Massaker, Rebellionen, Massenfluchten
Sao Paulo: Lateinamerikas entsetzlichster Knast wird „Park der Jugend”
Gefangenenseelsorger: „Pervertieren statt resozialisieren” |
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Man sah sie immer schon von der Hochbahn – hunderte Unterschichtfrauen zwischen achtzehn und sechzig, sonntags angetreten zur „Visita intima” an der Carandiru-Gefängnismauer, mitten in stinkendem Müll, Essensresten, Pappe, Zeitungen, leeren Coca-Cola-Flaschen – von ihnen selber hingeworfen. Jeder, der den lärmenden, von Sektenwerbern umringten Frauenhaufen passierte, wußte, was dem bis halb vier blühte: Enge Spezialzellen, mit einem stabilen harten Tisch in der Mitte, und dann zack, zack. Schnell ausziehen, oder wenigstens den Rock hoch, hinlegen und los, foder, foder, foder, sozusagen Kaltstart mit dem ausgehungerten Companheiro, für die wenigen kostbaren Minuten – denn nur zwei Meter entfernt, hinter der gar nicht schalldichten Tür, drängelten ja schon die nächsten. Seit Ende September 2002 alles Geschichte – Lateinamerikas gewaltigster Knast aus grauem, häßlichen Beton wird größtenteils abgerissen, zum „Parque da Juventude” – weil Sao Paulos Eliten dieses Pulverfaß, mit seinen endlosen Häftlingsaufständen, Massakern und Massenausbrüchen zunehmend auf die Nerven ging. Immer schlechter fürs Image der lateinamerikanischen Banken- und Industriemetropole, für den größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands. Diese aufsässigen Menschenrechtler von Amnesty und Kirche bemerkten immer schon von draußen, von der Hochbahn, wenn es drinnen wieder mal brodelte, Häftlingshorden alles kurz und klein schlugen, Matratzen, Verwaltungsbüros in Brand steckten, auf den Dächern mit Spruchbändern gegen Folter, grauenhaft überfüllte Zellen protestierten – die ganze Stadt sah zu, nebenan der riesige Busbahnhof. Jetzt sind die fast achttausend Prisioneiros endlich weg von der Bildfläche – verteilt auf kleinere, bereits chronisch überfüllte Gefängnisse, möglichst fern der drittgrößten Stadt des Erdballs. Wie befürchtet – für die wenigen couragierten Gefangenenseelsorger und Amnesty-Aktivisten ist es ab sofort viel komplizierter, Insassen zu betreuen, Folterfälle aufzuspüren, den Überblick zu behalten. In der einstigen Kaffeeprovinz Sao Paulo lebt nicht mal ein Viertel der 170 Millionen Brasilianer – doch über die Hälfte der zweihundertdreißigtausend brasilianischen Strafgefangenen ist hier konzentriert. Dabei laufen alleine in der Metropole Sao Paulo, nationaler Rekordhalter bei Folteranzeigen, über hunderttausend mit Haftbefehl gesuchte Verbrecher noch frei herum, werden schließlich nicht einmal zehn Prozent der Morde in Brasilien wenigstens aufgeklärt. Und über eine Million Schußwaffen aller Kaliber sind allein in Sao Paulo illegal in Privathand. –Deutscher Boxer und Gefängniswärter—1956, bei der Einweihung, wird die „Casa da Detençáo” als Riesenfortschritt gefeiert – höchstens dreitausend Untersuchungsgefangene für begrenzte Zeit sind geplant. Der deutschstämmige Boxer Luiz Camargo Wolfmann fängt als Knastwärter an, wird sogar Direktor. „Machten welche Ärger, stieg ich mit denen in den Ring, prügelte mich rum – da wurden sie rasch wieder zahm.”Wolfmann trainiert Unmengen von Häftlingen, einer wird sogar Landesmeister im Halbschwergewicht. „Früher arbeiteten alle, lernten einen Beruf – heute ist der Knast eine Verbrecherschule. Hätte damals ein Wärter Drogen reingelassen”, sagt der 71-jährige Rentner, „hätte er sofort die Fresse vollgekriegt. Damals gabs nicht soviel Korruption.” Die regiert heute drinnen und draußen, mit Crack und Kokain wird offen gedealt.Antonio, 24, erschießt bei seinem allerersten Überfall einen Taxifahrer, bekommt zweiundzwanzig Jahre:”In Carandiru habe ich noch zwei umgelegt – so ist halt das Leben hier drin. Aber heute werde ich hier respektiert, handele mit Drogen, habe jede Woche eine Frau – das hier ist meine Welt.” 1985 pfeifen Brasiliens rechtsgerichtete