bestätigt, dass sie völlig im Recht seien. Man sehe die Dinge ganz genau so und habe bereits wirksame Schritte, etwa zur Abschaffung der Folter, eingeleitet. Doch auf die Worte folgen meist keine Taten.
Menschenrechtsaktivisten wie der österreichische Pfarrer Günther Zgubic, der die bischöfliche Gefangenenseelsorge in Brasilien leitet, vermissen seit Jahren deutliche Worte von deutscher Seite. Schließlich ist Lateinamerikas größte Demokratie ein wichtiger strategischer Partner von Deutschland, und die Regierung in Berlin spricht gerne von den “gemeinsamen Werten”, die beide Staaten verbinden würden. Mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, hat jetzt zum ersten Mal endlich ein hochrangiger deutscher Politiker in der Hauptstadt Brasilia die Probleme offen angesprochen.
Zgubic erinnert immer wieder an die wohlklingenden Versprechungen, die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei seinem Amtsantritt 2003 verkündet hat: “Er hat öffentlich erklärt, dass er Folter und andere grausame, unmenschliche Praktiken nicht mehr duldet.” Leere Worte aus Brasilia, denn nach Informationen von Zgubic existiert die Folter in allen Varianten, um Geständnisse zu erzwingen: “Es werden Elektroschocks eingesetzt, man presst den Kopf unter Wasser. Auf allen Polizeiwachen Brasiliens werden Häftlinge gefoltert”, meint Zgubic.
Nun sieht er sich überraschend durch Nooke bestätigt. “Stehen Menschenrechtsprobleme wie die unsägliche Folterpraxis beim Staatspräsidenten ganz oben auf der Prioritätenliste? Wieso wird nicht stärker kritisiert, dass die Regierung alle internationalen Verpflichtungen eingeht, ohne sie dann auch konsequent umzusetzen? Wir merken, dass sich Brasilien beim Thema Menschenrechte von Europa entfernt”, erklärte Nooke kürzlich. Brasilien dürfe im Menschenrechtsbereich nicht abdriften.
Doch vielleicht ist dies längst passiert. Paulo Vannuchi, Leiter des Staatssekretariats für Menschenrechte in Brasilia, hatte in der Zeitung “Folha de São Paulo” betont, dass das brasilianische Strafgesetz die Todesstrafe zwar nicht vorsehe, dennoch aber täglich außergerichtliche Exekutionen stattfinden würden. Gemeinsame Werte? Pedro Ferreira, Anwalt bei der bischöflichen Gefangenenseelsorge, findet es bedrohlich, dass selbst nach offiziellen Angaben derzeit über 126.000 Häftlinge trotz verbüßter Strafe illegal weiter festgehalten werden.
Ehemalige Gegner der Diktatur (1964 bis 1985) weisen zudem auf die fatalen Folgen der nicht bewältigten Gewaltherrschaft hin. Nicht einmal die Öffnung der Geheimarchive aus der Zeit der Diktatur sei unter Lula veranlasst worden, kritisiert Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo. Die Straflosigkeit inspiriert seiner Meinung nach jene Staatsfunktionäre, die heute im Polizeiapparat und im Gefängnissystem “Folter und Ausrottung” betrieben. Mit leeren Worte kann man an diesen Zuständen wohl kaum etwas ändern.
Von Klaus Hart.
Der Autor ist Journalist und lebt in São Paulo.
Ausriß – drei ermordete Mädchen und ein Mann.
BRASILIEN
Die „Hölle auf Erden“
Revolten, Hungerstreiks und Aids bestimmen den Alltag in den völlig überfüllten brasilianischen Gefängnissen. Brasilien gilt zwar als die zehntgrößte Wirtschaftsnation, leistet sich aber Haftanstalten, die man eher in Ruanda oder Burundi vermuten würde. Eine im April verkündete Amnestie entspannte die Situation nicht.
Eine mittelalterlich anmutende Gefangenenzelle in Rios Stadtteil Realengo: Jeder der mehreren Dutzend Insassen hat laut Gesetz Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter – hier ist es nicht mal ein einziger. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil der Gefangenen auf feuchtem Boden liegt, schlafen die anderen in Hängematten, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern bei beißendem Fäkaliengeruch und nächtlichem Besuch von Ratten. Die psychische Spannung ist fast mit Händen greifbar. Neun von zehn Gefangenen haben Furunkel, in der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu 60 Grad. Dann fallen täglich etwa 20 Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt.
Um aus dieser Hölle herauszukommen und in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit bis zu umgerechnet 5.000 Mark. Es gibt brasilianische Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld sammeln, um dann die Begünstigten auszulosen. In Bangu kommen die notwendigen „Real“ von der Familie oder Verbrechersyndikaten – je unerträglicher die Hitze, desto höher die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Einmal am Tag gibt es schlechtes Essen; die Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt.
Folter ist üblich. Ein Anwalt beschreibt einen Fall von 1996: „Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene, unter anderem mit Elektroschocks. Alle wiesen Blutergüsse auf, wurden zudem zu sexuellen Handlungen gezwungen.“ Fast täglich werden Fälle zu Tode gefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt – die politisch Verantwortlichen bleiben meist passiv. Nur wenige Intellektuelle protestieren, die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Pervertieren statt resozialisieren
Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder „Human Rights Watch“ prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten an – und auch die Gefangenenseelsorge der Katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der „Pastoral Carceraria“ im Teilstaat Sao Paulo gegenüber dem ai-Journal: „Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier – niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen, läßt sie intellektuell, spirituell, moralisch und kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.“ Mauzeroll hört in Polizeiwachen und Gefängnissen sehr häufig den Ausspruch: „Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!“ Der Padre geht seit 1973 in die „Presidios“ – was er täglich sieht, sind Bilder wie aus Horrorfilmen: Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Häftlinge verfaulen buchstäblich in Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst kriminell, weil sie Kranke bewußt
nicht behandeln, sondern sterben lassen. Sie werden aber nie zur Rechenschaft gezogen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind, jedoch nicht eingreifen.
Das Gefängnispersonal verkauft Lebensmittel, die für Häftlinge bestimmt sind und ermöglicht Rauschgifthandel und -konsum hinter Gitterstäben. Ein Gefängnisdirektor: „Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.“
Erzwungenes Schweigen, Morddrohungen
Ein dunkles Kapitel ist auch die sexuelle Gewalt, von Aufsehern sogar gefördert. Mauzeroll zum ai-Journal: „Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken die Wärter ihn in bestimmte Massenzellen, damit er dort von 15 oder 20 Häftlingen vergewaltigt wird. Dies ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.“ Nach amtlichen Angaben infizierten sich bereits mehr als 20 Prozent aller Inhaftierten mit dem HIV-Virus – ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt.
Vitor Carreiro teilte in Rio de Janeiro jahrelang eine Zelle mit 47 Gefangenen. Er ist von Aids gezeichnet und sagt: „Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.“ Promiskuität ist der Alltag: José Ferreira da Silva, HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern – keiner benutzt Präservative.
Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu vielen „politisch korrekten“ Landsleuten nicht um unbequeme und unangenehme Wahrheiten. Er hat keine Probleme, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. „Wer über die Zustände redet und informiert, stirbt“, lautet eine andere Regel. Berufskiller erledigen das – Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: „Diese ist schuld an der Situation.“
Gemäß einer neuen Studie der Vereinten Nationen lebt heute fast die Hälfte der 150 Millionen Brasilianer in verhältnismäßig entwickelten Gebieten. „Wenn in Sao Paulo und Rio de Janeiro die Lage in den Gefängnissen bereits so schlimm ist“, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, „wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens sein?“
Amnestie nur Kosmetik
Die Rechtsanwältin Zoraide Fernandez weist darauf hin, daß Häftlinge nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang gefangengehalten werden. 1995 waren es allein in Rio mindestens 560.
Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso verkündete im April die, wie es offiziell hieß, größte Amnestie in der Geschichte des Landes: Etwa zehn Prozent der Gefangenen sollten freikommen. Wie die Gefängnisbehörden inzwischen einräumten, werden beispielsweise im Teilstaat Rio de Janeiro nur wenig mehr als ein Prozent amnestiert. Die 511 Gefängnisse bieten Platz für höchstens 60.000 Personen, sind aber nach jüngsten offiziellen Angaben mit 148.760 Häftlingen belegt – das sind 15 Prozent mehr als 1994. Notwendig, so hieß es, sei der Bau von 145 zusätzlichen Haftanstalten. Die Lage in der Metropole Sao Paulo ist den Angaben zufolge am dramatischsten. Eine Besserung ist nicht in Sicht: Per Haftbefehl suchte man allein 1996 rund 275.000 Straftäter.
Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent sind männlich und etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten, die meisten werden allerdings der Öffentlichkeit verschwiegen. Eine Ausnahme bildet lediglich der südliche, relativ hochentwickelte Teilstaat Rio Grande do Sul – nur dort soll es auch keine irregulär festgehaltenen Häftlinge geben.
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor: 1992 wurden im berüchtigten Gefängnis „Carandiru“ von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschossen. Die politisch Verantwortlichen und die direkt Beteiligten blieben bisher straffrei. In „Carandiru“ ereignete sich auch Ende Oktober wieder eine Revolte: 670 Gefangene nahmen 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Häftlinge versuchten währenddessen in einem Müllwagen zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Klaus Hart
Der Autor ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro
Führer einer Favela-Bewohnervereinigung ermordet – Ausriß.
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Ausriß – vier Köpfe, Rio de Janeiro.
„Die Lula-Regierung war bei den Menschenrechten eine Enttäuschung“(2009)
Tim Cahill, Brasilienexperte von Amnesty International, über fortdauernde Folter, Todesschwadronen, paramilitärische Milizen und Sklavenarbeit in Lateinamerikas größter Demokratie.
Paraisopolis heißt Paradies-Stadt – doch paradiesisch ist hier garnichts. Der Slum zählt zu den über 2000 in der reichsten südamerikanischen Megacity und grenzt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz-und Backsteinkaten rund 100000 Menschen in Moder, Abwässer-und Müllgestank hausen. Dabei gibt es an der fernen Peripherie weit grauenhaftere Slums. Auch für die Kirche ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, daß der von bewaffneten Gangstern gemanagte Drogenhandel in Paraisopolis nur dank der reichen Großkunden von nebenan so lukrativ funktioniert. Der junge schwarze Slumpriester Luciano Borges Basilio nimmt kein Blatt vor den Mund:“Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als die Polizei – oft sogar viel besser, während die Polizei desorganisiert ist.“ In Brasilien werden täglich mehrere Beamte ermordet. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisopolis einen Bauchschuß – die Beamten haben ja auch Familie und sind unter Streß und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen. Aber Willkür rechtfertigt das nicht.“ Anstatt jener kleinen Minderheit von Kriminellen das Handwerk zu legen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völlig unschuldigen Bewohnermehrheit, was weder die Kirche noch Amnesty International hinnimmt. Tim Cahill ist wiederholt vor Ort, spricht mit Zeugen. Sie berichten von Folterungen, ungerechtfertigtem Schußwaffengebrauch: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, wird ein neunmonatiges Baby in den Arm geschossen, eine Sechzehnjährige an den Brüsten verwundet.
Journal: Bewohner berichten, daß Elektroschocks zu den gängigsten polizeilichen Foltermethoden in Paraisopolis gehören. Die Beamten behandeln uns wie Tiere, lautet ein Vorwurf.
Cahill: Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier vor Ort sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen. Bei Folter-Anzeigen wird gewöhnlich garnicht ermittelt. Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Und ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie Wegwerf-Bevölkerung behandelt. Paraisopolis ist dafür ein Beispiel. Es fehlt die Verantwortung des Staates für diese Menschen. Öffentliche Sicherheit muß für alle Brasilianer garantiert werden – die armen Schichten darf man nicht einfach davon ausschließen.“
Journal: „Öffentliche Sicherheit“ ist in Brasilien vor allem Aufgabe der Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur. Weil Diktaturverbrecher, Folterer von einst nicht bestraft werden, fördert dies heutige Polizeigewalt und ermuntert die Folterer zum Weitermachen, argumentieren selbst frühere politische Gefangene.
Cahill: Das ist in der Tat ein zentraler Punkt – Straffreiheit in Bezug auf Vergangenes stärkt die heutige Politik der Straflosigkeit. Das wird weithin akzeptiert. Ich war in vielen Polizeiwachen und Gefängnissen Brasiliens, habe hohe Amtsträger des Sicherheitsapparats getroffen. Da fand ich immer Leute mit ganz direkter Beziehung zu den Diktaturverbrechen. Das Ausmaß der Gewalt, die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen im heutigen Brasilien sind Erbe der Diktaturvergangenheit. Amnesty macht Druck auf Brasilia, auf Staatschef Lula, die Diktaturverbrechen zu bestrafen und die Geheimarchive des Militärregimes endlich zu öffnen. Brasilien ist bei der Vergangenheitsbewältigung deutlich hinter den anderen lateinamerikanischen Staaten zurück. Das ist gravierend.
Journal: Die Lula-Regierung hatte der UNO, den Menschenrechtsorganisationen 2003, zu Beginn der ersten Amtszeit versprochen, die eigenen Gesetze und internationalen Abkommen einzuhalten. Doch nach wie vor werden in Brasilien sogar Menschen auf Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Hielt Brasilia denn Wort?
Cahill: Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Es gab große Versprechen, Pläne und Projekte, sogar einen konstruktiven Diskurs – doch die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Es fehlt der Regierung ganz klar politischer Wille. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert. Die paramilitärischen Milizen haben Macht, üben wirtschaftliche Kontrolle aus – daraus wird politische Macht, eine reale Bedrohung im heutigen Brasilien.“
Journal: In der Olympia-Stadt Rio de Janeiro hat der Staat mehrere Hangslums besetzt, gemäß überschwenglichen europäischen Presseberichten die Verbrecherkommandos vertrieben und die Lage der Bewohner deutlich verbessert. Sind das nicht gute Beispiele, die auf positive Änderungen hindeuten?
Cahill: Es handelt sich bei diesen Slums lediglich um Inseln, während im großen Rest der Stadt sich an der staatlichen Politik, an Diskriminierung und Polizeigewalt kein Deut ändert. Für uns heißt dies, vor Ort noch intensiver zu recherchieren und Menschenrechtsverletzungen permanent anzuprangern. Die Situation Brasiliens ist sehr komplex.
Journal: Hochrangige Staatsvertreter geißeln die Lage gelegentlich drastisch, was auf manchen entwaffnend wirkt. Laut Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, ähnelt Brasiliens Gefängnissystem nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, daß tagtäglich außergerichtliche Exekutionen und Blutbäder von Polizisten sowie Todesschwadronen verübt würden. Gravierende Menschenrechtsverletzungen seien Routine, alltäglich und allgemein verbreitet.
Tim Cahill: Dies zählt zu den unglaublichen Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen offen und klar an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Denn das Gefängnissystem wird eben einfach nicht reformiert, trotz der häufigen Versprechen. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat. Wenn die Regierung in Brasilia weltweit mehr Anerkennung und Respekt will, muß sie sich für die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung einsetzen, besonders der Unterprivilegierten. Was falsch läuft, haben wir bei unseren Recherchen in der Sao-Paulo-Favela Paraisopolis, bei den Gesprächen mit Tatzeugen deutlich ermittelt: Der Staat marginalisiert diese Menschen – und das seit Jahrzehnten. Innerhalb des Staatsapparats herrscht Einverständnis, die Polizeistrukturen nicht zu kontrollieren. Angesichts extremer Kriminalität läßt man den Sicherheitskräften die Freiheit, Menschenrechte einfach zu verletzen. Wichtig ist, beide Seiten zu sehen.
“Cities of Terror” – WOXX:
http://archiv.woxx.lu/0700-0799/700-709/703/703p5.pdf
http://www.ila-web.de/brasilientexte/inhalt.htm
Zeitungsfoto aus Rio, Ausriß: Ermordeter in Favela neben Ziege.
Zuenir Ventura rechts neben dem Alt-68-er Oskar Negt 2008 im Goethe-Institut von Sao Paulo
http://pt.wikipedia.org/wiki/Zuenir_Ventura
http://de.wikipedia.org/wiki/Oskar_Negt
Zuenir Ventura:”Man akzeptiert eine entwürdigende und absurde Realität mit gleicher Naturalität, wie diese Mädchen sich prostituieren und die Jungen das Töten und Foltern spielen. Es ist so, als ob diese soziale Tragödie Werk des Schicksals sei – ein Verhängnis, mit dem man sich abzufinden habe.”
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
Brasiliens Fotojournalismus – ermordete Journalisten:
Hintergrund von 1997 – veröffentlichte Texte in Lateinamerika-Nachrichten – hat sich seitdem an der Lage viel verändert?
Immer mehr Straßenkinder Brasiliens werden von der organisierten Kriminalität rekrutiert und landen damit in den Kreisläufen der täglichen Barbarei und Gewalt. Das „Missionsobjekt“ Straßenkind hat hierdurch neue Dimensionen erfahren, die bislang allerdings von den Straßenkinderprojekten im Ausland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Unser Autor Klaus Hart aus Rio de Janeiro schildert die wenig erfreuliche Entwicklug des Problems.
Bis zum entsetzlichen Candelaria-Massaker von 1993 (vgl. LN Nr. 231/232) gehörten die Meninos de Rua zum normalen Erscheinungsbild der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro. Ob in Copacabana, Ipanema oder in der City – immer zogen sie in Gruppen herum, bettelten, stahlen. Und schlimmer noch: Eine sichtbare Minderheit unter den Straßenkindern überfiel, terrorisierte regelrecht bevorzugt schwangere Frauen und alte Leute.
Im Stadtzentrum bin auch ich mehrfach von Straßenkindern verfolgt worden, flüchtete mich in Restaurants oder in von bewaffneten Pförtnern bewachte Hauseingänge. Wenn die Gruppen mich dennoch erwischten, waren eben Geld und teures Arbeitsgerät wie Sony-Recorder oder Kamera weg. Eine Bande ritzte mir vorm Wegrennen in Richtung Polizeikabine einmal Arm und Hand blutig. Aber das ist alles harmlos im Vergleich zu den Erlebnissen vieler Einheimischer. Eine brasilianische Bekannte fuhr mit dem Wagen die famose Avenida Atlantica entlang, ihr Kleinkind auf dem Rücksitz. An der Ampel wird das Auto von Straßenkindern umringt, eines schneidet ihrer Tochter die Kehle durch, sie verblutet. Einem Nordamerikaner, zum Arbeiten in Rio, schlägt eine Gruppe eine abgeschlagene Flasche ins Gesicht, einfach so, ohne Raubabsicht.
Derzeit muß man in Rios Kernbereichen Meninos de Rua allerdings fast mit der Lupe suchen. Statt der Tausenden von Anfang der 90er Jahre verlieren sich im Straßengewühl bestenfalls einige hundert. Will ich zur nächsten Metrostation, kommen mir gelegentlich ausgeraubte traumatisierte Frauen entgegen: „Gehen Sie nicht weiter, an der Ecke lauern drei Meninos mit Messern!“ Also laufe ich zurück, nehme am Stand ein Taxi, fahre an den Kids vorbei, höre vom Motorista: „Die da werden nicht alt, hinter denen sind schon die Kollegen her.“ Diskutieren sinnlos. Grundtenor an den Stehbars: Sofort umlegen, bevor die Blödsinn machen.
Straßenkinder-Experten wie Roberto Santos, Leiter der angesehenen Stiftung Sâo Martinho, bestätigen, daß die Gesellschaft, besonders die Mittel- und Oberschicht, auf Repression setzt und Gewalt gegen die Minderjährigen wie nie zuvor befürwortet. Gemäß einer neuen seriösen Umfrage sind rund 52 Prozent der BewohnerInnen von Rio generell für Lynchjustiz. Den Intellektuellen, ebenso wie den in-und ausländischen NGOs, gelang es nicht, einen Meinungsumschwung herbeizuführen – die brasilianische Gesellschaft ist neoliberaler, individualistischer und deutlich egoistischer geworden. Das früher bestehende Mitgefühl etwa der Mittelschicht mit den Armen hat spürbar abgenommem. Weiter gilt, was der inzwischen verstorbene Betinho konstatierte: Das Beseitigen von als störend empfundenen Minderjährigen wird von einem Großteil der BrasilianerInnen hingenommen, toleriert, und im Sinne einer geistigen Komplizenschaft mit den Mördern sogar befürwortet.
Anti-NGO-Kampagne
Inzwischen hat sich das Problemfeld verändert. Heute über gute oder schlechte Straßenkinderprojekte, über die Unterschlagung von Spendengeldern und über Kinderelend als Bereicherungsquelle für unehrliche NGOs zu debattieren, wäre müßig. Regierungsunabhängige Organisationen, die sich direkt den Straßenkindern widmen, gibt es kaum noch. Die meisten sind schlichtweg eingegangen, seit das Ausland weit weniger Spenden überweist und die Regierung nach einer geschickt betriebenen Anti-NGO-Kampagne Gelder stoppte. Cristina Leonardo, die couragierte Leiterin des Centro Brasileiro de Defesa dos Direitos da Crianca e do Adolescente (Brasilianisches Zentrum für die Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) und Verteidigerin von Opfern und Überlebenden des Candelaria-Massakers, wie auch Roberto Santos bestreiten vehement, daß die Regierung etwa durch gute Präventivprojekte die Zahl der Straßenkinder gesenkt habe. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso sei die Situation gerade im Sozialbereich, ob Bildung oder Gesundheit, so schlecht wie noch nie. Ausländische Unterstützergruppen, so ist immer wieder zu hören, hätten eine völlig falsche, oft sozialromantische Sicht der Dinge. Größtenteils werde übersehen, was sich bereits vor dem Candelaria-Massaker 1993 deutlich abzeichnete: Das organisierte Verbrechen offeriert den Kindern und Jugendlichen vergleichsweise gutbezahlte Jobs, bei keineswegs geringerem, sondern weit höherem Lebensrisiko, doch für umgerechnet bis zu tausend Mark die Woche. In sämtlichen Slums von Rio de Janeiro, auch dies ist inzwischen ein Gemeinplatz, funktionieren selbst die vom Ausland finanzierten Hilfsprojekte nur, wenn das organisierte Verbrechen seine Zustimmung gibt. In Europa denken immer noch viele, Kinder und Jugendliche der Unterschicht würden mehrheitlich von der Militärpolizei erschossen. Seriöse Untersuchungen stellten jedoch bereits 1993 richtig, daß der große „Exterminador“ eben das organisierte Verbrechen ist. Keiner weiß das besser als die mit Cristina Leonardo kooperierende Künstlerin Yvonne Bezerra de Mello. Kinder, die nicht richtig mitziehen, etwa drogensüchtig werden und statt Profiten Verluste bringen, werden kurzerhand eliminiert. Die Leichen, so Yvonne Bezerra de Mello, verschwinden meistens. Die großen Bosse, sagt sie, wohnen natürlich nicht im Slum, sondern in den Nobelvierteln Rios. In diesen Vierteln der Geld- und Politikerelite werden derzeit Drogen verbraucht wie nie zuvor – daher die enorme Nachfrage, die den Straßenkindern Jobs verschafft.
Das beste Beispiel für die jüngeren Entwicklungen sind die Candelaria-Überlebenden: Der Trafico, wie die auf Drogen-und Waffenhandel, Entführungen und Rauberüberfälle spezialisierten Gangsterkommandos genannt werden, hat sie adoptiert. Die Leute vom organisierten Verbrechen, so Roberto Santos, zeigten sich in der Tat weitaus besser organisiert und professioneller als der Staat und die NGOs. Kinder und Jugendliche brauchen die rund 800 Slums von Rio nicht mehr zu verlassen. Die Kleinsten verdienen als Fogueteiro (Leuchtrakete) über fünfzig Mark pro Tag. Sie warnen die schwerbewaffneten Gangster mittels Feuerwerksraketen vor herannahenden gegnerischen Verbrechermilizen oder der Polizei. Fünfjährige transportieren als sogenannte Aviôes, Flugzeuge, Drogen in der Stadt, und bringen sie auch zu den privaten Bestellern der Mittel-und Oberschicht. Sieben- oder Achtjährige haben für gewöhnlich schon Pistole oder Revolver im Hosenbund. Als Soldados schließlich gehören sie zum martialischsten Teil der nach militärischem Vorbild streng hierarchisch gegliederten wichtigsten Syndikate Comando Vermelho (Rotes Kommando) und Terceiro Comando (Drittes Komando). Soldados kontrollieren die Ein- und Ausgänge der Steilhangslums. Sie schießen auf Verdächtige, nehmen an Gefechten und Massakern teil, führen Mordbefehle aus und sind bei Entführungen und Banküberfällen dabei.
Kultur feudalistisch-machistischer Werte
Mit Reinaldo Guarany, militanter Diktaturgegner und einer der Entführer des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben im Jahre 1970, fahre ich eine enge steile Straße des malerisch wirkenden Bergstadtteils Santa Teresa hinunter. An der ersten Biegung richtet am Favela-Eingang ein nur mit Shorts und Sandalen bekleideter Zwölfjähriger seine verchromte MP auf uns. Er bräuchte nur einmal durchzuziehen, und alle im Wagen wären tot. Das passiert auch gelegentlich – im Drogenrausch sehen die Soldados in jedem einen Gegner, erschießen sogar die eigene Freundin oder Frau. Guaranys Kommentar: „Noch vor zwei Jahren habe ich hier viele von den Jungs, die mir heute mit MPs begegnen, Murmeln spielen sehen – sie wurden zu Soldaten des organisierten Verbrechens, prahlen damit herum und rühmen die Banditen als ihre Helden.“
Guarany sieht es nicht anders als Anwältin Cristina Leonardo: „Daß heute die große Mehrheit der Meninos de Rua beim Trafico ist, bedeutet, daß Staat und Regierung sie im Stich ließen und die Sozialprogramme einschränkten. Wenn ein Junge mit acht Jahren schon mit einer nordamerikanischen Heeres-MP umzugehen weiß, wird es kompliziert. Darüber spricht niemand, aber genau das müßte das Hauptthema sein!“ Die Drogenprobleme und das Ausmaß des organisierten Verbrechens herunterzuspielen, ist für sie „scheinheilig“.
Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, sieht inzwischen in den Slums eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte fest installiert – hingenommen von den Autoritäten des Staates. Denn die Herrschaft des organisierten Verbrechens über Rios Slums verhindert auf perfide Weise, daß deren BewohnerInnen politisch für ihre Rechte kämpfen. Immer wieder werden engagierte BürgerrechtlerInnen, die Selbsthilfegruppen in den Slums leiten und sich dem Normendiktat der Gangster nicht beugen wollen, zur Einschüchterung aller ermordet. Auch von ehemaligen, vom Trafico rekrutierten Straßenkinder.
So wollte im September eine 83-jährige Frau nicht mehr akzeptieren, daß Gangsterkommandos bei Gefahr stets ihr winziges Slum-Grundstück passierten. Sie diskutierte mit den Banditen. Eines Nachts wurde sie deshalb von einer Gruppe grausam ermordet. Ein brasilianischer Bekannter wohnt unglücklicherweise nur wenige Schritte von einem Kommando-Treffpunkt entfernt. Er muß mitansehen, wie dort Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefoltert, gekreuzigt, mit Schüssen durchsiebt werden. Mehrfach feuerten Jugendliche unter Drogeneinfluß in seine Haustür, und hätten die zwei kleinen Söhne treffen können. Die Kids tragen übrigens bevorzugt deutsche G-3 – und schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre. Weil diese eine besonders große Reichweite haben, werden immer mehr Stadtbewohner durch verirrte Kugeln getötet oder verwundet.
In Rio ist die Gewöhnung an diese tägliche Barbarei die Regel – in Deutschland dagegen, so scheint es, haben nur wenige die Entwicklungen der letzten Jahre und deren politische Dimension zur Kenntnis genommen. Andere wollen sie nicht wahrnehmen. Sie müßten sich sonst von ihren liebgewordenen Brasilien-Klischees trennen.
In einem 17stündigen Prozeß wurde der Führer der brasilianischen Landlosenbewegung MST José Rainha zu 26 Jahren und sechs Monaten Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord verurteilt. Mit vier zu drei Stimmen befand die Jury den 36jährigen für schuldig, obwohl der zur Tatzeit 1000 Kilometer vom Tatort entfernt war.
Lange vor dem Prozeß gegen den populärsten, charismatischsten Landlosenführer kündigte amnesty international an, daß es im Verfahren nicht mit rechten Dingen zugehen wird. Aber die bösen Erwartungen wurden noch übertroffen. Der 36jährige José Rainha erhielt im Juni 26 Jahre und sechs Monate Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord, der 1989 im Bundesstaat Espírito Santo begangen wurde. Amnesty international protestierte umgehend und erklärte Rainha für unschuldig: Das Urteil erinnere an Diktaturzeiten. Bleibe es auch beim zweiten Verfahren im September bei diesem Strafmaß, werde er zum politischen Gefangenen erklärt und ai rund um den Erdball für seine Freilassung mobilisieren. Nicht einmal die juristischen Mindestregeln seien im Prozeß eingehalten worden, kritisierte ai: Weder durch Beweise noch durch Zeugenaussagen konnte bestätigt werden, daß Rainha am Tatort war. Im Gegenteil gibt es Nachweise, daß er sich tausend Kilometer entfernt aufgehalten hat. Mit dem Gerichtsverfahren sollte viel mehr die Landlosenbewegung MST eingeschüchtert werden, die zur zweitwichtigsten Stimme der Opposition geworden ist.
Auch die katholische Kirche Brasiliens, in der Rainha seine politische Laufbahn begann, steht weiterhin zu ihm und unterstrich, daß den 922 Morden an BauerngewerkschaftlerInnen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Landlosen, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen von 1990 bis 1995 nur 47 Gerichtsverfahren und nur fünf verurteilte Täter gegenüberstehen, von denen zwei aus dem Gefängnis flohen.
Im Visier: Das MST
Daß Rainha noch lebt, grenzt fast an ein Wunder: Seit 1987 verfolgt ihn die berüchtigte Todesschwadron Escuderie Le Cocq seines Heimatstaates Espírito Santo, in dem er als Landarbeitersohn aufwuchs. Rainha entging Hinterhalten, überlebte Mordanschläge und konnte nur einmal durch Schüsse verwundet werden. Zwei seiner engen Freunde, Pfarrer Gabriel Maire und Gewerkschaftsführer Edson Ramos, dagegen starben 1988 im Kugelhagel der Pistoleros.
Ein Jahr später kam es zu einem Schußwechsel zwischen einem Großgrundbesitzer, seinem ihn begleitenden Militärpolizisten und einer Gruppe von Landlosen. “In Wahrheit verteidigten sich die Sem Terra, die Landlosen, gegen jenen Fazendero, der ein Blutbad anrichten wollte.” meint Anwalt Osmar Barcellos. Zeugen wollen Rainha bei der Schießerei gesehen haben, beschreiben ihn als ziemlich dick, mit rundem Gesicht und kastanienfarbigen Haaren. Rainha ist jedoch geradezu dürre, hat ein längliches Gesicht und schwarze Haare. Und vor allem wurde er zur Tatzeit nicht nur von zwei Lokalparlamentariern, sondern auch einem Obersten der Militärpolizei des nordöstlichen Bundesstaates Ceará gesehen. Beim Prozeß wurden aber weder Zeugen der Anklage noch der Verteidigung angehört. Die laut Nachrichtenmagazin Veja gravierendste Verurteilung einer brasilianischen Führungspersönlichkeit seit der Rückkehr zur Demokratie wird deshalb von zahlreichen Juristen und Kriminalisten des Landes als schlechter Witz bezeichnet, die Strafe als “absurd”. Auch das Pastoralbüro für Landangelegenheiten der Bischofskonferenz kritisierte, daß mit dem Schauprozeß nicht Rainha, sondern die gesamte Landlosenbewegung getroffen werden sollte. In vielen Medien dagegen wurde das Urteil einseitig dargestellt und sogar begrüßt: das MST also doch die Bande von Mördern, gewalttätigen Gesellen und Gesetzesbrechern, wie die mächtigen Großgrundbesitzer immer behaupten?
Käme Rainha tatsächlich hinter Gitter, wäre das für das MST ein herber Verlust. Niemand sonst hat in Brasilien so viele Besetzungen brachliegender Latifundien mit durchgeführt, hat so große Erfahrungen und kennt Brasilien und die Landlosenbasis so gut. An die zwanzig Prozesse wurden gegen Rainha geführt, etwa 50 Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet – ohne Erfolg. Hinter Gittern saß er bereits mehrfach, internationale Proteste führten jedoch stets zu seiner Freilassung.
Ist Rainha nur eine Art MST-Profi-Funktionär? Er besitzt vier Hektar im Hinterland des Bundesstaates Sâo Paulo, pflanzt Paprika, Mais, Tomaten und Melonen, und gehört zu einer Associaçao comunitaria mit 16 Familien. Von der brasilianischen Zeitschrift Imprensa nach seiner Schulbildung gefragt, antwortete er: “Ich war nie in der Schule. Lesen und Schreiben habe ich mir mit fünfzehn zuhause beigebracht. Wir waren eben verdammt arm, meine Brüder arbeiteten auf dem Feld, um zu Überleben. … Ich lese gerne. Von Frei Betto kenne ich fast alle Bücher – der ist mein Freund.”
Unter dem Druck von Gerichtsmedizinern, Kriminalisten und der Öffentlichkeit sieht sich Brasiliens Justiz gezwungen, den Mord an Paulo Cesar Farias, Symbolfigur für Korruption in Politik und Wirtschaft, erneut zu untersuchen. Die bislang verbreitete offizielle Tatversion ist nicht mehr haltbar.
Mit der finanziellen Unterstützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias, im Volksmund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsidentschaftswahlen. Aber auch nach der Wahl versorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch seines Amtes enthoben wurde, mit reichlich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Beweisen” 1994 in einem offensichtlich politisch motivierten Korruptionsprozeß freigesprochen, lebt Collor heute in Miami. PC bekam sieben Jahre, die er größtenteils höchst komfortabel im offenen Strafvollzug von Maceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.
PCs Comeback
Als ihn 1996 in seiner Wochenendvilla im Nordoststaat Alagoas der tödliche Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein politisches Comeback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zuständige Polizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahlköpfig-charmante Tangotänzer sei wegen Beziehungsproblemen von seiner Freundin Suzana Marcolino erschossen worden, die anschließend an seiner Seite Selbstmord begangen habe. – Spott und Ironie war der Tenor von Brasiliens Leitartikeln. Als Tatmotiv wurde allgemein Queima de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenommen, da PC exzellenter Kenner der brasilianischen Korruptionsmechanismen war und strenggehütete Geheimnisse der jüngeren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemeinen Verblüffung bestätigte zwei Monate später der bis dahin landesweit hochangesehene Gerichtsmediziner Badan Palhares nach vor Ort angestellten Untersuchungen die Version des Polizeichefs. Für die Regierung schien der Fall damit erledigt.
Von Anfang an hatte der alagoanische Gerichtsmediziner und Militärpolizeioberst George Sanguinette mit einem hohen Maß an Zivilcourage öffentlich auf Ungereimtheiten bei dem Mord hingewiesen. Seine ermittelnden Kollegen würden von “oben” gewaltig unter Druck gesetzt, bei dem Verbrechen handele es sich um einen Doppelmord. Sanguinette erhielt daraufhin Morddrohungen und wurde wegen seiner Aufmüpfigeit zeitweise unter Hausarrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht einschüchtern, wies überzeugend grobe Ermittlungsfehler nach, und veröffentlichte darüber sogar ein Buch. Die Untersuchungen wurden schließlich wiederaufgenommen. Die jüngste definitive Expertise vom Mai macht die bisherige offizielle Version zu Makulatur. Suzana Marcolino konnte nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschriebenen Weise umgebracht haben — gemäß der zuständigen Staatsanwältin weisen die Indizien nunmehr auf Doppelmord hin. Als PC und dessen Freundin bereits tot waren, wurden nachweislich Telefongespräche mit der Wochenendvilla geführt. Die Leichen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.
Zivilcourage eines Gerichtsmediziners
Laut Sanguinetti steht die Mafia von Alagoas hinter der Tat. Mittlerweile wurden auch Verbindungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waffenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC studierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die italienische Polizei vier Konten des Ermordeten ausmachen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar deponiert: Ein Bruchteil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschätzung nach säßen bei strengeren Gesetzen gegen Korruption im Wahlprozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bauunternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Gittern. Und er muß es wohl am besten wissen.
KASTEN
Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?
Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich vielverlegte brasilianische Romancier, staunte nicht schlecht, als er bei der Premiere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaikfußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Hakenkreuz nach dem anderen kunstvoll aufgereiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von einem Schauspieler erworben und in ein Theater umgewandelt worden war, hatte niemand Anstoß an der auch vom angrenzenden öffentlichen Platz deutlich erkennbaren Hakenkreuzornamentik genommen.
Obwohl in den brasilianischen Zeitungen häufig über Hakenkreuzschmierereien in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie über die entsprechenden Proteste jüdischer Organisationen berichtet wird, verkaufen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nachproduzierte Metall-Erinnerungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ostmark, Pfingsten 1933 in Regensburg”, darauf das Hakenkreuz unter’m Reichsadler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vornamen Hitler – die Eltern waren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Cantalice läßt einen Parlamentsabgeordneten wegen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt revoltieren, behält Polizeichef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhandlungen über Geiselfreilassungen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfahren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vornahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jüdischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbüchern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechender Proteste. Vergangenes Jahr hat erstmals auch die jüdische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf verurteilt, daß sogar im wichtigsten brasilianischen Nachschlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wucherer” definiert bzw. charakterisiert wird.
Der Präsident will wiedergewählt werden. Die entsprechende Verfassungsänderung kam Ende Januar nur mittels Stimmenkauf und andere Machenschaften durchs Parlament – sagten damals Kirche, Opposition und Medien. Doch niemand konnte es beweisen. Jetzt liegen Gesprächsmitschnitte vor, denen zufolge Cardosos rechte Hand, Kommunikationsminister Sergio Motta, den Stimmenkauf veranlaßte. Eine unbekannte Zahl von Abgeordneten erhielt demnach jeweils umgerechnet an die 300.000 DM in bar. Cardoso war noch nie so in der Bredouille.
Was Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Regierungsallianz zählende Kongreßabgeordnete erläutern klar und unzweideutig eine großangelegte Stimmenkaufoperation. Cardosos Intimfreund Sergio Motta von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gouverneure der Teilstaaten Acre und Amazonas umgerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier ausgezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wiederwahl-Novelle votierten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung allergrößte Bedeutung beigemessen worden.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeordneten, die die Verfassungsänderung stets öffentlich ablehnten, dann doch der Novelle zugestimmt. In den abgedruckten Gesprächsmitschnitten werden fünf bestochene Deputados aus Acre namentlich genannt, doch weit mehr sollen Summen zwischen 200.000 und 300.000 Reais erhalten haben. Diese bezeichen die Darstellungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Partei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld erhielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig angesehen, die Mitschnitte somit als authentisch betrachtet. Warum nur diese beiden und nicht die anderen Deputados – die zwei Gouverneure und der Minister?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gegebene Antwort: Entläßt Cardoso Minister Motta, wie sogar die PFL-Spitze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Collor-Impeachment von 1992.
Kurse der Stimmenbörse
Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, erhob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Regierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kongreßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kongreßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf einer Stimmenbörse. Am Morgen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais gehandelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung passieren würde. Einige Parlamentarier verlangten sogar 300.000 Reais. Kurz vor der Abstimmung glaubte die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- beziehungsweise verkaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verhindert, die ihr hätten gefährlich werden können. Zwar bekam die Opposition die nötigen Unterschriften der Abgeordneten zusammen, ohne die ein Ausschuß nicht gebildet werden kann. PFL und PSDB entsandten jedoch nicht die vorgeschriebenen Repräsentanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokratisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Gesprächsmitschnitte hatte die Opposition die Unterschriftenliste rasch komplett – auf Anweisung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten lassen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskonferenz CNBB hat den Megaescândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffentlichtes CNBB-Dokument, in dem die Regierung der aktiven Korruption beschuldigt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlnovelle heißt es, die Regierung besorge sich bei für sie interessanten Vorlagen die nötigen Stimmen ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Untersuchungen und Zeugenaussagen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf verwickelt. Im archaischen Nordosten, so Anwälte gegenüber den Lateinamerika Nachrichten, sei allgemein bekannt, daß der deutschstämmige PFL-Chef Jorge Bornhausen mit prallgefülltem Geldkoffer herumreise, Politiker besteche und den Stimmenkauf organisiere. Bornhausen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Partei Arena. Cardosos Vize Marco Maciel gehörte ebenfalls zur Arena und zählte zu den aktivsten Unterstützern der Foltergeneräle.
Alte Kameraden
Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch abgesetzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Folha de Sâo Paulo die Mitschnitte erhielt, hat inzwischen betont, weitere Tonbänder zu besitzen, auf denen noch mehr Personen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanterweise vor der Veröffentlichung der Mitschnitte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Veja, sie seien überzeugt davon, daß der PFL-Gouverneur von Amazonas mit der Absicht des Stimmenkaufs nach Brasilia gekommen sei. Mit Koffern voll Geld sei der Gouverneur in den Wiederwahl-Prozeß hineingegangen. Warum stellte die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Meinungsumfrage führt die Popularitätskurve des Staatschefs nach langer Stabilität erstmals deutlich nach unten. Brasiliens Börsen reagierten auf die Veröffentlichung der ersten, brisanten Mitschnitte in der Folha am 13. Mai sofort mit Kursabfall. Die Echtheit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Jene zwei Abgeordnete, die den Wortlaut des Abdrucks bestritten, stehen bös’ da. Ganz zu schweigen von den anderen Verwickelten.
Sie hatten angenommen es sei nur ein Bettler, verteidigten sich die fünf jungen Täter, die in Brasilia das schlafende Oberhaupt der Pataxó-Indianer Galdino Jesus dos Santos anzündeten. Der Fall erregte gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil es sich um einen Indigena handelte, reiht sich jedoch ein in die zunehmende Gewalt gegen Wohnungslose. Die Täter kommen meist aus der Mittel- und Oberschicht.
Die Avenida Rio Branco, einstige Prachtstraße Rio de Janeiros, bietet nachts ein deprimierendes Bild. Weil seit 1995 infolge von neoliberalen Regierungsprogrammen die Arbeitslosigkeit steil anstieg und Sozialeinrichtungen schlossen, liegen so viele Obdachlose, Bettler, psychisch Kranke und Straßenkinder wie selten zuvor aufgereiht nebeneinander auf dem Bürgersteig; nicht wenige nutzen als Unterlage oder zum Zudecken lediglich Zeitungspapier oder Pappe. Neuerdings hat ein Großteil von ihnen Angst, Opfer jener Brandattacken zu werden, die sich auch in Sâo Paulo und selbst in der Hauptstadt Brasilia häufen: Nur Schritte von der Avenida Rio Branco entfernt, übergoß vormittags eine gutgekleidete Frau einen sitzenden Bettler mit reichlich Alkohol, warf zynisch lachend ein brennendes Streichholz auf ihn. Und verschwand im Menschengewühl, während der Mann die Flammen zu ersticken suchte. Dreißig Prozent der Haut verbrannten, derzeit liegt er in einem öffentlichen Hospital der Sieben-Millionen-Stadt, das pro Monat mindestens zwei wohnungslose Brandopfer behandelt. Oft kommt indessen jede Hilfe zu spät, wie die fast täglich veröffentlichten Fotos von verkohlten Leichen beweisen.
