http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
1997 war in Brasilia der Indianerhäuptling Galdino von fünf jungen Männern der Mittelschicht verbrannt worden.
Christian Wulff – und die während seines Brasilienbesuchs 2011 verbrannten Obdachlosen:
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Wulff und Menschenrechtspriester Julio Lancelotti.
Deutscher Bundespräsident Christian Wulff und die Obdachlosen Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/05/erneut-obdachloser-sao-paulos-verbrannt-polizei-ermittelt-wegen-verbrechenshintergrund-deutscher-bundesprasident-wulff-besucht-obdachlosengemeinde-der-megacity/
Überreste des Mannes und des Müllkarrens, Zeitungsausriß.
Bei einem Treffen mit Obdachlosen in Sao Paulo hat Staatschefin Dilma Rousseff die landesweit verübten Morde laut Landesmedien als “Säuberung” eingestuft. Was in den großen Städten dieses Landes geschehe, sei häufig eine menschliche Säuberung, limpeza humana. Rousseff lehnte zugleich eine Regierungsverantwortung dafür ab und betonte, daß die Sicherheit in den Teilstaaten nicht der Bundesverantwortung unterliege. Sie nannte wichtig, mit den Gouverneuren in einen Dialog über die Obdachlosen-Ermordung zu treten, da die Regierung nicht die Polizei der Gouverneure kontrolliere. Bei dem Treffen erhielt Rousseff eine Liste mit den Namen von 142 Obdachlosen, die 2011 ermordet worden waren.Selbst laut offiziellen Angaben hat sich zudem zwischen 2000 und 2010 die Zahl der in Slums lebenden Brasilianer nahezu verdoppelt. Kurz vor Weihnachten waren in der Avenida Paris von Rio de Janeiro drei schlafende Obdachlose mit Kopfschüssen ermordet worden.
In nicht wenigen deutschsprachigen Analysen über das erste Amtsjahr von Dilma Rousseff ist offenbar verboten, die gravierende Menschenrechtslage, darunter Folter und Todesschwadronen, auch nur zu erwähnen.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/07/eu-lateinamerika-karibik-stiftung-startet-in-hamburg/
In Brasilien existiert indessen auch eine Bundespolizei mit vielen speziellen Befugnissen und besonders starker Bewaffnung. Zu den Teilstaaten, die von Gouverneuren der Arbeiterpartei von Lula und Rousseff geführt werden, gehört Bahia, wo das Ausmaß der Gewalt auch dem Tourismus schwer schadet. Die Bahia-Stadt Simoes Filho nahe Salvador hat laut offiziellen Statistiken die höchste Mordrate Brasiliens. Gouverneur Jaques Wagner wird deshalb u.a. von Menschenrechtsorganisationen scharf kritisiert.
Bahia liegt im nationalen Mord-Ranking nach Alagoas, Espirito Santo, Pará, Amapá und Paraiba an sechster Stelle. Zwar sind beispielsweise in der Bahia-Hauptstadt Salvador an vielen Stellen martialisch wirkende, mit MGs bewaffnete Militärpolizisten postiert – jedoch bemerkt jeder aufmerksame Beobachter sehr rasch, daß nicht selten in deren unmittelbarer Nähe völlig ungehindert Kriminelle, darunter Händler harter Drogen agieren.
Präsidentin Dilma Rousseff wählte eine Militärbasis bei Salvador, die bereits Lula bevorzugte, für den Jahresendurlaub aus, fuhr laut Landesmedien dorthin mit Tochter, Enkel, Mutter, Tante und Ex-Ehemann mit dessen derzeitiger “Companheira”. Das entsprechende Haus in der “Base Naval de Aratu” sei zuvor mit 650000 Real renoviert und ausgestattet worden, hieß es. Für Lulas Aufenthalt 2009 seien zwecks Renovierung 800000 Real aufgewendet worden.
“Die Krise ist da.” Mehr als 30 Millionen Brasilianer in extremer Armut, von Hunger und Elend betroffen, laut Befreiungstheologe Frei Betto. Über 2600 Slums allein in Sao Paulo, der reichsten Stadt Lateinamerikas.
Sogar Verschlechterung bei der Aids-Bekämpfung: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/01/brasilien-flog-aus-landergruppe-die-aids-infizierte-am-besten-betreut-laut-landesmedien-nur-zwischen-60-und-79-der-hiv-patienten-werden-behandelt/
In Nichtregierungs-Analysen zum ersten Amtsjahr von Rousseff heißt es auch angesichts der fortdauernden Korruptionskrise, die Regierung sei weiterhin paralysiert, selbst wenn sie so tue, als ob sie agiere. Gemäß Regierungswissenschaftlern gehöre gar eine Familie, die 1500 Real als Einkommen habe, zur Mittelschicht, heißt es ironisch-sarkastisch.(1500Real – umgerechnet 625 Euro)
”Für mein neuestes Stück bin ich durch ganz Brasilien gereist, habe in Millionenstädten wie Rio de Janeiro, Belo Horizonte, Curitiba und Porto Alegre beobachtet, wie man die Obdachlosen wegen der herannahenden Fußball-WM vertreibt. Denn jetzt werden ja ständig FIFA-Delegationen empfangen, will man denen die Austragungsorte so attraktiv wie möglich präsentieren. Bei diesen Säuberungen geht es um das Landesimage und um die Werbung für Investitionen. Unser Staatspräsident müßte den Austragungsorten die Bedingung stellen, mit den Geldern nicht nur teure Fußballstadien zu bauen, sondern auch die Obdachlosen zu integrieren, sie als Arbeitskräfte für die WM einzusetzen. Nach dem unaufgeklärten Massaker von 2004 wurden auch die Zeugen liquidiert – und wir stellen immer häufiger fest, daß Polizisten als Obdachlose verkleidet sich unter die Straßenbewohner mischen.”