Machteliten die Militärs nach 21 Diktaturjahren zurück in die Kasernen – Carandiru wird zur Hölle erst in der „Demokratie”. Sao Paulos regimekritischer Kardinal Evaristo Arns ist Augenzeuge:”Über fünfzig Aidskranke im Endstadium liegen auf dem Boden und spucken Blut – schier unbeschreibliche Zustände!” Über 45000 brasilianische Häftlinge haben inzwischen Aids, viele durch sexuelle Gewalt. Mangels Ärzten schneiden die Insassen mit Messer oder Rasierklinge fauliges Fleisch ab, streichen ein Kaffee-und Zuckergemisch auf offene Wunden. Rund achttausend werden jetzt in die Zellen gezwängt, in einen Trakt nur Schwule. Überall Ratten, große, braune Tropenschaben, Wanzen. Aus gebrochenen, undichten Rohren fließen Abwässer, Scheiße und Urin über den Zellenboden, bei Sommerhitze bis über fünfzig Grad werden Gefangene von dem Gestank ohnmächtig, oder schier verrückt, rebellieren, attackieren die eigenen Zellennachbarn. „Für mich sind solche Knäste Konzentrationslager”, sagt der in Sao Paulo lebende Menschenrechtsaktivist und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic aus Österreich – er schreibt UNO-Dossiers, kaum einer kennt Carandiru besser. Doch erst im Oktober 1992 macht Carandiru weltweit Schlagzeilen: Wieder meutern Häftlinge des berüchtigten „Pavilhao 9” – wieder rückt eine Spezialeinheit an – Robotergestalten teils mit Eisenhandflächen, aus denen Nägel starren: Aus Maschinenpistolen feuern sie über 5000 Schuß auf die Männer ab, zersieben sie regelrecht, bis sämtliche Munition alle ist, lassen viele durch Hunde zerreißen – in Zellen und Korridoren steht das Blut knöchelhoch, läuft in Bächen über Treppen, in Aufzugsschächte. Kirchlichen Menschenrechtlern gelingt es, hineinzukommen – sie nennen weit über zweihundert Tote – offiziell sind es nur 111. Oberst Ubiratan Guimaraes befehligte alles – gar nicht so wenige Brasilianer, auch Politiker und Slumbewohner, finden das Massaker völlig okay, wählen ihn ganz demokratisch zum Abgeordneten, er unterstützt Staatschef Fernando Henrique Cardoso, FU-Berlin-Ehrendoktor. Erst 2001 wird Guimaraes zu 632 Jahren Gefängnis verurteilt, legt Berufung ein, ist nach wie vor frei, Security-Consultor für die Upperclass, nimmt weiter sogar an Militärparaden teil. „Hätte Tony Blair die Operation geleitet”, kontert sein Anwalt Vicente Cascione, „hätte der alle 2069 Trakt-Insassen zum Abschuß freigegeben.” Blair habe unschuldige Afghanen bombardieren lassen, zähle zu den „Colonizadores e Imperialistas”, ohne jegliche Moral. Weil Ubiratan Guimaraes gute Chancen hat, daß das Urteil aufgehoben wird, startet der Gefangenenseelsorger Zgubic 2002 eine internationale Protestaktion. Der Oberst kandidierte für die Rechtspartei PPB mit der Nummer 111, offizielle Zahl der Getöteten. Menschenrechtler verurteilen dies als eine Verhöhnung der Opfer, als beispiellosen Zynismus, der von den Autoritäten auch noch hingenommen werde. Sechs weitere Kommandeure der Militärpolizei, die das Blutbad ebenfalls mitverantwortet hatten, waren kurzzeitig von ihren Posten suspendiert, später jedoch befördert worden. Und Guimaraes betont im Oktober 2002, zehn Jahre nach dem Massaker, daß er in einer identischen Situation wieder genauso handeln würde. „Das war eine Arbeit wie so viele andere in meinen dreiunddreißig Berufsjahren. –von Gangstersyndikaten gesteuerte Mega-Rebellionen—Inzwischen diktieren die mit Politik und Wirtschaft verzahnten Verbrecherorganisationen Brasiliens in den Knästen die Regeln – das PCC, Erstes Hauptstadtkommando, startet 2001 an einem Sonntag von Carandiru aus eine Mega-Rebellion – dominiert auf einen Schlag auch in weiteren achtundzwanzig Gefängnissen des Teilstaates, diktiert seitdem dort die Regeln. 