Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Sao Paulo in Lateinamerika meistbesucht – Rio nur achter Platz. Brasiliens Tourismus. Beliebter Tango-Tourismus nach Buenos Aires – Samba-Tourismus nach Rio Fehlanzeige wegen desaströser Kulturpolitik. Stephen Kanitz über die Abschaffung des Paartanzes.

 http://www.hart-brasilientexte.de/2011/08/05/brasiliens-tourismus-wettbewerbsfahigkeit-abnehmend-stagnierende-besucherzahlen/

Meistbesuchte Städte in Lateinamerika 2010:

  • 1. São Paulo (Brasil)
  • 2. Cidade do México (México)
  • 3. Buenos Aires (Argentina)
  • 4. Lima (Peru)
  • 5. Bogotá (Colômbia)
  • 6. San José (Costa Rica)
  • 7. Santo Domingo (República Dominicana)
  • 8. Rio de Janeiro (Brasil)
  • 9. Caracas (Venezuela)
  • 10. Quito (Equador)

Buenos Aires profitiert vom zunehmenden Tango-Tourismus – im Reisepaket für Ausländer ist häufig ein Besuch in Tango-Tanzdielen enthalten.

http://www.tango-ericandjeusa.ch/pdfs/NZZ.pdf

In Rio de Janeiro ist die Samba-Kultur von den politisch und kulturell Verantwortlichen zügig zerstört worden, förderte man importierte Billig-Rhythmen, die Baile-Funk-Kultur – entsprechend unattraktiv ist die Stadt im Vergleich mit Buenos Aires. Rio ist auch wegen der Scheiterhaufen – siehe Berlinale-Gewinner „Tropa de Elite“ – berüchtigt – in Buenos Aires sind Scheiterhaufen undenkbar. In kommerziellen Rio-und Brasilien-Reiseführern wird die Scheiterhaufen-Realität häufig verschwiegen. Wie die Paartanz-Zeitung „Dance“ im August 2011 betont, nimmt die Zahl der früher so berühmten Tanzbälle Rio de Janeiros zügig ab – sei dies ein beunruhigendes Phänomen. Unter den derzeitigen und vorherigen Rio-Gouverneuren, Rio-Bürgermeistern wurden zwecks neoliberaler Amerikanisierung traditionsreiche Bälle gekillt. Das Blatt nennt einst berühmte Ball-Adressen, mit traumhaften Orchestern: Circo Voador, Bola Preta, Clube Sirio e Libanes, Baile do Fluminense – wer diese noch in voller Blüte erlebte, hatte für sein Leben unheimliches Glück. In der einstigen Samba-und Bossa-Nova-Metropole dominiert jetzt Baile Funk, wird sogar mit öffentlichen Geldern sowie Mitteln des organisierten Verbrechens gepuscht. 

„Bailes estao morrendo?“

angelitourismusjeep.JPG

Ausriß – Angeli.

Laut einer Meinungsumfrage kennen viele Cariocas ihre Stadt nur wenig: Etwa 50 Prozent waren noch nie auf dem Zuckerhut, 40 Prozent nie an der Christusstatue, 30 Prozent noch nie im Botanischen Garten.

In Berlin 2010 nur 37 Morde. In Norwegen bisher rund 30 pro Jahr, in Brasilien über 50000(!). Im Teilstaat Rio de Janeiro selbst laut den gewöhnlich geschönten offiziellen Angaben 2010 pro Tag etwa 13. 

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/06/22/argentinische-tanzwut-an-der-spree-argentinien-hat-den-tango-erfolgreich-exportiert-und-warum-brasilien-eigentlich-nicht-den-viel-einfacher-zu-tanzenden-samba/

Sao Paulo – Fotoserie:

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/18/sao-paulo-fotoserie-uber-brasiliens-megacity/

sambapaulista1.JPG

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/12/samba-tanzen-auf-der-avenida-paulista-sao-paulo-nur-ein-videoclip-wird-gedreht-normale-brasilianer-konnen-das-langst-nicht-mehr-gesichter-brasiliens/

Tanzkultur und Körpergefühl:

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/15/brasilianischer-choreograph-ivaldo-bertazzo-knackt-national-mythos-vom-wiegend-leicht-sinnlichen-gang-der-korper-des-brasilianers-ist-schwerfallig/

http://www.hart-brasilientexte.de/2008/07/29/warum-es-mit-brasiliens-erotischem-sex-bergab-geht-ganz-zu-schweigen-vom-rest-der-welt-stephen-kanitz-nennt-einen-wichtigen-aspekt-die-stupide-abschaffung-des-sinnlichen-paartanzes/

http://www.hart-brasilientexte.de/2011/08/01/rio-de-janeiro-neue-proteste-gegen-gewaltkultur-in-der-wm-und-olympiastadt-92-prozent-der-morde-straffrei/

http://www.hart-brasilientexte.de/2010/12/22/brasiliens-kulturexport-nur-02-prozent-vom-weltvolumen-retrato-de-um-pais-que-nao-exporta-sua-cultura-o-estado-de-sao-paulo-brasilianische-musik-verkauft-sich-garnicht-so-gut-im-ausland/