Ivan Bertanha, Leiter einer Hospitalabteilung für Verbrennungen in Sâo Paulo, betont, daß die Eingelieferten fast nie gerichtsverwertbare Angaben liefern können: “Sie sagen, daß sie in Flammen stehend aufgewacht sind und keine Verdächtigen gesehen haben.” Pataxó-Häuptling Jesus dos Santos verbrannte in Brasilia lebendig, nachdem nicht weniger als zwei Liter Alkohol über ihn ausgegossen worden waren. Die inzwischen gefaßten fünf Täter aus Elitefamilien verteidigten mit dem Argument, sie hätten ihn “nur” für einen Bettler gehalten. Für regierungskritische Menschenrechtler und Soziologen spricht dieser Satz Bände. Herbert de Souza Betinho, Führer der nationalen Kampagne gegen Hunger und für Bürgerrechte, nennt das Handeln der jungen Männer einen Hinweis “auf den Grad der Degenerierung in bestimmten höheren Schichten der brasilianischen Gesellschaft.” Helio Bicudo, enger Mitarbeiter des Kardinals von Sâo Paulo und Kongreßabgeordneter der Arbeiterpartei PT, konstatiert, die brasilianische Gesellschaft entwürdige die Armen und banalisiere das Leben. Der angesehene Sozialwissenschaftler und Therapeut Jurandir Freire Costa bringt sogar die Globalisierung mit ins Spiel: Junge Männer, wie jene fünf von Brasilia, kennen die reiche “Erste Welt” sehr gut und glauben, eher per Zufall in Brasilien zu leben. Widerwillig sind sie dort mit einer Mehrheit von “Häßlichen, Armen, Zahnlosen und Nicht-Weißen” konfrontiert, analysiert Costa weiter. Eine Art von Umgang mit dieser Realität sei, sie nicht wahrzunehmen, eine andere, diese sogar physisch zu eliminieren. “Wir reden viel über die Modernisierung Brasiliens, doch wenig über die Befriedung der Gesellschaft”, sagt Oscar Vieira, Generalsekretär des UN-Lateinamerika-Instituts und weist auf die Straffreiheit hin, von der besonders die High Society profitiert. Gemäß neuesten UNO-Angaben werden in Brasilien mehr Menschen durch Feuerwaffen getötet als in jedem anderen nicht durch Krieg gezeichneten Land. In Sâo Paulo kann die Polizei bestenfalls in zwanzig Prozent der Fälle die Täter identifizieren, was nicht bedeutet, daß diese auch verhaftet werden.
Der neue Sport der Besserbetuchten
Inzwischen wurden sehr unvollständige Angaben über die Anzahl wohnungsloser Brandopfer veröffentlicht. Allein in der Hauptstadt Brasilia sind seit 1988 mindestens 29 Bettler angezündet worden. In Sâo Paulo und Rio sind mehrere Wohnungslose pro Monat betroffen. Brandattacken sind jedoch nicht alles: So gehört es in den genannten drei Städten zum makabren Sport Besserbetuchter, etwa nach der Disco vom Wagen aus auf schlafende Wohnungslose zu schießen. Auch ein Polizeioffizier Rios pflegte, gerichtlichen Zeugenaussagen von 1994 zufolge, seine Waffen nachts an Bettlern zu testen.
Schließlich wurden 1990 in der Stadt Matupá drei arbeitslose Landarbeiter, die versucht hatten, eine Fazenda zu überfallen, in Anwesenheit von Polizisten und einem Politiker auf offener Straße lebendig verbrannt: das von einem Amateur gedrehte Video der Untat übergab die katholische Kirche internationalen Menschenrechtsorganisationen. 22 Personen wurden zwar angeklagt – zu einer Bestrafung ist es aber bis heute nicht gekommen.
Wegen des spektakulären Brandanschlags auf Galdino Jesus dos Santos interessiert sich die brasilianische Öffentlichkeit auf einmal für das Leben der Pataxó. Nach Angaben der Kirche wurden in den letzten Jahren in Südbahia 24 Pataxó-Indios von Pistoleros der Großgrundbesitzer oder diesen selbst erschossen, 47 überlebten Mordversuche, 48 Indios starben wegen unterlassener Hilfeleistung.
Ein Großteil Südbahias war ursprünglich Pataxó-Land. Doch vor und während der Militärdiktatur legten Latifundistas im Stammesgebiet Kakaofarmen an, von denen auch große internationale Schokoladenmarken ihren Rohstoff beziehen. Vor Gericht streiten die Pataxó seit 15 Jahren um die Rückgabe von etwa 36.000 Hektar – 788 Hektar waren ihnen zwar von der Justiz zugesprochen, de facto aber nie übergeben worden. Der Stamm nutzt jetzt die Gunst der Stunde: Zur Beerdigung von Häuptling Jesus dos Santos kamen TV-Teams, Presse und sogar der Chef der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI, Julio Geiger. Nach der Beisetzung durften weder er noch die Journalisten das Reservat verlassen, vielmehr wurden sie gezwungen, die Pataxó beim Besetzen von vier benachbarten Kakaofarmen zu begleiten. Umringt von Indios mit Feder-Kokarden, Wurfspiessen, Pfeil und Bogen, mußte Geiger grimmigen Blickes als erster das aufgebrochene Farmtor jenes Großgrundbesitzers durchschreiten, der die Pataxó am meisten terrorisiert – während diese aufpaßten, daß die Szene für die TV-Abendnachrichten auch ordentlich gefilmt wurde. Erst nachdem das Gebiet ohne Gewalt und Zwischenfälle besetzt worden war, ließen sie den FUNAI-Chef und den Medientroß von dannen ziehen.
Die Aufnahmen gehen um die Welt: Polizisten errichten eine Straßensperre und terrorisieren vorbeikommende PassantInnen. Niemand wehrt sich: aus Angst, erschossen zu werden. Der Präsident ist international entrüstet und die heimischen Intellektuellen schweigen.
Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadistischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Strassensperre zu errichten und zufällig vorbeikommende BewohnerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blutig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort Sozial- und Menschenrechtsarbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten absolut normal und alltäglich ist. Der jüngste Fall von Polizeiterror erregt indessen enormes Aufsehen, weil jemand gut versteckt tagelang alles filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilianischen, sondern auch im nordamerikanischen, europäischen und asiatischen Fernsehen gezeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Padres protestieren vehement, stellen nicht anders als amnesty international (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greueltaten nicht überraschen. In ganz Brasilien würden die Menschenrechte von der Militärpolizei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unterprivilegierten Schichten, Anzeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies exemplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mitglieder einer Todesschwadron, die in jüngster Zeit mindestens dreizehn Menschen ermordet hat. Fünf Beamte standen bereits wegen acht Morden sowie Mordversuchen und schwerer Körperverletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Entrüstung im Ausland wurden inzwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Regierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.
Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung
Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien geschürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesellschaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibrutalität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbrechensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinamerikas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen SlumbewohnerInnen schlichtweg ignorierten. In Brasilien, so ai auf Anfrage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerechtfertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal überfallen und dabei zwei Gäste erschossen zu haben. Glücklicherweise fand man eher durch Zufall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.
“Beifall” für Todesschwadrone
Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blutbäder, sowie andere Aktionen der Todesschwadronen von sehr vielen BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Jurandir Freire Costa, Therapeut und Direktor des Instituts für Sozialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Oberschicht, so Costa, spreche SlumbewohnerInnen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und reagiere daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Betto, enger Mitarbeiter von Kardinal Arns, teilt den Standpunkt von Costa, zählt den Sozialwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadronen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Gespräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens protestierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso gegen all diese Greueltaten und verlangten energische Maßnahmen. Deren brasilianische KollegInnen duldeten indessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gravierende Verletzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Lateinamerikas, seien daher mitschuldig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektuellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffentlichen Meinung genössen, würden von Brasilia mit Posten, Positionen und Geldern begünstigt. Oder klarer ausgedrückt: korrumpiert. Der Theologe erinnerte auch daran, daß viele Intellektuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schriftsteller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filmemacher wie Héctor Babenco sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos ausgesprochen hatten. Positive Ausnahme: Chico Buarque. “Daß all diese Personen sich heute passiv verhalten”, so Frei Betto weiter, “wird von den Intellektuellen Europas natürlich bemerkt. Warum protestieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Brasilien nicht – wie steht es daher um deren Seriosität?” Sie sei nicht vorhanden, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Geisteswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Carandiru-Gefängnis Sâo Paulos eingekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht gestellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich angeprangert hatte. Im selben Jahr erschossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru mindestens 111 Häftlinge.
Zum Lärm um das Amateurvideo meint Frei Betto, das brasilianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall doppelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Firmenfilialen wird von einem Gouverneur und engem Vertrauten aus des Staatschefs Sozialdemokratischer Partei PSDB regiert. Gleiches trifft auf den politisch Hauptverantwortlichen des Landlosenmassakers von 1996 im Amazonasbundesstaat Pará zu – und auch auf den Gouverneur Rio de Janeiros, wo ein Blutbad an Minderjährigen dem anderen folgt.
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
In der größten Demokratie Lateinamerikas gehören die berüchtigten “Esquadrôes da Morte” auch über zehn Jahre nach Diktaturende zum Alltag. Sie ermorden Kinder, Jugendliche, Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner. Unter der Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Fernando Henrique Cardoso hat laut ai die Gewalt stark zugenommen.
An einem Februarnachmittag geschieht in Rio de Janeiros Slumgürtel Baixada Fluminense erneut, was viele in der Ersten Welt für unvorstellbar, unmöglich halten: Sechs aufgeweckte Jugendliche zwischen fünfzehn und siebzehn springen auf einen Linienbus auf und machen sich zweier “Vergehen” schuldig: Um nicht bezahlen zu müssen, passieren sie nicht das Drehkreuz des Buskassierers sondern bleiben, wie es täglich unzählige Schüler und Arbeitslose tun, auf den hintersten Bänken, lärmen, trommeln Disco-Rhythmen. Dem Kassierer wird es zu bunt. Er fordert zwei bewaffnete Sicherheitsleute der Busgesellschaft auf, die Jungen zum Schweigen zu bringen. Der Fahrer hält an, die sechs werden mit vorgehaltener Pistole zum Aussteigen gezwungen, müssen sich in einer Reihe auf die Erde knien. Dann werden sie kaltblütig mit Kopfschüssen außergerichtlich exekutiert, wie es ai und andere Menschenrechtsorganisationen stets in Untersuchungsberichten nennen. Die Mörder unterziehen sich, wie üblich, nicht der Mühe, die Toten zu verstecken oder zu verscharren. Ein Jugendlicher überlebte die Schüsse noch eine halbe Stunde, hätte gerettet werden können. Doch niemand der vielen herbeigelaufenen Neugierigen rührte aus Angst vor Rache eine Hand: Die Killer hatten es verboten, keiner der Gruppe sollte davonkommen.
Schlag für Rios Olympia-Bewerbung
Bereits in den 80er Jahren war die Baixeda Fluminense von den Vereinten Nationen als gefährlichste Stadtzone der Welt eingestuft worden – bis heute werden hier Morde selten aufgeklärt. Gemäß einer neuen Untersuchung sahen über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner schon einen Mord.
Auch diese Bluttat wäre gemäß jüngster Praxis von Öffentlichkeit und Medien übergangen worden, wenn nicht das Internationale Olympische Komitee gerade über die Kandidatur der Sieben-Millionen-Metropole am Zuckerhut für die Spiele 2004 entscheiden würde. In weltweit verbreiteten Imagekampagnen hatten Brasiliens Autoritäten für Rio getrommelt und stets argumentiert, daß sich Gewalttaten doch schließlich heute in allen großen Städten ereigneten. Die Nervosität der Politiker war nach dem Massaker groß. Anders als bei vorangegangenen Verbrechen dieser Art mußten Rios beste Kriminalisten Tag und Nacht nach den Tätern fahnden. Zeugen hatten sie laut Presseangaben zweifelsfrei erkannt. Einer gehört zu Rios Munizipalgarde und wird gemäß der engagierten Staatsanwältin und Killerkommando-Expertin Tania Salles Moreira stets dann als Mittäter genannt, wenn es in Bussen zu “Exekutionen” gekommen sei. Der andere leitet eine der zahlreichen regionalen Todesschwadronen.
Morddrohungen gegen holländischen Menschenrechtsaktivisten
Immer mehr brasilianische Pfarrer, Bischöfe, Sozialarbeiter, Künstler und Menschenrechtsaktivisten, die gegen das Wüten der Killerkommandos protestieren, werden durch Morddrohungen unter Druck gesetzt, müssen aus Sicherheitsgründen ihren Aktionsradius stark einschränken. Dies gilt auch für das neueste Blutbad. Zwei der Ermordeten stammten aus Slums, in denen das auch mit Geldern der deutschen Bundesregierung arbeitende Sozialinstitut IBISS seit Jahren Projekte realisiert. Der holländische Direktor Nanko van Buuren hatte als Arzt im zuständigen gerichtsmedizinischen Institut die beiden ihm bekannten Jugendlichen identifiziert – an der Ausgangspforte wurde er derweil von zwei Bewaffneten erwartet. Sie zeigten sich über alle Details der IBISS-Projekte gut informiert und drohten, den 48-jährigen umzubringen, falls er sich in die Ermittlungen einmische und juristisch gegen jene Busgesellschaft vorgehe, zu deren Sicherheitspersonal die Todesschützen nach bisherigen Ermittlungen gehören. Van Buuren hatte 1996 Bundespräsident Herzog während dessen Rio-Aufenthalts mit den IBISS-Projekten vertraut gemacht, hält zu ihm ständig Kontakt. “In Europa”, so der Experte, “schenkt man wahrheitsgemäßen Berichten über die Realitäten Rios gewöhnlich keine Beachtung. Das Ausmaß der Greueltaten gegen Arme und Verelendete wird für unwahrscheinlich gehalten.”
Politiker verwickelt
Duque de Caxias, Satellitenstadt Rios in der Baixada Fluminense, ist seit langem wegen der Todesschwadronen berüchtigt. Gegen Bürgermeister Zito dos Santos läuft ein Prozeß, weil er den Mord an einem seiner politischen Gegner befohlen haben soll. Mehrere seiner Kritiker, aber auch Menschenrechtler beschuldigen ihn, in Killerkommando-Aktivitäten verwickelt zu sein. Zito dos Santos gehört zur Sozialdemokratischen Partei von Staatschef Fernando Henrique Cardoso, dem Rios Pfarrer Caio Fabio vorwirft, zwar die monetäre Inflation, nicht aber die Abwertung des Lebens gestoppt zu haben. Todesschwadronen sind in ganz Amazonien und in Millionenstädten wie Manaus, Sâo Paulo, Salvador de Bahia, Recife, Fortaleza und Natal aktiv. In letzterer Provinzhauptstadt hatte der angesehene Menschenrechtler und Anwalt Francisco Negueira gegen die größtenteils aus Polizisten bestehenden Kommandos ermittelt: Vergangenen Oktober wurde er auf offener Straße durch MPi-Salven ermordet. Daraufhin forderte die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Brasilia auf, weiteren zehn von Kommandos in Natal Verfolgten Personenschutz zu gewähren.
KASTEN
Was ist das für ein Land?
In den Favelas, im Senat
Überall Dreck.
Die Verfassung achtet niemand,
Aber alle glauben an die Zukunft der Nation.
Was ist das für ein Land?
In Amazonas, in Arraguaia, in der Baixada Fluminense,
Mato Grosso, den Geraes und im Nordosten alles ruhig.
Im Tod finde ich Frieden, aber das Blut fließt weiter,
Befleckt die Papiere, die wahren Dokumente,
Auf denen der Patron sich ausruht.
Was ist das für ein Land?
Song von Renato Russo (Legiâo Urbana)
Schweine in Uniform
Die Männer des Gesetzes sind alle Verbrecher
Sie töten unschuldige Leute und machen in Ruhe weiter.
Unausgebildet, inkompetent handeln sie wider die Vernunft,
Anstatt für Sicherheit zu sorgen
Verängstigen sie die Bevölkerung.
Sie sind darauf trainiert, eine reiche Minderheit zu beschützen
Vor der armen Mehrheit, die mit ihrem Leben bezahlt.
Und wenn Du ein Arbeiter bist,
Dann hast Du die idealen Voraussetzungen,
Um in das Netz zu stürzen
Der offiziellen Todesschwadronen,
Schweine in Uniform.
Sie halten sich für Männer
Aber in Wirklichkeit ehren sie
Nicht einmal ihren Namen.
Bulle, mit Verlaub,
Ich werde die Dinge beim Namen nennen:
“Mit der Pistole in der Hand bist Du ein grimmiges Tier, ohne sie schwänzelst Du rum und Deine Stimme kiekst wie im Stimmbruch.”
Song von Marcelo D2 und Rafael (Planet Hemp)
Brasilianische Rapper- und Hip-Hop-Gruppen verarbeiten die brutale Realität in ihren Songs.
Übersetzung: Alina González / Elisabeth Schumann
Von 1964 bis 1985 unterdrückte Brasiliens Militärregime Andersdenkende und militante Oppositionelle auf grausamste Weise: Todesschwadronen ermordeten unzählige Gegner der Diktatur, politische Gefangene wurden Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen oder aus Helikoptern gestoßen, in Stücke gehackt, verscharrt an Stränden Rio de Janeiros – Brutalität war alltäglich. Daß der US-Geheimdienst CIA den Repressionsapparat der Generäle auf vielfältige Weise unterstützte, wußten Menschenrechtsgruppen aus dem In- und Ausland schon damals. Jetzt sorgen Dokumente über die damaligen CIA-Aktivitäten in Brasilien für Schlagzeilen.
Wie die angesehene Zeitung O Estado de Sâo Paulo berichtet, konnte die nordamerikanische Soziologin Martha Huggins bislang geheimgehaltene Kongreßdokumente einsehen, die die Komplizenschaft des CIA mit dem Unterdrückungsapparat von damals bestätigen. Das Fazit der 53-jährigen Wissenschaftlerin: “Die Teilnahme der CIA am Alltag der politischen Repression ist bewiesen – die Dokumente sprechen sogar von gemeinsamen Operationen – die amerikanische Demokratie partizipierte an der Schaffung eines unterdrückerischen Staates.”
Besonders gravierend ist für Martha Huggins, daß die CIA Spezialkommandos für die brasilianische Polizei ausbildete. In Rio de Janeiro wurde eine “Elite” von vierzig Beamten zum Grundstock der berüchtigten Todesschwadrone: “CIA-Agenten nahmen an Operationen in den Slums teil, aber auch an der politischen Unterdrückung – und berichteten alles, was sie sahen, nach Washington.” Bis heute sei in den USA wenig bekannt, daß die CIA bei der Ausbildung von Polizisten in anderen Ländern mitmacht: “Unsere Demokratie benutzte die Polizeibeamten, um in anderen Ländern eine ideologische Kontrolle auszuüben.”
CIA läßt Dokumente verschwinden
Ein anderes interessantes Detail der Recherchen von Martha Huggins: Die CIA half beim Aufbau des Diktaturgeheimdienstes SNI mit, “lieferte sogar eine Liste mit den Namen geeigneter, vertrauenswürdiger Mitarbeiter.” Auf einer anderen Liste waren alle Personen verzeichnet, die gemäß CIA-Einschätzung nach dem Militärputsch von 1964 verhaftet werden sollten.
Ärgerlich für die Soziologin, die bereits drei Bücher über Brasilien veröffentlichte, ist, daß laut Gesetz zwar jeder US-Bürger offizielle Dokumente über Regierungsaktivitäten einsehen darf, wenn diese länger als 25 Jahre zurückliegen – jene Seiten jedoch der Kongreßpapiere mit CIA-Berichten über Folterungen der politischen Polizei Brasiliens sind unleserlich gemacht; manchmal fehlen sogar ganze Blätter.
In mühseliger Kleinstarbeit gelang es der Expertin, 26 Folterer von politischen Gefangenen ausfindig zu machen und unter Wahrung der Anonymität zu interviewen. Einer davon, Militärpolizist, mochte nicht, wie seine Kollegen, bei einem Einsatz gefangengenommene “Subversive” mit Schlägen traktieren und die Frauen vergewaltigen. “Ich forderte, daß es doch besser sei, alle zu töten, anstatt sie zu foltern”, sagte der Militärpolizist zu Martha Huggins und berichtete auch über den Abschluß der Operation: Alle Gefangenen wurden hoch über der Wildnis lebendig aus einem Helikopter gestoßen.
Folterer heute in führenden Positionen
Helio Bicudo, während der Diktatur Präsident einer kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, hat die Aussagen der Soziologin bestätigt. Bicudo untersuchte damals die CIA-Aktivitäten ebenso wie das Wüten der Todesschwadronen. Polizisten und Armeeoffiziere Brasiliens seien in den USA ausgebildet worden – manche, die damals zum Repressionsapparat gehörten, machten und machen Karriere. Romeu Tuma, nach der Diktatur Chef der Bundespolizei, ist heute Kongreßsenator der starken Rechtspartei PPB. Regimeaktivist Marco Maciel wurde gar Vize des jetzigen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso – für Bicude auch Beleg dafür, daß von echter Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein kann: “Hier in Brasilien haben die Leute ein kurzes Gedächtnis.”
Wie die Jahresberichte von amnesty international und Human Rights Watch zeigen, gehören Folter und Todesschwadronen auch zwölf Jahre nach dem offiziellen Ende der Diktatur weiterhin zum Alltag Brasiliens, es “verschwinden” sogar mehr Menschen als damals nach der polizeilichen Festnahme. Die katholische Kirche beklagt, daß immer mehr nichtidentifizierte Gewaltopfer beerdigt werden, ein Großteil auf den überall im Lande anzutreffenden “geheimen Friedhöfen”.
Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der jetzigen Mitte-Rechts-Regierung ist in ganz Brasilien die Arbeitslosigkeit deutlich angestiegen; im Hinterland von Maranhao wurde deshalb laut Experteneinschätzung die Prostitution von Kindern und Jugendlichen erschreckenderweise zur wichtigsten und manchmal einzigen Einkommensquelle armer Familien. Nicht zuletzt die Kirche hat sich dem Problem angenommen.
Zu Dutzenden stehen zwölf- und dreizehnjährige Mädchen bereits in der Nachmittagsschwüle an der Brücke über dem von Hütten gesäumten Rio Mearim und bieten sich den Passanten für nur fünf Realen an,- das sind nicht einmal acht Mark. Andere warten in den von madames oder früheren Amazonas-Goldgräbern geführten Billigbordellen der neuen Rua do Campo auf Kunden. Doch auch dort sind sie keineswegs geschützt vor der Brutalität, die das Milieu prägt: Messerstechereien, Schußwechsel mit tödlichem Ausgang sind keine Seltenheit, wobei häufig Drogenkonsum die Hemmschwelle herabsetzt. Ausländische Sextouristen spielen hier nur eine geringe Rolle, da das im Nordosten Brasiliens gelegene Pedreiras zu weit von Touristengebieten entfernt liegt. Geradezu gierig auf möglichst junge Mädchen sind sexbesessene Machos aller sozialen Schichten aus der Stadt selbst: Nachbarn, Familienväter der Rua do Campo, Polizisten, Politiker. “Viele Mädchen prostituieren sich, weil die eigenen Eltern sie dazu anregen oder zwingen”, sagt die 52jährige Franziskanerin Maria Oliveira von der lokalen Frauenpastorale gegenüber. Sie verweist auf die Gründe der Misere: Von den rund 50 000 BewohnerInnen hat nicht einmal ein Viertel Arbeit, von denen wiederum verdienen 40 Prozent höchstens den Mindestlohn von umgerechnet 160 Mark.
Versteigerung von Jungfrauen
Pedreiras hat auch deshalb traurige Berühmtheit erlangt, weil dort in Bordellen makabere Auktionen abgehalten werden, wo Großgrundbesitzer, Politiker und Unternehmer Jungfrauen zwischen neun und vierzehn Jahren ersteigern, für eine einzige Nacht in einem besseren Stundenhotel. Anschließend werden die Mädchen gewöhnlich gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten; manche enden in den Goldgräbercamps Amazoniens.
Die Kirchengemeinde von Pedreiras fand sich mit der Situation nie ab. Pfarrer Luiz Mario Luís gründete bereits 1963 ein Rehabilitationszentrum, in dem Prostituierte lesen und schreiben sowie einen Beruf erlernen konnten.
Da die Zahl der Lernwilligen rasch zunahm, mußte das Zentrum vergrößert werden, und die Bezirksverwaltung stieg als finanzielle Trägerin mit ein. Schulunterricht erhalten inzwischen auch die Kinder der Frauen, derzeit sind es über 160 Mädchen und Jungen. Mehrere Dutzend jugendliche oder erwachsene Prostituierte sitzen auf den Bänken des Zentrums, das eher einer einfachen Lagerhalle ähnelt, und lernen Nähen sowie andere Handarbeiten. Inzwischen haben sie zum Teil Kolleginnen als Lehrkräfte. Die Direktorin und Mitbegründerin Benedita Leite versucht, sie davon abzubringen, weiter auf den Strich zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Denn wie in tausenden anderen Städten und Gemeinden der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt erhalten LehrerInnen und andere öffentliche Bedienstete auch in Pedreiras nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von umgerechnet etwa 160 Mark. Schlimmer noch: Die Bezirksverwaltung, der wichtigste lokale Arbeitgeber, zahlt das Hungersalär um bis zu elf Monate verspätet aus. “Ich gebe gerne Unterricht”, sagt eine Prostituierte, “doch das letzte Mal habe ich im August Geld gekriegt”. Viel ist es ohnehin nicht, nur an die neunzig Mark. Und Brasilien hat derzeit ein ähnliches Preisniveau wie Europa.
Erfolge – Rückschläge
Daß krasse Armut brutalisieren, verrohen und abstumpfen kann und die Betroffenen häufig dazu bringt, sich aufzugeben, beobachten Benedite Leite und die Franziskanerin Maria Oliveira täglich. In den Bretterhütten am Rio Mearim dominiert in den vielköpfigen Familien Promiskuität; Die Mädchen lernen nur die Gesetze ihres Milieus kennen und sehen die Prostitution als einzige – und attraktive – Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Ihnen Unterricht zu geben, ist extrem schwierig, denn die Mädchen sind nicht daran gewöhnt, sich zu konzentrieren und lange Zeit zuzuhören. “Wir dürfen sie nicht verurteilen, sie uns zu Feinden machen” betont Maria Oliveira, “sondern müssen immer wieder auf sie zugehen, ihnen helfen, den Raum der Kirche als Alternative anbieten.” Erfolge beim Schwimmen gegen den Strom gibt es. In der Straße am Fluß treffen sich Kinder und Erwachsene im neuen Gemeindesaal zu kirchlichen Aktivitäten, eine Jugendgruppe stabilisiert sich. Maria Oliveira lehrt Katechismus, feiert Weihnachten und Ostern in den Familien, bringt diesen die Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz nahe, und hält Kontakt zu denjenigen Frauen, die mit ihrer Hilfe aus dem Bordell in einen Beruf wechselten.
Doch die madames besorgen sich immer wieder Mädchennachschub. Dabei rekrutieren sie jetzt schon im Hinterland, ködern mit der Aussicht auf “ehrliche Arbeit” und locken damit Jugendliche in den Schuldenkreislauf. Versucht Maria Oliveira, solche Minderjährigen zur Rückkehr zu bewegen, hört sie immer wieder ein Argument: “Ich kann nicht weg, weil ich von der madame neue, schicke Kleider angenommen habe, die ich erst abbezahlen muß!” Die Franziskanerin stellt deshalb eine Bordellbesitzerin zur Rede und bekommt wie stets eine drastisch-grobe Antwort: “Meine Schuld ist das nicht. Diese Hündinnen kommen doch angelaufen und bitten mich um Arbeit!” Weil die madames den Neuankömmlingen weder den Besuch des Zentrums noch der Kirche gewähren, geht die Franziskanerin selbst zu ihnen an den Brückenstrich und setzt sich notfalls an die Bordelltischchen: “Einmal spreche ich mit den Mädchen über Gott, ein anderes Mal über Geschlechtskrankheiten und Aids. An der Brücke kommen viele schon auf mich zugerannt und umarmen mich!”
Kinderprostitution ist typisch für Brasiliens Norden und Nordosten. UNICEF, Kirche und NGOs haben in Maranhao bereits eine Kampagne gegen die praktisch straffreie sexuelle Ausbeutung Minderjähriger gestartet, denn laut Menschenrechtsaktivistin Sandra Torres gehört es bereits zur Gesellschaftskultur, abnorme Situationen als normal zu betrachten und hinzunehmen.
Während in Pedreiras Kinder aus Hunger und Not ihren Körper verkaufen, zeichnet der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso im nur 277 Kilometer entfernt Sao Luis, der Hauptstadt Maranhaos, vor Mikrophonen ein positives Bild der Lage im Lande. Der Soziologe weist auch die Kritik der Bischöfe an seiner neoliberalen Politik zurück, erwähnt weder Kindersklaverei noch Kinderprostitution oder Jungfrauenversteigerungen. Neben Cardoso steht der jetzige Kongreßpräsident und Ex-Staatschef José Sarney – seit Diktaturzeiten reichster und mächtigster Mann in Maranhao. Daß hier alles beim alten bleibt, liegt nach Aussagen von Menschenrechtlern vor allem an ihm und seinen politischen Freunden.
Ausriß – gefolterte, erschossene Frau in Rio – PKW mit verkohlten Leichen „gebratenen Schinken“.
Der 47-jährige Schwarze Volmer do Nacimento wagte als einer der ersten Brasilianer, auf Straßenkinder spezialisierte Todesschwadronen und deren Drahtzieher öffentlich anzuzeigen. 1993 wurde er wegen vorgetäuschter Entführung und “Verleumdung von Richtern” zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, die er im halboffenen Strafvollzug verbringt (siehe LN 261). Die brasilianische Menschenrechtsorganisation Projeto Legal in Rio de Janeiro kämpft für seine Freilassung.
Am schlimmsten sind die Sonn- und Feiertage. Dann muß Volmer den ganzen Tag in einer engen Gefängniszelle verbringen, im fünf Autostunden nördlich von Rio gelegenen Provinzstädtchen Natividada. Seine Frau und seine Kinder sitzen derweil traurig nur rund 300 Meter von Nacimento entfernt. Der Bürgerrechtler liest dann stapelweise Bücher und Zeitungen, schmiedet Pläne für die Zeit nach der Haft, und erinnert sich auch an die Gespräche mit dem Präsidenten des Europaparlaments. Wütend macht Nacimento, daß er die nach wie vor aus Straßburg hereinflatternden Einladungen nicht annehmen darf. “Ich bin ein Gefangener, weil ich es selbst will, denn mit meinem Wagen könnte ich fast jederzeit fliehen – und niemand würde mich finden.” Der langjährige Koordinator der nationalen Straßenkinderbewegung tut es nicht. Schließlich trägt Nacimento die Verantwortung für mehrere von ihm selbst gegründete Projekte, die er selbst leitet. Zu einem der wichtigsten, einer auch mit deutschen Geldern finanzierten Landwirtschaftsschule für Jugendliche, eilt er an Arbeitstagen jeden Morgen. Der gelernte Buchhalter, dessen sozialpolitisches Engagement in Basisgemeinden und Pastoralen der katholischen Kirche begann, empfängt die bislang neunzig SchülerInnen, berät sich mit AgronomInnen, ZootechnikerInnen und LehrerInnen, verteilt Aufträge: “Die Eltern der meisten Jugendlichen hier sind verelendete Wanderarbeiter der Region, mit ihnen ziehen sie herum, schuften auf Plantagen der Großgrundbesitzer, gehen so gut wie nie in die Schule, flüchten aus Perspektivlosigkkeit in die Slums von Rio. Die Schule wurde gegründet, damit die Kinder hier bleiben, die Landflucht gestoppt wird.”
Die Landflucht stoppen
Jeder Schüler bekommt monatlich umgerechnet rund neunzig Mark und damit weit mehr als für Plantagenarbeit. Das Geld stammt von zwei holländischen Unternehmern. Der deutsche Children Mission Fund in Überlingen zahlt die Löhne der LehrerInnen und beteiligte sich am Bau des Schulhauses am Rande von Natividade in tropischer Idylle. Es ist nur halbfertig, ein Provisorium – in Deutschland würde niemand darin lernen und lehren wollen. Und auch die vom deutschen Konsulat in Rio finanzierten Ausrüstungen für ein Laboratorium zur einfachen Heilmittelherstellung können nicht installiert, rund 300 Kursanwärter nicht aufgenommen werden. Die Schuld trägt laut Volmer do Nacimento die Mitte-Rechts-Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso und dessen Freund aus der Sozialdemokratischen Partei PSDP, Rio-Gouverneur Marcello Alencar. Während eines Belgienbesuches 1995 traf Cardoso überraschenderweise auf eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, die ein Poster von Nacimento trugen und dessen Freilassung forderten. Wie stets in solchen eigentlich brenzligen Fällen stimmte Cardoso taktisch geschickt mit den KritikerInnen überein: “Ihr habt recht – wir werden damit aufhören.” Das Versprechen blieb folgenlos und auch die zum Jahresbeginn 1996 vertraglich zugesicherten rund 90.000 DM von Comunidade Solidaria, dem von der Präsidentengattin geleiteten Wohlfahrtsprogramm, trafen bisher nicht ein. Ebensowenig, trotz mehrfacher Mahnung, die etwa 100.000 DM des Rio-Gouverneurs. “Wir werden immer nur mit Ausflüchten abgespeist”, kommentiert Nacimento, “aber viele andere NGOs bekommen versprochene Mittel ebenfalls nicht – wofür ist die Comunidade Solidaria dann eigentlich da? Wir können nicht immer nur mit Geld aus dem Ausland arbeiten – wo bleibt da die eigene Verantwortung Brasiliens?” Den britischen Konsul in Rio, der dem Schulprojekt einen Traktor spendierte, verblüfft ebenfalls, daß die Regierung nichts überweist. Dagegen wird laut Presseangaben ein existierender “Sozialer Dringlichkeitsfonds” fast täglich vom Mitte-Rechts-Kabinett angezapft, um Diplomatenempfänge, Bankette oder üppige Geschenke für ausländische Gäste zu finanzieren.
Die achtzehnmonatigen Kurse der Escola Fasenda laufen dennoch weiter. “Fast alle, die mit amtlichem Zertifikat abschließen werden, haben bereits eine Arbeitsstelle sicher,” freut sich Nacimento, “nach der Präfektur sind wir hier der zweitgrößte Arbeitgeber!” Abends muß der nicht nur in Europa bekannteste Häftling Brasiliens wieder in die Zelle. Der Polizeichef von Natividade bekam bereits aus aller Welt über tausend Protest- und Solidaritätsbriefe, mindestens ebensoviele landeten beim Gouverneur von Rio und im Justizministerium.
Nacimento leidet indessen sichtlich unter der Situation, wollte 1996 durch einen Hungerstreik die Wiederaufnahme seines Verfahrens und Ermittlungen gegen Todesschwadronen und deren Hintermänner erreichen – was nicht gelang. Eine der wichtigsten moralischen vor allem aber juristischen Stützen ist die Menschenrechtsorganisation Projeto Lagal in Rio de Janeiro. Sie erreichte bisher, daß Nacimento seine Haft nicht unter ständiger Lebensgefahr in einer völlig überfüllten Zelle Rios, sondern im halboffenen Vollzug in Natividade verbringt. Für Anwalt Carlos Nicodemos, Leiter des ebenfalls vom deutschen Children Mission Fund unterstützten Projeto Legal, ist der Prozeß gegen Nacimento kafkaesk: “In Untersuchungsberichten des Bundesparlaments und selbst der Abgeordnetenkammer des Bundesstaates Rio über die Ermordung von Kindern und Jugendlichen, ebenso in der Presse, werden dieselben Richter wegen ihrer Verwicklung in Aktivitäten von Todesschwadronen aufgeführt, die auch Volmer do Nacimento nannte.”
Anwalt Nicodemos eilt mindestens einmal im Monat mit dem Wagen nach Natividade, spricht seinem Mandanten Mut zu. Dessen Geburtstag im vergangenen November fiel ausgerechnet auf einen Sonntag. Daß er ihn dank Nicodemos nicht durchweg in der Zelle verbringen mußte, sondern mit seiner schwangeren Frau und den Kinder zusammensein konnte, war wieder ein kleiner Sieg.
Letzte Meldung: Seit Anfang Januar hat Volmer rund um die Uhr Freigang, d.h. er muß sich jetzt lediglich regelmäßig bei der Polizei melden. Und die schlechte Nachricht: Nach heftigen Regenfällen versank das Gelände der Landwirtschaftsschule unter einer vierzig Zentimeter dicken Schlammschicht. Die Gebäude stehen zwar noch, aber die Ernte ist völlig zerstört.
Der Ehemann ist weiß, die Ehefrau ist schwarz. Am Hoteleingang verwehrt ein Wächter der Ehefrau den Zutritt: Prostituierte dürfen nicht mit aufs Zimmer. Wer glaubt, dieser Vorfall wäre die Ausnahme, irrt. Unter der Oberfläche scheinbarer Integration zeigt sich das Bild einer verdeckten Apartheid.
Die Schwarzen müssen wissen wo ihr Platz ist, lautet eine uralte, immer noch hochaktuelle Redewendung in Brasilien. Gemeint ist damit: Sklavennachfahren haben nichts in der Mittel- und Oberschicht, deren Kreisen und Ambiente zu suchen. Sie werden entsprechend stigmatisiert und behandelt. Wie dies in der Praxis funktioniert, bekam jetzt der Züricher Fritz Müller, Fachdirektor der Credite-Suisse-Bank, in Rio de Janeiro zu spüren. Als er mit seiner schwarzen, aus Rio stammenden Ehefrau Adriana nach einem Restaurantbesuch ins First-Class-Hotel Intercontinental zurückkehrte, wurde Adriana von einem muskulösen Wachmann grob gestoppt: Eine Garota de Programa, so heißen Prostituierte im Rio-Slang, dürfe nicht mit aufs Zimmer. Direktor Müller ließ sich von seiner Frau übersetzen worum es ging und schlug gehörigen Krach, stellte den Wachmann zur Rede, verlangte von der Hotelleitung eine formelle Entschuldigung. Denn ohne entsprechende Vorschrift hätte der Wächter kaum so gehandelt.
Rassismus – Machismus
Die Zeitung O Globo beschrieb den Fall unter der treffenden Überschrift “Fünf-Sterne-Rassismus”. Kaum ein mit einer dunkelhäutigen Brasilianerin befreundeter oder verheirateter Europäer, der in Rio, Sâo Paulo, Salvador de Bahia oder Fortaleza nicht ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wer brasilianisches Portugiesisch nicht versteht, bekommt kaum mit, daß der Gang über die Strandpromenade für seine Partnerin gelegentlich einem Spießrutenlauf gleicht. Weiße Mittelschichtsmachos der übelsten Sorte, in Brasilien alles andere als dünn gesät, lassen eine Bösartigkeit oder Obszönität nach der anderen fallen, gehen davon aus, daß der tumbe Gringo sicher nichts versteht und wohl immer noch glaubt, was die meisten Reiseführer kolportieren: Brasilien, ein wundervoller Schmelztiegel der Rassen, ein Beispiel gelungener Integration verschiedener Hautfarben, von Diskriminierung keine Spur.
Wer aber die Oberfläche, die schillernde Erscheinungsebene verläßt, stößt auf Brasiliens hocheffiziente verdeckte Apartheid. Die ist von den schwachen, wenig respektierten Schwarzenorganisationen weit schwerer zu packen und zu attackieren als die aus Südafrika bekannte offene Rassentrennung. Schwarze, MulattInnen gehören in die Slums, in die Unterschicht, in die drekkigsten, schlechtbezahltesten Berufe. Schwarze Frauen sind gemäß diesem Denk- und Verhaltensmuster Hausdienerinnen, Reinemachefrauen, bestenfalls Supermarktkassiererinnen. Oder aber: Schwarze Frauen sind bis zum Beweis des Gegenteils Prostituierte, Touristenhuren, die man entsprechend behandeln kann.
Untersuchungen belegen, daß informelle Mechanismen gewöhnlich den Aufstieg Dunkelhäutiger in gutbezahlte qualifizierte Mittelschichtsberufe verhindern. Privatbanken bilden da keine Ausnahme. Bei mehreren spricht das gängige System der zwei Kundenschlangen Bände. Wer besser verdient und umgerechnet mindestens einige tausend Mark auf seinem Konto hat, steht in der kürzeren Fila, wird bevorzugt behandelt und ist gewöhnlich weiß. Wer zu den Schlechtbezahlten gehört, aber glücklich ist, dennoch ein Konto besitzen zu dürfen, muß in der längeren Schlange gelegentlich Stunden warten, schaut neidisch, frustriert oder mit Groll auf die Bevorzugten mit dem dickeren Geldbeutel. Welche Hautfarbe in der langen Fila dominiert, läßt sich in Rio gut beobachten.
Wer mit dunkler Haut dennoch den sozialen Aufstieg schafft, hat im Alltag fast pausenlos Ärger. In Sâo Paulo wird eine erfolgreiche schwarze Schauspielerin von weißen Madames immer wieder auf der Straße gefragt, ob sie nicht als Hausdienerin anfangen wolle, sie sehe so gut und gesund aus. Der schwarze Sänger und Komponist Dicró wird in Rio de Janeiro von Sicherheitsleuten zu seiner eigenen Show nicht auf die Bühne gelassen. Ironisch erklärt er: “Mehrmals haben sie mich auch schon geschnappt, als ich meinen eigenen Wagen klauen wollte.” Wie überführte Autodiebe werden ebenfalls immer wieder gutverdienende schwarze Fußballspieler traktiert, die teure Importwagen fahren. Oleude Ribeiro vom Verein Portuguesa von Sâo Paulo wurde mit Blaulicht in seinem Ford-Jeep gestoppt und mit dem Revolver am Kopf gründlich durchsucht: “Mein tiefentsetzter kleiner Sohn wollte danach wissen, ob diese Männer Banditen waren. Schwierig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.”
Der auch in Europa bekannte schwarze brasilianische Musiker Djavan erläutert: “Wenn du berühmt wirst, verlierst du sozusagen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen. Sie beginnen nur, dich zuzulassen.”
Unter der Regierung von Präsident Cardoso verschlechtert sich die Lage in den total überfüllten Gefängnissen weiter. “Niemand ist an einer Resozialisierung der Häftlinge interessiert,” so Padre Mauzeroll von der Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche.
Eine mittelalterlich anmutende Gefängniszelle in Rios Stadtteil Realengo. Gesetzlich hat jeder der mehreren Dutzend Insassen Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter, hier dagegen hat er nicht einmal einen einzigen. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil auf dem feuchten Beton liegt, hängt der andere in Stoffschlaufen darüber, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu bietet sich ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern, beißender Fäkaliengeruch, nachts Ratten, die psychische Spannung fast mit Händen greifbar. Neun von zehn haben Krätze und Furunkel. In der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu sechzig Grad in den Zellen, täglich fallen dann an die zwanzig Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt. Um aus dieser Hölle herauszukommen, in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit umgerechnet bis zu 5.000 DM. Es gibt auch Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld zusammenlegen und dann den Begünstigten wie in einer Lotterie per Los bestimmen. In Bangu kommen die notwendigen Reais von der Familie oder von Verbrechersyndikaten. Je größer, je unerträglicher die Hitze, umso höher steigen die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Nur einmal am Tag gibt es Essen von haarsträubender Qualität, Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt. Folterungen sind die Regel, nicht nur in Rios Gefängnissen. Ein Anwalt beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene mit Elektroschocks, alle wiesen Blutergüsse auf und wurden darüberhinaus zu sexuellen Handlungen gezwungen.”