Nina Laurindo, Soziologin im Franziskanerkloster von Sao Paulo, im Website-Interview: „Die Obdachlosen und wir von der Kirche durchleben derzeit einen sehr schwierigen Moment. Weil Fußball-WM und olympischen Spiele vorbereitet werden, ist eine wahre soziale Säuberung im Gange, werden die städtischen Obdachlosenasyle in Sao Paulos Zentrum geschlossen, sollen die Straßenbewohner an die Slumperipherie. Direkt vor dem Franziskanerkloster werden jetzt die Obdachlosen mit städtischen Wasser-LKW naß gespritzt und verscheucht, nimmt man diesen Menschen die Habseligkeiten weg, sogar Decken und die Ausweise. Alle Schlafplätze für die Nacht werden jetzt in Wasserlachen verwandelt.”In der Tat ist das Kloster erstmals nicht von Obdachlosen umlagert, werden sie in der City von der Polizei sogar per Schlagstock verjagt. Die großen Tageszeitungen Sao Paulos sprechen von einer „empörenden Form des Sadismus” durch die Präfektur. Bürgermeister Gilberto Kassab gehört zu einer Rechtspartei, in der es von früheren Diktaturaktivisten wimmelt. Soziologin Nina Laurindo steht im großen Klostersaal immer nachmittags zwischen mehreren Hundert Obdachlosen, verteilt belegte Brötchen und Tee – und führt politische Diskussionen: „Etwa 15000 Menschen hausen alleine in Sao Paulos City auf der Straße, 70 Prozent davon könnte man reintegrieren. Denn wer länger obdachlos war, ist meist gesundheitlich angeschlagen, psychisch gestört. Hier im Klostersaal debattieren wir, was da jetzt im Gange ist. Und wir organisieren Proteste gegen eine Politik, die Misere und Armut aufrechterhält, die Probleme dieser Menschen nicht löst. Gelegenheitsarbeiten, Betteln, Tagelöhnerei sind für Obdachlose nur in der belebten Innenstadt möglich “ fernab in den Elendsvierteln der Peripherie funktioniert das natürlich nicht.”http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/23/uno-kritisiert-vertreibung-von-obdachlosen-aus-stadtzentrum-sao-paulos-fusball-wm-2014-und-olympische-sommerspiele-2016-sind-grunde-fur-brutale-aktionen-gegen-obdachlose-in-austragungsstadten-prange/
Obdachloser alter Mann in der City von Sao Paulo, mit Papperesten bekleidet.
Obdachlose, psychisch gestörte Frau an der Avenida Paulista.
Mehrheit der Obdachlosen Sao Paulos arbeitet, laut Studie von 2010.
Sebastiano Nicomedes steht im Eingang der Kathedrale von Sao Paulo – exakt dort, wo sich immer wieder völlig Entkräftete, Abgehungerte, darunter viele Obdachlose, ausruhen.
Obdachloser, schwerbehindert, City Sao Paulos.
http://www.lateinamerikanachrichten.de/index.php?/artikel/3815.html
Straßenkinder in Sao Paulo.
“Probleme beim Stadionbau”: http://www.handelsblatt.com/magazin/fussball/fussball-wm-brasilien-probleme-beim-stadienbau-fuer-2014;2567763
Obdachloser in Sao Paulo.
