Brasilien, das größte katholische Land, erlebt 2010 eine Welle des Spiritismus, was die Amtskirche beunruhigt. Geister-und Totenbeschwörung, Botschaften aus dem Jenseits finden enormes Interesse, Spielfilme über Chico Xavier, den größten brasilianischen Spiritisten, sind Kassenschlager. Spiritistische Bücher und Zeitschriften erreichen Massenauflagen, entsprechende Institutionen der Städte haben Zulauf wie nie zuvor. Kultursoziologen und Religionsexperten versuchen, das Phänomen zu erklären.
Religionsexperte Fernando Altemeyer von der Katholischen Universität Sao Paulo.
“Die neuerliche Suche nach dem Mystischen, dem Spirituellen könnte damit zusammenhängen, daß viele Menschen der wissenschaftlichen Antworten müde sind und die heutige Welt als sehr enttäuschend, ohne Reiz und Zauber empfinden“, sagt der renommierte deutschstämmige Religionsexperte Fernando Altemeyer, Professor an der Katholischen Universität von Sao Paulo, im Website-Interview. „Angesichts eines extrem schwierigen, von soviel Gewalt geprägten Alltags nährt der Durchschnittsbrasilianer seit jeher Hoffnungen auf ein besseres Leben im Himmel, ist auch die Mittelschicht dem Spiritismus sehr zugetan. An meiner Universität, immerhin einer katholischen, habe ich unter den Studenten sehr viele Spiritisten.“Jeder dritte Katholik Brasiliens glaubt gemäß einer neuen Studie an Wiedergeburt, an Reinkarnation – was Religionswissenschaftler Altemeyer mit eigenen Analysen untermauert.“Brasilien ist zahlenmäßig nicht nur das größte katholische, sondern auch das größte spiritistische Land – 90 Prozent der Spiritisten dieser Erde sind Brasilianer. Der heutige Spiritismus hat daher ein brasilianisches Gesicht und wird sehr brasilianisch gelebt, ganz anders als etwa in Indien. Es mischen sich die Ideen des großen französischen Spiritisten Alan Kardec mit dem Katholischen und auch dem Indianischen – Brasilien produziert Religionen, neue religiöse Phänomene. Für mich liegt dies an der Rassenmischung aus Indianern, Schwarzen, Europäern. Wir hatten kulturelle Konflikte und Sklaverei – doch die Menschen wußten ihre Religionen zu nutzen, um persönliche Autonomie zu erlangen.“Was den Spiritismus für Brasilianer so besonders attraktiv und faszinierend macht, sind Heilungen und das sogenannte Empfangen von Botschaften Verstorbener, aufgeschrieben von einem dafür begabten Spiritisten, einem Medium wie jenem Chico Xavier, dessen Anhängerzahl auch nach seinem Tode weiter zunimmt. “Ich selbst habe diesen Chico Xavier einmal kennengelernt – er schien ein guter Mensch zu sein, ethisch, generös und sehr karitativ. In Brasilien ist es doch oft so – wie ich es selbst in meinem eigenen Familienkreis erlebte: Eine Mutter sagt, mein Sohn ist gestorben, ich brauche so nötig eine Botschaft von ihm, um meine Seele zu beruhigen. Nur das Gebet in der katholischen Kirche gibt mir keine innere Ruhe. Und dann reden eben die Toten mit uns, hört jene verzweifelte Frau über ein Medium: Mutter, mir geht es hier so gut, sorge dich nicht, sei ganz ruhig. Bei dieser Frau – und ungezählten anderen – hat das funktioniert, unsere Gottesdienste schaffen das nicht!“Religionsexperte Altemeyer weiß sehr gut, daß solche Denk-und Verhaltensweisen beispielsweise auf kopfgesteuerte Deutsche höchst fremdartig wirken, Fragen nach der Seriosität solcher Spiritisten aufwerfen. „Ich meine, es gibt gute Leute darunter, doch auch Opportunisten und sogar Fälscher, Trickser, die im Fernsehen auftreten und lediglich ein Produkt verkaufen wollen. Man muß einfach zur Kenntnis nehmen, daß ganz normale Gläubige Brasiliens sich für ein Medium halten. Wissenschaftlich ist das nicht zu beweisen. Es existieren da mancherlei Rätsel. Aus meiner Sicht sollte man es sich nicht so einfach machen und alles Spiritistische als Unfug, Quatsch abtun. Nicht alles davon ist Unsinn – es gibt vielmehr eine feine Trennlinie zwischen Wahrem und Falschem.“Der jetzige Spiritismus-Boom erfüllt die katholische Hierarchie Brasiliens mit großer Sorge – wirksame Rezepte zum Gegensteuern, selbst in den eigenen Kirchengemeinden, wurden offensichtlich noch nicht gefunden.“Die Bischöfe sind jetzt beunruhigt und wollen die Gläubigen ganz sachlich aufklären, ihnen die Idee von der Reinkarnation austreiben. Doch bei einem frommen Katholiken aus dem einfachen Volke funktioniert das nicht, ist das zu hochgestochen, zu philosophisch. In den letzten 100 Jahren ließ sich keinerlei Verhaltensänderung erreichen – die Mehrheit glaubt daran, daß der Tote mit uns spricht und sogar wiederkommt, wiedergeboren wird. Das ist, wenn man so will, eine Art Untergrundreligion, die den Christianismus stets erneut in Frage stellt.“Mit Humor fügt Altemeyer hinzu, daß es sogar ein deutsches und sehr populäres spirituelles Wesen namens Doktor Fritz gebe. Dieser zeige sich aber nur in Brasilien, nicht in Deutschland…
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