Fast täglich werden Fälle totgefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt. Doch die politisch Verantwortlichen rühren sich kaum, nur wenige Intellektuelle protestieren und die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Nach dem letzten offiziellen Zensus bieten die 511 Gefängnisse Brasiliens Platz für höchstens 60.000 Personen. Mit über 148.000 Gefangenen sind sie damit mehr als doppelt belegt. Notwendig, so heißt es, seien 145 neue Gefängnisse. Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent Männer, etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten; die meisten von ihnen werden allerdings der Öffentlichkeit verheimlicht.
Pervertieren statt resozialisieren
Amnesty international und Human Rights Watch/Americas prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten als “puren Horror” an. Aber auch die Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der Pastoral Carçeraria im Bundesstaat Sâo Paulo: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier. Niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung der Insassen interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen. Sie läßt sie intellektuell, seelisch, moralisch, kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Padre Mauzeroll hört auf Polizeiwachen und in Gefängnissen sehr häufig den Spruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die Gefängnisse und leitete die letzten sechs Jahren die Seelsorge. Was er täglich zu sehen bekommt, scheint kommerziellen Horrorfilmen entlehnt: Häftlinge verfaulen buchstäblich in ihren Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst Kriminelle, weil sie Kranke bewußt nicht behandeln, sie sterben lassen, dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen werden. Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die sehr wohl über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind und dennoch nicht eingreifen.
Gefängnisleitungen und Wärter ermöglichen den Drogenhandel und -konsum hinter den Gitterstäben. Ein Direktor zu Padre Mauzeroll: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Ein besonders finsteres Kapitel ist darüber hinaus die sexuelle Gewalt, die von perversen Aufsehern sogar gefördert wird. Padre Mauzeroll: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken ihn die Wärter extra in bestimmte Massenzellen, damit er dort von fünfzehn, zwanzig Häftlingen vergewaltigt wird. Das ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Selbst nach amtlichen Angaben haben sich bereits über zwanzig Prozent der Insassen mit dem Aids-Virus infiziert. Ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt, Promiskuität ist normal.
Vitor Carreiro teilte in Rio eine Zelle jahrelang mit 47 anderen Häftlingen, hat jetzt sichtbar Aids und sagt es deutlich: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” José Ferreira da Silva, ebenfalls HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern. Keiner hatte Präservative benutzen wollen.
“Wenn die Lage in den Gefängnissen in Sâo Paulo und Rio de Janeiro bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Gebieten des Nordens und Nordostens sein?” Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu so vielen Landsleuten um solche unbequemen Wahrheiten nicht. Er hat keine Probleme damit, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Doch wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel – Pistoleiros, Berufskiller, erledigen dies. Padre Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Sie ist schuld an der grauenhaften Situation!”
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor. 1992 wurden im Gefängnis Carandiru von Sâo Paulo mindestens 111 Insassen von Militärpolizisten massakriert. Politisch Verantwortliche und direkt Beteiligte blieben bisher straffrei. Die letzte Revolte in Carandiru ereignete sich Ende Oktober. 670 Gefangene nahmen dort 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Gefangene versuchten mit einem Müllfahrzeug zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Die Rechtanwältin Zoraide Fernandez weist noch auf eine besondere Absurdität hin. Tausende von Häftlingen werden nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang festgehalten, allein in Rio waren es 1995 mindestens 560. Hinzu kommen jene, die unrechtmäßig in die Zellen von Polizeiwachen gepfercht und dort mitunter regelrecht vergessen werden.
Staatspräsident Cardoso präsentierte in Brasilia mit großem Pomp einen “Nationalen Plan für Menschenrechte” – doch die Show stahl ihm Luiz Mott, intellektueller Führer der brasilianischen Schwulenbewegung. Weil die Homosexuellen in dem Dokument nicht einmal erwähnt werden, entrollte Mott ein Transparent “Gays querem Justiça”- (Schwule wollen Gerechtigkeit) und nannte Fakten zur systematischen Verfolgung der Homosexuellen in Brasilien.
Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und galten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kommandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmänner stoßen die beiden bis zur nahen Bahnlinie, dann krachen Pistolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ihrem Blut, stellen erschüttert Kerzen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Brasilien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Homosexuellen her. Seit 1980 wurden über 1300 Schwule ermordet, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr unvollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letzten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorurteile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens verschweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Sekretär für Menschenrechte der Brasilianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordostbrasilianischen Küstenmetropole Salvador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, verfolgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Machismus”, die Täter gingen gewöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter ermittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Gericht und wurden dann fast immer freigesprochen.
Archiv über Homosexualität
Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinamerikanischen Archiv über Homosexualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenvereinigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besucher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höflich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexuelle teilnehmen. Vor dem Abstieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präservative, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe besonders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vorsicht – suche Deine amantes besser aus”, steht groß auf Schautafeln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermorden!” Die Warnung ist nicht unbegründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salvador sauber – töte jeden Tag einen Homo!”
Erscheinungsebene – Wirklichkeit
Brasiliens Schwulenszene präsentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeitschriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen weiter, scheint sogar stark zuzunehmen. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Überlebenshandbuch” publiziert, das zahlreiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasilia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen bekannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.
Umfragen und Machismus
Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsentative Umfragen: So würden 36 Prozent der BrasilianerInnen einem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kollegen bewußt fernhalten, 56 Prozent würden zumindest ihr Verhalten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, akzeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Homosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne erzwingen müßten.
Politisches Asyl für Schwule
Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Tenorio, Luiz Mott trat in dem Asylverfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Medien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylstatus, wollen aber anonym bleiben, aus Angst, daß Familienangehörige in Brasilien Repressalien erleiden könnten. Eine unbekannte Zahl brasilianischer Homosexueller lebt illegal in den USA. Möglicherweise werden jetzt weitere einen Asylantrag stellen.
KASTEN
Staatstrauer für Ex-Diktator
Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im September 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso geladen worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Geisel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Orlando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die keineswegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, foltern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeitzeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Diktaturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Großteil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit begangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amtsvorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.
Hintergrund von 2001:
„Unerklärter Bürgerkrieg“ in Brasilien
Über 40000 Morde jährlich/Zunahme von Attentaten
Im Kontext der jüngsten internationalen Konflikte weisen brasillianische Experten immer nachdrücklicher darauf hin, welche hohen Menschenopfer der sogenannte „unerklärte Bürgerkrieg“ in Brasilien kostet. Wie die Universitätsprofessor und Politik-Berater Gaudencio Torquato jetzt in einer Analyse mit dem Titel „Wir und Afghanistan“ betonte, werden aus politischen und kriminellen Motiven selbst laut den geschönten offiziellen Angaben jährlich rund 40000 Menschen ermordet.
Hätte Deutschland, mit einer etwa halb so großen Bevölkerung, diese Rate, wären es pro Jahr etwa 20000 Getötete. Tatsächlich waren es im Jahr 2000 laut BKA-Angaben nur 1015.
Torquato zählte zu den Gründen der hohen Opferzahlen, daß die zehntgrößte Wirtschaftsnation anders als Afghanistan zwar sämtliche Hochtechnologie der letzten Generation nutze, die soziale Polarisierung zwischen den Privilegierten und den armen Schichten sich jedoch weiter verschärft habe. Die hohe Gewaltrate habe dazu geführt, daß nachbarschaftliches Zusammenleben immer weniger gepflegt werde, die brasilianische Gesellschaft sich von der menschlichen Solidarität verabschiede. Gängige Reaktion angesichts der täglichen Morde sei leider nur:“Gut, daß es mir nicht passiert ist.“
Derartige Verfallsprozesse resultieren laut Torquato aus einer „politisch-institutionellen Kultur“, die sich mit den alltäglichen Skandalen um hohe Volksvertreter und den Fällen von Regierungskorruption weiter degradiere.
Brasilianischer Menschenrechtsaktivist
“Generation eiskalter Killer“ wächst heran
Brasilien züchtet nach den Worten des angesehenen Menschenrechtsaktivisten Eduardo Capobianco „eine Generation eiskalter Killer“heran.“Sie töten einen Menschen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie eine Coca-Cola trinken“, sagte er im Dezember während der Auszeichnung mit einem Bürgerrechtler-Preis in Sao Paulo. Capobianco, Präsident von zwei regierungsunabhängigen Institutionen, die das organisierte Verbrechen sowie die tiefverwurzelte Korruption in Politik und Wirtschaft bekämpfen, hatte erst Anfang Dezember in der City der 17-Millionen-Stadt ein Attentat überlebt. „Brasilien hat gravierende soziale Ungleichheiten und eine kapitalistische Kultur, die auf dem Konsum basiert, Städte des Konsumismus wie Sao Paulo. Das stimuliert letztlich Gewalt – Armut allein ist dafür nicht verantwortlich zu machen.“ In entwickelten Ländern wie Japan entfalle statistisch pro Jahr ein Mord auf hunderttausend Einwohner – in einer Stadt wie Sao Paulo seien es dagegen gemäß offiziellen Zahlen immerhin fünfzig. Indessen gebe es bereits leichte Fortschritte bei der Verbrechensbekämpfung, die Arbeit seiner beiden Institutionen mißfalle der Gegenseite sehr und habe das Attentat bewirkt.
Capobianco überlebte den Anschlag nur, weil er eine Mappe mit Büchern vor die Herzgegend hielt, Kugeln darin steckenblieben bzw. nur seine Beine trafen. Weder die Polizei noch er selbst haben einen Hinweis auf die Täter und deren Hintermänner.
In den letzten drei Monaten kam es in Brasilien zu einer Attentatsserie, bei der mehrere Gewerkschaftsführer, ein progressiver Großstadtbürgermeister sowie Umweltaktivisten getötet wurden, Bombenanschläge forderten glücklicherweise keine Opfer. Eine bislang unbekannte rechtsextreme Organisation schickte Morddrohungen an 37 Bürgermeister der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT im Industrie- Teilstaat Sao Paulo, dessen Bruttosozialprodukt das von ganz Argentinien übertrifft.
Systematische Folterungen weiter alltäglich – trotz Anti-Folter-Gesetz
Menschenrechtler skeptisch über offizielle PR-Kampagne
Der Dreißig-Sekunden-TV-Spot ist gut gemacht, drastisch-realistisch: Ein Mann, halbnackt, blutend, gefesselt, wird von einem Sadisten gequält, mit dem Kopf immer wieder in einen Wassertank getaucht, soll Informationen preisgeben, ein Geständnis ablegen. Ein Dritter sieht die Szene, rennt zum Telefon, wählt die neue Gratis-Nummer von „SOS Tortura“, erstattet anonym Anzeige. Jeder sollte ab sofort genauso handeln, lautet der Appell an die Fernsehzuschauer – „denn Folter ist ein Verbrechen!“ Daß Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, jetzt auch in Rundfunk und Presse eine solche Medienkampagne starten ließ, einmalig in der Geschichte Brasilien, könnte die Menschenrechtler des In-und Auslands optimistisch stimmen. Doch Skepsis überwiegt. Befürchtet wird, daß Brasilia damit lediglich auf Imageverbesserung bei den Vereinten Nationen zielt. Deren Experte für Folterfälle, Nigel Rodley, hatte letztes Jahr nach einer Reise durch mehrere Teilstaaten die Zustände als erschreckend und eigentlich unbeschreiblich angeprangert. Nicht anders sieht es Amnesty International, stellte deshalb in der 17-Millionen-Stadt São Paulo, Lateinamerikas führendem Wirtschaftszentrum, im Oktober kurz vor Kampagnebeginn der brasilianischen Öffentlichkeit den neuesten Bericht über Folter und Mißhandlungen vor. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen, gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Laut Patrick Kopischke, Brasilien-Experte von Amnesty International, hat der starke politische Druck, die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, dazu geführt, daß Folter andere Ermittlungsmethoden ersetzt. Allein in São Paulo, wo über eintausend deutsche Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, ansässig sind, werden laut offiziellen Angaben monatlich über 440 Menschen ermordet. Zum üblichen Nachrichtenangebot der Radio-und TV-Stationen gehören die unaufhörlichen Gefangenenrevolten in den mit fast 100000 Insassen völlig überfüllten Polizeiwachen, Haftanstalten und provisorischen Gefängnissen der Metropole. Pro Monat werden rund eintausend weitere mutmaßliche oder tatsächliche Straftäter in teils fensterlose Zellen gepreßt, wo bereits bis zu 168 Männer auf einem Raum zusammenhocken müssen, der eigentlich nur für höchstens dreißig gedacht war. Wegen der schlechten Luft, der unhygienischen Zustände, des ständigen Fäkaliengeruchs und des damit verbundenen psychischen Drucks sind Aufstände die logische Folge – niedergeschlagen werden sie mit äußerster Brutalität, gibt es fast immer Tote. „Man greift auf Folter und Mißhandlungen zurück, um ein katastrophales Gefängnissystem unter Kontrolle zu halten“, betont deshalb Kopischke, grundlegende Reformen seien nötig, nicht nur kosmetische Verschönerungen. Aktivisten von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen Brasiliens empört zudem besonders, daß das auf ihren Druck hin erlassene Anti-Folter-Gesetz von 1997 an den Zuständen kaum etwas änderte, Täter gewöhnlich straffrei ausgehen, selbst aus der Diktaturzeit berüchtigte Folterer weiter im Dienst sind. Gemäß neuen UNO-Angaben verzeichnet der Teilstaat Minas Gerais die meisten bekanntgewordenen Folterfälle, ist die Polizeibrutalität traditionell besonders hoch. Dies gilt als Erbe des Militärregimes(1964-1985), als Fachleute der CIA gemäß Angaben von Zeitzeugen den Militär-und Zivilpolizisten in Kursen auch Foltertechniken beibrachten. „Heute noch sind es die gleichen“, so der renommierte Menschenrechtsanwalt Antonio Aurelio, „vor allem Elektroschocks, Aufhängen kopfunter an einer Stange, Eintauchen in Wassertanks, Schläge auf beide Ohren, Erstickungsanfälle mittels über den Kopf gestülpten Plastiksäcken“. Im Juni letzten Jahres wurden in einer Polizeiwache São Paulos etwa zweihundert Gefangene, einer nach dem anderen, völlig unbekleidet, mit Elektroschocks gepeinigt. Bei weiteren Mißhandlungen starb ein Insasse, dreißig weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Die beteiligten Polizeikommissare sind weiterhin im Dienst. Beim Interview mit dem Polizeichef einer nordostbrasilianischen Stadt fand dieser nichts dabei, den an den landesüblichen Elektroschock-Apparaturen verwendeten Regler sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen.
Ausriß – Schwangere und zwei Männer erschossen.
Über 40000 brasilianische Kinder arbeiten auf stinkenden Müllbergen
Unicef und NGO entwickeln Alternativprojekte
Im Kriechgang, fast mit Vollgas, arbeitet sich der Müll-LKW in Serpentinen fast bis zur Haldenspitze vor, kippt dort, an der Peripherie der 17-Millionen-Stadt São Paulo, bei 35, 40 Grad Tropenhitze stinkende Abfälle aller Art ab. Auf diesen Moment haben Schwärme von Schmeißfliegen, aber auch Dutzende von Kindern und Jugendlichen nur gewartet. Mit Säcken über der Schulter stürzen sie sich auf die Ladung, sinken bis zu den Knien ein, wühlen neben schwarzen Aasgeiern nach Essensresten, Glas-und Plastikflaschen, Papier und Getränkebüchsen aus Aluminium. Alles wird getrennt, sortiert, ein Stück entfernt bei anderen Familienmitgliedern angehäuft, Alu-Büchsen tritt man mit dem Fuß platt. Metallfirmen oder Papier-und Textilfabriken nehmen alles für lächerlich geringe Preise ab – jedes dreckverschmierte, oft von Hautkrankheiten gezeichnete Müll-Kind kommt pro Tag höchstens auf umgerechnet vier, fünf Mark – überlebenswichtig für die Familien an der Slum-Peripherie von Lateinamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive, aber auch von Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder Recife. In ganz Brasilien sind es über vierzigtausend „Crianças do Lixo“, Müll-Kinder – die nie zur Schule gehen, oder es aufgaben, weil man sie lächerlich machte, diskriminierte. Vor ein, zwei Jahren waren es indessen noch über dreizehntausend mehr – bevor das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die regierungsunabhängige Organisation „Agua e Vida“(Wasser und Leben) Projekte starteten, Druck auf den Staat, lokale Behörden ausübten, um diese schändliche Form der Kinderarbeit zu bekämpfen.
Hautkrankheiten, Cholera
Daß Minderjährige in einem Land, das zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehört, den ganzen Tag im Müll waten müssen, anstatt zu spielen und zu lernen, nennt Afonso Lima, Unicef-Mitarbeiter in São Paulo, einfach entsetzlich, unmenschlich. Die Regierung hat zudem internationale Konventionen, darunter gegen Kinderarbeit unterzeichnet, die derartiges eigentlich verbieten. „Weil die meisten Kliniken ihre sämtlichen Abfälle unsortiert und unbehandelt ebenfalls auf die Halde kippen, können sich die Kinder sogar gefährliche Krankheiten holen, finden Spritzennadeln, Chemikalien aller Art.“ Für seine Kollegin Paula Claycomb aus den USA fehlt es auch an politischem Willen. „Die brasilianische Gesellschaft muß endlich verstehen, daß stinkende Abfallhalden nicht der richtige Ort für Kinder sind.“ Dabei wurde bereits eine Menge erreicht: Unicef und die NGO „Agua e Vida“ brachten in geduldiger Überzeugungsarbeit Gouverneure und viele Gemeinden dazu, Mittel für die Gründung von Müll-Recycling-Kooperativen freizugeben, sogar Gebäude bereitzustellen. Der Vorteil: Wiederverwertbares wird bereits an Wohngebäuden, Supermärkten, Bürohäusern aussortiert – und nicht erst, mit organischen Abfällen verschmutzt, auf der Halde. Resultat: Das Familieneinkommen steigt, die Kinder brauchen nicht mehr mitzuarbeiten, gehen stattdessen zur Schule. Eine geringe staatliche Hilfe von monatlich umgerechnet über zehn Mark pro Kind wird auch an viele andere verelendete Familien nur gezahlt, wenn sie ihre Kinder kontinuierlich in die Schule schicken. „Und das funktioniert“, bekräftigt die NGO-Koordinatorin Teia Magalhaes in São Paulo. „Nur ist es leider oft so: Wir holen eine Familie aus dem Müll, doch andere treten sofort an deren Stelle – Folge der Misere in Brasilien.“ Da die Cholera im Lande längst nicht ausgerottet ist, man sich gerade auf den riesigen Abfallbergen leicht anstecken kann, verbreitet Teia Magalhaes auch ein entsprechendes Aufklärungs-Video, organisiert zusammen mit Präfekturen Musik-und Tanzkurse, um frühere „Crianças do Lixo“ in der Schule zu halten, an Kultur heranzuführen.
Banker und Müllsammler
Auch über Lateinamerikas Wallstreet, die Banken-Avenida Paulista, zerren täglich ungezählte schwitzende, zerlumpte Catadores do Lixo, Müllsammler, ihre hölzernen Karren, hochbeladen mit Verpackungen und anderem Material. Eigentlich sollten die Catadores allen Respekt verdienen: Nur ihnen ist es zu verdanken, daß immerhin achtzig Prozent der Aluminium-Getränkebüchsen, siebzig Prozent der Pappe und dreißig Prozent der Flaschen recycelt werden. Nur hier und da trifft man bereits auf jene Hausmüll-Container wie in Deutschland – ausgerechnet in einem Drittweltland wie Brasilien ist Ressourcenverschwendung weiterhin die Regel. Was vergeudet wird, ob Nahrungsmittel, Strom oder Wasser, hat laut neuesten Studien immerhin einen Wert von jährlich umgerechnet über einhundert Milliarden Mark. Besonders provozierend in einem Land mit ernsten Hungerproblemen: Was São Paulos Supermärkte an Lebensmitteln wegwerfen, reichte wertmäßig bequem aus, um monatlich 600000 Slum-Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Padre Julio Lancelotti kämpft gegen Folter an Kindern und Jugendlichen
Hohes Lebensrisiko, Morddrohungen, tätliche Angriffe
Auch von Unicef wegen Engagements für Kinderrechte ausgezeichnet
„Erstmals konnten wir jetzt achtzehn Aufseher, sogar drei Direktoren, wegen Folter vor Gericht bringen“, sagt Padre Julio Lancelotti im Büro des von ihm geleiteten „Zentrums zur Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ der Millionenstadt São Paulo. Aber Freude, Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg ist ihm nicht anzumerken. Denn auf einen Schlag hat er damit noch mehr erbitterte Feinde unter den Mitarbeitern der gefängnisähnlichen Anstalten für straffällig gewordene Minderjährige(Febem). Von den letzten Attacken hat er sich noch nicht erholt: Als in einer Febem-Einheit wiederum Jugendliche gegen Mißhandlungen, Überfüllung rebellierten, fuhr er sofort hin – eine Gruppe von Febem-Angestellten schlug ihm Zähne aus, trat auf ihn ein, zerbrach die Brille. Militärpolizisten schauten bewußt eine ganze Weile zu, griffen erst spät ein. „Sogar das Kreuz, das ich um den Hals trug, ein Geschenk aus Osnabrück, wurde mir abgerissen – hier ist die Situation eben längst außer Kontrolle.“ Lancelotti, der auch ein Heim für Aids-infizierte Kinder führt, erhält regelmäßig Morddrohungen – andere Pfarrer São Paulos haben ihr Engagement für Menschenrechte bereits mit dem Leben bezahlt – in Brasilien kommt es täglich zu politischen Morden, Attentaten. Theoretisch können er und seine Anwälte sich auf das Anti-Folter-Gesetz, das Statut zum Schutze der Heranwachsenden berufen. „In Brasilien dominiert aber leider Straflosigkeit, Folterer bleiben gewöhnlich ungeschoren, werden nicht einmal entlassen, sind durch die Autoritäten geschützt.“
„Kultur der Folter“
Daß die Gesetze nicht funktionieren, erklärt Lancelotti mit für manchen Europäer sicher überraschenden Gründen:“In diesem Land existiert die Sklavenhalterkultur, auch eine Kultur der Folter weiter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Im Teilstaate São Paulo, dem reichsten ganz Brasiliens, mit weit über eintausend deutschen Unternehmen, sind in den Febem-Anstalten derzeit mehr als viertausend Heranwachsende konzentriert, täglich kommen etwa dreißig hinzu. Wo eigentlich gemäß den Vorschriften nur Platz für sechzig Minderjährige ist, werden in Zellen bis zu vierhundert zusammengepfercht, sind gewöhnlich völlig sich selbst überlassen. „Als letztes Jahr der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nigel Rodley, hier war, erklärte man ihm allen Ernstes, Jugendliche hätten sich Verletzungen selber beigebracht, im Streit miteinander.“ Der Padre, die eng mit ihm kooperierende Anwältin Francisca de Assis Soares, wissen von solchen Fällen, auch von sexueller Gewalt unter den Jugendlichen. Doch das sind Ausnahmen. Die Struktur dieser Anstalten ziele auf Unterdrückung, Entwürdigung, Verrohung – „über viele besonders sadistische Folterungen“, so Lancelotti“, reden wir öffentlich gar nicht mehr, weil es uns ja doch keiner glaubt.“ In einer Febem-Anstalt hatte man allen Ernstes Skinheads angestellt, wegen ihrer Aggressivität von den Minderjährigen nur „Pitbulls“ genannt.
Sadismus der Aufseher
Bekommen Lancelotti und sein Team Wind von Mißhandlungen, fahren alle sofort los, um gerichtsverwertbare Beweise zu sammeln, Torturen zu unterbrechen. „In einer Anstalt trafen wir auf über vierzig gefolterte Jugendliche – mit schweren Verletzungen, gebrochenen Armen und Beinen!“ Rebellieren Insassen einer Febem-Einheit, toben sich bei der Niederschlagung Aufseher, herbeigerufene Polizisten sadistisch aus.“Jugendliche mußten tagelang nackt hintereinander aufgereiht und aneinandergepreßt auf dem Boden hocken, das Geschlechtsteil am Gesäß des Vordermanns, durften nur in Plastikflaschen urinieren, die man dann über ihnen ausschüttete. Scharfe Hunde wurden rudelweise zwischen die Insassen gehetzt – wer deshalb aufstand, erhielt sofort Schläge. Und selbst das – Wärter zwingen Jugendliche, auf andere Insassen zu urinieren. Alles Folterpraktiken, tief entwürdigend!“
Aber könnte die Mitte-Rechts-Regierung unter Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Bewohner São Paulos, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, diese Zustände nicht ändern? „Brasilien ist nur eine formale Demokratie“, analysiert Lancelotti, „die Politiker in Brasilia leben wie auf einem anderen Planeten, fern der Realität, wollen von diesen Dingen nichts wissen – Zugang zu Präsident Cardoso haben wir nicht.“ Bestenfalls mit Galgenhumor registriert der Padre, welches Prestige Cardoso gerade in Europa, auch in Deutschland genießt:“Der Präsident führt sich wie ein Prinz auf, erhält überall Doktortitel. Aber wenn man in europäischen Zeitungen oder in der Genfer UN-Menschenrechtskommission über diese Zustände hier spricht – das mag er, seine Regierung, garnicht.“
Lancelotti räumt ein, daß ihn die Menschenrechtsarbeit zugunsten der Minderjährigen Brasiliens streßt, psychisch ermüdet. „Der Haß auf uns ist groß, wir werden verfolgt, lächerlich gemacht, sind nur wenige – und die Folter nimmt zu!“ Mit seiner Wochenkolumne in einer Tageszeitung São Paulos erreicht er wenigstens einen Teil der Öffentlichkeit. Und ein bißchen Mut macht, daß ihn das UN-Kinderhilfswerk Unicef im neuesten Jahresbericht ausdrücklich als Anwalt der Heranwachsenden Brasiliens hervorhebt.
Manche Medien berichten über Brasiliens gravierende Menschenrechtslage – andere nicht, aus den bekannten Gründen.
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Posted by Marc | 12-05-2008 23:21 | Category: Human rights, Media
Two ads from Associação Brasileira de imprensa, the Brazilian press organisation.
Copy: “A censura nunca desiste. Ela sempre volta disfarçada. 3 de Maio Dia Mundial da Liberdade de Imprensa.”
“The censorship never gives up. It always return disguised. 3th of May, world day for the freedom of press.”
I have seen more censorship ads from Brazil in the past. What going on? Is censorship a big problem in Brazil?
”Leider sind es nicht mehr so viele, die die ganze Wahrheit wissen wollen. Man biegt sehr schnell ab, um bei seiner Meinung bleiben zu können – und bei den als angenehm empfundenen Lösungen. Ich habe mir angewöhnt, Leute danach zu beurteilen: Wieviel Wahrheit erträgt jemand?” Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke im Website-Interview 2009.
„Jeden Tag wird in Brasilien gefoltert.“ Ausriß 2011
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Weltweit höchste Mord-Zahl: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/30/brasilien-weiter-land-mit-weltweit-hochster-mord-zahl-stellen-landesmedien-zum-jahresende-heraus-regierungsprojekt-fur-mord-reduzierung-gestoppt-hies-es/
Blutbäder an Rauschgiftsüchtigen: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/07/brasiliens-crack-epidemiecrack-in-sao-paulo-das-problem-wird-weiterverbreitet-du-auf-der-strase-her-mit-dem-handy-brasiliens-grausige-beschaffungskriminalitat/
Mittwoch, 11. Januar 2012 von Klaus Hart **
http://pernambucoviolento.blogspot.com/
Ausriß – Mindestens ein Kopf von Häftlingen vor Anstaltstor geworfen.
In der INSI-Rangliste der für Journalisten gefährlichsten Länder der Welt steht Brasilien 2012 auf Platz 8.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/1651902/
„Streit zwischen drei Familien führte zur Ermordung von mindestens 64 Menschen in Nordost-Teilstaat Paraiba.“ (2011)
Reporter ohne Grenzen: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/26/pressefreiheit-in-brasilien-von-58-auf-99-platz-zuruckgefallen-auf-welt-ranking-von-reporter-ohne-grenzen/
Brasiliens Medien unterließen anläßlich des Rousseff-Besuchs in Kuba die interessante Frage, ob es denn beispielsweise in Havanna ebenfalls Scheiterhaufen wie in Rio de Janeiro gibt. Der brasilianische Fotograf Rogerio Reis hat seine Fotoinstallation über Scheiterhaufen im Pariser “Maison de la europeenne de la Photographie” – vielleicht ein Tip für Paris-Touristen, die sich auch für Brasilien interessieren:
Tags: Chico Buarque, Maison Europeénne de la Photographie, Menschenrechte, Microondas, Microwaves, Nelson Rodrigues, Paris, Paulo Lins, Rio de Janeiro, Rogerio Reis, Scheiterhaufen in Sao Paulo, Tropa de Elite, Wolf Grabendorff
http://www.mep-fr.org/us/actu/actu_rr.htm
“This exhibition presents an installation entitled “Microwaves“, which consigns to memory some extremely violent and barbaric practices common in Brazil. In some favelas in Rio, young arms and drugs dealers turture and kill their enemies in ‘microwaves’, makeshift crematoriums made of petrol-soaked tyres set on fire. This “method” leaves no trace of the burned bodies, the victims cannot be identified by the police and the culprits are thus rarely brought to justice. The installation is a tribute to the victims of these atrocities.”
“L’exposition présente une installation Micro-ondes, devoir de mémoire sur les pratiques particulièrement violentes et barbares en cours au Brésil.
En effet, dans certaines favelas de Rio, de jeunes trafiquants d’armes et de drogue torturent et condamnent à mort leurs ennemis dans des “micro-ondes”, sorte de crématoriums improvisés dans des pneus arrosés d’essence auxquels ils mettent feu. Cette “méthode” ne laisse aucune trace des corps calcinés, les victimes ne peuvent être identifiées par la police et les coupables sont, de ce fait, rarement jugés.”
http://www.mep-fr.org/us/default_test_ok.htm
“Diese Akte der Barbarei sind ein solcher Rückschritt im zivilisatorischen Prozess, dass viele Leute den Tatsachen nicht ins Auge sehen, dies alles nicht wahrhaben wollen. Ich sehe da auch viel Scheinheiligkeit. Über diese grausamen Menschenrechtsverletzungen muss man diskutieren – doch just dies ist nicht erwünscht. Der Staat hat sämtliche Machtmittel, um diese Barbarei sofort zu beenden, doch dazu fehlt politischer Wille.” Rogerio Reis im Website-Interview.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/1651902/
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
“Progressive Regierung”.
Wie starb der TV-Reporter Tim Lopes? Laut Polizeibericht entdeckten ihn Banditen in der Favela Vila Cruzeiro von Rio de Janeiro – Tim Lopes wurde zuerst gefoltert, dann rammten ihm die Gangster einen Spieß in den Brustkorb, hackten seine Füße ab und verbrannten ihn lebendig in Autoreifen – siehe Szene aus ”Tropa de Elite.Â
Vier gleichzeitig verbrannt worden: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/09/18/scheiterhaufen-in-rio-de-janeiro-mindestens-vier-manner-gleichzeitig-verbrannt-morte-no-microondas-meldet-o-globo/
Fotodokumentation: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/05/brasiliens-zeitungen-eine-fundgrube-fur-medieninteressierte-kommunikations-und-kulturenforscher/
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Paulo Lins, Partner von Rogerio Reis: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/20/paulo-lins-gesichter-brasiliens/
Goethe-Gesellschaft Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/22/prof-dr-marcus-mazzari-prasident-der-goethe-gesellschaft-brasiliens-associacao-goethe-do-brasil-gesichter-brasiliens/
Barack Obama in Rio de Janeiro: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/03/17/barack-obama-redet-in-scheiterhaufen-stadt-rio-de-janeiro-brasiliens-filmemacher-jose-padilha-thematisierte-rios-scheiterhaufen-in-filmen-von-zwei-berlinalen-kaum-reaktionen-aus-der-gutmenschenszen/
”Esta se deteriorando a bondade brasileira. De quinze em quinze minutos, aumenta o desgaste da nossa delicadeza.”
“Leider sind es nicht mehr so viele, die die ganze Wahrheit wissen wollen. Man biegt sehr schnell ab, um bei seiner Meinung bleiben zu können – und bei den als angenehm empfundenen Lösungen. Ich habe mir angewöhnt, Leute danach zu beurteilen: Wieviel Wahrheit erträgt jemand?” Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke im Website-Interview 2009.
Scheiterhaufen-Szene aus Berlinale-Gewinner “Tropa de Elite”.
Marcelo Yuka: …Scheiterhaufen aus Autoreifen, auf denen die Kommandos des organisierten Verbrechens in den Slums regelmäßig Mißliebige, darunter Bürgerrechtler, lebendig verbrennen. Geschildert wird auch das Normendiktat der Gangstersyndikate “ und im Refrain immer wieder eindrücklich die Zeile: „Mas ha um cheiro de pneu queimado no ar” “ Aber es ist doch Geruch brennender Autoreifen in der Luft¦”
”Mit dieser Musik zeige ich Paradoxes, Absurdes, nicht nur die Parallelregierungen der Slums. Wir leben hier alle ganz in der Nähe bizarrer, unglaublicher Vorgänge wie das Verbrennen von Menschen, was beinahe alltäglich ist – ebenso wie obskure Folterpraktiken oder das Zerstückeln von Menschen.”
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/11/der-brasilianische-musiker-und-poet-marcelo-yuka1/
Populärer Scheiterhaufen-Rap: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/16/rio-de-janeiro-popularen-scheiterhaufen-rap-microondas-der-scheiterhaufen-stadt-anklicken-vacilou-bem-na-favela-microondas-te-torrou-a-tua-chance-acabou/
Chico Buarque über Rio de Janeiro: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/08/13/musikmagazin-folker-chico-buarque-65/#more-2611
Wolf Grabendorff: Die Reorganisation des Staates durch die politische und vor allem wirtschaftliche Liberalisierung und ihre sozialen Folgen haben den Demokratien in Lateinamerika einen hohen Grad an Instabilität verliehen. Korruption und Kriminalität haben in einigen Ländern ein unvorstellbares Ausmaß angenommen. 140 000 Morde und 28 Millionen Raubüberfälle werden jährlich in der Region verübt. Angesichts vielfacher Verbindungen zwischen Kriminellen und der Polizei sind zunehmend mafiöse Strukturen entstanden, die längst das Gesetz- und Gewaltmonopol des Staates untergraben haben. Immer stärker wird die Gewalt in vielen Staaten zur akzeptierten Form gesellschaftlicher Auseinandersetzung. (2003)
“Rumpf einer Frau mitten auf der Avenida Brasil verbrannt worden”, meldet Rios Presse 2008: Laut Zeugen brachten Banditen den Rumpf, dessen Kopf abgehackt war, aus der “Favela da Eternit” auf Rios Zufahrtsautobahn, steckten ihn in Autoreifen und zündeten die “Microondas” an.
Verbrannt per “Lynchjustiz”, laut Bericht, in City-Stadtteil Catete der Olympiastadt Rio de Janeiro.
“Area de Microonda” – Ort der modernen Scheiterhaufen aus Autoreifen, zynisch genannt “Microondas”, Mikrowelle. “Local de Desova” – Ort zum Abwerfen von Ermordeten. Die etwa anderthalb Meter hohe Favela-Holzskulptur eines brasilianischen Bildhauers, ausgestellt in Embu das Artes bei Sao Paulo.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/1651902/
Die Abkürzung “C.V.” steht für Comando Vermelho, Rotes Kommando – Â eine der führenden Verbrecherorganisationen Brasiliens, die u.a. in Rio de Janeiro mehrere hundert Slums neofeudal beherrscht.
“Kindergarten des Comando Vermelho”
“Augenarzt für gut zielenden Killer”
“Helikopter-Landeplatz des Comando Vermelho im Slum”
Daneben Brasilienklischee-Kunst
Direkt auf der Rio-Stadtautobahn “Avenida do Brasil” wurde Ende April 2008 in Autoreifen der Rumpf einer Frau verbrannt, die anderen Körperteile waren abgehackt worden.
“Journalist gekreuzigt. Einschüsse in der Schulter. Reporter zeigte Wahl-Verbrechen an und wurde von Bewohnern gerettet, bevor ihn die Banditen verbrennen konnten.” Ausriß.
Ausriß – Bahia-Medien berichten anschaulich über die Morde während des Polizeistreiks von Februar 2012..
Ausriß. Das Kleinkind, die schwangere Mutter, die Mordopfer.
Attentate auf Systemkritiker: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/02/10/gestaltungsmacht-brasilien-erneut-systemkritischer-journalist-erschossen-nationale-journalistenvereinigung-protestiert-reporter-ohne-grenzen-zur-pressefreiheit-unter-lula-rousseff-bundesau/
Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe Frei Betto über die Präsenz hochbewaffneter Banditen in Slums von Sao Paulo:
„Ao percorrer a favela, por becos e vielas, avistei a barreira humana formada pelo pessoal do narcotráfico, que em plena tarde de uma sexta-feira exibia armas.“ (2012)
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Porno-und Gewaltvideos in Brasilien
Anleitung zu sadistischen Verbrechen
Der zwölfjährige Paulo Torres in der Megacity Sao Paulo konsumiert an den Wochenenden von morgens bis weit nach Mitternacht ein Gewaltvideo nach dem anderen. Zudem hat er Riesenspaß daran, per Killerspiel jedesmal Tausende von Menschen sadistisch zu foltern und zu ermorden. Paulos Bruder Antonio, 14, bevorzugt bereits Gewaltpornos – und Videogames, bei denen man beliebig viele Mädchen und Frauen jeden Alters quälen, vergewaltigen und töten kann. Die Mutter der beiden schaut lieber gar nicht hin: „Was soll man machen – es sind halt Machos – und die mögen eben sowas.“ Eingreifen, verbieten – darauf käme sie nicht, ebensowenig der Vater. Die Mittelschichtskids Paulo und Antonio besorgen sich das Zeug spottbillig nahe der City-Kathedrale und der Präfektur – Raubkopien selbst der perversesten Videos oder Games verkaufen die Scharen der Straßenhändler bereits ab umgerechnet 40 Cent. Gemäß einer neuen Umfrage sitzen allen Ernstes 100 Prozent(!) der Mittel-und Oberschichtskinder lieber vor dem Fernseher, sehen Videos, anstatt zu spielen – bei den unteren Schichten liegt die Rate bei 97 Prozent. In den über 2000 Slums gehören Gewaltpornos seit langem zum Massenkonsum von Halb-und Vollanalphabeten. Kein Geheimnis, daß auch in den Ghettos von Rio de Janeiro die hochbewaffneten Banditenkommandos bereits seit den achtziger Jahren begeisterte Fans solcher Videos und Killerspiele sind, das dort Gezeigte, Praktizierte als Anregung nutzen und an wehrlosen Slumbewohnern ausprobieren. Und längst selber Gewaltpornos drehen, das Vergewaltigen von Slum-Mädchen, und sogar das Zerstückeln von Menschen filmen. Im Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ des brasilianischen Regisseurs José Padilha wird gezeigt, wie Banditen einen jungen Mann auf einem Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrennen – für ungezählte junge Brasilianer war die Szene überhaupt nicht schockierend, soetwas hatte man schließlich bereits aus der Nähe gesehen. Längst ist der Export von Porno-und Gewaltvideos für brasilianische Unternehmer ein Bombengeschäft. Wie das Nachrichtenmagazin „Carta Capital“ unter Berufung auf Interpol berichtet, stieg das Tropenland zum weltweit viertgrößten Lieferanten pornographischer Materialien auf, die unter anderem das Vergewaltigen achtjähriger Mädchen durch erwachsene Männer zeigen. Für die zuständigen Autoritäten ganz offensichtlich kein Grund zum Eingreifen – die katholische Kirche dagegen verurteilt diese Zustände bereits seit den neunziger Jahren außerordentlich scharf. Renommierte Sozialwissenschaftler und Therapeuten wie Jurandir Freire Costa konstatierten „ethisch-moralische Schizophrenie“ in Brasilien, während der damalige Primas von Brasilien, Kardinal Lucas Moreira Neves, „Anstiftung zur Gewalt, Verblödung ganzer Bevölkerungsschichten, Vermischung von Gewalt und Pornographie“ erkannte. 2008 warnt die angesehene Psychologin und Kolumnistin Rosely Sayao in Sao Paulo:“Wir leben in einer Kultur der Gewalt – diese Tatsache schadet tiefgreifend der Bildung unserer Kinder.“ Gewalt in jeder Form sei so banal geworden, daß sie häufig nicht einmal mehr bemerkt werde. Schüsse und Messerstechereien in Schulen, brutale Attacken auf Lehrerinnen – längst beinahe normal. Gewaltpornos scheinen der Alltagserfahrung entlehnt, sind keineswegs nur absurde Fiktion. Die Kirche betont den klaren Zusammenhang zwischen zunehmender Gewaltvideo-Verbreitung und deutlich wachsender Rate von Vergewaltigungen und sexueller Belästigung. Daß inhaftierte Sexualverbrecher fast durchweg gerne Hardcore-Pornos sahen, ist längst auch aus internationalen Studien bekannt. Nicht zufällig, so Rio de Janeiros Kardinal Eugenio Sales, hat zudem die Zahl der zehn-bis vierzehnjährigen Mütter in Brasilien geradezu sprunghaft zugenommen. „Wir verzeichnen eine Zerstörung ethisch-moralischer Werte, die vor Jahrzehnten noch völlig undenkbar gewesen wäre.“
Hintergrund:
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Rio-Kirchen unter MG-Beschuß – Pfarrer müssen sich Normendiktat der Gangstermilizen unterwerfen
„Die Banditenmilizen vom Adeus-Slum schießen immer wieder auf unsere Kirche“, beklagt Pfarrer Geraldo de Lima von der Bonsucesso-Gemeinde Rio de Janeiros, sammelt unterm Kirchturm Projektile auf, abgefeuert aus NATO-Heereswaffen. Bonsucesso, unweit des internationalen Flughafens, ist von fünfzehn Elendsvierteln, Favelas, umgeben, über deren Bewohner schwerbewaffnete Kommandos des organisierten Verbrechens geradezu in Feudalmanier herrschen. Jedermann muß sich deren Normendiktat unterwerfen – auch Pfarrer sowie Ärzte und Sozialarbeiter kirchlicher Hilfswerke. Andernfalls droht die Ermordung. Von Padre Silas Vianna forderte ein Gangsterkommando, deren hohe Telefonrechnungen aus der Gemeindekasse zu bezahlen. Er weigerte sich, worauf das Kommando ankündigte, ihn zu erschießen. So mußte er jetzt nicht nur seine Favela-Gemeinde fluchtartig verlassen, sondern sogar ganz aus der Zehn-Millionen-Stadt Rio de Janeiro weggehen, immerhin zweitwichtigstes Wirtschaftszentrum des Tropenlandes. Dort hausen rund zwei Millionen Menschen in Slums, werden jährlich über zehntausend Menschen ermordet. 2003 kann die Polizei nicht einmal drei Prozent der Fälle aufklären. Immer wieder müssen Slum-Pfarrer urplötzlich den Gottesdienst unterbrechen, sich mit den Gläubigen auf den Boden werfen, weil rund um die Kirche ein Feuergefecht rivalisierender Milizen tobt, sogar Granaten explodieren, Kugeln in den Altarraum einschlagen – eine traumatische Erfahrung. Weit über zehntausend Minderjährige wurden von den Kommandos als Kindersoldaten rekrutiert, finden es großartig, mit lässig umgehängter Mpi durchs Favela-Labyrinth zu spazieren, Respekt und Unterwerfung zu fühlen. „Normale kindliche Abenteuerlust“, sagen Pfarrer, „wird von den Banditen schamlos ausgenutzt, in den Köpfen der Jungen werden diese zu Helden und Vorbildern.“
Doch in den weit entfernten touristischen Strandvierteln unter Zuckerhut, wie Copacabana oder Ipanema, merkt man nicht, was in den rund achthundert Slums geschieht.