27000 Gefangene des Teilstaats müssen mitmachen, nehmen über zehntausend Besucher zeitweilig als Geiseln – fast ein Dutzend Bombenanschläge auf Justizgebäude, MG-Feuer auf Busse mit Gefängniswärtern. An die zwanzig Rivalen anderer Gangsterfraktionen werden geköpft oder in Stücke gehackt. Pfarrer Zgubic sieht vor allem soziale Ursachen als Auslöser der Rebellionen und Anschläge:”Das ist die kriminelle Antwort auf kriminelle Strukturen des Staates, die eben nicht umgekrempelt wurden, obwohl Brasilien vor der UNO entsprechende Verträge unterzeichnete. Neuankömmlinge können in den Anstalten nur überleben, wenn sie sich einer Gangsterfraktion anschließen – andernfalls drohen Abschreckungstaten wie Ohren-und Fingerabschneiden bis hin zu Mord.” Kurz nach der Megarebellion die bislang größte Massenflucht von Schwerverbrechern – einhundertsechs machen sich durch einen selbstgegrabenen Gang aus dem Staub. Vor der Schließung Carandirus wurden noch über dreißig andere Tunnel entdeckt, alleine letztes Jahr rund 2400 Gruppenfluchten aus Carandiru und den anderen Knästen Sao Paulos registriert. Gar nicht so wenige Bewohner in Carandiru-Nähe wurden bereits durch Häftlinge überrascht, die plötzlich aus Löchern im Hinterhof, Gärtchen oder Keller quollen. Manchen zogen es indessen vor, bis zu sechs Stunden lang durch Sao Paulos Kanalisation zu marschieren und erst an wirklich sicherem Ort ins Helle aufzutauchen. „Der Staat hat die Kontrolle über Gefängnisse und öffentliche Sicherheit total verloren”, sagt Zgubic. Und erinnert daran, daß in Carandiru nur verurteilte Täter einsaßen, Zehntausende jedoch in viel schlimmer überfüllten Polizeigefängnissen, Polizeiwachen teils mehrere Jahre lang auf einen Prozeß warten – oder gar von der Justiz regelrecht vergessen werden. „In den etwa hundert Polizeigefängnissen Sao Paulos gibt es ständig Folterungen. Die Methoden sind vielfältig: Elektroschocks – Insassen werden mit dem Kopf ins Wasser, ins Klosett hineingehalten, müssen Fäkalien, benutztes Klopapier essen. Nägel werden unter die Fingernägel, Zehennägel geschoben, Zigaretten in die Haut hineingebrannt. Die schlimmste Szene, die ich gesehen habe, war in einem dunklen Gang mit Ratten und Müll, wo ich bereits bei meinem ersten Besuch etwa einhundertzwanzig blutüberströmte Gefangene antreffe – alle systematisch niedergedroschen. Der Berliner Ehrendoktor Cardoso, meint Zgubic,”möchte natürlich nicht international als Folterpräsident dastehen, sondern als Humanist. Doch sein Anti-Folter-Gesetz wurde nur durch den Druck der kritischen Öffentlichkeit und der Gefängnispastoral erzwungen.” Und hat kaum Wirkung – laut UNO und Amnesty International ist Folter weiterhin alltäglich. Und laut Maria Eliane Menezes, Bundesanwältin für Bürgerrechte, erkenen die brasilianischen Gerichte weiterhin Aussagen an, die unter der Folter zustandegekommen sind. Dadurch werde die Folterpraxis gefördert. “Das Züchtigen von Kriminellen im Gefängnis wird ebenfalls von der Gesellschaft toleriert, die alternative Strafen ablehnt.” Als besonders gravierend wird empfunden, daß wegen Folter angezeigte Polizei-und Gefängnisbeamte in mindestens zweiundzwanzig Teilstaaten nicht einmal versetzt, geschweige denn entlassen werden, sondern gewöhnlich in unmittelbarer Nähe ihrer Opfer bleiben, die die Torturen enthüllt hatten. In Sao Paulo, so hieß es 2002, würden Gefolterte absurderweise von den Folterern selber zum Richter gebracht, um entsprechende Aussagen zu machen. Wegen dieser Praxis verzichteten nur zu viele Betroffene lieber auf eine Anzeige. –Spuren rasch beseitigt—Dort, wo sich am Carandiru-Gefängnis einst Frauen zur „Visita intima” anstellten, stehen derzeit Neugierige teils hunderte Meter lang Schlange, wollen Zellen und Korridore von innen sehen, bevor Abrißbagger und Sprengkommandos anrücken. Die meisten gehen deprimiert weg, werden ihr Leben lang nicht mehr diesen Geruch von Blut, Urin, Fäkalien, Fäulnis vergessen, der den Wänden entströmt. Dabei bekamen sie die schlimmsten Trakte gar nicht zu sehen – niemand durfte in den Pavilhao 9, wo 1992 das Massaker stattfand, niemand bekam die berüchtigten Strafzellen zu sehen – alles wurde rasch demoliert. |
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