Hintergrundtext von 2002:
Hanna Schygulla, brasilianisch
Vorm ersten Brechtabend in dem Tropenland brauchte sie nur raus aus der Hotelsuite Sao Paulos, runter auf die Rua Augusta, hatte Mackie-Messer-Szenerien pur: Kleine, große Gangster, Top-Manager, Dealer, Nutten, Luxuslimousinen, Absteigen, teure und billige Restaurants, Geistesgestörte und Besoffene, abgerissene Straßenkinder und verelendete Familien, die in stinkenden Müllsäcken nach Eßbarem wühlen, nachts im Dreck der Bürgersteige schlafen. Gleich daneben Lateinamerikas Wallstreet, Bankenpaläste von Milliardären, Globalisationsgewinnern. Nur Schritte entfernt, trat die von der Kritik als „Amazone, brechtische Anti-Walküre” Gefeierte vors Publikum, hatte, absichtlich oder nicht, überdeutliche Bezüge auf die brasilianische Realität en masse im Programm, durchweg in exzellentem Spanisch.
Den Mackie-Messer -Song brachte sie zweimal, spielte ihn außerdem mit Brechts Stimme ein – in einem Land extrem korrupter, zynischer Machteliten, die auch im jetzigen Präsidentschaftswahlkampf nach Kräften versuchen, wieder ihre Leute an die Spitze zu hieven. Damit alles so bleibt, wie es ist: Die weltweit fast krassesten Unterschiede zwischen Arm und Reich, Elend wie in Afrika und sogar noch Sklaverei – in der immerhin elftgrößten Wirtschaftsnation der Welt. ”Die Unerträglichkeit des Seins”, sagt sie mir im Exklusivinterview, „ist hier bis auf die Spitze getrieben, gibt es diese Art von Obszönität – und deshalb denke ich , daß Brecht eben nicht tot ist, sondern hochaktuell, die Haifische schwimmen nach wie vor in den Meeren der großen, umlaufenden Gelder. Globalisacion zielt doch nur auf Maximierung der Profite.”
Und Haifisch, Tubaráo ist in Brasilien geradezu ein fester Begriff, wenn es um Figuren der Geld-und Politikerelite geht, denen auch die größten Bestechungsskandale, Enthüllungen über absurdesten Machtmißbrauch letztlich nichts anhaben können. Hanna Schygulla interessiert natürlich brennend, wie Künstler, Musiker, die einfachen Leute mit diesen Problemen, dieser Realität umgehen. ”Die Lichtseite dieses großen Schattens ist, daß die Menschen viel mehr im Jetzt leben, weil alles so unstabil ist. Da man nicht weiß, ob morgen etwas noch so sein wird wie heute, gibt man sich dem Heute wirklich mehr in die Arme. Während wir doch in Europa doch sehr krampfen, sehr am Festhalten immer sind und am Planen. Und ist das Leben? In diesem höchst gefährdeten, höchst unausgeglichenen, durch viele Erdbeben sozialer Art erschütterten Brasilien sind indessen trotz allem sehr viel Glücksmomente möglich, passiert kulturell sehr viel.” Anfang der Neunziger steckt ihr jemand bei Dreharbeiten auf Cuba eine Kassette mit Liedern von Maria Bethania zu, die hört sie jeden Tag, ist fasziniert. ”Es gibt ja Stimmen, da hat man das Gefühl, die möchte man trinken, die sind wie ein Elixier – und sie hat so eine – ist für mich eigentlich die Stimme Brasiliens.”1993 sieht, hört sie Maria Bethania in Rio de Janeiro erstmals auf der Bühne, beide treffen sich, werden enge Freundinnen, und jetzt, ebenfalls in Sao Paulo der erste gemeinsame Auftritt, im schönsten Konzertsaal der 17-Millionen-Stadt. Man war gespannt, welchen Titel Hanna Schygulla unbedingt mit Maria Bethania singen wollte. Die Wahl fiel auf Emoçoes, ganz intensiv gelebte Gefühle, ein sentimentaler Bolero-Hit von Roberto Carlos, Brasiliens seit Jahrzehnten erfolgreichstem Sänger, Komponisten und Texter – in Deutschland jedoch von den Worldmusic-Puristen als schnulziger Schlagersänger heruntergemacht, im Radio so gut wie nie gespielt. Für Hanna Schygulla liegt das auch an der Unfähigkeit vieler Deutscher, mit großen, romantischen Gefühlen umzugehen – für Brasilianer gewöhnlich kein Problem. „Deshalb sind auch die deutschen Schlager so schrecklich. Roberto-Carlos-Lieder, noch dazu von Maria Bethania gesungen, finde ich wunderbar. Die Musik des eigenen Landes ist das Blut, das durch die ganze brasilianische Kultur pulsiert, die Texte haben es in sich, das ist kein billiges Zeug, sondern lebendige Poesie!” Man spürt es, Hanna Schygulla liebt Lateinamerika, keine andere deutsche Künstlerin hat so enge Beziehungen zum Theater und zur Musik Brasiliens. Sämtliche ihrer Filme mit und nach Faßbinder hatten hier einen enormen Erfolg. Mit Maria Bethania singt sie nicht nur „Emoçoes” zusammen, auch Französisches, dazu „Lili Marlen”, das Publikum ist vorhersehbar aus dem Häuschen, man hörte beide gerne öfters. Das wird passieren , „Vidas paralelas”, parallele Lebensläufe, heißt ihr nächstes Projekt für Brasilien und sogar Europa, mit viel Wort und Musik, Persönlichem, ein Zeitporträt . „Wir sind nun mal jetzt alle in einem Boot – faszinierend, aus verschiedenen Kulturen zu kommen, die Sprache des anderen zu erlernen.”
Kurios, die Reflexionen von Hanna Schygulla 2010 erneut zu lesen. Die Künstlerin wird Sao Paulo, Brasilien sehr verändert vorfinden. Roberto-Carlos-Lieder, die sie so mag, kommen auch heute in Ländern wie Deutschland kaum durch die Musikzensur, „die Musik des eigenen Landes“ hat es heute schwerer denn je – die Autoritäten, darunter ein Kulturminister namens Gilberto Gil, haben gemeinsam mit den interessierten Industrien für zügige Amerikanisierung gesorgt. Schygullas Freundin Maria Bethania nennt sich völlig aus der Mode, das Interesse europäischer Mainstream-Medien an Brasilien-Kultur ist noch weit geringer als 2002.
« Brasilien: Aufregung um machistisches „Rodeio der dicken Frauen“. Seit 2006 propagiert, inzwischen auf Universitätsfesten populär. Trote, Gewalt gegen Frauen, Geschlechterungleichheit, Menschenrechte, Ehrenmorde, Sex mit Kindern. Mutmaßlicher Vergewaltiger von 40 Frauen freigelassen. – Papst bestärkt vor Stichwahl Brasiliens die regierungskritischen Bischöfe und Geistlichen. Kirchenflügel warnt explizit vor Wahl von Lulas Wunschkandidatin Dilma Rousseff. Größte evangelikale Kirche „Assembleia de Deus“ mehrheitlich für Oppositionskandidat José Serra, laut Umfragen. „Interferencia papal“. »
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