Und immer häufiger auch dies: Kaum hat die Kirche auf eigenem Gelände den entsetzlich beengt lebenden Favelabewohnern Sport-und Freizeiteinrichtungen geschaffen, werden diese von den Gangsterkommandos okkupiert – jeglicher Zutritt nur mit deren Erlaubnis. Eine Ordensschwester berichtet, daß in ihrem kirchlichen Kindergarten stets zahlreiche Plätze für Kinder von Banditen, Drogenhändlern reserviert bleiben müssen – kein Einzelfall. „Was sollen wir machen – sie befehlen, diktieren hier die Regeln.“ Laut Luiz da Silva, Regionalleiter der katholischen Favela-Seelsorge, brauchen Pfarrer und deren Mitarbeiter unglaubliches Verhandlungsgeschick, sehr viel Diplomatie im Umgang mit den Banditenmilizen. „Andernfalls könnte man dort gar nicht arbeiten.“ Dabei ist freie Religionsausübung auch in der brasilianischen Verfassung verankert.
Die Banditenherrschaft verhindert zudem aus Kirchensicht, daß Brasiliens Favelabewohner für ihre Bürgerrechte kämpfen. Fehlendes politisches Bewußtsein macht zusätzlich passiv.
Seit der deutschstämmige Kardinal Eusebio Scheid 2001 die Erzdiözese Rio de Janeiro übernahm, fordert er die zuständigen Autoritäten immer wieder auf, diesen Zuständen ein Ende zu bereiten, die überbordende Gewaltkriminalität endlich effizient zu bekämpfen. „Ich fühle Traurigkeit und Beklemmung“, so Kardinal Scheid, „weil einfach nichts unternommen wird. Nicht angenehm, in einer Stadt zu wohnen, in der nicht einmal die Kinder ohne Lebensrisiko zur Schule gehen können.“ Sein enger Mitarbeiter, Monsignore Adionel Carlos, betont, daß die Kirche in fast allen Favelas große Probleme hat:“Unsere Sozialarbeit wird blockiert – und wenn die Kommandos Ausgangssperren verhängen, darf niemand hinein oder heraus. Kranke brauchen dringend Hilfe – doch die ist dann völlig unmöglich. Nicht einmal Ärzte werden zu kirchlichen Ambulatorien gelassen.“ Selbst in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt mit mehr als tausend deutschen Unternehmen, sind solche Ausgangssperren häufig. Das organisierte Verbrechen kontrolliert auch Projekte internationaler Hilfsorganisationen, mißbraucht sie teilweise für kriminelle Zwecke. In keinem Land der Welt werden derzeit so viele Menschen ermordet wie in Brasilien – laut UNO-Angaben jährlich über 45000.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
Die andere Sicht: http://www.n-tv.de/reise/Favelas-dealerfrei-geraeumt-article1386351.html
Brasiliens Slum-Sondergerichte 2012: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/03/15/brasiliens-slum-sondergerichte-der-banditen-diktatur-in-zeiten-neoliberaler-herzenskalte-video-anklicken/
Diktatur – Vergangenheitsbewältigung:
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Armutsgrenze in Deutschland und Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/03/28/deutschlands-armutsgrenze-940-euro-monatseinkommen-in-brasilien-umgerechnet-rund-50-euro/
http://www.friedenskooperative.de/ff/ff03/1-31.htm
Im Mai 2012 berichtete ein Pastor aus Fortaleza, daß in seiner von nur etwa 1000 Menschen bewohnten Favela-Straße innerhalb von drei Tagen vier Menschen erschossen worden seien – es habe sich um die Tötung junger Menschen gehandelt, die ihre Drogenrechnungen bei den Rauschgiftverkäufern nicht beglichen hätten und daher von diesen auch zwecks Einschüchterung anderer Kunden nach Landesmanier tagsüber in aller Öffentlichkeit liquidiert worden seien.
Brasilien – Hintergrundtexte aus dem vergangenen Jahrzehnt:
Aus Amazonien nichts Neues(2005)
Studie widerlegt geschönte Regierungsangaben über Urwaldvernichtung
Daß Brasiliens Regierungen mit falschen, geschönten Zahlen das wahre Ausmaß der Regenwaldzerstörung herunterspielten, ist für Greenpeace, den WWF und Amazonasbischöfe wie den Österreicher Erwin Kräutler seit Jahrzehnten ein alter Hut. Doch auch in Deutschland nahm man die offiziellen Abholzungsdaten aus Brasilia gewöhnlich für bare Münze, hörte nicht auf die wahren Urwaldkenner. Deren Kritik wird jetzt erstmals durch eine Studie nordamerikanischer und brasilianischer Wissenschaftler bestätigt, die kurioserweise in Europa Überrraschung hervorruft. Danach wurde etwa doppelt soviel Wald vernichtet als bisher immer vermeldet. Denn Überwachungssatelliten registrierten nur jene „Clear-Cut-Regionen“, in denen kein Baum mehr steht, nicht aber selektive Abholzungen. Diese ließen sich nun durch präzisere Auswertung von Satellitenfotos erstmals quantifizieren.
Kahlschläge fallen selbst in den Weiten Amazoniens leichter auf, könnten zu Ärger mit den Umweltbehörden führen. Deshalb verlegten sich die Holzfirmen seit den Neunzigern auf den illegalen „Corte seletivo“ – Bischof Kräutler im Amazonas-Teilstaat Parà hat die stupide Fäll-und Transportmethode immer wieder als Umweltverbrechen angeprangert. „Besorgniserregend ist, daß man dabei sogar Sklavenarbeiter rücksichtslos ausbeutet.“
Wurde ein Urwaldriese aufgespürt, der nicht selten über fünfhundert Jahre alt ist, wird er angesägt und reißt beim Sturz im Durchschnitt dreißig große Bäume bester Qualität mit um, ganz zu schweigen vom plattgewalzten Unterholz. Arbeiter trennen nun den unteren, dicksten Teil des Stammes von jenem zum Wipfel auslaufenden Rest, nach dem sich jedes europäische Sägewerk die Finger lecken würde. Dieser große Rest wird jedoch ebenso wie die umgerissenen Edelholzbäume liegen gelassen und verfault. Der herbeigerufene Bulldozer zerrt nur das Filetstück des Urwaldriesen hinter sich her. Zurück bleibt ein Ort der Verwüstung und Degeneration. Starke Winde zerbrechen schwache Restbäume. Die relativ dünne Humusschicht ist erstmals Sonne und starkem Tropenregen ausgesetzt, verliert rapide an Fruchtbarkeit. Doch auch der Bulldozer reißt oft eine mehrere Dutzend Kilometer lange Spur der Zerstörung in den Tropenwald, da ein Wegenetz fehlt. Nur einige Prozent der jährlich anfallenden Edelholzmasse gelangen auf den Weltmarkt – das meiste vermodert oder wird abgefackelt. Wegen der berüchtigten Brandrodungen, mit denen vor allem Flächen für mehr Sojaanbau gewonnen werden, zählt das Drittweltland zu den fünf größten Luftvergiftern der Erde. In gigantischen Flammenwänden verbrennen Millionen von Tieren lebendig, die nationale Liste vom Aussterben bedrohter Arten wird daher rasch länger. Kein Wunder, daß Brasilien im neuesten Guinness-Buch der Rekorde gleich mehrfach als Top-Umweltvernichter negativ herausgestellt wird.
Staatschef Luis Inacio Lula da Silva und seine zu einer großen Pfingstkirche zählende Umweltministerin Marina Silva hatten Anfang 2003 beim Amtsantritt der Weltgemeinschaft radikalen, beispielhaften Naturschutz versprochen. Doch passiert ist das Gegenteil. Selbst gemäß den geschönten amtlichen Angaben wurden jährlich weiterhin über 25000 Quadratkilometer Urwald vernichtet, mehr als in den Jahren der Militärdiktatur – den „Corte seletivo“ nicht eingerechnet. Greenpeace und Umweltexperten der katholischen Kirche weisen jetzt erneut auf Blairo Maggi – schwerreicher Gouverneur des Amazonasteilstaat Mato Grosso. Maggi sei zugleich weltgrößter Sojaproduzent und für die Hälfte der jüngsten Abholzungen direkt verantwortlich. Er gehört zur „Sozialistischen Volkspartei“(PPS), einem wichtigen Koalititionspartner von Staatschef Lula. Der fördert das devisenbringende „Agrobusiness“, besonders die Soja-und Fleischexporteure, nach Kräften.
Auf Brasiliens Umweltaktivisten werden immer wieder Attentate verübt. Im Februar ließen Holzunternehmer und Großfarmer in Bischof Kräutlers Teilstaat Parà die nordamerikanische Missionarin und Regenwaldschützerin Dorothy Stang ermorden. Ende Oktober macht Parà wieder Negativschlagzeilen: Jener Großagrarier Josè Dias Pereira, der die letzten zwei Jahre in einem Schutzgebiet an die zwei Millionen Urwaldbäume fällen ließ und deshalb ins Gefängnis kam, wurde nach 52 Tagen freigelassen.
Katholischer Amazonaspriester wegen Umweltprotesten mit Mord bedroht/“Willst du wie Dorothy Stang enden?“
Der katholische Priester Antonio Ramiro Benito wird derzeit im nordbrasilianischen Teilstaate Amazonas von Holzfirmen und deren Pistoleiros mit Mord bedroht, weil er öffentlich die illegale Abholzung von Urwald anprangert. Wie die Qualitätszeitung „O Estado de Sao Paulo“ am Wochenende weiter berichtete, erinnern die Holzfirmen den sechzigjährigen Priester zynisch an die Liquidierung der nordamerikanischen Missionarin und Umweltaktivistin Dorothy Stang vom Februar im benachbarten Teilstaate Parà. „Willst du enden wie Dorothy“, lauteten entsprechende Drohungen. Gemäß der Zeitung wirkt der aus Spanien stammende Benito in der Stadt Novo Aripuana, in deren Region de facto völlige Rechtlosigkeit herrsche. Daß der Teilstaat Amazonas dieses Jahr von einer verheerenden Dürre heimgesucht worden sei, so klage der Priester an, sei Folge der ungehemmten Urwaldvernichtung. „Wenn diese so weitergeht, wird die Dürre von Jahr zu Jahr schlimmer.“ Dem Bericht zufolge setzt sich Benito auch für die traditionell in der Region lebenden Fischer und Kleinbauern ein, die von den Holzfirmen und Bodenspekulanten vertrieben würden. Diese seien nach dem Mord an Dorothy Stang aus Parà nach Novo Aripuana übergewechselt, weil die Zentralregierung in Parà nach der Tat Militär stationiert habe. Der zuständige Umweltstaatssekretär von Amazonas, Virgilio Viana, hat gemäß der Zeitung die Angaben von Priester Benito bestätigt. Die Stationierung von Militär in Parà, so Viana, habe die Umwelt-und Menschenrechtsprobleme lediglich zweitweise nach Amazonas verlagert. Die Missionarin Dorothy Stang war im Auftrage von Holzfirmen und Großgrundbesitzern erschossen worden, weil sie sich ebenso wie Priester Benito gegen die illegale Urwaldvernichtung sowie für die Menschenrechte der armen Waldbewohner eingesetzt hatte. Die acht Geschwister von Dorothy Stang sowie nordamerikanische Umweltschutzorganisationen haben betont, daß entgegen den Versprechen von Brasiliens Staatschef Luis Inacio Lula da Silva auch nach dem Attentat die Straffreiheit in Parà dominiere und die Umweltvernichtung weitergehe. Laut jüngsten Angaben der UN-Welternährungsorganisation FAO ist Brasilien derzeit der größte Urwaldvernichter des Erdballs. Aus Protest gegen die Umweltpolitik der Lula-Regierung hatte sich im November der renómmierte Naturschutzaktivist Francisco Anselmo Gomes bei einer Kundgebung selbst verbrannt.
Brasiliens Bischofskonferenz verurteilt Welle sadistischer Verbrechen
Diskussion um Einführung der Todesstrafe
„Wir erleben schockierende Situationen der Barbarei“, bekräftigt tief erschüttert der deutschstämmige Bischofskonferenz-Generalsekretär Odilo Scherer. „Der Staat muß endlich handeln, die Menschenrechte der Bürger respektieren!“ Scherer spricht damit den vielen Millionen von Brasilianern aus dem Herzen, die angesichts einer neuen Welle besonders sadistischer Verbrechen deprimiert, in Spannung und Angst sind. Kurz vor dem Karneval hatten Gangster mit einem geraubten Auto in Rio de Janeiro einen behinderten sechsjährigen Jungen durch drei Stadtviertel geschleift, bis von ihm nur noch zerfetzte Reste übrig waren. Deshalb wurde öffentlich sogar gefordert, den Rio-Karneval abzublasen, rufen schwarz umrandete Riesenposter an den Mauern jetzt dazu auf, den Tod des Jungen und ähnliche Untaten nicht länger hinzunehmen. Auch Kugeln töten fast täglich Kinder. Doch nur wenige Prozent der jährlich über 50000 Morde Brasiliens werden aufgeklärt.
In dieser Woche ein neuer Schock: An der Copacabana werden drei französische Menschenrechtsaktivisten sadistisch gefoltert, barbarisch ermordet. Die drei mutmaßlichen Täter haben noch blutige Hände, als sie die Polizei nach Hinweisen faßt. Der 25-jährige Anführer ist ein früheres Straßenkind, dem die Franzosen mit ihrer NGO für Slumprojekte einst das Leben gerettet hatten, ihn zum festen Mitarbeiter ausbildeten. Als sie entdeckten, daß ihr besonderer Schützling hohe Spendensummen abzweigte, plante dieser gemäß den Ermittlungen kaltblütig die Tat. Doch über die meisten perversen Verbrechen schweigen Staat und Medien -mit Rücksicht auf das Landesimage. Marina Maggessi, seit kurzem Kongreßabgeordnete und zuvor Rios Polizei-Chefinspektorin, nannte die Banditenbosse regelrechte „Tyrannen“:“Sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, begehen Greueltaten jeder Art, herrschen über die Elendsviertel mit aller Brutalität.“ Unter Staatschef Luis Inacio Lula da Silva hat sich die machistische Gewaltkultur weiter verfestigt, sind „Ehrenmorde“ häufig. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt und Tourismushochburg Recife ist Gewalt durch Waffen und Schläge die erste, wichtigste Todesursache bei Mädchen und Frauen zwischen zehn und 49 Jahren. „Derzeit schafft man günstige Bedingungen für noch mehr Gewalt“, sagt Sao Paulos Uni-Sozialwissenschaftler Paulo Mesquita . „Bei den Menschenrechten, beim Aufbau der Demokratie gibt es Rückschritte.“ Im Februar war Finanzminister Guido Mantega Geisel unbekannter Banditen – zwei Monate zuvor traf es zwei andere Minister. Die Mehrheit der Brasilianer will seit langem die Todesstrafe. Angesichts des zunehmenden Täter-Sadismus machen sich erstmals Intellektuelle zum Sprachrohr für Rachegefühle. Gegen die Mörder des behinderten Jungen in Rio wäre die Todesstrafe zu wenig, schrieb Renato Ribeiro, Ethikprofessor an Brasiliens größter Bundesuniversität in Sao Paulo. „Ich denke, sie müßten eines grauenhaften Todes sterben – genauso grauenhaft, wie sie es mit dem Jungen machten.“ Die Bischofskonferenz ist gegen die Todesstrafe ebenso wie gegen ein niedrigeres Strafmündigkeitsalter. Hochgefährliche jugendliche Schwerverbrecher dürften indessen nicht schon nach kurzer Zeit auf die Straße zurückkehren, wie es derzeit üblich sei. Amazonas-Bischöfe wie Erwin Kräutler aus Österreich bestätigen zudem, daß nicht in den Großstädten die Mordrate am höchsten ist, sondern in Gemeinden und Kleinstädten des Hinterlandes. In Rio entfallen auf 100000 Einwohner jährlich rund fünfzig Morde. Im nordbrasilianischen Colniza sind es indessen 165 Morde – in Deutschland ein einziger. Gemäß neuen Studien sind rund vierzig Prozent der Bewohner Sao Paulos schwach bis stark psychisch gestört, jeder zehnte müßte in psychiatrische Behandlung. Wie Dr. Sergio Tamai, Direktor des katholischen Betreuungszentrums „Santa Casa de Misericordia“ dort betonte, gehörten Gewalt und Verbrechen zu den wichtigsten Gründen für Depression oder Paniksyndrome. Papst Benedikt XVI. besucht die drittgrößte Stadt des Erdballs im Mai.
Brasilianisches Nachrichtenmagazin berichtet über Kindstötung bei Indiostämmen
Das brasilianische Nachrichtenmagazin „Isto è“ hat in seiner neuesten Ausgabe der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI vorgeworfen, statistische Angaben über die bei verschiedenen Indiostämmen übliche Tötung von Kindern, den sogenannten Infantizid, zu verheimlichen. Edson Suzuki, Direktor der NGO Atini, erklärte gegenüber „Isto è“, es sei absurd, unter welchem Vorwand auch immer, die Augen vor diesem Genozid an Kindern zu verschließen. „Man darf keine Kultur schützen, die gegen das Leben ist“, sagte Suzuki. „Schwarze Sklaven zu besitzen, war auch bereits einmal ein kulturelles Recht.“
Das Nachrichtenmagazin schilderte den Fall des Indiojungen Amalè vom Stamme der Kamaiurà im Teilstaate Mato Grosso: Im November 2003 wird er von seiner Mutter Kanui kurz nach der Geburt lebendig eingegraben. Kanui folgte damit einer Stammesvorschrift, derzufolge Kinder alleinstehender Frauen lebendig verscharrt werden müssen. Zwei Stunden später entschließt sich die Tante von Amalè, ihn zu retten. „Bevor ich Amalè ausgrub, hatte ich dort bereits die Schreie von drei anderen lebendig begrabenen Kindern gehört“, sagte Kamiru, 36. „Ich versuchte sie alle wieder herauszuholen, aber Amalè war der einzige, der überlebte.“ Wissenschaftler haben laut „Isto è“ die Praxis des Infantizids bei mindestens 13 Ethnien, darunter den Yanomami, Tapirapè und Madiha entdeckt. So seien allein 2004 insgesamt 98 Yanomami-Kinder von ihren Müttern umgebracht worden. Die Kamaiurà, Stamm des Jungen Amalè, töten danach zwischen 20 und 30 Kinder pro Jahr. „Außer den Kindern alleinstehender Frauen“, so das Nachrichtenmagazin, „sind Babies mit körperlichen und geistigen Behinderungen zum Tode verurteilt.“ Zwillinge könnten ebenfalls umgebracht werden. Zu den sehr banalen Motiven zähle, wenn Indiokinder wegen simpler Hautflecken umgebracht würden. Denn solche Kinder, so heiße es, könnten dem Stamme Schlechtes bringen. Tötungsmethoden seien das lebendige Eingraben, das Ertränken oder Ersticken der Babies. Im allgemeinen müsse die eigene Mutter das Kind töten, doch gebe es Fälle, in denen sie dabei vom Medizinmann unterstützt werde.
Laut „Isto è“ überlebten dank der NGO Atini, der protestantische Missionare und katholische Aktivisten angehörten, mindestens zehn Indiokinder, die derzeit in Brasilia betreut würden.
Panzer, Kanonen und ein mutiger Hungerstreik-Bischof
Mehr Solidarität trotz Medienblockade Brasilias
Brasiliens Regierung wird immer nervöser, weil Franziskaner-Bischof Luiz Flavio Cappio einfach nicht kapitulieren will. Auch nach über zwanzig Tagen Hungerstreik gegen das umstrittene Flußumleitungsprojekt am nordöstlichen Rio Sao Francisco macht er unbeirrt weiter, erhält immer mehr Solidarität aus der ganzen Welt. Fast zehn Kilo magerer und ständig von einem Arzt betreut, beobachtet Cappio von seiner Ufer-Kapelle in Sobradinho, wie wichtig man ihn im Präsidentenpalast der fernen Hauptstadt Brasilia nimmt. Staatschef Lula, Oberbefehlshaber der Streitkräfte, hat die letzten Tage rund um den Hungerstreik-Bischof die Militärpräsenz verstärkt: Panzer und Kanonen rollen, Militärlaster bringen immer mehr in Guerillataktik geschulte Soldaten an den Rio Sao Francisco. „Das ist hier wie zur Diktatur“, sagt Ruben Siqueira, Cappios engster Berater von der Bodenpastoral, am Montag in Sobradinho. „Das Militär schüchtert die Leute am Fluß ein, will sie von Protesten abhalten.“ Seit dem Wochenende ruhen wegen einer einstweiligen Gerichtsverfügung vorläufig die Bauarbeiten, stehen daher für Patrouillen, Straßenkontrollen noch mehr Soldaten, Offiziere und Fahrzeuge bereit. Laut Ruben Siqueira führt Brasilia zudem geschickt und trickreich einen Medienkrieg gegen den Hungerstreik-Bischof, will ihn von den Politikern des Nordostens und selbst in der Kirche isolieren. Auffällig, daß Brasiliens große Medienunternehmen, durchweg in Privathand, tagelang nichts über Cappio brachten. Durchgesickert sei, daß Lula entsprechenden Druck auf die führenden TV-Sender ausübte, damit die ihre Nachrichtensendungen Cappio-frei hielten. „Unsere Fernsehstationen brauchen die Gewinne aus den vielen Werbespots der Regierung, gerade in den populären TV-News“, erläutert Siqueira. Brasilia wolle sogar den Vatikan veranlassen, eine harte Haltung gegenüber Cappio einzunehmen.
Und in der Tat kommen aus der Kirche widersprüchliche Signale. Rom und auch Brasiliens Bischofskonferenz(CNBB) haben Cappio inzwischen gebeten, sein Leben zu schonen, die Protestaktion nicht weiterzuführen. Die CNBB forderte andererseits die Christen und „alle Menschen guten Willens“ zur Unterstützung von Cappio auf. Brasiliens Sozialbewegungen und die Pastoralen der Bischofskonferenz erklärten den Montag zum „Nationalen Tag des solidarischen Fastens“ – im ganzen Land traten Ungezählte auf Plätzen und in Kirchen ebenfalls in den Hungerstreik. Und selbst der Indianermissionsrat der Bischofskonferenz stellte in einer Note klar, daß Cappios Protest sich längst nicht mehr nur gegen das Umleitungsprojekt richte. „Der Bischof entlarvt das derzeitige Demokratie-Modell der Regierung“, heißt es darin. Begünstigt würden Bankiers und Großunternehmer, während die einfachen Leute mit sozialer Unsicherheit und wachsender Misere konfrontiert seien. Cappio kämpfe für jene, die unter Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit litten, als nutzlos, „Wegwerf-Müll“ betrachtet würden. Staatschef Lula zeige offen seine Mißachtung für den Bischof und bekräftige erneut, die „herrschenden Strukturen in Politik und Wirtschaft“ aufrechtzuerhalten. „Brasiliens Realität ist durch zunehmende Ungleichheit und Ungerechtigkeit gezeichnet.“
Bischof Tomas Balduino von der Bodenpastoral, doch auch zahlreiche Wissenschaftler weisen auf die interessante Tatsache, daß die Lula-Regierung für ihr Megaprojekt etwa von der Weltbank und anderen internationalen Kreditinstituten einfach keine Gelder bewilligt bekommt. „Weil offenkundig ist, daß die Flußumleitung keineswegs die Wasserprobleme der Menschen in den Dürrezonen löst“, betont der Umweltexperte und Universitätsprofessor Thomaz Machado. Das Projekt diene nur den Eliten.
Angesichts dieser Sachlage warnte Hungerstreik-Bischof Cappio am Montag erneut: „Die Brasilianer müssen sich fragen, wie es um ihre Demokratie steht – mein Gesundheitszustand ist verglichen damit, eher drittrangig.“
Brasilien vor sozialer Explosion wie zuvor in Argentinien? Staatliche Almosen als Betäubungsmittel
Die Sozial-und Wirtschaftspolitik der Mitte-Rechts-Regierung ein Desaster, rasch wachsende Slums, Rekordarbeitslosigkeit, ausufernde Gewalt, mehr Morde als in jedem anderen Land der Welt – dazu schlechte Aussichten für 2004. Und trotzdem bleibt, anders als in Haiti oder Venezuela, alles ruhig, konstatieren perplex innenpolitische Beobachter, aber auch Bischöfe und Pfarrer der ökonomischen Führungsmacht Südamerikas. „Warum explodiert Brasilien nicht“, fragt die führende, auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, nachdem die Mannschaft des Staatschefs und Ex-Gewerkschaftsführers Luis Inacio Lula da Silva nun auch noch von einem verheerenden Korruptionsskandal heimgesucht wird, Verbindungen der Unterwelt bis in den Präsidentenpalast offenliegen. Keine Revolten der verelendeten Massen, keine Generalstreiks, gar Straßenbarrikaden. Die Armen scheinen sich über dieses verschuldete, ungerechte, ignorante Land einfach keinen Kopf zu machen, kommentiert die „Folha de Sao Paulo“ drastisch – „andernfalls hätten sie schon alles in Brand gesteckt“. Die öffentliche Diskussion um die – noch – ausbleibende „Explosao social“ hatte interessanterweise Kardinal Geraldo Majella Agnelo, Präsident der nationalen Bischofskonferenz CNBB, ausgelöst. In beispiellos scharfer Form forderte er Staatschef Lula die letzten Tage mehrfach auf, seine sozialen Versprechungen aus dem Wahlkampf zu erfüllen und die prekären Lebensbedingungen des brasilianischen Volkes endlich zu verbessern. Die Lage gleiche einem Dampfkessel mit hohem Überdruck – „in anderen Ländern wäre es längst zu einer Explosion gekommen. Man braucht nur nach Argentinien zu schauen, wo das Volk auf die Straße ging und radikale Änderungen forderte.“ Doch hier gebe es eben diese typisch brasilianischen Kniffe und Tricks, den „Jeitinho brasileiro“, mit dem man alle Probleme zu lösen versuche – „aber das geht nicht immer glatt.“
Der Jeitinho brasileiro ist ein vielgebrauchter, von den Soziologen vielanalysierter Begriff in dem Tropenland, bezeichnet gerissene, unethische Vorgehensweisen, um in der Politik wie im Alltag an den Gesetzen vorbei zum Ziel zu kommen. In einem allgemeinen Klima der Unehrlichkeit und des weithin fehlenden Gemeinschafts-und Bürgersinns, wie der auch in Deutschland vielverlegte Schriftsteller Joao Ubaldo Ribeiro oder der Cineast und Kolumnist Arnaldo Jabor immer wieder beklagen. Der angesehene, sozial engagierte Großunternehmer Ermirio de Morais nennt sein Land gar das „Paradies der Gerissenen“, die man vor allem „oben“, in der Politik finde – geißelte diese selbst in einem Theaterstück aus seiner Feder. Der Lula-Regierung wirft er vor, mit Rekord-Leitzinsen den Banken und Spekulanten Rekordgewinne zu bescheren, aber das Wirtschaftswachstum und damit auch die Schaffung von Arbeitsplätzen zu verhindern – welche die 175 Millionen Brasilianer heute nötiger brauchten als Sozial-Almosen. Andere prominente Analysten erinnern an Ministerversprechen, im Sozialbereich auf keinen Fall zu kürzen – „sie haben gelogen!“ Dennoch seien genügend Mittel übrig geblieben, um von den über vierzig Millionen Verarmten bzw. Verelendeten wenigstens annähernd die Hälfte mit Mini-Sozialhilfen zu beglücken, die wie Anestesicos, Betäubungsmittel, wirkten. Diese Hilfen, ob für Hungernde, Behinderte, Kinder aus Slumfamilien oder Landarbeiter im Ruhestand, beginnen bei umgerechnet sage und schreibe zwei Euro und erreichen maximal achtundsechzig Euro monatlich. Bei einem Preisniveau, das dem osteuropäischen ähnelt, ist damit ein Entkommen aus der Misere unmöglich.
Mit Lula stolperte Brasilien 2003 entgegen allen populistischen Wahlversprechen in die Rezession. „Ohne Wirtschaftswachstum endet die Wirkung dieses Betäubungsmittels“, warnt die „Folha de Sao Paulo“, „aber wann wird das sein? Falls die Realeinkommen weiter sinken, die Arbeitslosigkeit weiter steigt, wird Lula sein Mandat nicht in Ruhe beenden.“ Also doch eine „Explosao social“ in Sicht? Der auch in Deutschland recht bekannte brasilianische Befreiungstheologe und Dominikaner-Ordensbruder Frei Betto, derzeit als Präsidentenberater Lulas hauptsächlich für die Hungerbekämpfung zuständig, hat immer wieder die politische Apathie im Lande beklagt. Elend mobilisiere nicht notwendigerweise zu Gegenaktionen, betäube vielmehr, halte die Betroffenen in psychischer und physischer Lethargie. Gerade Arbeitslose hätten Angst, sich zu mobilisieren. „Die kollektive politische Apathie ist symptomatisch für den Zustand der brasilianischen Demokratie.“
Brasiliens Hungerstreik-Bischof Cappio kämpft weiter
„Leben wir in einer Diktatur?“
In Nordostbrasilien hat das Militär ungeachtet öffentlicher Proteste den Bau der gigantischen und heftig umstrittenen Umleitung des Rio Sao Francisco wiederaufgenommen. Franziskanerbischof Luiz Flavio Cappio, der gegen das Projekt bis kurz vor Weihnachten einen 24-tägigen Hungerstreik geführt hatte, kündigte deshalb neue Protestaktionen der nationalen Sozialbewegungen an. „Der Kampf geht weiter.“ Die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva sei ausgerechnet gegenüber jenen gesellschaftlichen Gruppen „total unsensibel“, die seinen Wahlsieg garantierten. Der Dialog mit dem Volk werde verweigert. „Leben wir in einer Diktatur?“ Der stark abgemagerte 61-jährige Cappio erholt sich nur langsam von den zurückliegenden Strapazen und trinkt viel Kokosmilch. Er lächelt hintergründig-weise, wirkt keineswegs gebrochen, sondern tief zufrieden. Denn mit seiner Aktion hat er die Nation weit stärker aufgerüttelt als mit den elf Tagen Hunger-Protest von 2005. Wie durchsickerte, hatte die Lula-Regierung durch Druck auf die Medienbosse erreicht, daß anfangs kaum oder gar nicht über den Hungerstreik und die Argumente Cappios berichtet werden durfte. Das verärgerte viele Journalisten, traf sie in der Berufsehre. Überraschendes Resultat: Nach dem Abbruch der Aktion publizierten gerade die Qualitätsmedien soviel gutfundierte Kritik an dem Umleitungsprojekt wie nie zuvor – der anfangs verlachte, verhöhnte Cappio wurde Sympathieträger. Staatschef Lula blamierte sich mit seiner Empfehlung an Cappio, Vernunft anzunehmen und sich nicht in technische Fragen einzumischen, von denen er nichts verstehe. Denn just für die technisch-wirtschaftlichen Details der Flußumleitung interessieren sich die Brasilianer mehr denn je und entdecken zunehmend Schwachstellen der Regierungspropaganda. Laut Lula sollen 12 Millionen Arme in Dürreregionen durch das Projekt endlich Trinkwasser erhalten. Doch auch Befreiungstheologe Leonardo Boff nennt dies falsch – über neunzig Prozent der umgeleiteten Wassermassen seien schließlich für Industrie und Export-Landwirtschaft bestimmt, nur fünf Prozent für bedürftige Menschen. Zudem fehle in jenen Regionen gar kein Trinkwasser, regne es mehr als in Frankreich, müsse Wasser nur sinnvoll gespeichert und verteilt werden. Ex-Innenminister Joao Alves Filho argumentiert wie Boff: Wasser gebe es im Nordosten überreichlich, Brasilia sage nicht die Wahrheit. Die Umleitung könne zum „Tod“ des Rio Sao Francisco führen – nur 700000 Menschen würden tatsächlich Trinkwasser erhalten. „Lula hat Cappio direkt angelogen – das gesamte Projekt fußt nur auf Lügen“, betont der Schweizer Entwicklungsexperte Renè Scherer. In Wahrheit zähle der Bau eines Stahlwerks im Nordost-Hafen Pecem zu den wichtigen Gründen der Flußumleitung. Genügend Trinkwasser sei in der Region vorhanden, werde bisher jedoch falsch verteilt oder vergeudet. Allein in der Küstenstadt Fortaleza, mit etwa soviel Einwohnern wie Berlin, geht rund die Hälfte des Trinkwassers auf dem Weg zu den Nutzern verloren. Laut Scherer besitzt Brasilien ein vorbildliches Gesetz, das öffentlichen Verbraucherkomitees der Trinkwasser-Einzugsgebiete die Entscheidungsbefugnis über Wasserprojekte überträgt. „Lula hat die Komitees einfach übergangen – das ist ein Schlag gegen die Demokratie!“ Die von der katholischen Kirche, der Caritas Brasilien geförderten 220000 Zisternen zum Auffangen von Regenwasser, hätten sich bewährt und seien eine der Alternativen zur Flußumleitung. Für die große Qualitätszeitung „O Estado de Sao Paulo“ preist der Staatschef sein milliardenteures Projekt lediglich mit „abgedroschenen Sprüchen“. „Die brasilianische Gesellschaft muß den Bau bezahlen und hat daher das Recht, klare Antworten zu fordern.“
Trotz Job auf der Straße schlafen
Neue soziale Phänomene durch Reallohnverlust und Rekordarbeitslosigkeit in Brasilien
Virginia de Jesus Santos wäre mit dem Bus bequem in einer halben Stunde auf ihrer Arbeit – doch der kostet umgerechnet fünfzig Cents, und das ist für die Brasilianerin unerschwinglich teuer. Also steht sie jeden Tag vorm Morgengrauen auf, läuft drei Stunden größtenteils im Nachtdunkel bis in die City der Megametropole Sao Paulo – und abends wieder drei Stunden im Dunkeln zurück. Anders könnte sie die Miete für das winzige Zimmer, in dem sie mit ihren beiden Kindern lebt, nicht aufbringen – ganz zu schweigen vom Essen, der Kleidung für alle drei. In Südamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive mit über tausend deutschen Firmen verfahren inzwischen rund zweihunderttausend auf die gleiche Weise – bei brasilianischen Stundenlöhnen von nicht selten unter fünfzig Cents ist jemand, der auch noch mehrmals umsteigen und damit mehrmals zahlen müßte, schlichtweg geliefert, läßt Busflotten, Vorortzüge und Metro an sich vorübersausen. Gar nicht mitgerechnet jene Hunderttausenden, die sich täglich paradoxerweise im Verkehrsgetümmel der drittgrößten Stadt der Welt zu Fuß auf die Arbeitssuche machen. Andere, die weit entfernt an der Slumperipherie hausen, doch mit einem dreistündigen Fußmarsch wie Virginia de Jesus Santos längst nicht Hütten und Katen erreichen, stellten sich noch radikaler um: Wochentags schlafen sie nach der Arbeit wie die Obdachlosen unter Brücken, in Parks und Massenasylen, machen sich nur am Wochenende auf den langen Weg, sehen nur dann ihre Familien. Nicht zufällig ging die letzten Jahre in ganz Brasilien die Zahl der Busbenutzer um dreißig, in Sao Paulo sogar um fünfzig Prozent zurück – während gleichzeitig die Fahrscheine um bis zu sechzig Prozent teurer wurden. Weil nach dem Amtsantritt von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva die Arbeitslosigkeit auf Rekordhöhe kletterte, die ohnehin niedrigen Reallöhne in nur einem Amtsjahr abrupt um durchschnittlich vierzehn Prozent sanken, beobachten die Kirche, aber auch die Sozialwissenschaftler zahlreiche neue Phänomene. Wer sich am Strand von Rio, oder im Ibirapuera-Park von Sao Paulo ein Samba-oder Klassikkonzert mit der Bier-oder Cola-Büchse in der Hand anhört, dem wird die ausgetrunkene „Lata“ regelrecht aus der Hand gerissen, gibt es neuerdings oft gleich mehrere „Anwärter“: Jugendliche, junge Erwachsene, die auf den Arbeitsmarkt drängen und trotz oft guter Bildung einfach keine Stelle finden – entlassene Fabrikarbeiter und selbst Rentner, von denen etwa achtzig Prozent mit nur umgerechnet 75 Euro auskommen müssen. Durvalina do Nascimento in Sao Paulo war mit der Miete im Rückstand, hatte nicht einmal mehr Geld für eigentlich billigen Reis, reihte sich deshalb mit 72 Jahren ins Heer der „Catadores de Lata“ ein, bekommt für zwei große Säcke voll plattgetretener Alu-Dosen umgerechnet achtzig Cents. In keinem Land der Erde werden derzeit makabrerweise „dank“ hoher Arbeitslosigkeit mehr Latas recycelt, ist der Begriff „Dosenpfand“ unbekannt. Und gehört jenes Krachen, wenn Catadores eine Lata routiniert per Fußtritt verkleinern, zu den normalen Straßengeräuschen auch in Rio, Salvador da Bahia oder Recife. In manchen Vierteln von Sao Paulo sind über siebzig Prozent arbeitslos. Doch ohne Zugang zu bezahlbaren Verkehrsmitteln bleiben die meisten im Ghetto, verzichten zwangsläufig auf die Stellensuche, vegetieren in psychischer und physischer Lethargie dahin. Denn mehr als sechzig Prozent der brasilianischen Erwerbstätigen sind im sogenannten informellen Sektor tätig, arbeiten also nach europäischen Kriterien schwarz, ohne soziale Rechte – stehen bei Krankheit, Unfällen oder Arbeitslosigkeit ohne einen Centavo da. Und selbst in Sao Paulo existieren gemäß einer neuen Studie 72 Prozent der Firmen schwarz, führen also auch keine Steuern ab – geduldet von den Autoritäten. Wo Arbeitsplätze angeboten werden, stellen sich bereits die Nächte zuvor zehntausende Frauen und Männer an – ebenfalls ein neues Phänomen nach dem Lula-Amtsantritt. Im zweiten Regierungsjahr räumt der Staatschef kleinlaut ein, daß durch Wirtschaftswachstum – 2003 war die Ökonomie sogar geschrumpft – nicht notwendigerweise neue Stellen geschaffen würden, da die Firmen auf Rationalisierung und Überstunden setzen. „Hauptfunktion der Wirtschaft ist es, den Menschen ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu ermöglichen“, stellte daraufhin die Bischofskonferenz erneut klar.“ Ihr Sozialexperte, Bischof Demetrio Valentini betonte jetzt:“Wir müssen deshalb dringend die Gesellschaft umbauen.“
„Wie in Bagdad“
Welle von Attentaten und Häftlingsrevolten in Brasilien
Detonierende Granaten, Mpi-Salven, brennende Busse und Banken, flüchtende Bewohner in Panik – Lateinamerikas führende Wirtschaftsmetropole Sao Paulo erlebt Tage und Nächte wie in Bagdad. Mit Motorrädern preschen junge Männer an Polizeiwachen heran, eröffnen das Feuer oder werfen Bomben, liquidieren systematisch Beamte und sogar Feuerwehrleute aus dem Hinterhalt. Seit Freitag wurden gemäß den geschönten offiziellen Angaben bei rund 150 Attentaten über siebzig Menschen getötet, weit mehr verwundet. Inoffiziell war von rund hundert Toten die Rede. Viele „Paulistanos“ verbarrikadieren sich zuhause, gehen nicht mehr auf die Straße, nicht mehr zur Arbeit. Denn Brasiliens führendes Verbrechersyndikat „Primeiro Comando da Capital“/PCC (Erstes Kommando der Hauptstadt) kennt die Privatadressen der Polizisten, Zivilermittler, Gefängniswärter und ihrer Angehörigen, jagt sie auch in deren Freizeit. Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, mit über eintausend deutschen Unternehmen, ist Lateinamerikas reichste Stadt – die Politiker-und Geldelite in ihren Penthouse-und Villenvierteln hat jetzt besonders viel Angst. Denn das PCC will im Präsidentschaftswahljahr Macht demonstrieren, auch die Wirtschaft treffen, räumen selbst Polizeichefs ein. An den Wohlhabendenghettos wurden deshalb Straßensperren errichtet, kontrollieren hochgerüstete Spezialeinheiten der Militärpolizei beinahe jeden herannahenden Wagen. Nicht nur in Sao Paulo ist die Armee in Alarmbereitschaft, denn in über achtzig total überfüllten Großgefängnissen der wichtigsten Teilstaaten rebellieren die Häftlinge, haben mehrere hundert Geiseln in ihrer Gewalt.
Bereits seit Monaten sorgen in Brasilien beinahe täglich Gefangenenaufstände mit vielen Toten für Schlagzeilen. Auslöser der größten Häftlingsaufstände in Brasiliens Geschichte war indessen, daß Sao Paulos Sicherheitsbehörden letzte Woche 765 inhaftierte Führer der Gangstersyndikate in abgelegene Hochsicherheitsgefängnisse verlegten. Zur Vergeltung startete der PCC daraufhin die „Megarebellion“ und die Anschlagsserie.
Für kaum einen Brasilianer kommt die neuerliche Welle der Gewalt überraschend: Als Folge extremer Sozialkontraste, Massenarbeitslosigkeit, fortdauernder Sklavenhaltermentalität und tiefverwurzelter Korruption beklagt die Kirche seit Jahren den sogenannten „unerklärten Bürgerkrieg“ im Lande, der pro Jahr über fünfzigtausend Menschenleben fordert, mehr als im Irakkrieg. In vielen Slums und anderen rasch wachsenden Unterschichtsvierteln der Großstädte herrscht seit Jahren nachts de facto Ausgangssperre, weil das organisierte Verbrechen diese Regionen neofeudal wie einen Parallelstaat beherrscht. Unter der Regierung von Staatschef Lula, so kritisieren Menschenrechtsexperten, wurden entgegen den Wahlversprechen die Ausgaben für öffentliche Sicherheit stark gekürzt. Auch dadurch konnten die Gangsterkommandos ihre Machtstrukturen ausbauen, stärker in die Politik hineinwirken. Zum „Crime organizado“, so schreibt jetzt Brasiliens auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, gehören auch „Politiker, Richter, Polizisten“. Vernetzt seien der Drogenhandel, die Geldwäsche, der Schmuggel größten Stils, die kriminelle Finanzierung von Wahlkampagnen und die Abzweigung öffentlicher Gelder.
Ins Bild paßt, daß Brasiliens Generalstaatsanwalt Antonio de Souza erst kürzlich zahlreiche Freunde und Mitarbeiter Staatschef Lulas, die Minister-und Parteiämter bekleideten, als „Mitglieder einer hochentwickelten kriminellen Organisation, einer Bande“ definierte. Gegen vierzig davon erhob der Generalstaatsanwalt beim Obersten Gericht Anzeige wegen aktiver Korruption, Geldwäsche und anderen Delikten.