Satirische City-Tour der Parlapatoes – „Das Schlechteste von Sao Paulo“

Schwarzer Humor, Sozialkritik, beißende Ironie

 „Lo Peor de Madrid“, das Schlechteste von Madrid, ist eine erfolgreiche Theatersatire auf die City-Tours der spanischen Hauptstadt, ausgeführt von Schauspielern mit Touristenbussen. Jetzt hat eine Theatercompanie der lateinamerikanischen Kulturhauptstadt und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo diese Idee aufgegriffen, inszeniert mit tiefschwarzem Humor, Ironie und Sarkasmus „O Pior de Sao Paulo“, führt das Publikum jeweils drei Stunden lang zu Häßlichem, Groteskem, Absurdem im Betonmeer der drittgrößten Stadt der Welt, aber auch zu sozialen Brennpunkten, darunter den über 2000 Slums. Die Mitfahrt ist für jedermann gratis – dank eines neuen Stadtgesetzes zur Theaterförderung. In Sao Paulo werden laut Statistik jährlich rund tausend neue Stücke inszeniert – womöglich Weltrekord.

 

 

Gejohle und Gelächter schon beim Start am Theater der Komödiantentruppe Parlapatoes, was so viel wie die Großmäuler, die Aufschneider heißt. Ein buntgemischtes, überwiegend junges Publikum schwingt sich in den Citytour-Bus – und bereits nach wenigen Minuten nimmt Obergroßmaul Hugo Possolo, Direktor der Truppe, als Touristenführer das erste Absurdum der Megacity satirisch aufs Korn.

 “Hier sehen sie ein großes Werk der Architektur – die berühmte Avenida Nove de Julho – ist sie nun schöner oder häßlicher als die Copacabana?“

 

Natürlich viel schöner, bekommt er lautstark zurück. Dabei handelt es sich um eine grauenvolle, wirklich abstoßend häßliche, abgasvergiftete Straßenschlucht mit arg heruntergekommenen zehn-bis zwanzigstöckigen Betonklötzen, daß einem als Mitteleuropäer der Atem stockt. Und in diesem Stile geht die Citytour weiter.

 “Die Flußlandschaft unseres Rio Tiete, des Rio Pinheiros – viel, viel schöner als die Themse oder die Seine in Paris“ – ruft Possolo euphorisch aus – und meint Kanäle voller stinkender, schäumender Kloake, voller Fäkalien. „Sao Paulo ist heute reich und schön – und nicht mehr wie dieses armselige Buenos Aires!“

 

Immer wieder kurze Happenings – vor dem monstruösen Tempel einer Wunderheilersekte, vor gigantischen, rund um die Uhr geöffneten Shopping Centern, einem Bingopalast, der riesigen, klobigen Statue des berüchtigten Indianerkillers Borba Gato. Diese hätte zum neuen Weltwunder erklärt werden müssen – und nicht die Christusstatue von Rio de Janeiro. Welche Ungerechtigkeit gegenüber Sao Paulo! – beklagen die Parlapatoes ironisch.

 

 

Nach der Tour erklärt die Truppe ihre Philosophie:

 “Bis in die 50er Jahre war Sao Paulo ähnlich schön wie Buenos Aires, pflegte die reiche Architektur, sagt Theaterdirektor Possolo. „Doch dann wurde Sao Paulo regelrecht zerstört, schlug man entsetzliche Hochstraßen mittendurch, riß Schönes, Unersetzliches ab. Bei öffentlichen Bauten grassierte Korruption. Und man kopierte leider US-Architektur. Sao Paulo wuchs chaotisch, planlos. Daher haben wir heute soviel Häßliches, Abstoßendes. Schrecklich zudem all die Misere, all die Verelendeten auf der Straße.“

 “Wir wollen zeigen, was hier alles schiefläuft, die Leute bewußter machen“, betont auch die blonde Schauspielerin Raquel Ripane. „Doch eins ist klar – wir mögen diese so kosmopolitische Stadt, wir identifizieren uns mit ihr, kämpfen für Verbesserungen.“

 

Und dann spricht Raquel Ripane auf einmal Deutsch:

 “Ich war schon in München, Hamburg, ich habe in deutsche Schule gelernt – ja in Sao Paulo. Ich liebe Deutschland, das glaube ich, daß ich wie ein Deutschmann denke, ich wolle, daß Sao Paulo kann wie Hamburg sein, quem sabe, vielleicht!“

 

Das Publikum teilt offenbar die Philosophie der Theatergruppe, geht keineswegs frustriert, sondern optimistisch nach Hause:

 

“Um, dois, tres – Viva Sao Paulo!“

Dieser Beitrag wurde am Samstag, 06. August 2011 um 18:25 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur, Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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