Brasiliens Bischofskonferenz hat die jüngsten Terroranschläge des organisierten Verbrechens scharf verurteilt, tiefgreifende Reformen des Rechtssystems und der Strafanstalten gefordert. Sao Paulos katholischer Bischof Pedro Luiz Strighini, Präsident der nationalen Gefangenenseelsorge, wies auf die Grundübel:“Landesweit hat sich das organisierte Verbrechen der Haftanstalten bemächtigt, ist stärker als der schwache Staat.“ Sadistische Grausamkeiten würden von inkompetenten Beamten, aber auch von Kriminellengruppen begangen, die ebenfalls folterten und töteten. „Unter solchen Bedingungen verrohen die Häftlinge, kann von Resozialisierung keine Rede sein.“
Welle von Kindermorden erschüttert Brasilien – Bischöfe: Nicht an solche Gewalt gewöhnen
Mädchen und Jungen, selbst Babies, werden erstickt, erdrosselt, erschlagen und sogar aus Fenstern von Hochhäusern geworfen – eine Welle von Kindermorden sorgt derzeit in dem Tropenland für Entsetzen. Hinzu kommen Schlagzeilen über Kinder, die in Mittelschichtsfamilien, in sogenannten „guten Gegenden“ der Großstädte teils jahrelang tagtäglich von Müttern gefoltert, wie in einem Kerker gehalten wurden. Wieso haben Nachbarn angeblich nichts bemerkt, warum hat niemand eingegriffen, fragen polizeiliche Ermittler ebenso wie Stadtsoziologen. „Das ist der blanke Horror“, warnt Bischof Angelico Bernardino aus dem deutschstämmigen Blumenau. „Das Schlimme ist – die Gesellschaft läuft Gefahr, sich an sexuelle und andere Gewalt gegen Kinder aller sozialen Schichten zu gewöhnen!“ Da die meisten Untaten mitten in den Familien geschähen, müßten deren sozioökonomische und emotionale Bedingungen untersucht werden. Was läuft da falsch? Die Zahl solcher Verbrechen, so Bischof Bernardino, nehme zu – der Staat müsse für die exemplarische Bestrafung der Täter sorgen. Dominierende Straflosigkeit hält die Bischofskonferenz für eines der Hauptprobleme Brasiliens. Denn von den jährlich über 50000 Morden werden gemäß amtlichen Statistiken nicht einmal fünf Prozent aufgeklärt. Und immer wieder belegen Experten, daß die amtlichen Kriminalstatistiken geschönt sind und der Regierung in Brasilia aus Imagegründen nicht daran gelegen ist, das ganze Ausmaß der Verbrechen offenzulegen. Gemäß einer neuen Studie werden zudem nur zehn Prozent aller Fälle von Gewalt gegen Heranwachsende angezeigt. Daher verwundert nicht, wenn jetzt die angesehene Zeitung „O Globo“ nach detektivischen Recherchen im Datenwust des Gesundheitsministerium titelt:“Alle zehn Stunden wird in Brasilien ein Kind ermordet.“ In den letzten sechs Jahren seien es über 5000 gewesen. Allein 2002 habe man mindestens 90 Babies, im Alter bis zu einem Jahr, umgebracht. Nicht mitgerechnet sind dabei derartige Fälle bei brasilianischen Indianerstämmen. Nach Angaben der auflagenstarken Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ werden bei rund 20 der über 200 Ethnien üblicherweise Zwillinge, Kinder alleinstehender Mütter sowie Kinder mit Geburtsfehlern getötet.
Daß Gewalttaten gegen Kinder der nichtindianischen Bevölkerung Brasiliens deutlich zunehmen, resultiert gemäß den Psychologen unter anderem aus dem Faktor Streß, allgemeiner Verrohung und Entsolidarisierung sowie dem steigenden Konsum von harten Drogen wie Kokain und Crack. Danach schrecken viele Menschen gewöhnlich davor zurück, Gewaltphantasien zu realisieren. Im Drogenrausch dagegen fehlten die Hemmschwellen. Aus den brasilianischen Slums ist bekannt, daß dort immer wieder Kinder von rauschgiftsüchtigen Gangstern erschossen werden.
Unter dem Eindruck eines besonders grausamen Mordes an einem behinderten sechsjährigen Jungen hatten sich letztes Jahr 55 Prozent der Brasilianer für die Einführung der Todesstrafe ausgesprochen. Vier verrohte junge Männer hatten in Rio de Janeiro den Jungen während eines Autoraubs auf etwa zehn Kilometern durch die Stadt zu Tode geschleift, sodaß von ihm nur noch Fetzen übriggeblieben waren. Zahlreiche Passanten, andere Verkehrsteilnehmer, die das sadistische Verbrechen beobachteten, wollten die Banditen zum Anhalten bewegen, wurden indessen mit der Waffe bedroht. Unlängst wurden die Täter zur Höchststrafe von 30 Jahren verurteilt, was die brasilianische Öffentlichkeit mit tiefer Genugtuung zur Kenntnis nahm.
Brasiliens glaubwürdigste Institution – die katholische Kirche
Parteien und Politiker absolutes Schlußlicht/“In Deutschland wäre Staatschef Lula schon gestürzt“
Sektenmitglieder, Befürworter von Abtreibung und Todesstrafe, Anhänger einer eher tropisch-laxen Sexualmoral – sie alle haben an der katholischen Kirche Brasiliens eine Menge auszusetzen. Doch wenn es darum geht, welche Institution die höchste Glaubwürdigkeit besitzt, am meisten Vertrauen verdient, nennen auch sie nur zu oft an allererster Stelle just die Kirche. Jüngste Umfragen haben es erneut bewiesen – 71 Prozent der über 180 Millionen Brasilianer geben ihr die höchste „Credibilidade“ – vor den Streitkräften, Gewerkschaften, Justiz oder Polizei. In der größten Demokratie Lateinamerikas strafen die Pflichtwähler dagegen nun schon seit Jahrzehnten das Parlament und die Volksvertreter bei diesen Erhebungen zunehmend schärfer ab – in die politischen Parteien vertrauen nur zehn, und in die Politiker gar nur acht Prozent. Die Bischofskonferenz kommentiert solche Umfragen nicht – doch unabhängige Sozialwissenschaftler analysieren schon von Berufs wegen die Gründe des anhaltend hohen Prestiges der Kirche. „Sie gilt als eine Art moralischer Reserve der Gesellschaft, gegen die Mächtigen, das Establishment“, betont Professor Marcos Figueiredo von Rios Institut für Universitäre Studien/IUPERJ. „Die meisten Brasilianer identifizieren sich mit den Werten der Kirche, sehen sie als konsequente Verteidigerin der Armen und Verelendeten, wissen von der vielfältigen Sozialarbeit.“ Während der 21-jährigen Militärdiktatur habe die „Igreja catolica“ sich stets gegen das Regime aufgelehnt, aktiv für die Demokratisierung Brasiliens gekämpft. Heute unterstütze sie alle Aktionen der Gewerkschaften und der anderen Sozialbewegungen, die sich gegen empörende Ungleichheit, extrem ungerechte Einkommensverteilung richteten. Katholische Intellektuelle wie Frei Betto oder Maria Clara Bingemer spielten traditionell eine wichtige Rolle in der öffentlichen Diskussion.
Laut Professor Figueiredo ergriff die Kirche stets Partei für die Unterprivilegierten, war indessen nie parteiisch. Von manchen wurde sie gar als Stützpfeiler und Propagandainstrument der einstmals progressiven Arbeiterpartei und ihres Chefs, des jetzigen Staatspräsidenten Luis Inacio Lula da Silva gesehen. Dabei hielt sie in Wahrheit seit jeher kritische Distanz, prangerte bereits seit den neunziger Jahren den sich abzeichnenden Trend nach rechts, das Umschwenken der Parteispitze um Lula auf neoliberale Positionen an. Selbst die Landlosenbewegung MST stellt in diesen Tagen heraus, daß sich die Kirche, deren Sozialpastoralen gegenüber der Lula-Regierung stets „extrem kritisch“ und autonom verhalten habe. Auch dies wird in der Öffentlichkeit gerade jetzt hoch anerkannt. Denn die Regierung steckt tief im Korruptionssumpf – ständig kommen neue Einzelheiten über Abgeordnetenbestechung, Mittelabzweigung, Machtmißbrauch und schwarze Kassen ans Tageslicht. Die Kirche hatte mit ihren Warnungen Recht. Über die Hälfte der Brasilianer vertraut nicht mehr in Lula, der durch geschicktes und sehr kostspieliges Politmarketing auch mit Geldern der Upperclass zum Hoffnungsträger aufgebaut worden war. Jetzt behauptet er, von all den dunklen Praktiken seiner Companheiros nichts gewußt zu haben. „Natürlich wußte er davon“, bekräftigt IUPERJ-Professor Marcos Figueiredo, „bei einem parlamentarischen System wie in Deutschland wäre Lula schon längst amtsenthoben, gestürzt.“
Nicht wenige Brasilianer hätten „dramatische Divergenzen“ mit dem Katholizismus, etwa wegen der Abtreibungsfrage und der Aidsprävention. „Doch solche Positionsunterschiede ändern für diese Menschen nichts an der hohen Glaubwürdigkeit der Kirche, wie die neuesten Studien zeigen.“ Indessen sind die Zustimmungsraten gegenüber früheren Jahren um etwa zehn Prozent gesunken. Dies könnte laut Sozialwissenschaftler Figueiredo durchaus am deutlichen Anwachsen der Sekten liegen, die der Kirche nur zu oft feindlich gegenüberstehen. Vor allem an den Slumperipherien gebe es zahlreiche Übertritte von Christen. Viele vertrauten jedoch weiterhin am meisten der katholischen Kirche, so daß deren Spitzenposition auch durch die neuen Religionsgemeinschaften nicht tangiert werde. In anderen Teilen der Welt sei das gleiche Phänomen zu beobachten.
Brasiliens „Aufschrei der Ausgeschlossenen“ – gegen Regierungskorruption und neoliberale Politik
Just zum Nationalfeiertag am siebten September, der landesweit in Brasilien traditionell mit Militärparaden und Aufmärschen begangen wird, stört die katholische Kirche den verordneten Patriotismus erneut mit ihrem „Aufschrei der Ausgeschlossenen“. Organisiert von den Sozialpastoralen der Bischofskonferenz, gehen Slumbewohner, Landlosenfamilien und andere entwurzelte Bevölkerungsteile auf die Straße und in die Wallfahrtsorte, um absurdeste Sozialkontraste, Hunger und die neoliberale Politik der Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Lula anzuprangern. Weil der Staatschef und seine Arbeiterpartei seit Monaten durch Bestechungsskandale, schwarze Kassen und Machtmißbrauch schwer angeschlagen sind, deshalb das Land in einer tiefen politischen Krise steckt, richtet sich der „Grito dos Excluidos“ vorrangig auch gegen die Regierungskorruption. „Das brasilianische Volk fühlt derzeit eine Mischung aus Hoffnungslosigkeit, Trauer und Enttäuschung, ist von der Lula-Regierung desillusioniert“, betont Luiz Bassegio, langjähriger Koordinator des „Aufschreis“. Das Land sei weiterhin Geisel der Außenschulden, unterwerfe sich den Forderungen des internationalen Finanzkapitals. Deshalb, so argumentiert Bassegio, könne nicht ausreichend in Gesundheit, Bildung, Wohnungsbau oder Umweltschutz investiert werden. Aber steht nicht jeden Tag in den Zeitungen, daß Lulas erfolgreiche Wirtschaftspolitik für Wachstum und Exportrekorde sorgt? Laut Bassegio vertieft diese Politik die gesellschaftliche Ungleichheit, nutzt nur einen privilegierten Minderheit, verbessert nicht die Einkommensverteilung. Fast die Hälfte des nationalen Reichtums entfalle auf lediglich fünftausend Familien unter den 180 Millionen Brasilianern. „Deshalb brauchen wir ein anderes Wirtschaftsmodell.“
Auch der in Europa recht bekannte Befreiungstheologe Frei Betto unterstützt den „Grito dos Excluidos“. Brasiliens Realzinsen seien derzeit die höchsten der Welt, bescherten Bankiers und Spekulanten exorbitante Gewinne. Doch die Sozialpolitik liege im Argen. Bettos Empfehlung: Die Beamten des Wirtschaftsministeriums sollten direkt neben einem Slum arbeiten, um die Realitäten der Bevölkerungsmehrheit vor Augen zu haben.
Laut Bischofskonferenz privilegiert Lulas Wirtschaftspolitik das „Finanzkapital“, konzentriert den Reichtum. „Die Armen sind die Hauptleidtragenden der jetzigen Krise.“
Das Mindesteinkommen liegt derzeit bei umgerechnet etwa hundert Euro, das Durchschnittssalär von Indústriearbeitern bei rund 300 Euro. Über sechzig Prozent der Beschäftigten überleben mit teils fragwürdigster Schwarzarbeit, ohne vertragliche Rechte. Von Armut oder sogar Elend sind mindestens 45 Millionen Brasilianer betroffen.
Aber hat denn nicht Staatschef Lulas weltweit hoch gelobtes Anti-Hunger-Programm die Not im Lande stark gelindert, gerade die sozial Ausgegrenzten stark unterstützt, endlich in die Gesellschaft integriert ? Gemäß offiziellen Angaben bekommen über sieben Millionen verelendeter Familien derzeit monatlich umgerechnet zwischen fünf und 31 Euro, sind die staatlichen Hilfsprogramme ein voller Erfolg. Von der katholischen Kirche wird dies teils heftig bestritten. „Lulas Sozialprojekte kommen nicht voran, das Anti-Hunger-Programm blieb im Grunde auf dem Papier“, urteilt Maria Clara Bingemer, Dekanin der Katholischen Universität von Rio de Janeiro, eine der angesehensten Theologinnen Brasiliens. „Die Wirtschaftspolitik ist konservativ, erhoffte soziale Fortschritte bleiben aus.“ Das Bildungswesen sei in „grauenhaftem Zustand“, die Situation der öffentlichen Hochschulen „verheerend“. Der Staatschef habe mit den „übelsten, skrupellosesten Figuren der brasilianischen Rechten paktiert“, überall sehe man jetzt die Konsequenzen. Dekanin Bingemer weist auch auf die gravierende Menschenrechtslage, die Massaker von Todesschwadronen in den Slums. Brasilien zählt jährlich über fünfzigtausend Gewalt-Tote, mehr als in den aktuellen Konfliktherden der Erde. „Wir leben in einem nichterklärten Bürgerkrieg – wer in Rio de Janeiro lebt, ist ähnlichen Gefahren ausgesetzt wie im Irakkrieg oder in Afghanistan.“
Mörder des Umweltaktivisten Chico Mendes zerstört weiter Amazonasurwald
Der wegen seiner Mittäterschaft an der Ermordung des weltbekannten brasilianischen Umweltaktivisten Chico Mendes verurteilte Großgrundbesitzer Darli Alves vernichtet nach wie vor theoretisch streng geschützte Regenwälder. Wie die Medien Brasiliens am Donnerstag mitteilten, wurde Darli Alves von den Umweltbehörden bei illegalen Brandrodungen in der Nähe der Stadt Xapuri im Amazonas-Teilstaate Acre gestellt. Er habe deshalb mit einem Bußgeld zu rechnen. Es handelt sich um das gleiche Umweltverbrechen, gegen das Chico Mendes seinerzeit öffentlich protestiert hatte. Bei den in der derzeitigen Trockenperiode Brasiliens üblichen Brandrodungen kommen stets Millionen von Tieren, darunter Jungvögel in ihren Nestern, qualvoll um, wird auch die Artenvernichtung vorangetrieben.
Über dreitausend Kilometer von Rio de Janeiro entfernt, hatte der Amazonas-Kautschukzapfer, Gewerkschaftsführer und Umweltschützer Chico Mendes bereits während der Militärdiktatur schwerverwundet ein Attentat überlebt. Nach dem Übergang zur Demokratie wurde er 1988 im Auftrage von Großgrundbesitzern des Teilstaates Acre erschossen, die er wegen des skrupellosen, massiven Zerstörens von Urwald anprangerte, sogar Menschenketten des Protestes organisierte. Die Vereinten Nationen hatten ihm ein Jahr zuvor sogar als erstem Brasilianer den Umweltpreis „Global 500“ verliehen. Nur weil Chico Mendes weltweit bekannt war, kam es durch öffentlichen Druck aus dem Ausland zur Verurteilung des Hauptauftraggebers Darli Alves und seines Sohnes, der in Xapuri die tödlichen Schüsse abgefeuert hatte. Beide erhielten neunzehn Jahre Haft. Kurz nach der Verurteilung wurde ihnen jedoch die Flucht ermöglicht. Wiederum führte erst internationale Empörung zu einer intensiven Fahndung und erst 1996 zur erneuten Verhaftung.
Statistiken und Studien zeigen, daß die Amazonasvernichtung nach dem Tode von Chico Mendes erheblich zugenommen hat. Auch unter Staatschef Luis Inacio Lula da Silva wuchs die Zahl der ermordeten Umweltaktivisten ebenfalls stark an. Große internationale Aufmerksamkeit fand die Liquidierung der nordamerikanischen Urwaldmissionarin Dorothy Stang, die wegen ihres Engagements stets mit Chico Mendes verglichen wird. Sie war im Februar 2005 in der Amazonas-Prälatur des aus Österreich stammenden Bischofs Erwin Kräutler von bezahlten Killern erschossen worden. Weil Kräutler sich konsequent für die Bestrafung aller Hintermänner einsetzt, erhält er derzeit kontinuierlich Morddrohungen.
Laut brasilianischen Presseberichten werden nur wenige Prozent der für Amazonaszerstörung verhängten Bußgelder tatsächlich entrichtet. Dies könnte auch für den Großgrundbesitzer Darli Alves gelten.
Der betreffende Teilstaat Acre wird von Gouverneur Jorge Viana regiert, der zur Arbeiterpartei von Staatschef Lula gehört.
Brasilianische Bischofskonferenz: Lula-Regierung unterwirft sich dem Diktat der Banken – auf Kosten der Armen und Verelendeten
Die Bischofskonferenz(CNBB) des größten katholischen Landes hat Anfang März mit unerwartet scharfer Kritik an der Wirtschafts-und Sozialpolitik Brasilias für Schlagzeilen gesorgt und vor den Oktober-Präsidentschaftswahlen eine heftige öffentliche Diskussion über den Kurs von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva ausgelöst. Bei der Vorstellung der diesjährigen Brüderlichkeitskampagne, die den Behinderten gewidmet ist, sagte der deutschstämmige CNBB-Generalsekretär Odilo Scherer, Lulas konservative Wirtschaftspolitik garantiere kein ausreichendes Wachstum und begünstige lediglich die Banken. Diese machten unter Lula Rekordgewinne. Für die Bankiers sei Brasilien heute ein „Finanzparadies“. Die Kirche habe Kenntnis davon, welchem Druck die Regierung ausgesetzt sei, so Bischof Scherer weiter. Doch die Interessen der Gesellschaft müßten ebenfalls berücksichtigt werden. Statt gerechterer Einkommensverteilung zugunsten der armen Bevölkerungsmehrheit erlebe Brasilien eine Einkommenskonzentration, die nur bestimmten Gruppen nütze. Um die scharfen Sozialkontraste zu überwinden, müsse die wachstumshemmende Hochzinspolitik aufgegeben werden, seien Programme zur Schaffung von Arbeitsplätzen nötig. Scherer verwies darauf, daß Staatschef Lula den Brasilianern für 2005 ein Wirtschaftswachstum von fünf Prozent versprochen hatte – erreicht wurden indessen vor allem infolge der Banken-freundlichen Hochzinspolitik nur 2,3 Prozent. Zusammen mit Haiti gehört Brasilien damit zu den Schlußlichtern in Lateinamerika – während die Nachbarn Argentinien und Venezuela immerhin eine Wachstumsrate von über neun Prozent erreicht hatten. Das brasilianische Volk, so Scherer, habe von der Lula-Regierung eine viel effizientere Sozialpolitik erwartet. Das Anti-Hunger-Programm sei bei weitem nicht ausreichend. Nur einen Tag später bekräftigte der Primas von Brasilien, CNBB-Präsident Kardinal Geraldo Agnelo, in Salvador da Bahia vor der Presse die Kritik Scherers. Nie zuvor, so Agnelo, habe sich eine Regierung den von Gläubigerbanken diktierten Bedingungen und Forderungen so unterworfen. Im Interview sagte der Kardinal:“ Die Lula-Regierung sorgt sich direkt übertrieben um das Wohl der Banken, tut alles, was sie wollen. Während der Arbeiter eben keinen gerechten Lohn, keinen Inflationsausgleich einfordern kann. Damit sind wir nicht einverstanden, das ist doch nicht gerecht. Denn dem Volke geht es überhaupt nicht gut. Es muß weiter darauf warten, daß Arbeitsplätze geschaffen werden. Denn ohne Arbeit ist kein Leben in Würde möglich. Die Leute können sich doch nicht nur von staatlichen Almosen ernähren.“
Kardinal Agnelo meinte damit das Anti-Hunger-Programm der Lula-Regierung. Bisher erhalten lediglich acht Millionen verelendete Familien eine monatliche Hilfe von umgerechnet nur 23 Euro. Das Hilfsprogramm, so Agnelo weiter, sei keine Lösung, bringe die Leute nicht voran, fördere sie nicht, zeige keinen Ausweg aus ihrer erbärmlichen Lage. „Viele geben sich sogar mit diesem Almosen zufrieden, tun gar nichts mehr, gehen keinerlei Beschäftigung mehr nach.“ Die Bischofskonferenz verlange deshalb eine andere Wirtschaftspolitik, die den Menschen ermögliche, von ehrlicher Arbeit zu leben. „Wir wollen, daß Staatschef Lula Erfolg hat – bei der Förderung des Gemeinwohls!“ Brasiliens geringes Wirtschaftswachstum bedeute aber eine regelrechte Anklage gegen die falsche Politik Brasilias.
Auch Agnelo kritisierte das weltweit höchste Zinsniveau. Wenn die Regierung deshalb immer höhere Summen für den Schuldendienst aufbringen müsse, die Gewinne der Banken daher ständig kletterten, frage man sich natürlich:“Was bleibt denn da noch übrig für soziale Zwecke?“
Brasiliens größte, auflagenstärkste Qualitätszeitung, die Folha de Sao Paulo, hatte kurz vor den Pressekonferenzen von Bischof Scherer und Kardinal Agnelo berichtet, wer mehr aus dem Staatshaushalt erhält – die Privatbanken oder die von Hunger und Elend Betroffenen. Chefeditor Vinicius Mota sagte im Interview: “Dieser Vergleich macht traurig. Denn die Banken bekommen für den Schuldendienst rund zwanzigmal mehr Gelder, als in das Anti-Hunger-Programm fließen. Eine kleine Zahl von Privilegierten bekam letztes Jahr also 150 Milliarden Real – während man für die acht Millionen verelendeten Familien nur rund sieben Milliarden ausgab. Interessanterweise wurden die Privatbanken gleichzeitig zu den wichtigsten Finanziers der Arbeiterpartei von Staatschef Lula. Fakt ist, daß sich allein zwischen 2002 und 2004 die Bankenspenden an die Arbeiterpartei um das elffache erhöhten. Die Privatbanken sind mit der Lula-Regierung sichtlich höchst zufrieden. Dabei hatten Lula und seine Arbeiterpartei vorm Amtsantritt stets versprochen, mit den hohen Bankiersgewinnen Schluß zu machen.“
Staatschef Lulas Arbeiterpartei, so analysiert die Folha de Sao Paulo weiter, sei Favorit der Bankiers, die den einstigen Gewerkschaftsführer regelrecht gezähmt hätten. Dessen Wiederwahl beim Urnengang im Oktober sei ihnen durchaus Recht. Gemäß neuesten Umfragen würde Lula bereits im ersten Wahlgang gewinnen, weil all jene dreißig Millionen Brasilianer für ihn votieren würden, die durch sein Anti-Hunger-Programm begünstigt werden. Es sei daher in Wahrheit ein „Wiederwahl-Programm“.
Brasiliens bischöfliche Aids-Seelsorge
Kondomverteilung an jedermann
Die brasilianische Regierung freut sich über die immer konstruktivere Kooperation mit der Kirche bei der Aids-Bekämpfung und verkündet erstmals ganz offiziell: Wer sich vor einer Ansteckung mittels Kondomen schützen will, bekommt sie gratis auch bei der Kirche. Denn die bischöfliche Aids-Pastoral, so erklärt jetzt das Gesundheitsministerium in Brasilia, stelle Kondome in den kirchlichen Betreuungszentren zur Verfügung. „Unsere rund 300 Aidsprojekte sind mit einer ganz speziellen Realität konfrontiert“, erläutert Kapuzinermönch Luiz Carlos Lunardi, 48. „Denn es gibt viele Paare, bei denen nur einer Aids hat – und die Situation, daß viele Aidsinfizierte verschiedenste Sexkontakte pflegen.“ Daher rate die Pastoral, Kondome zu verwenden, damit nicht noch mehr Menschen angesteckt würden. Die Kirche beschaffe Kondome aber nicht, fürs Verteilen sei das staatliche Gesundheitswesen zuständig. Kapuzinermönch Lunardi nennt die Aids-Seuche eine enorme Herausforderung für Brasilien und betont realistisch:“Es ist uns noch nicht gelungen, die Menschen davon zu überzeugen, daß diese Epidemie existiert und sich deshalb jeder präventiv verhalten muß.“ In Brasilien komme man bei den Menschenrechten nicht voran, werde nicht einmal das Armutsproblem gelöst – und dadurch entstünden Situationen der Anfälligkeit für Aids. Lunardi nennt bedenklich, daß niemand das wahre Ausmaß der Epidemie kennt. Ungezählte Brasilianer seien zwar infiziert, verzichteten aber auf einen Gratis-Test. Das Gesundheitsministerium schätzt deren Zahl auf über 400000. Der Kapuziner stellt solche Daten in Frage und ist nicht der einzige. So haben die Medizin-Nobelpreisträger von 2008, Luc Montagnier und Francoise Barrè-Sinoussi, die für die Entdeckung des Aids-Virus geehrt wurden, in Paris auf die hohe Zahl “nicht-deklarierter” Aids-Kranker in Brasilien verwiesen. Diese würden nicht medizinisch behandelt und infizierten weiterhin andere Menschen. Viele Brasilianer wollten schlichtweg nicht wissen, ob sie Aids-infiziert seien und weigerten sich, den Aids-Test zu machen. Auch viele Indianer Amazoniens hätten Aids, aber keinen Zugang zu Medikamenten. Jetzt hat die Kirche mit der Regierung vereinbart, daß die Gläubigen sogar während der Gottesdienste zum Gratis-Aids-Test angeregt werden sollen. Dies zeigt den Ernst der Lage.
Auf Sao Paulo entfallen rund zwanzig Prozent der registrierten Aids-Fälle Brasiliens – in der Megacity mit den über tausend deutschen Unternehmen leistet der Franziskanerorden beim Betreuen von Kranken und bei der Prävention seit vielen Jahren Pionierarbeit. Bereits 2002 meldeten Sao Paulos Zeitungen, daß im „Centro Franciscano de Luta contra Aids“ Kondome, sogar zusammen mit Nahrungspaketen, verteilt würden. Die Präservative kamen schon damals gratis vom Gesundheitsministerium, deren Experten im „Centro“ Vorträge hielten und natürlich die Anwendung dringend empfahlen. „Wir geben Kenntnisse über die Krankheit und deren Wirkungen weiter“, meinte ein Ordensbruder, „aber wie sich die Leute dann vorbeugend verhalten – ob durch sexuelle Abstinenz, eheliche Treue oder eben wissenschaftliche Methoden und Techniken – das entscheidet die jeweilige Person ganz allein.“ Rückenwind erhielten die Franziskaner von Sao Paulos damaligem Erzbischof und Kardinal Evaristo Arns. Auch der befürwortete öffentlich den Kondomgebrauch. „In Brasilien ist die Aids-Ausbreitung nicht unter Kontrolle – die sehr starken Aids-Medikamente haben häufig üble Nebenwirkungen, darunter Krebs“, erläutert Maria Abbate, zuständige Expertin der Gesundheitsbehörde Sao Paulos. Laut offiziellen Angaben werden in dem Tropenland seit 1998 jährlich etwa 11000 Aids-Tote registriert, wenngleich wegen der lebensverlängernden medizinischen Behandlung die Todesrate zurückgegangen sei.
Brasiliens Bischofskonferenz verurteilt Welle sadistischer Verbrechen
Diskussion um Einführung der Todesstrafe
„Wir erleben schockierende Situationen der Barbarei“, bekräftigt tief erschüttert der deutschstämmige Bischofskonferenz-Generalsekretär Odilo Scherer. „Der Staat muß endlich handeln, die Menschenrechte der Bürger respektieren!“ Scherer spricht damit den vielen Millionen von Brasilianern aus dem Herzen, die angesichts einer neuen Welle besonders sadistischer Verbrechen deprimiert, in Spannung und Angst sind. Kurz vor dem Karneval hatten Gangster mit einem geraubten Auto in Rio de Janeiro einen behinderten sechsjährigen Jungen durch drei Stadtviertel geschleift, bis von ihm nur noch zerfetzte Reste übrig waren. Deshalb wurde öffentlich sogar gefordert, den Rio-Karneval abzublasen, rufen schwarz umrandete Riesenposter an den Mauern jetzt dazu auf, den Tod des Jungen und ähnliche Untaten nicht länger hinzunehmen. Auch Kugeln töten fast täglich Kinder. Doch nur wenige Prozent der jährlich über 50000 Morde Brasiliens werden aufgeklärt.
In dieser Woche ein neuer Schock: An der Copacabana werden drei französische Menschenrechtsaktivisten sadistisch gefoltert, barbarisch ermordet. Die drei mutmaßlichen Täter haben noch blutige Hände, als sie die Polizei nach Hinweisen faßt. Der 25-jährige Anführer ist ein früheres Straßenkind, dem die Franzosen mit ihrer NGO für Slumprojekte einst das Leben gerettet hatten, ihn zum festen Mitarbeiter ausbildeten. Als sie entdeckten, daß ihr besonderer Schützling hohe Spendensummen abzweigte, plante dieser gemäß den Ermittlungen kaltblütig die Tat. Doch über die meisten perversen Verbrechen schweigen Staat und Medien -mit Rücksicht auf das Landesimage. Marina Maggessi, seit kurzem Kongreßabgeordnete und zuvor Rios Polizei-Chefinspektorin, nannte die Banditenbosse regelrechte „Tyrannen“:“Sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, begehen Greueltaten jeder Art, herrschen über die Elendsviertel mit aller Brutalität.“ Unter Staatschef Luis Inacio Lula da Silva hat sich die machistische Gewaltkultur weiter verfestigt, sind „Ehrenmorde“ häufig. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt und Tourismushochburg Recife ist Gewalt durch Waffen und Schläge die erste, wichtigste Todesursache bei Mädchen und Frauen zwischen zehn und 49 Jahren. „Derzeit schafft man günstige Bedingungen für noch mehr Gewalt“, sagt Sao Paulos Uni-Sozialwissenschaftler Paulo Mesquita. „Bei den Menschenrechten, beim Aufbau der Demokratie gibt es Rückschritte.“ Im Februar war Finanzminister Guido Mantega Geisel unbekannter Banditen – zwei Monate zuvor traf es zwei andere Minister. Die Mehrheit der Brasilianer will seit langem die Todesstrafe. Angesichts des zunehmenden Täter-Sadismus machen sich erstmals Intellektuelle zum Sprachrohr für Rachegefühle. Gegen die Mörder des behinderten Jungen in Rio wäre die Todesstrafe zu wenig, schrieb Renato Ribeiro, Ethikprofessor an Brasiliens größter Bundesuniversität in Sao Paulo. „Ich denke, sie müßten eines grauenhaften Todes sterben – genauso grauenhaft, wie sie es mit dem Jungen machten.“ Die Bischofskonferenz ist gegen die Todesstrafe ebenso wie gegen ein niedrigeres Strafmündigkeitsalter. Hochgefährliche jugendliche Schwerverbrecher dürften indessen nicht schon nach kurzer Zeit auf die Straße zurückkehren, wie es derzeit üblich sei. Amazonas-Bischöfe wie Erwin Kräutler aus Österreich bestätigen zudem, daß nicht in den Großstädten die Mordrate am höchsten ist, sondern in Gemeinden und Kleinstädten des Hinterlandes. In Rio entfallen auf 100000 Einwohner jährlich rund fünfzig Morde. Im nordbrasilianischen Colniza sind es indessen 165 Morde – in Deutschland ein einziger. Gemäß neuen Studien sind rund vierzig Prozent der Bewohner Sao Paulos schwach bis stark psychisch gestört, jeder zehnte müßte in psychiatrische Behandlung. Wie Dr. Sergio Tamai, Direktor des katholischen Betreuungszentrums „Santa Casa de Misericordia“ betonte, gehörten Gewalt und Verbrechen zu den wichtigsten Gründen für Depression oder Paniksyndrome. Papst Benedikt XVI. besucht die drittgrößte Stadt des Erdballs im Mai.
Brasiliens zögerliche Vergangenheitsbewältigung
Diktatur-Folteroffiziere weiter straffrei
Chile, Argentinien und Uruguay arbeiten zügig Diktaturverbrechen auf, bestrafen Folterknechte von einst. Nur in Brasilien, der größten lateinamerikanischen Demokratie, kommt die Vergangenheitsbewältigung kaum voran. Jetzt hat der jahrelang schwelende Streit um die Bestrafung berüchtigter Folteroffiziere erstmals eine Regierungskrise ausgelöst, was auch die Menschenrechtsaktivisten der katholischen Kirche hoffen läßt. Paulo Vannuchi, Präsident Lulas Menschenrechts-Staatssekretär im Ministerrang, kündigte offiziell seinen Rücktritt an, falls die Bundesanwaltschaft weiter solche Folteroffiziere vor Gericht verteidige. Denn bislang sieht der brasilianische Staat auch die Folterverbrechen der Diktaturzeit als vergeben an und beruft sich dabei auf das Amnestiegesetz von 1979. Chile, Argentinien und Uruguay haben ebenfalls solche Amnestiegesetze, entschlossen sich aber, diese nach dem Ende der Militärdiktatur gemäß internationalen Rechtsabkommen neu zu interpretieren – und Folterer zu bestrafen. Brasilia hat solche Abkommen ebenfalls unterzeichnet, scheut sich aber, dem Beispiel der Nachbarländer zu folgen. Um Brasiliens Militärspitze ruhig zu halten, die nach wie vor die Diktatur verteidigt, weist Staatschef Lula kürzlich an, die neu aufgeflammte, so unangenehme Kabinettsdebatte zu beenden und pfeift sogar Justizminister Tarso Genro zurück, der ebenfalls Folterer bestraft haben möchte. Stattdessen geht die Diskussion erst richtig los. Zumal die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAE) jetzt brasilianische Regierungsvertreter nach Washington zitierte, damit sie über die als absurd empfundene Auslegung des Amnestiegesetzes Rede und Antwort stehen. Die erste Anhörung dieser Art geht für Brasilia mißlich aus, da die OAE-Menschenrechtskommission just von einem angesehenen brasilianischen Justizvertreter, Sao Paulos Staatsanwalt Marlon Weichert, wichtige Argumentshilfe bekommt. Weichert wirft in Washington der Lula-Regierung vor, Offiziere der politischen Polizei zu schützen, die nach dem Militärputsch von 1964 Regimegegner verfolgten, folterten und „verschwinden“ ließen. Auf diese Weise fördere Brasilia heutige Polizeigewalt in den brasilianischen Gefängnissen. Straflosigkeit und Unterdrückung der Wahrheit hätten Wirkung und inspirierten jene Staatsfunktionäre, die heute im Polizeiapparat und im Gefängnissystem „Folter und Ausrottung“ betrieben. Nicht einmal die Öffnung der Geheimarchive aus der Diktaturzeit sei unter Lula veranlaßt worden. Just in Sao Paulo führt Staatsanwalt Weichert mehrere Prozesse gegen frühere Offiziere des Repressionsapparats und hatte erst unlängst den bekannten spanischen Richter Baltazar Garzón zu Gast. Dieser hatte 1998 die Verhaftung des chilenischen Ex-Diktators Augusto Pinochet angeordnet. In Brasiliens Megacity bekräftigt Garzón an der Seite Weicherts, daß Folter ebenso wie Völkermord ein Verbrechen gegen die Menschheit sei und niemals verjähre. Kardinal Evaristo Arns, emeritierter Erzbischof Sao Paulos, hört es mit Genugtuung – schließlich zählt er zu den erbittertsten Gegnern der Diktatur, hat sich unschätzbare Verdienste bei der Aufklärung von Regimeverbrechen erworben. Brasiliens Bischofskonferenz(CNBB)bekräftig erneut ihre Grundposition ganz offiziell: Alle Folterer von einst müssen bestraft, die Diktatur-Geheimarchive endlich geöffnet werden. „Straflosigkeit darf es nicht geben“, so CNBB-Präsident Geraldo Lyrio Rocha in Brasilia. Hunderte kirchliche Menschenrechtsaktivisten wurden damals gefoltert, ermordet. Befreiungstheologe Frei Betto erinnert in Sao Paulo daran, was er und viele seiner Dominikaner-Ordensbrüder in den Kerkern erleiden mußten.:“Der gravierendste Fall war Frei Tito, der als Folge der unsäglichen Torturen den Verstand verlor, 1984 in einem französischen Kloster bei Lyon mit 28 Jahren Selbstmord beging.“
Brasiliens Bischöfe beklagen tiefe ethisch-moralische Krise des Tropenlandes
Debatte um Amtsenthebung von Staatschef Lula
„Wir sind in einer perplexen Situation“, analysiert Brasiliens Primas Kardinal Geraldo Majella Agnelo, „es ist wichtig, daß das Volk jetzt nicht passiv bleibt, sondern reagiert.“ In der Tat haben die über 185 Millionen Brasilianer derzeit eine Menge verwirrender innenpolitischer Ereignisse zu verarbeiten, ist die öffentliche Diskussion über ein Impeachment-Verfahren gegen Staatschef Luis Inacio Lula da Silva erneut heftig aufgeflammt. Denn ein parlamentarischer Untersuchungsausschuß hatte nach 245 Tagen intensiver Arbeit schwere Korruptionsvorwürfe gegen die Lula-Regierung als richtig bestätigt. Diese hatte sich politische Unterstützung im Nationalkongreß mit Millionensummen erkauft, bereits vor dem Amtsantritt vom Januar 2003 ein raffiniertes System von Abgeordnetenbestechung installiert. Die Gelder wurden aus Staatsunternehmen abgezweigt, kamen aber auch von Privatfirmen und flossen vornehmlich ins rechtsgerichtete Parteienspektrum. Als Hauptdrahtzieher nennt der Untersuchungsbericht Staatschef Lulas engen Freund und rechte Hand, den Minister und Chef des Zivilkabinetts, Josè Dirceu. Dieser arbeitete im Präsidentenpalast Wand an Wand neben Lula, koordinierte von dort aus alle Machenschaften meist gemeinsam mit anderen Spitzenleuten der Arbeiterpartei – bis Lula alle bereits im letzten Jahr unter dem Druck der Enthüllungen entlassen mußte. Gegen Josè Dirceu und über einhundert weitere Personen sollen jetzt Gerichtsverfahren wegen aktiver Korruption, Geldwäsche, Machtmißbrauch und anderen Delikten eröffnet werden. Brasiliens Generalstaatsanwaltschaft hat bereits vierzig schwer Belastete, darunter Dirceu und den damaligen Chef der Arbeiterpartei, Josè Genuino, unter Anklage gestellt. Die Partei, so hieß es zur Begründung, habe eine „kriminelle Organisation“ gebildet, um sich an der Macht zu halten. Laut Presseberichten wird auch Staatschef Lula von den Ermittlungen der Staatsanwaltschaft nicht ausgespart. Letztes Jahr hatte Lula betont:“Ich fühle mich durch inakzeptable Praktiken verraten, von denen ich niemals gewußt habe.“ Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch den neoliberalen Finanzminister Antonio Palocci, mächtigster Mann im Kabinett, an seiner Seite. Palocci bestritt vor dem Untersuchungsausschuß, jemals eine kleine Villa Brasilias betreten zu haben, in der zwielichtige, teils mit ihm befreundete Lobbyisten krumme Geschäfte ausheckten, illegale Gelder aufteilten und Orgien mit Prostituierten feierten. Doch dann sagte der 24-jährige Hausmeister glaubhaft aus, Palocci sei häufig in der Villa bei den Lobbyisten und den Prostituierten gewesen. Wie die Presse berichtete, wurde daraufhin im Präsidentenpalast beschlossen, den Hausmeister zu diskreditieren, unter anderem sein Bankgeheimnis zu brechen. Die heimtückische Aktion ging völlig daneben, kam an die Öffentlichkeit – Lula mußte Palocci raschest entlassen. „Die Krise bewegt sich auf niedrigstem Niveau – beschämend für Brasilien“, analysiert daher Odilo Scherer, Generalsekretär der Bischofskonferenz. Das Land durchlebe eine düstere, triste, enttäuschende Phase seiner Geschichte, konstatieren andere Bischöfe. Daß überall, nicht nur in der Politik, ethische Prinzipien fehlten, sei bedrückend. Anerkannte Juristen des Anwaltsverbandes argumentieren, daß Lula schon deshalb ein Impeachmentverfahren verdiene, weil er zwielichtige Politiker, die er selbst wegen schweren Delikten entlassen mußte, weiterhin öffentlich als „Brüder, Freunde und Genossen“ würdige. Und damit jeglichen Anstand, den das Präsidentenamt erfordere, vermissen lasse. Immerhin 83 Prozent der Brasilianer nennen Lula mitverantwortlich für den Korruptionsskandal. Gemäß neuesten Meinungsumfragen sinkt die Popularität Lulas jedoch nur langsam, würde er bis auf weiteres im Oktober wiedergewählt. Begründet wird dies einerseits mit dem sehr niedrigen Informationsgrad der extrem ungebildeten Massen über die innenpolitische Krise, andererseits mit den staatlichen Hilfen für über elf Millionen arme Familien. Daß „oben in der Politik“ alle Diebe seien und sich rücksichtslos bereicherten, werde von vielen als normal angesehen.
Brasiliens „Ehrenmorde“
Strafrechtsänderungen sollen Macho-Gewalt verringern
Im Macholand Brasilien werden jährlich über 45000 Menschen ermordet, sehr viele Opfer sind Frauen. Oseias Brito in der Amazonas-Großstadt Manaus beispielsweise hatte seiner Ehefrau Maria strikt verboten, zu arbeiten und abends einen Berufskurs zu machen. Wenn er zu seiner Geliebten ging und Maria das kritisierte, schlug er sie jedesmal brutal zusammen, daß Blut floß. Als die 25-jährige sich vor wenigen Tagen schließlich von ihm trennen wollte, brachte Oseias sie sofort auf sadistische Weise um, hackte ihren Körper in Stücke – gar kein so untypischer Fall. Noch unlängst wäre er vor Gericht mit dem Argument durchgekommen, in „legitimer Verteidigung der Ehre“ gehandelt zu haben. Jetzt hat Oseias Brito weit schlechtere Chancen auf Freispruch. Denn anläßlich des Internationalen Frauentags am achten März sanktioniert Brasiliens Staatschef Lula mehrere Strafrechtsänderungen, die mit dem absurden Argument der Ehrenrettung Schluß machen sollen. Theologin Maria Clara Bingemer von der Katholischen Universität Rio de Janeiros begrüßt, daß das völlig obsolete, patriarchalische Strafrecht von 1940 modernisiert wird – auf Druck der Frauenbewegung des Landes. „Endlich etwas mehr Menschenwürde für die Brasilianerinnen“, betont sie. „Die neuen Gesetze könnten dazu beitragen, die machistische Mentalität in unserem Land zu verändern.“ Maria Clara Bingemer, die an der Universität das Zentrum für Humanwissenschaften leitet, zitiert landesübliche Macho-Überzeugungen:“Frauen mögen es, verprügelt zu werden.“ Oder:“Wenn du eine Frau schlägst, weißt du vielleicht nicht warum – aber sie weiß genau, weshalb sie Prügel verdient hat.“
Brasiliens Zeitungen melden täglich zahlreiche Fälle von Macho-Gewalt. So absurd es klingt – getötet werden keineswegs selten die bereits rechtmäßig von dem Täter geschiedene Ex-Frau, oder die frühere Freundin, die Geliebte oder Ex-Geliebte.
„Selbst der Ehebruch war bisher strafbar – angeklagt und verurteilt wurden jedoch stets nur Frauen“, erläutert der Abgeordnete Antonio Carlos Biscaia aus Staatschef Lulas Arbeiterpartei. „Jetzt fällt dieser Paragraph. Und bei Morden bleibt künftig die These von der legitimen Verteidigung wirkungslos.“ Unglücklicherweise geschähen solche Verbrechen eben nicht nur in fundamentalistischen arabischen Ländern, sondern auch in Brasilien. Neu unter Strafe gestellt werde Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution.
Dennoch entspricht das brasilianische Strafrecht damit noch längst nicht der Verfassung von 1988, die erstmals Frauen und Männer völlig gleichstellt. Die nationale Frauenbewegung hatte entsprechende Vorschläge gemacht – doch wegen des starken konservativen Lagers im Kongreß sind sie noch nicht durchsetzbar.
“Erreicht wurden nur kleine Änderungen – aber sie sind es wert, gefeiert zu werden“, meint die Gewalt-Forscherin Wania Pasinato in Sao Paulo. „Denn dafür haben viele Frauen Brasiliens die letzten zwanzig Jahre hart gekämpft.“ In allen Klassen und Schichten Brasiliens, bei den Reichsten, aber auch den Ärmsten, am wenigsten Gebildeten, dominiere weiterhin ein patriarchalisches Beziehungsmodell, wonach die Frau unterwürfig sein müsse und Eigentum des Mannes sei.
Soziologin Pasinato beobachtet, daß sich Anwälte vor allem in den Großstädten bereits geschickt auf das veränderte Strafrecht einstellen. Das Argument „legitime Verteidigung der Ehre“ wird ersetzt durch „plötzliche unkontrollierbare Gefühlsaufwallung“, also Handeln im Affekt, selbst wenn der Mord lange und sorgfältig vorausgeplant worden war. Und das funktioniere vor Gericht ebenfalls bestens. “Wenn der Mann weiß, daß seine Frau oder Freundin sich trennen will, wenn sie vorhat, arbeiten zu gehen oder zu studieren, wenn sie ihm das Essen nicht machte oder sich gar einen Geliebten anschaffte, dann kann er eben ab jetzt eine solche Gefühlsaufwallung erleiden und die Frau umbringen.“ Wahrscheinlich habe man inzwischen noch ganz andere Argumente erfunden, um gewalttätige Männer freizusprechen. „Wir müssen also weiter für Frauenrechte und ein modernes Justizsystem kämpfen.“
Banditendiktatur über Brasiliens Slumbewohner nützt Regierung und Eliten, verhindert Kampf für Menschenrechte
Historiker bestätigt Kirchenposition
Unten, an den Stränden der schicken Viertel Ipanema und Copacabana, tummeln sich die ausländischen Touristen, wohnen in feinen Hotels – oben an den Steilhängen kleben die Elendsviertel, Favelas der Zuckerhutmetropole, hausen über anderthalb Millionen Menschen dichtgedrängt wie Ameisen. Viele Besucher fragen sich angesichts extremer Sozialkontraste, warum die Favelados eigentlich nicht von den Hügeln in die Mittel-und Oberschichtsviertel heruntersteigen, protestieren und rebellieren, ihre Menschenrechte einfordern. Schließlich ist Brasilien die dreizehnte Wirtschaftsnation der Erde, dazu größte Demokratie Lateinamerikas. Etwa fünfzig Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, die hohen Einkommen mehr als das dreißigfache über den niedrigen. „Warum gibt es einfach keine soziale Explosion?“, fragt auch der angesehene Historiker Josè Murilo de Carvalho, „warum organisieren sich die Massen der Slums nicht nach dem Vorbild der Landlosenbewegung?“ Er weist auf die Banditendiktatur über die Slumbewohner, hat eine brisante Erklärung parat:“Die Herrschaft des organisierten Verbrechens blockiert die Politisierung der Favelados, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion. Die hochbewaffneten Gangsterkommandos dienen somit der Aufrechterhaltung politischer Stabilität – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Natürlich würde man das nie eingestehen.“ Professor Carvalho, 65, von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, wirft auch der Regierung von Staatschef Luis Inacio da Silva, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer, vor, am grauenhaften Status Quo der Favelas nichts ändern zu wollen. „Zum strategischen Kalkül Brasilias gehört, daß es wegen der so hilfreichen Verbrechersyndikate keine sozialen Unruhen geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben so viele Gewalttote wie in Bürgerkriegen. Die Slumbewohner besitzen nicht einmal die elementarsten Bürgerrechte, können sich nicht frei bewegen, haben nicht einmal das Recht auf das eigene Leben, von den sozialen Rechten ganz zu schweigen.“ Historiker Carvalho erregte mit seiner Analyse jetzt auf einer nationalen Wissenschaftlertagung großes Aufsehen.
Doch auch Rios deutschstämmiger Kardinal und Erzbischof Eusebio Scheid prangert seit Jahren den Banditenterror gegen die Favelados, die Ausgangssperren, das neofeudale Normendiktat an, die Verantwortung der Eliten. „Wenn in der Favela einer den Mund aufmacht“ so Scheid, „werden ihm von den Gangstern die Ohren abgeschnitten, wird er völlig verstümmelt. Die Verbrechersyndikate sind eine Parallelmacht, ein Staat im Staate, gestützt auf die Feuerkraft ihres großen Waffenarsenals.“ Zu den drakonischen Strafen gehört auch Handabhacken, lebendig Verbrennen. Viele Slumpfarrer und selbst der Dominikaner Frei Betto, heute Staatschef Lulas Sonderberater für Hungerfragen, argumentieren genauso. „Die Deutschen haben offenbar keine Vorstellung von der gravierenden Situation hier.“
Die von den deutschen Kirchen stark unterstützte Landlosenbewegung MST, so Historiker Carvalho, vertritt zwar nur die Minderheit der Brasilianer des Hinterlands, ist aber politisch sehr erfolgreich, hervorragend organisiert und effizient, zwingt die Regierung, den Boden gerechter zu verteilen. Doch über achtzig Prozent der mehr als 175 Millionen Brasilianer, das Gros der sozial Ausgeschlossenen, leben in großen Städten. Dort, so der Historiker, hätte eine Bewegung der Slumbewohner, der Arbeitslosen, die beispielsweise leerstehende Gebäude und Wohnungen besetzen, natürlich ganz andere Wirkungen. „Nicht zufällig sind in den Großstädten enorme Truppenkontingente konzentriert, falls die Lage doch einmal außer Kontrolle gerät. Jetzt organisiert der MST wieder viele Bodenbesetzungen – derartige Aktionen in den Städten, mit Millionen von Favelados, wären ein Schlag gegen die Stabilität des Systems. Man müßte Truppen einsetzen, um die Ruhe wiederherzustellen.“ Für Kardinal Scheid und Historiker Carvalho ist keine Lösung der Favelaprobleme in Sicht. Mit ironischem Galgenhumor fragt der Wissenschaftler:“Warum wohl werden aber weder Brasiliens Grenzen noch die Drogenmafia in der Bucht von Rio streng überwacht, greifen die Streitkräfte nicht ein, um den Gangstersyndikaten das Rückgrat zu brechen?“
Große Erwartungen an Papstbesuch auch bei Anhängern der Befreiungstheologie
Die jüngste scharfe Kritik des Papstes an Misere, Ungleichheit und Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika ist auch bei den Anhängern der Befreiungstheologie in der Kirche Brasiliens auf großes Interesse gestoßen. So wird Benedikt XVI. auch mit Kardinal Evaristo Arns, dem emeritierten Erzbischof Sao Paulos zusammentreffen, der zu den führenden Persönlichkeiten der Befreiungstheologie zählt. Der jetzt vom Papst zum neuen Erzbischof der Megacity ernannte deutschstämmige Odilo Scherer hatte gleich zu Beginn seiner Amtszeit engagierten befreiungstheologischen Priestern wie Sao Paulos Obdachlosen-Seelsorger Julio Lancelotti demonstrativ alle Unterstützung zugesichert und den Wert der Vielfalt in der Kirche gewürdigt. Lancelotti, der bereits zur Diktaturzeit gemeinsam mit Arns gegen die Foltergeneräle opponierte, führt dessen Linie fort und zählt zu den Symbolfiguren der brasilianischen Menschenrechtsbewegung. Fernando Altemeyer, Cheftheologe der Katholischen Universität Sao Paulos, erklärte am Mittwoch gegenüber der Presse, die Befreiungstheologie sei lebendig, sorge sich auch um die neuen Armen des Kontinents und verstehe sich als eine „Theologie des Mitleids“. Altemeyer, jahrelang Sprecher von Kardinal Arns, erinnerte an den Brief von Papst Johannes Paul dem Zweiten von 1986 an die brasilianischen Bischöfe, wonach die Befreiungstheologie „opportun, nützlich und notwendig“ sei. Der Cheftheologe hatte bereits nach der Wahl von Kardinal Ratzinger zum neuen Papst erklärt, daß nunmehr für die Theologen bessere Zeiten anbrechen dürften. „Der Winter ist vorbei, neuer Sauerstoff ist für die Kirche lebenswichtig.“ Der neue Papst könne unmöglich das „Risiko intellektueller Sterilität“ eingehen. Als große politische Herausforderung bezeichnet Altemeyer den „nordamerikanischen Imperialismus“, Benedikt XVI. müsse sich diesem „Totalitarismus“ entgegenstellen. Unmittelbar vor der Papstankunft in Sao Paulo stellte sich auch der emeritierte Bischof Pedro Casaldaliga hinter die Befreiungstheologie. Gegenüber der Presse sagte er am Mittwoch, solange es Arme, Verelendete gebe, werde diese theologische Richtung existieren. „Wer heute ans Kreuz geschlagen wird, sind die Armen.“ Es handele sich um das Kreuz der Misere, Gewalt und Marginalisierung – davon müsse man die Armen befreien. Sollte auf der vom Papst eröffneten Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM jemand die Befreiungstheologie angreifen, werde dieser darauf eine Antwort erhalten, meinte Casaldaliga. Leonardo Boff, der in Europa bekannteste brasilianische Befreiungstheologe, bewertete die Kulturkritik des Papstes positiv. Die moderne Zeit sei in der Tat von Dekadenz gezeichnet, Benedikt XVI. weise auf Arroganz, Relativismus, Materialismus und Atheismus. Der Papst werde mit seiner hohen Intelligenz die brasilianischen Realitäten wahrnehmen. Daher könnte er sehen, was von der Kirche an Gutem unternommen wurde, um die Menschen vor den Konsequenzen einer „perversen Modernität“ zu bewahren. Denn diese verweigere Ungezählten die Bürgerrechte und selbst das Leben.
Ökotourismus par excellence
Ein brasilianisches Fischerdörfchen findet weltweit Nachahmer
Wanderdünen, Palmen, frei weidende wilde Esel, Segelflöße am Strand vor den Fischerkaten und tief entspannende Ruhe – das versteckte 1200-Seelen-Dorf Prainha do Canto Verde im Nordosten Brasiliens ist ein idealer Fluchtpunkt für Streßgeplagte. Seit es von der Internationalen Tourismusbörse in Berlin als weltweit beispielhaft für ökologischen, sozial verantwortlichen Fremdenverkehr ausgezeichnet wurde, blieb dennoch der große Ansturm aus, sind die mehreren Dutzend schlichten, sehr preiswerten Gäste-Appartements selten voll belegt. Den Kennern und Liebhabern von „Prainha“, wie jeder hier sagt, gerade Recht. Denn lauten, brachialen Massentourismus gibt es in Brasilien zur Genüge – und auch das einfache Fischerdörfchen sollte zugunsten von Bettenburgen und Boutiquen-Meilen längst ausradiert sein. Der deutschstämmige Kardinal Aloisio Lorscheider und das Menschenrechtszentrum seiner Erzdiözese in der 120 Kilometer entfernten Provinzhauptstadt Fortaleza haben es verhindert: Als in den achtziger Jahren Immobilienhaie die Fischerfamilien sogar mit Terror vertreiben wollen, greift Lorscheider beherzt ein, hilft bei der Gründung einer Bewohnerassoziation, organisiert mit Gleichgesinnten sogar internationalen Druck. Für den Kardinal war Prainha ein Präzedenzfall dafür, wie die archaischen Nordost-Eliten mit den einfachen und tiefreligiösen Menschen, zumeist Analphabeten, umspringen. „Die Herrschenden, zynisch und skrupellos agierende Clans“, sagt er in Fortaleza, „sind nicht gewillt, Macht und Privilegien abzutreten.“ Deshalb werde das Volk ganz bewußt dumm gehalten, da es dann leichter manipulierbar sei. „Ungebildete, Analphabeten wissen nicht, wie sie sich in der heutigen Welt bewegen sollen – sie kennen ihre Rechte nicht und fordern sie auch nicht ein.“ Man lasse sich fatalistisch treiben, verbinde sich nicht mit anderen, organisiere sich nicht. Da sieht Lorscheider eine große Herausforderung für die Kirche, ob in den entsetzlichen Slums von Fortaleza oder bei den Fischern von Prainha. Die hatten zusätzlich Glück, daß der schweizerische Swissair-Manager René Schärer rein zufällig das Dorf entdeckt, sofort seinen Job an den Nagel hängt, den Menschen ebenfalls beisteht, Entwicklungsprojekte startet. Lorscheider, Ende 2007 verstorben, erlebt zuvor noch voller Freude mit, wie Prainha absolute Misere, Hunger und grauenhafte Krankheiten abstreift, im ganzen Nordosten zur Gemeinde mit den besten Sozialdaten wird. „Wer gerne Langusten ißt, sollte ab Mai, nach dem Ende der Schonzeit kommen“, empfiehlt Schärer. „Zwischen Juli und November haben wir stärkeren Wind als im Rest des Jahres – doch eigentlich ist immer Saison.“ Am Atlantikstrand stechen die Fischer mit ihren Jangadas, Segelflößen in See – man kann mitfahren oder eben spätnachmittags mit den anderen Dorfbewohnern den Fang begutachten, sich Fische für die eigene Mahlzeit heraussuchen. „Wir machen nachhaltigen Turismo comunitario, der durch die Prainha-Bewohner genossenschaftlich geplant, entwickelt und gemanagt wird“, erläutert Schärer. „Alle Dienstleistungen, vom tropischen Cocktailempfang bis zu Tagungen kirchlicher Gruppen, werden durch Leute aus Prainha erbracht.“ Weil die Sache funktioniert, haben sich jetzt fünf nahe Dörfer dem Projekt angeschlossen. Rücksichtslose, kriminelle Raubfischerei hat auch die Langustenbestände vor Prainha stark reduziert – ein Meeresschutzgebiet soll jetzt den verhängnisvollen Trend umkehren, die Einkünfte der Prainha-Fischer wieder verbessern. Nachts hört man sehr eigenartige Schreie der wilden Esel – wohl das exotischste Problem des Stranddörfchens. „Es sind zuviele geworden – die Regierung sollte welche einsammeln“, meint der Schweizer trocken.
„Sie behandeln uns wie Schweine“
Sklavenarbeit in Brasilien längst nicht beseitigt
Der brasilianische Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva hatte die Abschaffung der Sklavenarbeit bis 2006 sowie konsequenten Umweltschutz in Amazonien versprochen. Bei seinen diesjährigen Europareisen warb er vehement für brasilianischen Autotreibstoff aus Zuckerrohr, nannte ihn Biosprit. Gegenüber besorgten Regierungen und Ökologen betonte Lula, daß die riesigen Zuckerrohrplantagen keinerlei Risiko für die Urwaldregionen darstellten. „Die Anbaugebiete sind von Amazonien sehr weit entfernt, denn dieser Landesteil eignet sich nicht für solche Kulturen.“
Brasiliens katholische Kirche reagierte spöttisch, doch auch besorgt. „Als Lula in Europa erklärt, daß man in Amazonien kein Zuckerrohr pflanzt“, so der Anwalt und Franziskaner Xavier Plassat, „werden zur selben Zeit im Amazonas-Teilstaate Parà just auf einer solchen 17000-Hektar-Farm über eintausend Sklavenarbeiter entdeckt und befreit.“ Die Farm namens Pagrisa ist eine von vielen in Amazonien und produzierte täglich rund 300000 Liter Ethanol-Treibstoff, der zumeist an den Staatskonzern Petrobras geliefert wurde. Der aus Frankreich stammende Plassat leitet die Anti-Sklaverei-Aktionen der katholischen Bodenpastoral CPT und sieht jetzt ebenso wie die Bischofskonferenz den Kampf gegen „Trabalho Escravo“ in großer Gefahr. Denn die exportorientierte Zucker-und Ethanolbranche betrachtet die Sklavenarbeiter-Befreiung durch eine Sondereinheit des Arbeitsministeriums als arg geschäftsschädigend, schlägt zurück. Auf Einladung der Pagrisa-Besitzer fliegen branchenfreundliche Kongreßsenatoren zur Farm, können angeblich keinerlei Anomalitäten entdecken, zeigen die ministerielle Sondereinheit wegen Machtmißbrauchs an. Die Firma selbst bestreitet sämtliche Vorwürfe. „Sie behandeln uns wie Schweine“, sagt indessen jetzt Francis Vanicolla, 25, einer der befreiten Sklavenarbeiter, gegenüber der Presse. „Auf der Farm haben wir schlechtes, verdorbenes Essen gekriegt, voller Würmer.“
Pagrisa liegt in jenem Teilstaat, in dem 2005 die katholische Urwaldmissionarin Dorothy Stang erschossen wurde, über eintausend kirchliche Menschenrechtsaktivisten, darunter der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler und Anwalt Xavier Plassat, immer wieder mit Mord bedroht werden. In einem solchen rechtsfreien Raum sogar Brasilia gegen sich zu haben, hält die Sondereinheit für riskant, hat aus Gründen der eigenen Sicherheit die Kontrollen von Sklavenfarmen gestoppt. „Doch diese müßten viel schärfer überwacht werden“, analysiert Plassat von der Bodenpastoral. Die Lula-Regierung habe ihr Versprechen nicht erfüllt, die Sklavenarbeit bis 2006 auszutilgen. Kein einziger der modernen Sklavenhalter sei in Haft. „Deren Farmen sollten nach Auffassung der Kirche enteignet und an Landlosenfamilien übergeben werden.“ Rund neunzig Prozent aller Anzeigen gegen Sklavenfarmen kommen von der Bodenpastoral. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO)in Genf schätzt die Zahl der brasilianischen „Trabalhadores Escravos“ auf bis zu 40000.
Weiter gravierende Kinderprostitution in Brasilien – meist fernab der Touristenzentren
Alle Jahre dasselbe Ritual: Stets zur jetzigen Ferien-Hochsaison, kurz vorm Karneval, prangert Brasiliens Presse die skandalöse, stetig wachsende Kinderprostitution an, veröffentlicht Fotos von deutschen, österreichischen, schweizerischen Touristen und ihren minderjährigen Gespielinnen. Spendenabhängige NGO tuten politisch korrekt in das gleiche Horn, nennen Männer aus der Ersten Welt als die Haupttätergruppe. Und stets kurz darauf verspricht die Regierung mit großem Tamtam ein weiteres Mal ganz energische Maßnahmen, um das Übel nun aber wirklich zu beseitigen. Auch Staatschef Luis Inacio Lula da Silva propagierte zum Amtsantritt vor zwei Jahren den Kampf gegen die Kinderprostituion als Priorität. Doch jetzt belegt eine vom UNO-Kinderhilfswerk UNICEF und seinem eigenen Justizministerium erstellte Studie, daß den Worten wie üblich kaum Taten folgten und Minderjährige weiterhin vor allem fern der Touristenorte sexuell ausgebeutet werden. Für jedermann im Macholand Brasilien eine altbekannte Tatsache. Jene, die extreme Armut von Mädchen schamlos ausnutzen, ihnen für ein „Programa“ umgerechnet nur etwa einen Euro zahlen oder etwas zu essen geben, sind zuallererst Brasilianer aller sozialen Schichten, nur ein Bruchteil sind Ausländer. Laut Studie prostituieren sich Kinder und Jugendliche in etwa eintausend meist kleineren und mittleren Städten, die größtenteils weit im bitterarmen Hinterland, fernab der Strandorte liegen. Doch am gravierendsten ist die Lage im wirtschaftlich führenden, industriell hochentwickelten Teilstaat Sao Paulo, gefolgt von Minas Gerais. Der Teilstaat Rio de Janeiro beispielsweise liegt erst an zwölfter Position. Laut Maria Lucia Leal, die das UNICEF-Forscherteam leitete, sei eine Lösung ohne mehr soziale Gerechtigkeit nicht denkbar. „Straflosigkeit, Armut und Ungleichheit sind das Problem – die Zahl der Städte mit Kinderprostitution ist erschreckend hoch.“ Bei der Vorstellung der Studie in Brasilia machte Menschenrechts-Staatssekretär Nilmario Miranda merkwürdigerweise keinerlei Angaben über die Zahl der betroffenen Mädchen und Jungen – in früheren Erhebungen war von mehreren Millionen die Rede. „Wichtiger ist doch, was wir tun, um das Problem zu beseitigen.“ So sollen künftig Hotelangestellte belangt werden, die Touristen erlauben, Minderjährige mit aufs Zimmer zu nehmen. Viele fragen sich, ob das in einem Land mit sehr hoher, eingewurzelter Korruption wohl funktionieren kann. Zudem versucht das Hotelpersonal vielerorts, den Gästen die „Garotas de Programa“ regelrecht aufzudrängen, erwartet dafür ein Trinkgeld. Doch in kleineren Städten, sogar Dörfern des Hinterlands ist das soziale Phänomen der Kinderprostitution viel schwerer zu bekämpfen. Nicht nur in den nordöstlichen Dürregebieten beispielsweise werden die Minderjährigen von den eigenen Eltern dazu angeregt oder gar gezwungen, sich zu prostituieren. Daß sich Mädchen an die Straßen stellen und sich Autofahrern feilbieten, gilt vielerorts bereits als normale, ganz „banale“ Beschäftigung, werde von den Familien legitimiert, sagen Sozialarbeiter. Weitverbreiteter sexueller Mißbrauch zuhause lasse zudem viele Minderjährige auf die Straße fliehen, wo sie dann in der Prostitution landeten. Mitarbeiter des Anti-Hunger-Programms der Regierung sollen künftig geschult werden, um solche Fälle zu erkennen und anzuzeigen sowie Aufklärungsarbeit zu leisten. In ganz Brasilien widmen sich zudem 169 regierungsunabhängige Organisationen dem Kampf gegen sexuelle Ausbeutung von Kindern. Anwältin Ana Vasconcelos in der nordbrasilianischen Hafenstadt Recife gehört zu den renommiertesten Expertinnen, leitete auch mit Spenden von Caritas und Misereor ein Auffang-und Betreuungsheim für junge Prostituierte. Sie beobachtete, daß Väter und Mütter der Unterschicht ihre Töchter direkt losschicken, um einen deutschen Touristen aufzugabeln, weil der als finanziell großzügiger gelte. „Vai pra rua, pra procurar um alemao!“ Ana Vasconcelos nannte einen überraschenden Aspekt:“Wir sind ein rassistisches Land – alle wollen eine klare Haut haben. Wenn die dunkelhäutige Tochter einen deutschen Touristen heiratet, denkt der Vater, durch die Vermischung verbessert sich meine Rasse – meine Enkelin wird blaue Augen haben, schöner sein als eine Schwarze, das gibt Prestige.“
Massaker an brasilianischen Landlosen von 1996 weiter ungesühnt – internationale Proteste
Der neunzehnjährige Oziel Pereira muß sich vor den mit Mpis bewaffneten Militärpolizisten hinknien, wird gezwungen, laut auszurufen:“Es lebe die Landlosenbewegung MST!“ Dann liquidieren sie ihn mit einem Genickschuß. Andere Companheiros werden sogar totgeschlagen, erstochen, die meisten Opfer aber mit Mpi-Salven niedergemäht. Bei Eldorado de Carajas, im Amazonasteilstaat Parà, hatten über tausend protestierende Landlose eine Straße blockiert – dafür wollte ihnen die Gutsbesitzerelite einen „Denkzettel“ verpassen. Siebenundsechzig Landlose, darunter Frauen und Kinder, werden teils schwer verwundet. Die Toten transportiert man schnell ab, laut offizieller Darstellung waren es „nur“ neunzehn, nach kirchlichen Angaben aber weit mehr. Oberst Mario Pantoja schärft den 145 Offizieren und Soldaten seines Militärpolizei-Spezialkommandos ein:“Niemand hat etwas gesehen!“ Genau acht Jahre später sind alle weiter auf freiem Fuß, Gerichtsprozesse verkamen zur Farce – doch die Welt hat die Bluttat nicht vergessen. Am Tatort gedachten letztes Wochenende über fünftausend der Toten, verlangten die Bestrafung der Schuldigen – und selbst in Berlin demonstrierten Menschenrechtler deshalb durch die Straßen. Wie Zehntausende in Rio de Janeiro, Sao Paulo oder Brasilia forderten sie von Brasiliens Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, endlich wie versprochen, brachliegenden Boden aus Großgrundbesitz an Millionen von Landlosenfamilien zu verteilen. Lulas sozialdemokratischer Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso ist Ehrendoktor der Freien Universität Berlin – ein Internationales Tribunal hatte letztes Jahr ihn, seinen Parteifreund und Gouverneur des Teilstaates Parà, Almir Gabriel, sowie die dortigen Latifundistas zu den Hauptschuldigen des Massakers erklärt. „Ein wahrer Skandal, daß jene mit politischer oder ökonomischer Macht weiter Straffreiheit genießen“, betont Bischof Tomaz Balduino, Präsident der katholischen Bodenpastoral CPT, „leider hat das Tradition in Brasilien, daß große Figuren immer ungeschoren davonkommen. Deshalb existiert auch die Sklavenarbeit weiter – bei so geringen Geldstrafen für die Großgrundbesitzer ein gutes Geschäft. Auf einer einzigen Großfarm wurden neunmal hintereinander immer wieder Sklaven entdeckt! Unter Staatschef Lula haben die Landkonflikte stark zugenommen.“
Auch die Pastoral beteiligt sich aktiv am „Abril Vermelho“, dem „roten April“ der sozialen Bewegungen.„Alle sind über die Lula-Regierung enttäuscht, unzufrieden mit der Agrarreform, demonstrieren jetzt für den Schutz der Menschenrechte, die Demokratisierung des Bodens. Wir Christen wissen, daß es dabei um viel mehr, in neuen Dimensionen geht – eine neue Gesellschaft, ein neuer Mensch, gemäß christlichen Idealen.“ Nicht zu übersehen, daß die Landlosenbewegung MST sehr religiös geprägt ist.
„Das Massaker war kein isolierter Fall“, sagt Pastoral-Anwalt Josè Batista Afonso in der Stadt Maraba, unweit des Verbrechensortes, „mit Billigung der Autoritäten hat es hier seit 1982 eine ganze Serie von Blutbädern gegeben. Bis heute wurde niemand verurteilt, sind Täter und Hintermänner auf freiem Fuß, begehen weitere Verbrechen.“ Durch Pistoleiros einen Landarbeiter umbringen zu lassen, so Anwalt Afonso, „ist hier praktisch kein Delikt – Großgrundbesitzer diktieren Polizei und Justiz die Regeln.“ In keinem anderen Land der Welt werden jährlich so viele Menschen umgebracht – letztes Jahr waren es rund fünfzigtausend. Darunter über fünfzig Landlosenführer.
Nur eine echte Agrarreform, so ist Pastoralanwalt Afonso sicher, würde die Wurzeln der Gewalt beseitigen, Arbeit für Millionen von Verelendeten schaffen, den Hunger effizient bekämpfen. Doch die Reform komme nicht voran, weil die Lula-Regierung den Großgrundbesitzern der eigenen politischen Basis Zugeständnisse mache, auf strukturelle Änderungen im Staate verzichte. „Wir sind hier richtig verzweifelt, hatten große Hoffnungen – doch die Lage wird immer komplizierter. Wenn wir unter dieser Regierung nicht vorankommen – die nächste wird noch konservativer, unnachgiebiger sein. Deshalb organisieren die sozialen Bewegungen jetzt öffentlichen Druck, um vielleicht doch noch etwas zu erreichen.“
Überraschendes erstes Amtsjahr von Brasiliens Staatschef Lula – Jubel bei Bankern und Spekulanten, Frustration bei Arbeitslosen und Sozialbewegungen
Mit allem Pomp zieht vor einem Jahr Ex-Gewerkschaftsführer Luis Inacio Lula da Silva in den Präsidentenpalast Brasilias ein – selbst in Europa erwarten viele Progressive und Drittweltbewegte schier beispiellose Sofortmaßnahmen gegen Hunger, Elend und Massenarbeitslosigkeit, die auf den Rest der Welt ausstrahlen würden. Auf dem Weltsozialforum der Globalisierungskritiker von Porto Alegre im Januar feiert man Lula als Ikone, Idol und Hoffnungsträger. Warnende Kritik selbst aus der Kirche des größten katholischen Landes, daß Lula sich mit einer rechtsgerichteten Sektenpartei, archaischen Oligarchen, früheren Diktaturaktivisten verbündet habe, einen übelbeleumdeten Milliardär zu seinem Vize machte, werden meist glatt überhört. Anfang 2004 sind daher viele Gegner und Sympathisanten der Lula-Regierung im In-und Ausland vorhersehbar perplex: Die Wirtschaftspolitik Brasilias ist weit neoliberaler, rigider, konservativer als bei Amtsvorgänger Fernando Henrique Cardoso. Banken und Börsen, der Weltwährungsfonds, die Landeseliten reagieren erleichtert bis euphorisch, im Nationalkongreß keinerlei echte Opposition. Denn überraschend werden die Leitzinsen zunächst bis auf 26,5 Prozent hochgesetzt, was spekulatives Kapital anzieht, den Banken satte Gewinne beschert, die Börsenkurse nach oben treibt. Gegen Proteste auch der Kirche werden die erdrückend hohen Außenschulden fristgerecht zurückgezahlt. Die sogenannte Länderrisiko-Taxe sinkt unter Lula von bedrohlichen 1439 Punkten auf nur noch 468 – Indiz für die international hohe politische Glaubwürdigkeit. Lula, so analysiert die in Brasilien mit weit über tausend Firmen stark vertretene deutschen Wirtschaft, habe sich von radikalen Forderungen verabschiedet, die Konsolidierungspolitik fortgesetzt. Das hatte seinen Preis: Statt des groß angekündigten „Wachstumsspektakels“ verzeichnet Lateinamerikas bisherige Wirtschaftslokomotive 2003 de facto Nullwachstum, wurden öffentliche Ausgaben drastisch zusammengestrichen – um über fünfzig Milliarden Dollar Zinszahlungen leisten zu können. Ausgerechnet ein früherer Arbeiterführer aus der tiefsten Unterschicht läßt die Arbeiter und kleinen Angestellten am meisten für diese Politik bluten – etwa eine Million von ihnen werden gefeuert. Die Erwerbslosigkeit ist auf Rekordhöhe, die Reallöhne sinken deutlich, kräftiges Slum-Wachstum überall. Jäh in die Misere abstürzende Familien spannen notgedrungen ihre Sprößlinge für den Lebensunterhalt ein – die illegale Kinderarbeit stieg unter Lula stark an. Meinungsumfragen konterkarieren sein Schwelgen in Eigenlob und Optimismus. Für die große Mehrheit der 175 Millionen Brasilianer verschlechterten sich wegen der scharfen Sparmaßnahmen auch das ohnehin prekäre Gesundheitswesen, der Bildungssektor, der Umweltschutz. Die Korruption ist weiterhin sehr hoch, Amtsträger von Lulas Arbeiterpartei, darunter Minister, sind in peinlichste Skandale verwickelt. Für öffentliche Sicherheit werden nur rund fünfzehn Prozent der Haushaltsmittel ausgegeben. Ein Resultat – Brasilien ist laut UNO-Angaben jetzt das Land mit den meisten Morden – jährlich über 45000, die auch an Indianern, Kleinbauern, Menschenrechtsaktivisten begangen werden. Dazu Folter, etwa vierzigtausend Sklavenarbeiter, eine insgesamt gravierende Menschenrechtslage. Und selbst das großangekündigte Anti-Hunger-Programm begünstigt bisher nur etwa fünf Millionen Menschen – von weit über 44 Millionen Bedürftigen in der immerhin 13. Wirtschaftsnation der Erde, bei den Fleischexporten auf dem ersten Platz.
Erheblich enttäuscht sind deshalb Gewerkschaften, Kirche, soziale Bewegungen. Landlosenführer Joao Pedro Stedile nennt „die ganze Gesellschaft krank, in der Krise, ohne Projekte, die Bevölkerung in Lethargie. Wir sind ein reiches, aber ungerechtes Land – die Agrarreform der Lula-Regierung ist bisher eine Schande.“
Und auch das überraschte: Unter Staatschef Lula, der früher schon einmal Adolf Hitler bewunderte, mutierte die sich einst links gebärdende Arbeiterpartei zu einer eher harmlosen Partei der politischen Mitte, stets bereit zu Bündnissen mit Rechts – Mitgründer traten frustriert aus. Mehrere populäre Dissidenten , die den Kurswechsel ablehnten, wurden rigoros aus der Partei entfernt.
Die Copacabana ist katholisch
Strände, Palmen, Karneval – und hochaktive Kirchengemeinden
Copacabana – da kriegen viele leuchtende Augen, denken an Tropensonne, schöne, sinnliche Menschen, aufregenden Traumurlaub, Samba und Karneval. Klischees türmen sich zuckerhuthoch, kräftig geschürt von der Tourismuspropaganda. Doch im bekanntesten Viertel der Zehn-Millionen-Stadt dominiert keineswegs Fremdenverkehr, sondern ganz normaler urbaner Alltag, wird in Büros, Fabriken und unzähligen Geschäften hart gearbeitet. Über dreihunderttausend Bewohner – Copacabana ist eines der dichtbesiedeltsten Stadtviertel der Erde – sichtlich geprägt von Rentnern, Senioren, und nicht etwa jüngeren Leuten. Nirgendwo sonst in Rio ist der Prozentsatz alter Menschen so erstaunlich hoch – darunter sogar jüdische Frauen, die das KZ Auschwitz überlebten. An der berühmten Strandavenida mit den Millionen Dollar teuren Luxusappartements wohnt Paulo Coelho, Brasiliens bekanntester Schriftsteller, auch Stararchitekt Oscar Niemeyer – doch nur fünfzig Schritte von der Flaniermeile entfernt ist bereits die moderne, verkehrsumtoste Gemeindekirche „Nossa Senhora da Copacabana“ ein Anziehungspunkt und Blickfang, Zentrum hochaktiven kirchlichen Lebens. Denn die Leute des Viertels sind zu achtzig Prozent katholisch, während der Rio-Durchschnitt wegen des Vordringens der Sekten bei nur noch 53 Prozent liegt. Von sieben Uhr morgens an acht Gottesdienste – und die Kirche ist fast immer voll, aufgesucht auch von deutschen und österreichischen Touristen. Sie fällt aus dem Rahmen, steht Wand an Wand zwischen Geschäftshäusern, einem Supermarkt, hat immerhin elf geräumige Stockwerke: Unten die Halle für Gottesdienste, darüber bis zum vierten Geschoß ein Kindergarten für 140 Jungen und Mädchen sowie Räume der Seelsorge für Prostituierte, Obdachlose, Hausangestellte und Senioren, für die Anonymen Alkoholiker, Neurotiker. „Die nächsten vier Stockwerke haben wir vermietet“, sagt Padre Gilson Silva, „eine wichtige Finanzierungsquelle für unsere Sozialarbeit. Anwaltsbüros, Firmen für Telemarketing und sogar Textilfabriken!“ Die ganze neunte Etage ist nur der katholischen Bewegung „Charismatische Erneuerung“ vorbehalten – Hit im Gemeindeleben. “Über die Hälfte unserer Gläubigen rechnet sich zu den Charismatikern“ – in den brasilianischen Großstädten sind es gewöhnlich nur um die zehn Prozent. Gleich viermal in der Woche halten die „Carismaticos“ ihre hochemotionalen, leidenschaftlichen Messen ab, bei denen sehr viel gesungen wird, die große Zahl junger Menschen aus ganz Rio auffällt. „Wir wollen in Copacabana eine spirituelle Oase sein – und das funktioniert!“, sagt fröhlich Cristiano Barreto, 27, einer der temperamentvollen Organisatoren und Prediger.
„Den Traumstrand nutzen wir natürlich für unsere Jugendarbeit – Baden und Fußballspielen gehören dazu“, so der braungebrannte Padre Gilson Silva. „Wir müssen den Jugendlichen etwas bieten, was sie begeistert, stark macht gegen furchtbarste Einflüsse in einem so vergifteten Viertel“. Abends, wenn zehntausende Pendler das Viertel verlassen haben, öffnen zwielichtige Bars und Diskotheken, kommen Horden von Prostituierten aus ganz Rio, benachbarten Städten, dazu Abenteurer, Straßenräuber. „Ein Sex-Shop mit Bordell grenzt direkt an unsere Kirche, gegenüber ein Bordell für Schwule – viele Prostituierte kommen zum Gottesdienst, suchen unseren Rat.“ Eine wird bald Anwältin sein, geht auf den Avenida-Strich, um das teure Jurastudium finanzieren zu können. An den steilen, bewaldeten Granitfelsen von Copacabana kleben Slums, beherrscht von Banditenmilizen, Rauschgiftbanden: „Vor dem katholischen Gemeindekindergarten stehen junge Gangster mit der Mpi in der Hand – manchmal schützen sie sogar die dreihundert Kinder bei Attacken rivalisierender Verbrecherkommandos.“
Fünf katholische Gemeinden gibt es in Copacabana – eine hat ihre moderne Kirche gar auf der Dachterrasse eines großen Shopping Centers. An der Strandavenida teure Hotels und Restaurants – doch nur wenige hundert Meter entfernt verstecktes Elend. Schimmlige Betonblocks mit regelrechten Wohnklos, in denen Leute jeweils gleich zu Dutzenden hausen. Viele können weder Miete noch Strom zahlen – darunter alte Frauen, vergessen von den Angehörigen. „Unsere katholischen Gemeinden begleichen deren Rechnungen, betreuen sie gesundheitlich – alles eigentlich Pflicht des Staates.“
Bayerische Abgeordnete über Brasiliens Biospriterzeugung entsetzt
Umweltzerstörung, Sozialdumping, Sklavenarbeit
Umgerechnet nur 137 Euro Monatslohn für sklavenähnliche Schufterei auf Brasiliens Zuckerrohrplantagen, in Ethanolfabriken – dieser Fakt hat die 18-köpfige Landtagsdelegation bei ihrer jüngsten Reise in das Tropenland besonders erschreckt. Die Abgeordneten verglichen mit dem europäischen Lohnniveau und begriffen auf der Stelle, weshalb brasilianischer Biosprit auf dem Weltmarkt unschlagbar billig und beinahe konkurrenzlos ist. Brasiliens katholische Kirche bewertet den Informationsbesuch der Politiker als „sehr, sehr wichtig“, damit die ganze Wahrheit über die keineswegs umwelt-und sozialverträgliche Ethanolproduktion endlich auch den europäischen Verbrauchern bekannt werde. „Hier ist eine verdeckte Sklaverei im Gange – Arbeiter sterben sogar vor Erschöpfung, brechen beim Zuckerrohrschlagen tot zusammen“, erklärt Padre Antonio Garcia Peres von der Wanderarbeiter-Seelsorge den Abgeordneten nahe der Megacity Sao Paulo. In den Ministerien von Brasilia hören sie die offizielle Version zur boomenden Ethanolbranche – Peres analysiert die Kehrseite der Medaille. Adi Sprinkart von den bayrischen Grünen fragt im Umweltministerium, ob die Ethanolerzeugung tatsächlich zu Lasten der Nahrungsmittelproduktion gehe. „Man sagte, überhaupt kein Problem hier – dieses Thema wird von den Regierenden offenbar völlig ausgeklammert.“ Wenn allein im Teilstaate Sao Paulo ein Viertel des Ackerlandes der Ethanolherstellung diene, werde damit zwangsläufig Lebensmittelproduktion verdrängt. „Bei solchen Relationen ist dies auch weltweit zu erwarten.“ Padre Peres stimmt zu, weist auf besonders gefährliche Konsequenzen:“Große Viehzüchter des Teilstaats verpachten die Weideflächen für den Zuckerrohranbau, ziehen mit ihren riesigen Rinderherden nach Amazonien, so daß dort Urwald zerstört wird.“ Tragisch sei, daß künftig Grundnahrungsmittel für die einfache Bevölkerung fehlen würden.
Brasiliens Öko-Experten nennen Zuckerrohr eine sehr umweltschädliche Monokultur, durch eingesetzte Agrargifte würden der Boden, Flüsse und Seen stark belastet. Doch den bayerischen Landtagsabgeordneten sagt man in Brasilia, Pestizide seien beim Zuckerrohr eher ein „nachgeordnetes Problem“. Padre Peres kann darüber nur lachen:“Laut Regierung läuft beim Ethanol alles problemfrei, spielt man in diesen Fragen den Unschuldsengel.“ Brasilia handele verantwortungslos, lasse die Dinge einfach laufen. „Und die Ethanol-Unternehmer denken nur an schnellen Maximalprofit – soziale Sensibilität fehlt völlig.“ Der Kirche, den Umwelt-und Menschenrechtsorganisationen werfe man vor, unnütze Polemik zu erzeugen.
Das Tropenland ist bereits weltgrößter Ethanolexporteur, will auch die Lieferungen in die EU deutlich erhöhen. „Brasilien denkt beim Agrotreibstoff in gigantischen Dimensionen, macht sich gewaltige Hoffnungen“, urteilt Adi Sprinkart. Er und seine Landtagskollegen zeigten sich beeindruckt, daß die rund 200000 Zuckerrohrarbeiter des Teilstaats Sao Paulo zumeist dunkelhäutige Sklavennachfahren sind und aus den mehrere tausend Kilometer entfernten Elends-und Dürreregionen des brasilianischen Nordostens zuwanderten. „Deren Wohnlager erinnern mich oft an deutsche KZs“, so Padre Peres. Ein Großteil ruiniert sich wegen der Schwerstarbeit die Gesundheit, hat chronische Kopf-und Wirbelsäulenschmerzen, Schwindelanfälle. Durch das regelmäßige Abbrennen der Zuckerrohrfelder steigen riesige Mengen giftigen Rauchs in die Atmosphäre, sorgen vor allem bei Kindern und Alten für Haut-und Atemwegskrankheiten. Immer mehr Agrargifte dringen zudem in die zweitgrößten Süßwasserreserven der Erde ein, die von Argentinien, Uruguay und Paraguay bis Sao Paulo reichen. „All diese Verstöße gegen Umwelt-und Sozialgesetze, der fehlende Respekt gegenüber den Menschen haben die Landtagsabgeordneten deutlich sensibilisiert“, glaubt Padre Peres. „Europa sollte keine Waren importieren, die unter solchen Bedingungen erzeugt wurden.“ Er hofft, daß weitere Politiker aus Deutschland und den anderen europäischen Ländern dem Beispiel der bayerischen Abgeordneten folgen und sich ebenfalls direkt vor Ort informieren. Nicht zufällig hätten mehrere hundert lateinamerikanische Umweltgruppen in einem offenen Brief an die EU appelliert, auf sogenannte Biokraftstoffe zu verzichten.
Rio-Kirchen unter MG-Beschuß – Pfarrer müssen sich Normendiktat der Gangstermilizen unterwerfen
„Die Banditenmilizen vom Adeus-Slum schießen immer wieder auf unsere Kirche“, beklagt Pfarrer Geraldo de Lima von der Bonsucesso-Gemeinde Rio de Janeiros, sammelt unterm Kirchturm Projektile auf, abgefeuert aus NATO-Heereswaffen. Bonsucesso, unweit des internationalen Flughafens, ist von fünfzehn Elendsvierteln, Favelas, umgeben, über deren Bewohner schwerbewaffnete Kommandos des organisierten Verbrechens geradezu in Feudalmanier herrschen. Jedermann muß sich deren Normendiktat unterwerfen – auch Pfarrer sowie Ärzte und Sozialarbeiter kirchlicher Hilfswerke. Andernfalls droht die Ermordung. Von Padre Silas Vianna forderte ein Gangsterkommando, deren hohe Telefonrechnungen aus der Gemeindekasse zu bezahlen. Er weigerte sich, worauf das Kommando ankündigte, ihn zu erschießen. So mußte er jetzt nicht nur seine Favela-Gemeinde fluchtartig verlassen, sondern sogar ganz aus der Zehn-Millionen-Stadt Rio de Janeiro weggehen, immerhin zweitwichtigstes Wirtschaftszentrum des Tropenlandes. Dort hausen rund zwei Millionen Menschen in Slums, werden jährlich über zehntausend Menschen ermordet. 2003 kann die Polizei nicht einmal drei Prozent der Fälle aufklären. Immer wieder müssen Slum-Pfarrer urplötzlich den Gottesdienst unterbrechen, sich mit den Gläubigen auf den Boden werfen, weil rund um die Kirche ein Feuergefecht rivalisierender Milizen tobt, sogar Granaten explodieren, Kugeln in den Altarraum einschlagen – eine traumatische Erfahrung. Weit über zehntausend Minderjährige wurden von den Kommandos als Kindersoldaten rekrutiert, finden es großartig, mit lässig umgehängter Mpi durchs Favela-Labyrinth zu spazieren, Respekt und Unterwerfung zu fühlen. „Normale kindliche Abenteuerlust“, sagen Pfarrer, „wird von den Banditen schamlos ausgenutzt, in den Köpfen der Jungen werden diese zu Helden und Vorbildern.“
Doch in den weit entfernten touristischen Strandvierteln unter Zuckerhut, wie Copacabana oder Ipanema, merkt man nicht, was in den rund achthundert Slums geschieht.
Und immer häufiger auch dies: Kaum hat die Kirche auf eigenem Gelände den entsetzlich beengt lebenden Favelabewohnern Sport-und Freizeiteinrichtungen geschaffen, werden diese von den Gangsterkommandos okkupiert – jeglicher Zutritt nur mit deren Erlaubnis. Eine Ordensschwester berichtet, daß in ihrem kirchlichen Kindergarten stets zahlreiche Plätze für Kinder von Banditen, Drogenhändlern reserviert bleiben müssen – kein Einzelfall. „Was sollen wir machen – sie befehlen, diktieren hier die Regeln.“ Laut Luiz da Silva, Regionalleiter der katholischen Favela-Seelsorge, brauchen Pfarrer und deren Mitarbeiter unglaubliches Verhandlungsgeschick, sehr viel Diplomatie im Umgang mit den Banditenmilizen. „Andernfalls könnte man dort gar nicht arbeiten.“ Dabei ist freie Religionsausübung auch in der brasilianischen Verfassung verankert.
Die Banditenherrschaft verhindert zudem aus Kirchensicht, daß Brasiliens Favelabewohner für ihre Bürgerrechte kämpfen. Fehlendes politisches Bewußtsein macht zusätzlich passiv.
Seit der deutschstämmige Kardinal Eusebio Scheid 2001 die Erzdiözese Rio de Janeiro übernahm, fordert er die zuständigen Autoritäten immer wieder auf, diesen Zuständen ein Ende zu bereiten, die überbordende Gewaltkriminalität endlich effizient zu bekämpfen. „Ich fühle Traurigkeit und Beklemmung“, so Kardinal Scheid, „weil einfach nichts unternommen wird. Nicht angenehm, in einer Stadt zu wohnen, in der nicht einmal die Kinder ohne Lebensrisiko zur Schule gehen können.“ Sein enger Mitarbeiter, Monsignore Adionel Carlos, betont, daß die Kirche in fast allen Favelas große Probleme hat:“Unsere Sozialarbeit wird blockiert – und wenn die Kommandos Ausgangssperren verhängen, darf niemand hinein oder heraus. Kranke brauchen dringend Hilfe – doch die ist dann völlig unmöglich. Nicht einmal Ärzte werden zu kirchlichen Ambulatorien gelassen.“ Selbst in Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt mit mehr als tausend deutschen Unternehmen, sind solche Ausgangssperren häufig. Das organisierte Verbrechen kontrolliert auch Projekte internationaler Hilfsorganisationen, mißbraucht sie teilweise für kriminelle Zwecke. In keinem Land der Welt werden derzeit so viele Menschen ermordet wie in Brasilien – laut UNO-Angaben jährlich über 45000.
Weihnachtsoratorium unter Tropenpalmen Bahias – Pfarrer Hans Bönisch machts möglich
Die leichte Atlantikbrise nützt nicht viel – Pfarrer Hans Bönisch, früher Würzburger Domorganist, kommt immer in der Vorweihnachtszeit selbst im offenen Hemd besonders kräftig ins Schwitzen. Denn überall in der barocken Altstadt von Salvador, UNESCO-Kulturdenkmal der Menschheit, herrschen derzeit 35 Grad schwüle Tropenhitze. „Da entsteht natürlich `ne ganz andere Weihnachtsstimmung als am Christkindlesmarkt in Nürnberg, mit Glühwein und Lebkuchen.“ Daß dennoch die ganze nordamerikanisch-europäische Dezemberdekoration, mit überlebensgroßen Weihnachtsmännern, Rentierschlitten, Nikoläusen und Plastiktannen ausgerechnet auch in den afrikanischsten Teilstaat Brasiliens schwappte, in dem über achtzig Prozent Sklavennachfahren sind, findet Bönisch komisch und witzig, wenngleich völlig deplaziert. Er hat das Kunststück fertiggebracht, nun schon seit mehreren Jahren in Salvador das reichhaltigste weihnachtliche Musikprogramm des Tropenlandes auf die Beine zu stellen. Bei pfiffigen deutschen Kulturtouristen hat es sich längst herumgesprochen: Brasiliens erste Hauptstadt ist nicht nur wegen des berühmten Karnevals, der afrobrasilianischen Traditionen eine Reise wert, sondern auch wegen seiner hochkarätigen Barockmusik, die der zähe, energiegeladene deutsche Pfarrer seit 1992 systematisch wiederbelebt hat. Brasiliens Primas hatte ihn dafür aus Würzburg geholt. In der von Jesuiten erbauten Kathedrale, aber auch den umliegenden Barockkirchen der Kolonialzeit leitet Bönisch die ganze Adventszeit durch täglich Gratis-Konzerte – mit Chören, Solisten, dem großen Orchester, führt Bachs Weihnachtsoratorium und Schuberts-G-Dur-Messe, das Mozart-Requiem auf.
Mitten in einer gewaltgeprägten Drittweltstadt, die mit Slums übersät ist – aus denen indessen ein Großteil seines Publikums stammt. „Die Haute Volee Bahias, Schickimickis, Reiche kommen überhaupt nicht zu meinen Konzerten – denen ist meine Arbeit etwas zu progressiv.“ Nachwuchsprobleme hat er nicht. „Junge Leute, die gerne mitsingen wollen, rennen uns die Türen ein.“
Der 45-jährige Bönisch ist kräftig gebaut, energiegeladen, kann zupacken, spielt bei Bedarf den Handwerker, den Bauleiter, weiß sich durchzusetzen. Aus einer Ruine macht er das Kulturzentrum seines Projekts „Barroco da Bahia“, mit Probenräumen, Konzertsaal, Cafe. Dieses Jahr wird eine benachbarte Ruine zum architektonischen Schmuckstück:“Da hockten bisher Rauschgiftbanden drin, schauten mit bösen Augen auf uns.“ Bönisch ist Musiker, doch auch Entwicklungshelfer, widmet sich besonders den Schwarzen der Unterschicht. „Barroco da Bahia ist ein soziokulturelles Projekt – die Leute lernen, wie man durch Arbeit zum Erfolg kommt, Schwierigkeiten überwindet, Freude schenkt. Und dann der religiöse Aspekt – wer singt, betet doppelt, ist ja ganz klar. Wir machen nur jene Musik, die positive Gefühle freisetzt, mit dem Transzendenten verbindet.“ Acht CDs sind bereits auf dem Markt.
Bönischs neuestes Standbein – die Erwachsenenbildung. „Wir geben sogar Deutschkurse – haben die unverschämt billig gemacht, damit Menschen aus der Unterschicht mitmachen können. Zwei Euro siebzig kostets umgerechnet – mit Unterrichtsmaterialien!“ Ab 2005 werden erstmals Denkmalpfleger ausgebildet.
Walter Dias, 25, lebt im schwarzen Slumviertel Liberdade, kannte zuvor nur afrobrasilianische Trommelrhythmen, hörte noch nie klassische Musik, dachte, die sei schrecklich. “Doch dann hat bei mir hat alles mit dem Weihnachtsoratorium von Bach angefangen – da lauschte ich zum erstenmal dieser Musik – und das hat mir dermaßen gefallen, daß ich seit 1996 dabei bin.“
Nicht nur als Sänger, sondern auch als Projekt-Sekretär von „Barroco na Bahia“.
Es lebt von den Spenden vieler Deutscher – Hauptsponsor ist derzeit die Kreditanstalt für Wiederaufbau.
Die Messe am Heiligabend zelebriert in der Kathedrale traditionell Primas Geraldo Majella Agnelo, Salvadors Erzbischof, Präsident der Bischofskonferenz – oben auf der Empore dirigiert Hans Bönisch dann Bach-Kantaten, bekannte Weihnachtslieder. Übrigens – „Stille Nacht“ ist in der portugiesischen Version als „Noite Feliz“, glückliche Nacht, im größten katholischen Land der Erde genauso populär wie in Deutschland. Durch Bönisch hören es die Leute in Bahia erstmals in der Originalsprache.
Porno-und Gewaltvideos in Brasilien
Anleitung zu sadistischen Verbrechen
Der zwölfjährige Paulo Torres in der Megacity Sao Paulo konsumiert an den Wochenenden von morgens bis weit nach Mitternacht ein Gewaltvideo nach dem anderen. Zudem hat er Riesenspaß daran, per Killerspiel jedesmal Tausende von Menschen sadistisch zu foltern und zu ermorden. Paulos Bruder Antonio, 14, bevorzugt bereits Gewaltpornos – und Videogames, bei denen man beliebig viele Mädchen und Frauen jeden Alters quälen, vergewaltigen und töten kann. Die Mutter der beiden schaut lieber gar nicht hin: „Was soll man machen – es sind halt Machos – und die mögen eben sowas.“ Eingreifen, verbieten – darauf käme sie nicht, ebensowenig der Vater. Die Mittelschichtskids Paulo und Antonio besorgen sich das Zeug spottbillig nahe der City-Kathedrale und der Präfektur – Raubkopien selbst der perversesten Videos oder Games verkaufen die Scharen der Straßenhändler bereits ab umgerechnet 40 Cent. Gemäß einer neuen Umfrage sitzen allen Ernstes 100 Prozent(!) der Mittel-und Oberschichtskinder lieber vor dem Fernseher, sehen Videos, anstatt zu spielen – bei den unteren Schichten liegt die Rate bei 97 Prozent. In den über 2000 Slums gehören Gewaltpornos seit langem zum Massenkonsum von Halb-und Vollanalphabeten. Kein Geheimnis, daß auch in den Ghettos von Rio de Janeiro die hochbewaffneten Banditenkommandos bereits seit den achtziger Jahren begeisterte Fans solcher Videos und Killerspiele sind, das dort Gezeigte, Praktizierte als Anregung nutzen und an wehrlosen Slumbewohnern ausprobieren. Und längst selber Gewaltpornos drehen, das Vergewaltigen von Slum-Mädchen, und sogar das Zerstückeln von Menschen filmen. Im Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ des brasilianischen Regisseurs José Padilha wird gezeigt, wie Banditen einen jungen Mann auf einem Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrennen – für ungezählte junge Brasilianer war die Szene überhaupt nicht schockierend, soetwas hatte man schließlich bereits aus der Nähe gesehen. Längst ist der Export von Porno-und Gewaltvideos für brasilianische Unternehmer ein Bombengeschäft. Wie das Nachrichtenmagazin „Carta Capital“ unter Berufung auf Interpol berichtet, stieg das Tropenland zum weltweit viertgrößten Lieferanten pornographischer Materialien auf, die unter anderem das Vergewaltigen achtjähriger Mädchen durch erwachsene Männer zeigen. Für die zuständigen Autoritäten ganz offensichtlich kein Grund zum Eingreifen – die katholische Kirche dagegen verurteilt diese Zustände bereits seit den neunziger Jahren außerordentlich scharf. Renommierte Sozialwissenschaftler und Therapeuten wie Jurandir Freire Costa konstatierten „ethisch-moralische Schizophrenie“ in Brasilien, während der damalige Primas von Brasilien, Kardinal Lucas Moreira Neves, „Anstiftung zur Gewalt, Verblödung ganzer Bevölkerungsschichten, Vermischung von Gewalt und Pornographie“ erkannte. 2008 warnt die angesehene Psychologin und Kolumnistin Rosely Sayao in Sao Paulo:“Wir leben in einer Kultur der Gewalt – diese Tatsache schadet tiefgreifend der Bildung unserer Kinder.“ Gewalt in jeder Form sei so banal geworden, daß sie häufig nicht einmal mehr bemerkt werde. Schüsse und Messerstechereien in Schulen, brutale Attacken auf Lehrerinnen – längst beinahe normal. Gewaltpornos scheinen der Alltagserfahrung entlehnt, sind keineswegs nur absurde Fiktion. Die Kirche betont den klaren Zusammenhang zwischen zunehmender Gewaltvideo-Verbreitung und deutlich wachsender Rate von Vergewaltigungen und sexueller Belästigung. Daß inhaftierte Sexualverbrecher fast durchweg gerne Hardcore-Pornos sahen, ist längst auch aus internationalen Studien bekannt. Nicht zufällig, so Rio de Janeiros Kardinal Eugenio Sales, hat zudem die Zahl der zehn-bis vierzehnjährigen Mütter in Brasilien geradezu sprunghaft zugenommen. „Wir verzeichnen eine Zerstörung ethisch-moralischer Werte, die vor Jahrzehnten noch völlig undenkbar gewesen wäre.“
Brasiliens Schwarze contra Rassismus
Kirche bekämpft „Apartheid“
„Grund zum Feiern haben wir auch diesmal nicht“, sagt der Schwarzen-Aktivist und Künstler Emanoel Araujo zum „Nationalen Tag des schwarzen Bewußtseins“ am 20. November, in Brasilien ein Feiertag. „Vor 120 Jahren wurde zwar die Sklaverei offiziell abgeschafft, doch immer noch gibt es unzählige Sklavenarbeiter in diesem Riesenland“, prangert Araujo in Sao Paulo an. Der weiße Chico Whitaker, Träger des Alternativen Nobelpreises, pflichtet ihm in der Megacity bei:“Wir sind ein Land der Apartheid und nur eine Fassaden-Demokratie!“ Nach Nigeria hat Brasilien die größte dunkelhäutige Bevölkerung des Erdballs, haben über die Hälfte der Einwohner afrikanische Vorfahren so wie Barack Obama. Dennoch haben es Schwarze noch nie bis in den Präsidentenpalast geschafft, ist die Rassendiskriminierung ungleich schärfer als in den USA. Deshalb kämpft auch die bischöfliche Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, in der Chico Whitaker aktiv ist, auf der Seite der dunkelhäutigen Brasilianer, kooperiert mit der Schwarzen-Seelsorge. Bischof Joao Alves dos Santos, der die „Pastoral Afro-Brasileira“ leitet, kommt gerade von der Wallfahrt schwarzer katholischer Gemeinden in Brasiliens wichtigsten Pilgerort Aparecida bei Sao Paulo. Sie findet landesweit alljährlich kurz vor dem 20. November statt und ist zugleich größte nationale Demonstration für Schwarzen-Bürgerrechte. „Wir sind immer noch ein Land der Apartheid“, sagt auch Bischof Santos, „nur sehr langsam zeichnen sich Fortschritte ab.“ Dunkelhäutige seien die typischen Slumbewohner, hätten die geringsten Bildungschancen – die Kirche suche daher die Sklavennachfahren auf verschiedenste Weise zu befähigen, wirkungsvoller für ihre Interessen zu kämpfen. Der Pastoralbischof weist auf das sehr erfolgreiche Bildungsprojekt des Franziskanerordens namens EDUCAFRO, das Schwarzen über ein Kurssystem den Zugang zu ihnen gewöhnlich verschlossenen Universitäten sowie zu höher qualifizierten, besser bezahlten Berufen öffnen soll. Der schwarze Franziskaner Frei David dos Santos hatte solche Kurse 1993 erstmals in Elendsvierteln Rio de Janeiros gestartet – inzwischen funktioniert das EDUCAFRO-Netz landesweit. Santos, heute geradezu eine Symbolfigur der brasilianischen Schwarzenbewegung, ergeht es wie vielen kirchlichen Menschenrechtsaktivisten – er bekommt Morddrohungen, nicht nur die Kirche bangt um sein Leben.
Im Franziskanerkloster Sao Paulos leitet der quirlige, temperamentvolle Ordensbruder Valnei Brunetto alle regionalen EDUCAFRO-Projekte, organisiert kämpferische Schwarzen-Demos, bei denen seine Kurs-Studenten im City-Gewühl unüberhörbar große Afro-Trommeln bearbeiten. „Was wir hier machen, ist auch Befreiungstheologie in der Praxis!“ Glatt könnte man sagen, Brunetto habe die falsche Hautfarbe – denn er ist weiß. Natürlich hat sich Brunetto die einzige nationale Schwarzenzeitschrift „Raça Brasil“ mit ins Boot geholt – Herausgeber Mauricio Pestana, ein exzellenter Rhetoriker und Karikaturist, kommt alle paar Tage ins Franziskanerkloster. „Brasilien ist das rassistischste Land der Welt“, sagt er unumwunden. Aus seiner Sicht sind rassistische Strategien überall auf der Welt fehlgeschlagen – ob in den USA, Südafrika oder Teilen Europas. In Brasilien, so Pestana mit ironischem Unterton, funktioniere der „Racismo“ dagegen geradezu perfekt, wirke dessen Maschinerie sehr intelligent. Damit die Vorherrschaft der Weißen nicht in Gefahr gerate, habe man den Dunkelhäutigen nur zu oft die eigene Identität geraubt. Rassismus werde häufig schlichtweg verdrängt, vielen sei die perfide Diskriminierung garnicht bewußt. Dabei brauche man in Sao Paulo, Lateinamerikas reichster Stadt, sich nur die von Misere gezeichneten Schwarzen-Ghettos und die bourgeoisen Weißen-Viertel anzuschauen. „Rassentrennung pur“. Unter Politikern, Führungskräften seien „Negros“ die Ausnahme. „Gegen all dies kämpfen wir an – auch mit Hilfe der Kirche.“
Regierungskampagne zur Volksentwaffnung in Brasilien – von der katholischen Kirche unterstützt
Jährlich mehr Getötete als im Irakkrieg
„Was soll ich noch mit den Schießeisen – in meinem Alter“, sagt die 89-jährige Zulmira de Oliveira und legt gleich drei silbrige Revolver, zwei der US-Marke Smith & Wesson, auf den kostbaren Furniertisch ihrer Luxuswohnung in Rios noblem Strandviertel Leblon. Die beiden Inspektoren der Zivilpolizei, Luis Quaresma und Andrè Camelo, schauen verdutzt – ein toller Fang! „Hätte man doch Feuerwaffen nie erfunden – unser Leben wäre viel besser“, fügt die kultivierte Dame hinzu, „jedenfalls wird die Welt durch diese Kampagne friedlicher.“ Für jeden Revolver bekommt Zulmira de Oliveira von der Regierung eine Prämie von umgerechnet achtundzwanzig Euro – in ganz Brasilien ist die Polizei derzeit total überlastet, die sechsmonatige Entwaffnungskampagne läuft unerwartet gut an. Brasilia will damit in diesen kriegerischen Zeiten auch weltweit ein Beispiel geben. Kardinal Geraldo Agnelo, Präsident der Bischofskonferenz, hat alle Gläubigen aufgerufen, die hochwillkommene Aktion nach Kräften zu unterstützen. Selbst in Kirchen werden Sammelstellen eingerichtet.
Die Inspektoren Quaresma und Camelo preschen deshalb jetzt von morgens bis abends zu den Adressen von Leuten, die Karabiner, Pistolen, Mpis und selbst Granaten und Mörser loswerden wollen. Falls eingeschmuggelt, illegal erworben – Straffreiheit ist garantiert. „Die Kampagne war längst überfällig“, so der dreißigjährige Camelo, „wegen der ausufernden Gewalt gab es die letzten Jahre eine Welle der Selbstbewaffnung – jedermann wollte unbedingt eine Knarre zuhause haben.“ In Lateinamerikas größter Demokratie, so betont auch die Kirche, herrscht de facto „Guerra nao-declarada“, unerklärter Bürgerkrieg. Jährlich werden immerhin über 45000 Menschen getötet – laut UNO-Angaben mehr als im Irakkrieg.
Ein mulmiges Gefühl, mit Quaresma und Camelo durch die Zehn-Millionen-Stadt zu brausen, weil hochbewaffnete Banditenmilizen des organisierten Verbrechens ihren Wagen attackieren könnten. Beide haben deshalb großkalibrige Pistolen auf dem Schoß, dazu die Maschinenpistolen griffbereit neben sich. Monatsverdienst – umgerechnet 280 Euro. „Ich wohne im Viertel Vila Isabel, von Slums umgeben“, sagt Inspektor Quaresma, „dort muß ich höllisch aufpassen, gehe nachts kaum aus dem Haus. Denn wenn mich Banditen überfallen, um mein Auto zu rauben, und dabei feststellen, daß ich Polizist bin, erschießen die mich sofort.“ Täglich berichten die Zeitungen von ermordeten Militär-und Zivilpolizisten, regelmäßig trifft es auch Deutsche, Schweizer, Österreicher.
Quaresmas Viertel Vila Isabel liegt in der ärmlichen Nordzone – doch wir brausen in die Südzone, ins schicke Strandviertel Barra da Tijuca, das Miami der Mittel-und Oberschicht Brasiliens. Alle, die dort ihre Waffen loswerden wollen, leben in Condominios fechados – das sind Wohlhabendenghettos, von hohen Mauern umgeben, bereits an der Einfahrt bewaffnete Wächter, Kameras, Stacheldraht. Philippe Mansur, bereits als Kind aus Ägypten mit den Eltern nach Brasilien eingewandert, übergibt einen Revolver, sieht die Regierungskampagne dennoch skeptisch: „Ich bezweifle, daß sie ihr Ziel erreicht. Normale Leute wie ich liefern ihre Waffen ab, aber die Banditen behalten sie – die muß man entwaffnen! Über zwanzig Millionen Waffen sind im Umlauf – doch die Regierung sagt, sie wäre schon glücklich, wenn zweihunderttausend Schießeisen abgegeben würden. Und der große Rest? Was passiert mit dem?“ An der Avenida das Americas werden im Morgengrauen neben einem Showpalast drei Jugendliche erschossen, gegen Mittag tötet eine verirrte Kugel den 67-jährigen Josias Tavares, als er in einem angrenzenden Park mit seinen drei Enkeln spielt. Tags zuvor hatten Jugendliche Rios mit des Vaters Revolver Roleta russa, Russisch Roulette gespielt – ein Fünfzehnjähriger starb. Alle paar Tage melden Brasiliens Medien Roleta-Russa-Opfer.
Eine große Slumregion der Nordzone Rios heißt Faixa da Gaza im Volksmund, Gazastreifen. Doch dorthin fahren wir nicht. Inspektor Camelo lacht bitter:“Niemand aus den Elendsvierteln gibt eine Waffe ab – schon wegen der Banditenherrschaft dort wagt das keiner. Alle sind doch den Banditenmilizen unterworfen – und die würden das nie zulassen. Die Slums sind deren Festung, da fühlen sie sich sicher. Rios Slumbewohner glauben nicht, daß wegen der Regierungskampagne die Verbrechensrate sinkt.“
Pflichtwahlen und organisiertes Verbrechen
Brasiliens Kirche kämpft für sauberen Urnengang
Hochbewaffnete Verbrechersyndikate und paramilitärische Milizen nominieren eigene Kandidaten, lassen deren politische Rivalen nicht in die Slum-Hochburgen, setzen dort die Pflichtwähler unter massiven Druck. Des Mordes oder anderer schwerer Verbrechen angeklagte Politiker organisieren ihre Wiederwahl, um weiter parlamentarische Immunität zu genießen. Vor dem Urnengang im Oktober startet deshalb Brasiliens katholische Kirche erneut zahlreiche politische Initiativen, um die antiethischen Absurdidäten in Lateinamerikas größter Demokratie wenigstens zu begrenzen. Teilerfolge lassen hoffen. “Das Gesetz gegen den weit verbreiteten Stimmenkauf haben wir formuliert – und damit bisher die Kandidatur von über 600 zwielichtigen Politikern verhindert“, sagt Dimas Lara Barbosa, Generalsekretär der Bischofskonferenz(CNBB). Diese unterstützte einen Vorstoß des nationalen Richterbundes, vom Obersten Gericht in Brasilia die Kandidatur schwer belasteter Personen verbieten zu lassen. Die Klage wurde abgelehnt – solange jemand nicht rechtskräftig verurteilt sei, müsse die Unschuldsvermutung gelten, dürfe man ihm verfassungsmäßige Rechte nicht beschneiden. Bischof Barbosa, die mit der Kirche verbündeten Sozialbewegungen sehen dies angesichts der gravierenden Zustände völlig anders. Denn nur zu oft werden einflußreiche, vermögende Politiker wegen Verbrechen zwar verurteilt, legen jedoch vor höheren Instanzen mittels gewiefter Anwälte stets erneut Widerspruch ein, kommen gewöhnlich ungeschoren davon. So sind im Nationalkongreß von Brasilia ein Drittel der Abgeordneten und vierzig Prozent der Senatoren wegen schwerer Straftaten angeklagt oder verurteilt. Im Abgeordnetenhaus des nach Sao Paulo wirtschaftlich zweitwichtigsten Teilstaates Rio de Janeiro laufen Prozesse sogar gegen fast die Hälfte der Parlamentarier – wegen Betrugs, Bandenbildung und sogar Mord. „Unsere Gesetze werden von Straftätern gemacht“, beklagen Kommentatoren. „Wir sammeln deshalb jetzt 1,5 Millionen Unterschriften für ein Gesetzesprojekt gegen Kandidaten mit schmutziger Weste“, betont der Bischof. Angesichts des sehr niedrigen Bildungsniveaus fällt es der Kirche schwer, die Öffentlichkeit ausreichend zu mobilisieren, den rund 400000 Kandidaten für die Kommunalwahlen genauer auf die Finger zu sehen. Denn in immerhin 17 Prozent der Städte stellen Analphabeten die Wählermehrheit, im Nordosten liegt diese Rate sogar bei 37 Prozent. Viele sind für Stimmenkauf anfällig oder lassen sich von Banditenkommandos einschüchtern. In Slums von Rio de Janeiro gehen Gangster mit umgehängter Mpi von Kate zu Kate und weisen die Bewohner an, für bestimmte Kandidaten zu votieren: „Das ist ein Befehl unserer Bosse!“ Journalisten, die den Wahlkampf beobachteten, wurden von Banditenkommandos barbarisch gefoltert. Nicht genehme Kandidaten, denen man dennoch den Slum-Zutritt erlaubte, wurden von schwerbewaffneten Gangstern eskortiert und suchten rasch das Weite. CNBB-Generalsekretär Barbosa leitete jahrelang die Gefangenenseelsorge in der Zuckerhutmetropole, kennt die Verhältnisse gut. „In Rio sagt man, daß die großen Gangster nicht in den Slums leben, sondern in den Strand-Nobelvierteln.“ Der Bischof nennt „sehr problematisch“, daß jetzt im Wahlkampf die evangelikale, auf Wunderheilungen spezialisierte „Universalkirche vom Reich Gottes“ unablässig gegen die katholische Kirche hetzt. Die Universalkirche dominiert Brasiliens „Republikanische Partei“(PRB), die den Vize von Staatschef Lula stellt. Aussichtsreichster Bürgermeisterkandidat in Rio ist just PRB-Kongreßsenator Marcelo Crivella, gegen den zahlreiche Prozesse liefen. „Die katholische Kirche zählt zur Elite – wer sich heute um die Armen sorgt, sind wir Evangelikalen“, attackierte Crivella bei den letzten Kommunalwahlen. Barbosa wies dies scharf zurück. „Diesmal ist Crivella vorsichtig, will schließlich auch katholische Wähler gewinnen. Doch seine Universalkirche hetzt weiter gegen uns.“
Ohne Truppen keine Wahlen
Brasiliens Armee sichert Urnengänge
In Lateinamerikas größter Demokratie warten Luftwaffe, Marine und Heer derzeit auf den Einsatzbefehl, weil es wieder einmal auf Pflichtwahlen zugeht. Hochbewaffnete, mit der Politik liierte Verbrechersyndikate sowie paramilitärische Milizen greifen besonders im wirtschaftlich zweitwichtigsten Teilstaat Rio de Janeiro dreist in die Wahlkampagnen ein, stellen eigene Kandidaten auf, verüben Blutbäder, foltern Journalisten. Minister Carlos Britto, Präsident des Obersten Wahlgerichts in Brasilia, hat deshalb das Militär angefordert, jeden Moment kann es losgehen. Die lokale Militärpolizei, gar die Bundespolizei reichen nicht aus. Nichts Neues in Brasilien – zu den Präsidentschaftswahlen von 2006 waren Truppen in 142 Städte eingerückt, um politisch motivierte Gewalttaten, darunter Morde, Unruhen und Plünderungen möglichst zu verhindern. Über hundert Städte, meist in der durch Attentate auf kirchliche Menschenrechtsaktivisten und Umweltschützer gezeichneten Amazonasregion, wollen wegen der Kommunalwahlen im Oktober wiederum nicht auf militärischen Schutz verzichten. In Amazonien stehen über 160 Bischöfe, Pfarrer, Gewerkschafter, Anwälte und Indianerführer auf einer Todesliste, werden verfolgt. Darunter der aus Österreich stammende Bischof Erwin Kräutler – in seinem Bistum Altamira wurde 2005 die nordamerikanische Urwaldmissionarin Dorothy Stang ermordet. Minister Carlos Brito spricht von „Poder paralelo“, einer Parallelmacht des organisierten Verbrechens – Justizminister Tarso Genro gar von einer tiefen Krise des Rechtsstaats, von „Ambiente de Fascismo“, faschistischem Ambiente. Die Vormundschaft des Verbrechens über Politik und Staat dürfe nicht akzeptiert werden. In Rio de Janeiro, mit weit mehr Einwohnern als ganz Bolivien, sollen deshalb Truppen in über zwanzig Slumregionen jener Parallelmacht einrücken. Die Ghettobewohner sehen das mit gemischten Gefühlen, sogar mit Angst. Denn erst kürzlich war die Armee zeitweilig in Rios City-Slum „Morro da Providencia“ eingerückt, ließ den dortigen Banditenkommandos aber freie Hand. Als sich die Truppe von drei jungen, völlig unschuldigen Männern des Slums nicht genügend respektiert fühlt, werden diese „zur Strafe“ mit einem Armeelaster in einen gegenüberliegenden Hangslum gebracht, dem dortigen Gangsterkommando übergeben, das in Todfeindschaft zu den Slum-Diktatoren des „Morro da Providencia“ und selbst deren Bewohnern steht. Die drei Männer werden wie üblich sadistisch gefoltert, danach mit Schüssen durchsiebt, auf eine Müllhalde geworfen. Ein Aufschrei der katholischen Kirche, der Menschenrechtsorganisationen und der Kongreßopposition folgt – die UNO wird informiert. Rios deutschstämmiger Kardinal Eusebio Scheid, Befreiungstheologe Frei Betto äußern sich entsetzt:“Die Bürgerrechte wurden verletzt, die Demokratie ist bedroht.“ Auch die Opposition wirft Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva vor, das Militär in dem Slum zu Wahlkampfzwecken eingesetzt, fragwürdige „Sozialprojekte“ des aussichtsreichsten Bürgermeisterkandidaten Marcello Crivella begünstigt zu haben. Crivella gehört zur Wunderheilersekte „Universalkirche vom Reich Gottes“, die seine „Republikanische Partei“(PRB) dominiert. Zur PRB zählt auch Lulas Vize, der Milliardär José Alencar. Wegen des Verbrechens der Militärs kommt es in Rio zu heftigen Zusammenstößen zwischen protestierenden Slumbewohnern sowie Polizei und Soldaten. Politikexperten nennen bezeichnend, daß die Menschen erstmals seit der Militärdiktatur wieder Steine auf die Armee werfen. Was wird geschehen, wenn jetzt erneut Truppen in die Slums von Rio einrücken? Viele Pflichtwähler machen sich auf Schlimmstes gefaßt. Denn nicht zufällig fordert der brasilianische Anwaltsverband, die Beziehungen zwischen den Streitkräften und dem organisierten Verbrechen zu klären. Schließlich stammten allein in Rio 22 Prozent der bei Banditenkommandos beschlagnahmten Waffen aus Beständen des Militärs.
Brasiliens Bischöfe:“Wir haben Lula gewarnt!“
Bündnis mit dubiosen Politikern zwielichtiger Parteien provozierte Korruptionskrise
Brasiliens Bischöfe haben den Ex-Arbeiterführer Luis Inacio Lula da Silva bereits im Präsidentschaftswahlkampf von 2002 eindringlich vor verhängnisvollen Bündnissen mit berüchtigten Politikern rechtskonservativer Parteien gewarnt. Die Vorhersagen stimmten – nach jüngsten Enthüllungen über Abgeordnetenbestechung, Mittelabzweigung und schwarze Kassen droht Lula jetzt die Amtsenthebung, wurden bereits Dutzende seiner engsten Mitarbeiter von ihren Posten entfernt. Soweit bekannt, flossen illegale Gelder sogar über Banken auf den Bahamas. Für die Kirche im größten katholischen Land kommt all dies nicht überraschend. Jayme Chemello, seinerzeit Präsident der Bischofskonferenz(CNBB), erinnerte jetzt daran, Lula persönlich von desaströsen Allianzen abgeraten zu haben. „Ich nannte Lula die Namen all jener Politiker, die keinerlei Glaubwürdigkeit besitzen“, betonte Chemello auf der jetzigen CNBB-Vollversammlung in Itaici bei Sao Paulo. Mehrere dieser Politiker stünden heute im Mittelpunkt der Enthüllungen, die die Regierungskrise ausgelöst hätten. „Alle Parteien, nicht nur die Arbeiterpartei, müssen von solchen Figuren gereinigt werden.“
So hatte die Bischofskonferenz (CNBB) 2002 mehrfach die angestrebte Koalition von Lulas rechtssozialdemokratischer Arbeiterpartei(PT) mit der rechtskonservativen Liberalen Partei(PL) verurteilt. Damit seien erhebliche Risiken verbunden – zudem könne sich die von einer großen Sektenkirche dominierte PL dann in entscheidende Landesfragen einmischen, hatte CNBB-Vizepräsident Marcelo Carvalheira erklärt. Andere Bischöfe nannten eine solche Koalition extrem besorgniserregend. Lulas Arbeiterpartei verlasse generell progressive Positionen, tendiere nach rechts. Doch Lula bestand auf dem Bündnis, machte den Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar von der PL sogar zu seinem Vize. Waldemar Rossi und andere populäre Führer der katholischen Arbeiterseelsorge argumentierten, Alencar habe die Militärdiktatur unterstützt und deklariere sich als Feind der Landlosenbewegung MST. In dessen Textilfabriken herrschten skandalöse archaische Zustände, Furcht vor Repressalien und Entlassung. Die Arbeiter würden extrem schlecht bezahlt.
Die Kirche warnte Lula auch vor Roberto Jefferson, zwielichtiger Chef der rechtsgerichteten PTB. Er hatte den tiefkorrupten, per Impeachment abgesetzten früheren Staatspräsidenten Fernando Collor de Mello bis zuletzt unterstützt. Doch Lula paktiert mit der PTB, nennt Jefferson gar seinen „Freund und Genossen“. Ausgerechnet Jefferson löst vor drei Monaten die Krise aus: Als man ihn offen der Korruption bezichtigt, packt er aus, verteidigt sich wirkungsvoll mit bombastischen Enthüllungen, die von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen und der Bundespolizei bisher größtenteils bewiesen worden sind.
Die Bischofskonferenz kritisierte nicht zufällig die PL, aber auch die Verletzung ethisch-moralischer Prinzipien durch Lulas Arbeiterpartei: Denn PL- Chef Valdemar Costa Neto, der jetzt sein Abgeordnetenmandat niederlegte, hat jetzt enthüllt, wie sich die Arbeiterpartei die Unterstützung der PL mit Millionensummen regelrecht kaufte. Das Geld sei in bar und in Koffern versteckt, übergeben worden. Bei den entsprechenden Verhandlungen habe neben Alencar auch Lula mitgemacht, kenne alle Einzelheiten. Netos Äußerungen zwangen den Staatschef zu einer Fernsehrede an die Nation, in der er jedoch abstritt, von solchen „inaktzeptablen Praktiken“ gewußt zu haben.
Dabei hatte ihn die gutinformierte Bischofskonferenz seit dem Amtsantritt auf unsaubere Machenschaften hingewiesen. Der Kardinal und Erzbischof Geraldo Majella Agnelo fordert 2003 in seiner Eigenschaft als neuer CNBB-Präsident den Staatschef auf, endlich eine großangelegte effiziente Kampagne gegen die überbordende Korruption zu starten. „Die Situation wird immer gravierender – gestraft werden dadurch vor allem die Armen.“
Auch in Europa gehen solche Analysen jedoch im allgemeinen Lula-Jubel unter. „Bereits seit 1997 wissen wir, daß Lula ein Meister darin ist, Schmutz unter den Teppich zu kehren“, sagt der 83-jährige Jurist, renommierte Menschenrechtsaktivist und Mitgründer der Arbeiterpartei, Helio Bicudo – ein überzeugter Katholik.
Brasiliens Regierung verspricht erneut Gewaltbekämpfung
Banditendiktatur in Slums immer grausamer
Angesichts der ausufernden Gewaltkriminalität hat Brasiliens Staatschef Luis Inacio Lula da Silva zum wiederholten Male energische Gegenmaßnahmen versprochen. Mit Milliardenaufwand sollen danach der Polizeiapparat ausgebaut und 160 Gefängnisse errichtet werden. Die brasilianischen Medien haben über Lulas Ankündigungen nur kurz oder gar nicht berichtet, da nach früheren „Maßnahmenpaketen“ dieser Art in Wahrheit die Ausgaben für öffentliche Sicherheit teils drastisch gekürzt oder vorgesehene Haushaltsmittel gar nicht freigegeben worden waren. In großer Aufmachung betont die Landespresse dagegen, daß seit Lulas Amtsantritt von 2003 ausgerechnet die ärmsten Brasilianer weiterhin am stärksten dem Terror der Banditenmilizen ausgesetzt seien. Allein in Rio de Janeiro, so die auflagenstarke Qualitätszeitung „O Globo“, sind 1, 5 Millionen Slumbewohner der „Diktatur des Verbrechens“ unterworfen und nahezu sämtlicher Menschenrechte beraubt. Es handele sich um eine „kolumbianische“ Tragödie.
„Wir haben daher in diesem Land noch keinen demokratischen Rechtsstaat“, analysiert die renommierte Anthropologin und Kolumnistin Alba Zaluar. Gemäß den neuesten Studien ist allein in Rio, mit rund ebensoviel Einwohnern wie Kuba, die Zahl der Verschwundenen bis heute mindestens 54-mal höher als während des 21-jährigen Militärregimes. Wie damals sei unter der vom organisierten Verbrechen sowie von paramilitärischen Milizen errichteten Slum-Diktatur das Foltern von mißliebigen Bewohnern üblich. Zwecks Einschüchterung würden Menschen in aller Öffentlichkeit lebendig verbrannt oder in Stücke gehackt, die Opfer in geheimen Friedhöfen verscharrt. „Das Verschwindenlassen und die Folter sind häufig, Gewalt trifft heute viel mehr Menschen als unter der Militärdiktatur“, betont die Universitätsprofessorin Cecilia Coimbra, Präsidentin der Menschenrechtsorganisation „Nie mehr Folter“(Tortura nunca mais). Toleriert von den Autoritäten, hat das organisierte Verbrechen im Parallelstaat der Slums seit Jahrzehnten auch Sondergerichte installiert, die meist drakonische Strafen verhängen. Dazu zählen das Handabhacken ebenso wie der Scheiterhaufen aus Autoreifen. Ungezählte Familien werden zudem aus ihrer Slumkate vertrieben.
„All diese Grausamkeiten entsprechen der Realität“, erklärte jetzt Rio de Janeiros Gouverneur Sergio Cabral. „Die Parallelmacht agiert mit Rohheit.“
Auch Brasiliens katholische Kirche ist vom Banditenterror direkt betroffen. Der deutschstämmige Kardinal Eusebio Scheid in Rio de Janeiro hat die Verbrecherdiktatur häufig verurteilt. Immer wieder werden Geistliche ermordet, dringen Gangster mit NATO-MGs und Handgranaten in Slumkirchen ein, erzwingen sogar den Stopp von Sozialprojekten. Menschenrechtsaktivisten kritisierten, daß manche sogar vom Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen mit dem organisierten Verbrechen kooperieren. Zudem wird an einen bezeichnenden Vorfall erinnert. So hatten Staatschef Lulas Kulturminister Gilberto Gil und der damalige Arbeitsminister Ricardo Berzoini, heute Chef der Arbeiterpartei, vor rund zwei Jahren laut Presseberichten einen Rio-Slum besucht und dafür die Genehmigung der Banditenbosse eingeholt. Der renommierte brasilianische UNO-Berater und Experte für Gewaltfragen, Sergio Pinheiro:“All dies ist ein Skandal – geschähe derartiges in Berlin, Paris oder London, würde das im Parlament debattiert, würde die Regierung stürzen.“
Polizeiattacken gegen die Verbrecherhochburgen haben bislang nur die Wirkung von Nadelstichen. Zudem gelten nicht wenige Beamte als korrupt und brutal, werden immer wieder moderne Feuerwaffen an die Gangstermilizen verkauft. In den Millionenstädten sterben tagtäglich niedrig bezahlte Polizisten durch Attentate oder Racheakte.
Im Stadtpark von Sao Paulo trauern die ambulanten Fahrradmechaniker derzeit um ihren Kollegen, einen Detektiv und Familienvater. Er flickte dort in der Freizeit für ein Trinkgeld Schläuche, reparierte Gangschaltungen, besserte damit sein mageres Gehalt auf. „Vier Kugeln in den Hinterkopf, sonntagmorgens – so geht das hier zu.“ In Brasilien werden jährlich über 50000 Menschen ermordet, nicht einmal fünf Prozent der Täter ermittelt.
Staatschef Lulas „Waldomirogate“ – brisanter operettenhafter Korruptionsskandal kostet brasilianische Regierung die Glaubwürdigkeit/ Bischofskonferenz nicht überrascht
Gerade hatte Staatschef Lula der Nation populistisch-demagogisch verkündet, daß Ethik, Moral und Glaubwürdigkeit auch weiterhin die Grundpfeiler seiner Regierung seien, den 175 Millionen Brasilianern wirtschaftlich-sozial ein gutes Jahr bevorstehe – da platzte am selben Februartage die politische Bombe, verkehrte seine Worte ins Gegenteil: Einer der ranghöchsten Beamten im Präsidentenpalast, Waldomiro Diniz, so enthüllten die Medien hieb-und stichfest, hatte bereits im Wahlkampf von 2002 bei einem Glücksspiel-Mafioso Wahlgelder für Politiker aus Lulas Arbeiterpartei PT eingetrieben sowie ein hohes Bestechungsgeld für sich selber ausgehandelt – im Gegenzug die entscheidende Begünstigung bei einer öffentlichen Ausschreibung versprochen. Und das lediglich geduldete illegale Glücksspiel, sogar die jetzt überstürzt geschlossenen Bingo-Hallen, sind in dem Tropenland traditionell mit dem organisierten Verbrechen verquickt, das dort Geldwäsche betreibt und kräftige Zusatzprofite hereinholt. Lula hatte vor der Nation gerade erneut Zivilkabinettschef Jose Dirceu als „Kapitän“ seiner Regierungsmannschaft hochgelobt, da stellte sich heraus, daß just dieser mit jenem korrupten, zwielichtigen Beamten Waldomiro Diniz seit Jahren eng befreundet war und ihn nach Lulas Wahlsieg auf den hohen Posten im Zivilkabinett des Präsidentenpalasts hievte. Der schwerreiche Diniz verhandelte im Regierungsauftrag sogar mit dem Nationalkongreß über den Staatshaushalt, hielt aber seine Kontakte zu obskuren Figuren der Glücksspielmafia, leistete offenbar für sie an der Staatsspitze effizienteste Lobbyarbeit. Was Diniz illegal trieb, mit welchen Politikern Lulas er kooperierte, war pikanterweise seit vielen Monaten bekannt, wurde indessen ebenso wie andere Skandale im ersten Amtsjahr 2003 erfolgreich vertuscht, unter den Teppich gekehrt. Wegen der raschest entlassenen Schlüsselfigur Waldomiro Diniz tauften die Medien den Skandal als „Waldomirogate“ – die Glaubwürdigkeit von Lula, seiner Regierung und selbst seiner Arbeiterpartei, so lauten jetzt täglich Kommentare, sei ziemlich hinüber. Eherne Säulen der Ethik, Hoffnungsträger im schmutzigen politischen Geschäft? Das sei nun vorbei – Lulas Haufen genauso wie die anderen. „Waldomirogate“, so lauten Analysen, könne dieses Jahr notwendige Reformen und den immer wieder versprochenen Wirtschaftsaufschwung blockieren, die Arbeitslosigkeit weiter auf Rekordhöhe halten.
Bezeichnend, daß sich Brasiliens Bischofskonferenz CNBB von dem Skandal überhaupt nicht überrascht zeigte, ihn indessen als „gravissimo“, äußerst gravierend einstufte. Laut CNBB-Präsident Geraldo Majella Agnelo war derartiges erwartet worden – „wir haben uns immer vorgestellt, welche Konsequenzen jeder Korruptionsfall haben könnte.“ Für Kardinal Agnelo ist keineswegs ausgeschlossen, daß in der Regierung noch weitere Figuren vom Schlage eines Waldomiro Diniz agieren. „Nach wie vor arbeitet man in der Politik leider nicht für das Gemeinwohl, sondern lediglich für den Nutzen, die Bereicherung einzelner Personen oder Gruppen. Der jetzige Fall muß lückenlos aufgeklärt werden, um alle Schuldigen zu bestrafen.“ Genau dies will die Lula-Regierung wie bei vorhergehenden Enthüllungen indessen verhindern. Nicht zufällig hatte der CNBB-Präsident den Staatschef bereits im vergangenen September, wenn auch vergeblich, aufgefordert, „endlich eine großangelegte und effiziente Kampagne gegen die überbordende, immer besorgniserregendere Korruption zu starten.“
Die Affäre reißt auch Lulas wichtigsten Koalitionspartner, die von einer Wunderheilersekte dominierte, rechtsgerichtete Liberale Partei PL, mit in den Strudel. Ausgerechnet dessen Fraktionschef im Nationalkongreß, „Bischof“ Carlos Alberto Rodrigues, offizieller Sprecher der sogenannten „Universalkirche vom Reich Gottes“, ist seit mindestens fünf Jahren mit Waldomiro Diniz engstens befreundet, trieb mit ihm gemäß Zeugenaussagen zahlreiche krumme Geschäfte. So wetterten „Bispo“Rodrigues und seine Sekte zwar stets heftig gegen das Glücksspiel, zogen gemäß ersten Ermittlungen daraus indessen illegal kräftigen Profit. Der mächtige Sektengründer Edir Macedo, kurioserweise früher ein kleiner Lotterieangestellter, hat Rodrigues zur Schadensbegrenzung direkt überstürzt aus sämtlichen politischen und religiösen Funktionen entfernt. Sogar Kulte darf der einst zweitmächtigste Mann neben Macedo nicht mehr zelebrieren. Auch seine Günstlinge verlieren landesweit Posten und Pfründe.
Brasilianische Regierung nach Mord an US-Missionarin unter Druck – Proteste von Menschenrechtsorganisationen und der Kirche
Nach dem feigen Mord an der nordamerikanischen Missionarin Dorothy Stang im Amazonasteilstaat Parà wird Brasiliens Regierung mit in-und ausländischen Protesten überhäuft. Die nationalen Medien befürchten schweren Image-Schaden für das Tropenland, aber auch für Staatschef Luis Inacio Lula da Silva. Seit dessen Amtsantritt vor über zwei Jahren hatten die Bischofskonferenz, die Landlosenbewegung und Menschenrechtsorganisationen immer wieder an Brasilia appelliert, wegen der Morddrohungen gegen Aktivisten der katholischen Bodenpastoral wie Dorothy Stang, aber auch Führer der Landlosen etwas zu unternehmen, deren Schutz zu garantieren. Die bei den armen Landarbeiterfamilien immens beliebte Missionarin selbst hatte in den Wochen vor der Tat sogar im brasilianischen Fernsehen betont, daß bezahlte Killer von Großgrundbesitzern und Holzunternehmern sie töten wollten. Immerhin waren bereits 2003 mindestens 73 Landlose von Pistoleiros erschossen worden. Doch nichts geschah. Der Staat ließ zu, daß die hochbewaffneten Killermilizen weiterhin in Siedlungen und Camps der Landlosenbewegung patrouillieren, die Bewohner terrorisieren, einschüchtern. Denn der Teilstaat Parà, von der mehrfachen Größe Deutschlands, ist Brasiliens Wilder Westen, wie ganz Amazonien größtenteils eine Art Niemandsland, ohne Recht und Gesetz, einer Mafia aus Großfarmern und Holzfirmen ausgeliefert, die den theoretisch streng geschützten Urwald vernichten, sogar noch Sklaven halten. Den beiden Pistoleiros las die 74-Jährige in den Minuten vor dem Verbrechen noch mehrere Stellen aus der Bibel vor, wohl um die Täter umzustimmen. Doch diese töteten sie dennoch skrupellos mit neun Revolverschüssen auf einem nachtdunklen Urwaldweg. „Sie zeigte unglaublich couragiert Großgrundbesitzer und Holzunternehmer an, die Amazonien zerstören, Urwald in Flächen für Export-Soja verwandeln“, sagt Bischof Tomas Balduino, Präsident der Bodenpastoral. „Dorothy Stang gab als Nordamerikanerin, Mitglied eines angesehenen Ordens, in Nordbrasilien jenen einfachen Menschen eine Stimme, die hier von den Autoritäten nie gehört werden, auf die man nichts gibt. Ganz patriotisch setzte sie sich für Brasiliens Interessen ein – und wurde gerade deshalb gehaßt, verteufelt.“ Denn so unglaublich es scheint – Brasiliens Amazonasurwälder gehören zwar fast durchweg dem Staat, der Allgemeinheit, werden jedoch seit jeher illegal von der Holz-und Agrarbranche okkupiert. Bischof Balduino verurteilt scharf, daß die Regierung wenige Tage vor der Tat dem Druck der Holzfirmen nachgab, einen zuvor dekretierten Rodungsstopp wieder aufhob und damit die weitere illegale Vernichtung von Staatswald fördert. „Durch das Einknicken der Lula-Regierung sieht sich diese Branche bestärkt – der Mord an Dorothy Stang ist ebenfalls eine Form des Drucks auf Brasilia, um weitere Zugeständnisse herauszuholen.“ Die allgemeine Straffreiheit stimuliere zu noch mehr kriminellen Aktionen. „Doch wir werden ganz im Sinne Dorothy Stangs weiterarbeiten, uns nicht einschüchtern lassen, die Amazonasvernichtung weiter anprangern.“
Paulo Adario, Greenpeace-Koordinator für Amazonien, ist ebenfalls erschüttert von dem Verbrechen. Jahrelang wird er von Pistoleiros bedroht, trägt deshalb eine kugelsichere Weste, bekommt zeitweise Polizeischutz. „Die Holzbranche schafft jetzt Fakten“, sagt er „und die Regierung verhält sich schizophren, bricht ihr Versprechen, die Umwelt zu schützen. Diese Firmen arbeiten kriminell – letztes Jahr hatten wir die zweithöchste Abholzungsrate in der Geschichte Brasiliens, 2005 wird voraussichtlich das gleiche passieren.“ In einem Brief an Staatschef Lula verurteilen Adario und seine Organisation den politischen Mord als weiteres „tristes, skandalöses Beispiel“ für die Amazonaspolitik der Regierung. „Als die G-7-Staaten 1991/92 ihr Pilotprojekt zum Schutz der brasilianischen Regenwälder starteten“, so der angesehenen Greenpeace-Experte, „hat sich die Urwaldvernichtung von 12000 auf heute 23000 Quadratkilometer jährlich erhöht!“ Deutschland sei Hauptfinanzier des Pilotprojekts und müsse deshalb den „politischen Druck erhöhen, damit nicht nur das brasilianischen Umweltministerium, sondern die gesamte Lula-Regierung ihre Hausaufgaben machen.“
Brasiliens Kirche verurteilt Kriminalisierung der Landlosenbewegung MST
Die brasilianische Bischofskonferenz(CNBB) hat am Freitag gegen eine Kriminalisierung der auch von den deutschen Kirchen aktiv unterstützten Landlosenbewegung MST protestiert. Die CNBB-Bodenpastoral erklärte in der zentralbrasilianischen Großstadt Goiania, gegen den MST werde derzeit von Großgrundbesitzern, ausländischen Agrarmultis und dem exportorientierten Agrobusiness eine beispiellose Kampagne geführt. Daran beteiligten sich auch ausländische Kapitalanleger, die in die Produktion von Ethanol-Treibstoff aus Zuckerrohr investierten, hieß es weiter. Absicht sei, mit Hilfe der Medien eine soziale Widerstandsbewegung zu disqualifizieren. An der Kriminalisierungskampagne sei in bestimmter Form auch die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva beteiligt, da sie klar für das Agrobusiness Partei ergreife, von dem die große Masse der Landarbeiter und Kleinbauern, überhaupt der Menschen auf dem Lande, keinerlei Vorteil habe. Das Agrobusiness breite sich immer mehr auch in Amazonien aus, wodurch Kleinbauern und selbst Indianer aus ihrem Lebensraum vertrieben würden. Eine in den brasilianischen Medien ausführlich publizierte Meinungsumfrage hatte ergeben, daß der MST inzwischen als Synonym für Gewalt angesehen wird. Für über sechzig Prozent der Befragten schädigt der MST die nationale Wirtschaft, manipuliert und schafft Konflikte, nähert sich dem Verbrechertum an. Indessen erklärten gleichzeitig 75 der Befragten, die Landlosenbewegung nur wenig zu kennen. Der Soziologe und NGO-Experte Ricardo Antunes von der Universität in Campinas erklärte, Lula sei Sprecher des Agrobusiness, was für die sozialen Bewegungen eine sehr schwierige Lage schaffe. Neunzig Prozent der in der Studie Befragten hätten betont, sich über Sozialbewegungen lediglich durch Fernsehen und Presse zu informieren. “Somit handelt es sich um Meinungen über das, was veröffentlicht worden ist.” Die Medien berichteten indessen nicht über Bildungsinitiativen sowie über Familien, die dank der Aktionen von Sozialbewegungen ihre Menschenwürde erobert hätten, so Antunes. Erst kürzlich waren drei MST-Führer von einem Gericht zu einer Geldstrafe von umgerechnet über zwei Millionen Euro verurteilt worden, weil diese an der Blockierung des Schienenwegs des brasilianischen Bergbau-Multis “Vale” teilgenommen hätten. Die breit publizierte Studie war von der “Vale”-Direktion in Auftrag gegeben worden.
Rebellion im Urwaldkerker
Gefangenenseelsorge:“Folter und Morde, Verrohen statt Resozialisieren“
Der Amazonas-Kerker Urso Branco in der Urwaldstadt Porto Velho zählt zu den entsetzlichsten Gefängnissen ganz Lateinamerikas und macht in Brasilien alle paar Monate wegen Folter, Mord, Aufständen und Massenfluchten Schlagzeilen. Seit dem Wochenende haben die rund tausend Insassen über zweihundert Geiseln, meist Frauen und Kinder, in ihrer Gewalt. Bereits sechzehn Männer sollen von Mithäftlingen umgebracht worden sein. Erst Mitte Dezember hatten katholische Gefangenenseelsorger erneut den Interamerikanischen Gerichtshof und die Vereinten Nationen über die chaotischen Zustände in Urso Branco informiert. Häftlinge starben wegen fehlender medizinischer Betreuung. Aidskranke erhielten bereits seit 90 Tagen nicht die ihnen zustehenden Medikamente. In Zellen für höchstens acht Personen wurden bis zu 25 Häftlinge gepfercht. Laut Bischof Pedro Luiz Strighini, Präsident der nationalen Gefangenenseelsorge, werden die Insassen zudem vom organisierten Verbrechen terrorisiert – wer sich nicht unterordnet, wird ermordet. Durch die neueste Rebellion sollen nicht nur bessere Haftbedingungen erzwungen werden – gleichzeitig wird von der Anstaltsleitung gefordert, die Verlegung des besonders sadistischen Gangsterbosses Birrinha rückgängig zu machen. Denn der gilt als Herrscher des Kerkers im Regenwald. “Der Staat hat seit langem die Kontrolle über Urso Branco verloren“, sagt Bischof Strighini. „Die Anstaltsdirektion läßt die Dinge einfach laufen – in so vielen anderen Gefängnissen Brasiliens ist es genauso.“ Zur komplexen Situation gehöre, daß Gefangene von den Wärtern gefoltert würden. „Denn Folter existiert ja überall im Land.“ Grausamkeiten würden somit von inkompetenten Beamten, doch auch von Kriminellengruppen begangen. „Unter solchen Bedingungen verrohen die Häftlinge – von Resozialisierung kann keine Rede sein. Und das gilt allgemein für Brasiliens Gefängnissystem.“
Der Bischof erinnert daran, daß 2002 bei einer Revolte in Urso Branco 27 Häftlinge von Mitinsassen getötet wurden, beim Aufstand von 2004 waren es 15. Die meisten davon wurden geköpft und zerstückelt. Hinzu kommen über zwanzig andere Morde. Seit Sonntag sollen nach Häftlingsangaben bereits sechzehn Männer umgebracht worden sein. “Wichtig ist, daß die internationalen Menschenrechtsorganisationen jetzt handeln und die Zustände anprangern“, sagt Bischof Strighini. „Hier geht es um das Recht auf Leben. Die internationale Gemeinschaft muß jetzt ebenso eingreifen wie bei den Menschenrechtsverletzungen im Irak. Was dort und in Brasilien geschieht, betrifft die ganze Menscheit.“ Deutlich werde, daß Brasiliens Demokratie am Anfang stehe, elementare Bürgerrechte noch nicht verwirklicht worden seien. Das betreffe auch Armut und Elend, die extrem ungerechte Einkommensverteilung. Die Zustände in Urso Branco und vielen anderen Gefängnissen zeigten zugleich den Verlust menschlicher, familiärer und religiöser Werte in der brasilianischen Gesellschaft. „Ein großer Teil der Bevölkerung, darunter Christen, ist überzeugt, daß Gefangene mißhandelt werden müssen – wir haben noch keine pazifistische Mentalität in Brasilien.“ Nach wie vor werden Personen wegen Bagetelldelikten, etwa Warenhausdiebstählen, zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Selbst eine 79-jährige Landarbeiterin mit Krebs im Endstadium hatte man wegen angeblichen Drogenhandels eingesperrt. Nachdem Bischof Strighini und Sao Paulos Kardinal Claudio Hummes die Frau vor Weihnachten demonstrativ besucht hatten, wurde sie überraschend freigelassen. Skandalös ist zudem, daß Häftlinge, die ihre Strafe längst verbüßt haben, dennoch weiter hinter Gittern bleiben. Denn die träge, langsame Justiz stellt einfach nicht die Entlassungspapiere aus. Das geschieht sogar im relativ hochentwickelten Teilstaat Sao Paulo. “13000 Gefangene, immerhin ein Zehntel aller Häftlinge Sao Paulos, müßten längst auf freiem Fuß sein.“ In Bezug auf die Menschenrechte habe Brasilien auch 2005 international einen schlechten Ruf. „Unter der Regierung von Staatschef Lula sind die erwarteten Fortschritte ausgeblieben.“
Brasiliens Reiche drehen auf
Slums und Misere – aber Rekordumsätze bei Luxuswaren
Goldstaub auf Pralinen und Torten, der Kaviar aus Paris oder ein paar holländische Tulpensträuße extra mit Privatmaschinen eingeflogen, gezähmte Villen-Leoparden natürlich mit Diamantenhalsband – Brasiliens Geldelite schreckt vor keiner Extravaganz zurück. Und wenn Millionäre vor einer Luxusboutique der Nobelkarosse zu entsteigen gedenken, stoppen die vorausfahrenden bewaffneten Body-Guards natürlich den ganzen Verkehr. Brasilien ist laut UNO Weltmeister in sozialer Ungleichheit – bei Mindestlöhnen von etwa 74 Euro, Stundenlöhnen von fünfzig Cents, können sich die Wohlhabenden einen neofeudalen Hofstaat an Bediensteten leisten, von denen Deutschlands Betuchte bestenfalls träumen. Auf der ganzen Welt gibt es 7,1 Millionen Millionäre – doch in keinem Erdteil wächst ihre Zahl schneller als in Lateinamerika. Mindestens jeder Dritte davon ist ein Brasilianer. Die Reichen vergöttern Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, den Ex-Gewerkschaftsführer, wegen seiner neoliberalen Politik. Zumal Lula im Präsidentenpalast von Brasilia selber Spaß am Luxus hat – und einen von Brasiliens Milliardären, den Großunternehmer Josè Alencar, zu seinem Vize machte.
Gleich in Lulas ersten Amtsjahr schlittert Brasilien in Rezession und Rekordarbeitslosigkeit, doch immerhin fünftausend Betuchte werden (Dollar-)Millionäre. Der Luxusgütermarkt explodiert regelrecht, wuchs 2003 um 35 Prozent, 2004 um 40 Prozent – weltweit sind es nur 15 Prozent jährlich. Nobelmarken aus Paris, New York oder London eröffnen serienweise neue Läden. Am Wolkenkratzer-Himmel Sao Paulos knattert ein Privathubschrauber nach dem anderen – Betuchte fliegen von ihren Villen der Nobelghettos zu den Bürotürmen, Kaufpalästen, Golfplätzen, Landsitzen, Stränden, Privatinseln. Nur in den USA werden mehr Helikopter, überhaupt Privatflugzeuge, verkauft. Mit dem Geld für einen Ferrari, so errechneten Sozialwissenschaftler, könnte man sieben vierköpfige brasilianische Familien zwanzig Jahre lang ausreichend ernähren.
„Ebenso wie die alte französische Aristokratie“, analysiert der britische Brasilien-Experte Victor Bulmer-Thomas, „fühlen sich die Eliten Lateinamerikas nur dann erst richtig reich, wenn sie von Armen umgeben sind.“ Und die Kolonialmentalität, das bestätigen brasilianische Kardinäle und Bischöfe, ist weiterhin sehr lebendig. Ebenso wie der Papst verurteilen sie die ungebremste Habgier, das Anhimmeln von Geld und Kapital. Sao Paulos deutschstämmiger Kardinal Erzbischof Claudio Hummes beobachtet täglich vor der Kathedrale ein Heer von Bettlern, Arbeits-und Obdachlosen, Verzweifelten. „Wenn wir auf Brasilien, oder nur auf Sao Paulo schauen, fällt uns sofort der tiefe Graben zwischen Reichen und Armen auf. Die Zahl der sozial Ausgegrenzten hat sich durch die globalisierte Wirtschaft, die offenen Märkte noch erhöht. Wie kann man die Reichtümer unseres Landes neu verteilen?“ Der Papst habe bei seinem Brasilienbesuch das Gleichnis vom Reichen und dem armen Lazarus auf die Situation in dem Tropenland angewendet, den Egoismus und die Indifferenz der Begüterten angeprangert. „Vierundsechzig Prozent des Volkseinkommens“, so der bekannte Befreiungstheologe Frei Betto aus Sao Paulo, „sind in der Hand von nur zehn Prozent der Brasilianer!“
„Lateinamerika ist weiterhin das perfekte Beispiel für wirtschaftliche Polarisierung zwischen Reichen und Armen“, betont sogar die US-Investbank Meryll Lynch. In der Upperclass beobachten Sozialwissenschaftler deutlich mehr „Zynismus, Intoleranz, Rassismus, reaktionäres Denken“.
Jurandir Freire Costa, Universitätsprofessor und Therapeut in Rio: „Diese Leute mit ihrem provozierenden Lebensstil, dem hohen Drogenkonsum, sind in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit so dressiert, daß sie die Misere, die Verelendeten überhaupt nicht mehr sehen.“ Das glamouröse Leben der Betuchten – überall in den Medien wird es als nachahmenswert herausgestellt. Beinahe in der letzten Slumhütte steht ein Fernseher – und alle drumherum himmeln die Schicken und Reichen an, hassen sie zugleich. „Ein Teil der Verelendeten wird gewalttätig, will an das Geld der Begüterten, um dann den Lebensstil der Eliten zu kopieren – weiter nichts“, so Professor Costa.
Bischofskonferenz Brasiliens für Rückverstaatlichung von Minenkonzern
Die katholische Kirche Brasiliens hat das September-Plebiszit über eine Rückverstaatlichung des Minenkonzerns „Vale do Rio Doce“ als Erfolg bezeichnet. Gegen den scharfen publizistischen Widerstand aller kommerziellen Medien sowie gegen den Willen der Regierung hatte die Bischofskonferenz(CNBB) gemeinsam mit den nationalen Sozialbewegungen die einwöchige Aktion gestartet. Gemäß den vorläufigen Resultaten votierten über vier Millionen Brasilianer. Rund 97 Prozent sind dafür, daß das zweitgrößte Bergwerksunternehmen der Welt, zugleich größter Eisenerzexporteur der Erde, wieder in öffentlichen Besitz übergeht. Gemäß einer neuen Studie ist über die Hälfte der Brasilianer ebenfalls dieser Auffassung – in einem Land mit extrem niedrigem Bildungsniveau wußten mehr als zwanzig Prozent bei der Meinungsumfrage keinerlei Antwort.
Brasiliens Caritas-Präsident, der für die CNBB-Sozialpastoralen verantwortliche Bischof Demetrio Valentini und Joao Pedro Stedile, Führer der Landlosenbewegung MST, sowie der katholische Jurist Fabio Konder Comparato werden am neunten Oktober bei Audienzen im Präsidentenpalast, im Nationalkongreß und im Obersten Gericht die Plebiszitergebnisse erläutern und entsprechende politische Schritte fordern. Valentini und Stedile hatten zuvor in einer gemeinsamen Erklärung betont, ein strategisches, mit öffentlichen Geldern errichtetes Unternehmen wie „Vale do Rio Doce“ dürfe niemals privatisiert werden. Die „phantastischen Gewinne“ des Konzerns müßten allen Brasilianern zugute kommen und nicht nur einer Gruppe von Investoren und Banken. Mit den derzeit realisierten Profiten könnte man 167 Krankenhäuser und über 200000 Wohnungen bauen sowie 1,6 Millionen Landlose ansiedeln. Nach Darstellung renommierter Rechtsexperten, hieß es in der Erklärung weiter, basierte die Privatisierung von 1997 auf Betrug. „Dies bedeutet Landesverrat durch einen Teil der damaligen sozialdemokratischen Regierung, die sich dafür eines Tages vor den Gerichten dieses Landes verantworten muß.“ Zudem werden die Argumente des früheren, inzwischen verstorbenen CNBB-Präsidenten Luciano Mendes bekräftigt, der die Privatisierung als antiethisch und unverantwortlich bezeichnet hatte.
Das Unternehmen, so Bischof Valentini, sei für ein Dreißigstel des tatsächlichen Wertes verhökert worden. So habe man allein die Eisenerz-und Bauxitvorkommen bei der entsprechenden Ausschreibung fälschlich um zehn Milliarden Tonnen niedriger angegeben. Die Regierung von Präsident Luis Inacio Lula da Silva unterwerfe sich nach wie vor dem internationalen Finanzkapital. Dadurch werde eine echte Sozialpolitik nahezu verhindert.
Chico Whitaker, Träger des Alternativen Nobelpreises von 2006 sowie Mitglied der CNBB-Konferenz für Gerechtigkeit und Frieden, sagte:“Vale do Rio Doce sollte wieder ein Staatsunternehmen werden – die Gewinne könnten dann sozialen Zwecken dienen.“
Angesichts der öffentlichen Kritik hatte sich der Bergbaukonzern immer wieder als patriotisch, sozial und umweltfreundlich bezeichnet, für entsprechende landesweite PR-Kampagnen auch den in Europa sehr bekannten Weltmusik-Star Carlinhos Brown eingespannt.
Das Plebiszit wurde vor allem in katholischen Kirchengemeinden, aber auch auf öffentlichen Plätzen abgehalten.
Laut Presseberichten hatte Lula im Präsidentschaftswahlkampf von 2002 versprochen, den Konzern wieder zu verstaatlichen, war indessen später davon abgerückt. Zu Lulas Überraschung hatte ein Kongreß seiner Arbeiterpartei im September mit großer Mehrheit eine Beteiligung an dem Plebiszit beschlossen. Lula selbst und die gesamte PT-Führung lehnten es dagegen öffentlich als schädlich und „irreal“ ab. Der Minenkonzern hatte 2006 Lulas Wiederwahlkampagne mitfinanziert.
Alternativer Nobelpreis für Francisco Whitaker – angesehener katholischen Menschenrechtsaktivist Brasiliens, Mitgründer des Weltsozialforums
Francisco Whitaker, 75, in der Megacity Sao Paulo ist aus dem Häuschen. „Der Alternative Nobelpreis für mich – nicht zu fassen“, sagt er am Donnerstag überglücklich. In seinem großen Arbeitszimmer empfängt er neben dem mit Akten, Büchern, Zeitungen vollgepackten Konzertflügel gleich gruppenweise Freunde und Mitstreiter der von ihm koordinierten „Kommission für Gerechtigkeit und Frieden“ der brasilianischen Bischofskonferenz. „Wir wollen die Welt verändern, wollen sie besser, sozialer, humaner gestalten“, sagt Whitaker. „Der Alternative Nobelpreis stärkt uns katholischen Menschenrechtlern Brasiliens den Rücken, dient unserer Sache.“ Natürlich freut ihn, daß die schwedische Stiftung „Right Livelihood Award“ mit dem Preis auch seinen jahrzehntelangen, teils sehr risikoreichen Kampf gegen die Militärdiktatur und für die Demokratisierung Brasiliens würdigt. „Man hat das im fernen Europa also wahrgenommen, das gibt mir viel Kraft zum Weitermachen – noch so viel ist hier zu tun!“ Er weist auf Folter, Sklavenarbeit, die rasch wachsenden Slums, die politische Macht des organisierten Verbrechens.
Daß es bei den Mammutwahlen vom kommenden Sonntag Stimmenkäufer und korrupte Kandidaten schwerer haben werden, ist auch Whitaker zu verdanken. Rechtzeitig hatte er einen Gesetzentwurf gegen die üblichen Wahlbetrügereien formuliert, stand bei der katholischen Kampagne für saubere, transparente Abstimmungen mit an der Spitze. Der Mitgründer des Weltsozialforums kennt sich in der Politik sehr gut aus, war jahrelang Assessor der Bischofskonferenz sowie von Kardinal Evaristo Arns in Sao Paulo, zudem Abgeordneter der Arbeiterpartei PT von Staatschef Lula. Dort gehörte er zu den letzten hochgeachteten „Aufrechten“, nachdem zahlreiche Mitstreiter ausgeschlossen worden waren oder aus Unzufriedenheit mit dem neoliberalen Regierungskurs das Parteibuch zurückgegeben hatten. Anfang des Jahres erklärte auch Whitaker angesichts der vielen Regierungsskandale um Stimmen-und Parteienkauf seinen Austritt. Das erregte in der brasilianischen Öffentlichkeit enormes Aufsehen. „Der Lula-Traum ist aus“, sagte Whitaker. „Was die katholische Kirche bereits vor den Wahlen von 2002 vorausgesagt hatte, ist eingetroffen – die Parteibasis ist von der Führungsspitze, von Lula regelrecht verraten worden.“ Der Menschenrechtler nennt es ein „Verbrechen“, daß Lulas Regierung mit reaktionären Politikern und Parteien paktiert, diesen somit das Überleben und eine starke Position garantiert. Nicht zufällig engagiert sich Whitaker so stark im Weltsozialforum, in Brasiliens Sozialbewegungen, will keineswegs wieder in Parteien eintreten. „Brasilien ist nur eine Fassaden-Demokratie, ein Land der Apartheid – nur eine viel besser organisierte Zivilgesellschaft kann das ändern.“ Das Weltsozialforum diene dafür als wichtige Erfahrung. Den Brasilianern ruft Whitaker zu, nicht mehr auf Führer wie Lula zu hoffen, für eine völlig neue politische Kultur zu kämpfen. Wie der künftige Träger des Alternativen Nobelpreises die soziokulturelle Situation des Tropenlandes analysiert, läßt aufhorchen. „In den Slums unterwirft man sich dem organisierten Verbrechen – doch es gibt auch Unterwerfung gegenüber korrupten Politikern.“ Gerade unter der armen Bevölkerungsmehrheit finde man viel „grauenhaften Fatalismus und Passivität“, was die Lösung der gravierenden Probleme Brasiliens sehr erschwere. „Die Regierung will das Volk mit Almosen von Unruhen abhalten, Sozialprogramme sollen dazu dienen, die Masse unterwürfig und abhängig zu halten.“ Brasiliens Bischöfe haben Whitaker noch am Donnerstag ganz offiziell per Note und auch persönlich zum „Alternativen Nobelpreis“ gratuliert.
Ausriß, Rio de Janeiro: “Papiersammler von Nachbarn lebendig verbrannt”.
Missionar über Fußballspielen mit abgeschlagenen Menschenköpfen in Slum von Rio de Janeiro:
Perry Anderson – Lulas Brasilien. Was alles fehlt: http://www.lrb.co.uk/v33/n07/perry-anderson/lulas-brazil
Angeli, größte brasilianische Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ Ende Oktober 2012 politisch unkorrekt zur Gewaltkultur in Lateinamerikas größter Demokratie:“Ja, wir überfallen, vergewaltigen und morden. Das hat einen Superspaß gemacht.“
Gewalt-Gesellschaftsmodelle scheinen unterdessen auch in Mitteleuropa Anklang zu finden, darunter das Modell der No-Go-Areas – diese werden bereits zügig eingeführt. Nicht nur Juden meiden in Berlin bestimmte Viertel . http://www.hart-brasilientexte.de/2012/09/05/ajatollahs-und-ihre-untergebenen-nehmen-den-platz-von-hitler-wieder-ein-und-predigen-tagtaglich-die-eliminierung-der-juden-brasiliens-groste-qualitatszeitung-folha-de-sao-paulo-zum-antisemiti/
Ausriß, Rio-Zeitungsfoto 23.11.2012.
Ausriß, Lokalzeitung von Rio de Janeiro, 12.12.2012 – Mutter legt Neugeborenes an belebte Straße – tot.
Rio de Janeiro
Slum-Seelsorge gegen die Barbarei – in der Stadt des internationalen Jugendtreffens mit dem Papst 2013
„Viel mehr Besucher als bei Fußball-WM 2014 und Olympischen Sommerspielen 2016“
Glaubte man der weltweit verbreiteten Auslandspropaganda, freut sich ganz Brasilien, und vor allem Rio de Janeiro wie wild auf die beiden Sport-Megaevents, ziehen Bevölkerung und Autoritäten an einem Strang bei der sorgfältigen Vorbereitung, will man ein guter Gastgeber sein. Doch nun hat ein weiteres Blutbad, bei dem mindestens acht junge Menschen ermordet wurden, den Propagandavorhang jäh zerrissen, jüngste Analysen der katholischen Kirche über gravierende Menschenrechtsverletzungen in den über eintausend Elends-und Armenvierteln bestätigt. Gemeindepfarrer Monsenhor Luis Antonio Lopes, in dessen Seelsorgebereich das Massaker geschah, ist entsetzt: „Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung gefangen sind. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben.“
Aber ist nicht immer von befriedeten Favelas, einer eigens gegründeten Befriedungspolizei die Rede? „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten gibt, also in den allermeisten Favelas“, ergänzt Padre Lopes. „Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“
Das jüngste Blutbad verübt ein Banditenkommando als Machtdemonstration, zur Einschüchterung der Slumbewohner – die Leichen mit grauenhaften Folterspuren werden an der Stadtautobahn abgeworfen. Nur deshalb erfahren die Medien von der Untat – von den meisten Massakern hört die Öffentlichkeit außerhalb der Slums nichts. Denn in die Parallelstaaten der Slums, wie es Soziologen nennen, wagt sich kaum jemand hinein, der dort nicht gezwungenermaßen hausen muß. Nach dem Blutbad stellen Armee und Polizei einen ganzen Konvoi aus Schützenpanzern zusammen, um in die Favela des hochgerüsteten Banditenkommandos vordringen zu können. Das spricht Bände über die Zustände, die Machtverhältnisse in der WM-Stadt. Natürlich hatten sich die Gangster längst in Guerrilha-Taktik zurückgezogen.
Padre Luis Antonio Lopes ist gleichzeitig Leiter der Slum-Seelsorge in der Erzdiözese von Rio de Janeiro – die Banditenherrschaft erschwert kirchliche Arbeit auf nur zu oft bizarre Weise. Denn Sozialprojekte, darunter Kindergärten und Schulen, können in den Favelas nur funktionieren, wenn die Banditenkommandos ihr Okay geben. „Bewaffnete Gangster halten in einem geraubten Auto neben mir und wollen, daß ich jeden einzelnen von ihnen mit Handschlag grüße“, sagt ein Priester der Slum-Pastoral. „Was bleibt mir dann übrig? Sorge ich nicht für ein problemfreies Verhältnis zu den Machthabern, riskiere ich mein eigenes Leben, wird jegliche Hilfe für die Slumbewohner unmöglich.“ In der schlichten Kirche zelebriert er Messen, lädt abends zu Bibelkursen, bringt erwachsenen Analphabeten Lesen und Schreiben bei, verteilt Lebensmittel-und Kleiderspenden, spielt hinter der Kirche sogar mit Jugendlichen Fußball – Teil von Freizeitaktivitäten, die Mädchen und Jungen von den Drogenbanditen fernhalten sollen. Durch Druck auf die Präfektur wurde erreicht, daß in der Slumregion nun sogar ein Gesundheitsposten existiert.
Der Padre reflektiert über die schwierige Frage, ob er die Banditen rechtzeitig über die Route der nächsten Prozession unterrichten soll – damit diese alle gesperrten Straßen wissen – und im Falle einer höllisch rasanten Fahrt mit geraubten Autos oder Entführungsopfern auf andere Wege ausweichen…
Als ein Sektenanhänger die Teilnehmer einer Prozession mit obszönen Kraftausdrücken beschimpft, hält ein Jungbandit von nur 13 Jahren dem Krakeeler den Revolver an den Kopf. „Noch ein Wort – und ich drücke ab. Diese Religion wird respektiert!“
Ein mehrstündiger Gang durch Slums an der Seite des Padres führt zu den Brennpunkten der barbarischen, bedrückenden Situation. Zu den Verhaltensregeln zählt: Nicht fotografieren, keine Mikrophonaufnahmen, weil sonst sofortige Ermordung drohte. So tun, als ob man die überall lauernden bewaffneten Banditen, die offenen Verkaufspunkte für harte Billigdrogen wie Crack und Kokain garnicht bemerkt und fast durchweg ein angeregtes Gespräch mit dem Priester über Religiöses führt. Elendskaten, zerlumpte, verwahrloste Kinder, Müll und Gestank, Unmengen von geraubten und zu Schrott gefahrenen Autos, sadistischer Gangsta-Rap in Hardrock-Lautstärke rund um die Uhr, der mit ganzer Wucht auch in die Kirche dringt.
„Ich bin Terrorist, ich bin ein Taliban“, heißt es in den Texten, sind beinahe in jedem Titel MG-Salven, Bomben-und Granaten-Explosionen zu hören. „Unsere Terrororganisation ist der Staatsfeind Nummer Eins.“
„Im Morgengrauen rücken wir aus, dann singt das MG/ Messer an die Kehle, Schuß ins Genick, Terror und Aktion, mancher Gegner wird geköpft.“
Eine Mitarbeiterin des Priesters berichtet über viele willkürliche Morde und Folterungen, teils direkt vor ihrer Katentür. „Wer sich hier weigert, Raubgut oder Drogen zu transportieren, wird sofort erschossen – wer des Kontakts mit der Polizei verdächtigt wird, ebenfalls. Doch innerhalb weniger Monate sind auch die Killer tot – kommen beispielsweise bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banditenkommandos oder mit der Polizei um. Und schon werden andere die neuen Slum-Herrscher.“
Padre Lopes von der Slum-Seelsorge ist beim Gespräch sichtlich verstört, erregt – denn nur einige Stunden zuvor hatten Banditen bei einer Raubattacke auf das Gemeindezentrum und die Kirche zahlreiche wertvolle Gegenstände, darunter elektronische Geräte, erbeutet.
Für Lopes handelt es sich bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich zu bilden und zu entwickeln. Laut neuesten Studien ist beispielsweise der Handel mit harten Billig-Drogen wie Crack und Kokain landesweit der einfachste Weg für junge Menschen, um an Geld für schicke Markenklamotten und andere attraktive Dinge zu kommen. Sage und schreibe mindestens 5,3 Millionen Brasilianer zwischen 18 und 25 Jahren studieren nicht, arbeiten nicht – und suchen auch keinerlei Arbeit, heißt es.
“Wir haben jetzt bei der UNO und bei Amnesty International Anzeige erstattet, weil wegen der Fußball-WM gleich drei Stadtautobahnen mitten durch Favelas gezogen werden, Zehntausende von Slumbewohnern ihre Behausung verlieren, vertrieben werden.“
Der Staat bietet ihnen an, in Billigblocks zu ziehen, 50 Kilometer entfernt, in einer Region ohne Schule, Hospital, öffentliche Verkehrsmittel.
Seit jeher zählte zu den wichtigsten Aufgaben der Favela-Pastoral, die Zerstörung von Armenvierteln zu verhindern. Jetzt, vor den Sport-Events, gilt das noch mehr. „Zwei Tage vor Weihnachten machten Planierraupen der Präfektur eine ganze Hüttensiedlung nieder – die Leute mußten im Freien kampieren!“
Das jüngste Blutbad zeigt, wie es um die Sicherheit der Rio-Bewohner steht. Die katholische Kirche Rio de Janeiros hat deshalb mit Kundgebungen und Demonstrationen der Opfer gedacht, zum Frieden aufgerufen.
Padre Lopes macht deshalb folgende Rechnung auf: “Alle mehr als eintausend Favelas von Rio de Janeiro haben gravierende Gewaltprobleme – der Staat müßte dort etwa 200000 Sicherheitsbeamte stationieren – tut es aber nicht. Wie die Investitionen für Fußball-WM und Olympische Sommerspiele in Rio zeigen, sind Mittel durchaus vorhanden – aber eben nicht für soziale Zwecke, nicht für menschenwürdige Behausungen. Wie kann man angesichts so vieler drängender Probleme soviel Geld für Sportevents ausgeben, die nur ganz kurze Zeit dauern!“
Er weist auf die friedensstiftende Bedeutung des einwöchigen Weltjugendtreffens von 2013 mit dem Papst. „WM und Olympische Spiele sind kommerzielle Ereignisse, wird es für die Besucher teuer, braucht man Eintrittskarten für die Stadien. Beim Jugendtreffen indessen sind Unterbringung und Verpflegung gratis, werden sich bei den vielen Gottesdiensten und Veranstaltungen unter freiem Himmel alleine am Strand der Copacabana rund drei Millionen Menschen versammeln können.
Brasiliens Menschenrechtsministerin Maria do Rosario räumte wegen des neuesten Blutbads von Rio ein, daß bei den Heranwachsenden des Landes Gewalt die Haupt-Todesursache sei. Die katholische Kirche hatte deshalb bereits vor Jahren eine „Kampagne gegen Gewalt und gegen die Ausrottung von Jugendlichen“ gestartet. Priester Geraldo Nascimento zählt zu den Wortführern, den Organisatoren.
“Wir wollen, daß die ganze Welt sieht, was hier vor sich geht. Der brasilianische Polizeiapparat dient nicht dem Verteidigen der Bevölkerung – alle Arten von Verbrechen existieren weiter, weil die Polizei verwickelt ist.“
Ausriß. “Gerhard Wisnewski. ungeklärt – unheimlich – unfassbar. Die spektakulärsten Kriminalfälle 2013. KNAUR
“Moderne Scheiterhaufen aus Autoreifen”:
…auch die “Stadt der Scheiterhaufen”….
…
Ausriß.
TV-Ausriß, deutsche und brasilianische Politiker.
Südddeutsche Zeitung, Klaus Hart 1999, “Brasilien”.
Lula – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2016/07/30/brasilien-2016-lula-von-westlichen-regierungen-eu-westlichem-mainstreamlula-superstar-jahrelang-bejubelt-wird-vor-gericht-gestelltpetrobras-affaere-die-ur/
Brasilien und Drogen – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/18/aus-brasilien-nichts-neues-2017-drogensuechtige-die-in-grosser-zahl-crack-konsumieren-blockieren-in-der-city-von-sao-paulo-immer-wieder-sogar-strassenkreuzungen-vertreibt-die-polizei-diese-crack-h/
Kirche in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/05/brasilien-%E2%80%93-kirche-und-gesellschaft-sammelbandtexte/
Juden in Brasilien, Lateinamerika – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2008/11/05/juden-in-brasilien-hintergrundtexte-der-letzten-jahre-mit-dem-arsch-zum-publikum/
Gefängnisse in Brasilien – Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2017/01/02/aus-brasilien-nichts-neues-gefaengnis-rebellion-zu-jahresbeginn-2017-mit-offiziell-60-toten-in-amazonas-millionenstadt-manaus-schauplatz-vieler-aehnlicher-gewaltausbrueche-warum-brasilien-strateg/#more-86916
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