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/22/tribunal-da-terra-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
Lula in der Financial Times: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/06/30/das-tropische-norwegen-von-lula-brasiliens-landesmedien-machen-sich-uber-lulas-groteske-einschatzungen-in-financial-times-lustig-lula-spricht-uber-brasilien-75-platz-auf-dem-uno-index-f/
“Lula Superstar“: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70569506.html
ACAT – Christen gegen die Folter in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/06/25/brasiliens-christen-fur-die-abschaffung-der-folter-im-land-acat-protesttagung-in-sao-paulos-rechtsfakultat/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/25/franziskaner-sao-paulos-verteilen-weihnachten-nahrungsmittel-an-tausende-von-armen-und-verelendeten/
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula
Wie laut UNO das Anti-Hunger-Programm finanziert wird:
Tags: Auswanderungsland Brasilien, Hedwig Knist, Jamil Murad, Julio Lancelotti, Menschenrechte, Obdachlose, Obdachlosenvertreibung, Sao Paulo
Die Obdachlosen forderten vor dem Stadtparlament von Sao Paulo zudem, daß ihnen gesetzlich zustehende Rechte auch tatsächlich garantiert werden. Jamil Murad, Präsident der Menschenrechtskommission des Stadtparlaments, solidarisierte sich mit den Straßenbewohnern, deren Zahl allein im Zentrum der Megacity etw 15000 beträgt und weiter anwächst. Die Obdachlosenseelsorge der Erzdiözese Sao Paulo nahm ebenfalls an der Protestaktion teil – Menschenrechtspriester Julio Lancelotti erläuterte gemeinsam mit Vertretern der Nationalen Obdachlosenbewegung vor der Presse die gravierenden Probleme und wies auf Vertreibungsaktionen im Vorfeld von Fußball-WM und Olympischen Spielen in Brasilien. Lancelotti war im Mai 2011 in der Obdachlosengemeinde Sao Paulos mit dem deutschen Bundespräsidenten Christian Wulff zusammengetroffen.
Die großen brasilianischen Zeitungen haben über die Protestaktion der Obdachlosen, den Protestmarsch nicht berichtet.
In meinungsbildenden deutschen Analysen wird die brasilianische Regierung ausdrücklich als “progressiv” eingestuft. Brasilien rangiert auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung deutlich hinter Libyen. Während Libyen auf Platz 53 liegt, kommt Lateinamerikas größte Demokratie lediglich auf Platz 73.
http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=234433&rubrik=7&ausg=200210
Die Obdachlose, der Priester, der Präsident der Menschenrechtskommission.
Obdachloser wird verbrannt in Sao Paulos Zentrum – rechts – Autos fahren vorbei, Leute schauen zu…Bis heute keine Angaben der Polizei über Ermittlungsergebnisse.
Brasiliens Scheiterhaufen: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/29/brasiliens-scheiterhaufen-erstmals-in-einer-anklagenden-inszenierung-der-scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-zu-sehen/
Auswanderungsland Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/24/brasilien-wurde-unter-lula-rousseff-zum-auswanderungsland-bye-bye-brasil-sergio-costa-soziologie-professor-an-der-fu-berlin-bestatigt-die-entwicklung/
Morde an Dunkelhäutigen: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/02/24/morde-an-schwarzen-in-brasilien-starke-zunahme-unter-der-lula-regierung-von-drei-ermordeten-sind-zwei-schwarz-wikileaks-und-rassismus-in-brasilien/
Ordensschwester, verfolgt zur Diktaturzeit – heute Obdachlosenbetreuerin in Sao Paulo – 90 Jahre alt!
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/08/sao-paulo-reichtum-elend-obdachlose/
Protestmarsch zur Kathedrale von Sao Paulo.
Hintergrundtext von 2010:
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.
“Das bestehende System ent-erzieht uns. Nur so ist es möglich, dass für einen Menschen ein Kratzer an seinem neuen Auto schlimmer sein kann, als dass ein Mensch vor seiner Haustür an Hunger stirbt.” Frei Betto, Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe
Diktaturopfer – getötete Regimegegnerin, Foto von kirchlichen Menschenrechtsaktivisten.
Katholik Schlingensief: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/23/den-leuten-zu-sagen-in-was-fur-einer-verlogenen-scheise-wir-alle-leben-schlingensief-in-sao-paulo/
Samstag, 10. Dezember 2011 von Klaus Hart **
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
http://brueckenbauer.blogspot.com/2011_05_01_archive.html
Die Lula-Regierung hat in den ersten drei Monaten von 2010 laut einer Analyse von Rolf Kuntz(O Estado de Sao Paulo) umgerechnet rund 90 Millionen Euro für Propaganda ausgegeben, indessen beispielsweise nur etwa 30 Millionen Euro für “Saneamento”, also Wasserversorgung sowie Abfall-und Abwasserbeseitigung, Seuchenbekämpfung und Straßenreinigung, zugunsten von Gesundheit und Umweltschutz – alles Bereiche, die vor allem in den Slums sehr im Argen liegen, obwohl Staat und Regierung per Gesetz und Verfassung sehr genau definierte Aufgaben und Pflichten haben. Laut Kuntz erhöhte die Lula-Regierung damit ihre Propaganda-Ausgaben gegenüber dem gleichen Vorjahreszeitraum um 81,6 Prozent. Wie die Qualitätszeitung weiter berichtet, erhöhte die Lula-Regierung in nur sechs Jahren die Propagandaausgaben um 48 Prozent. 2003, zum Amtsantritt, hätten 499 Medien Regierungsgelder für Propaganda-Verbreitung erhalten, 2009 indessen schon 7047 Medien. Viele brasilianische Politiker besitzen Medien – und zahlreiche Medien Brasiliens sind den Angaben zufolge von Regierungspropaganda regelrecht abhängig, würden andernfalls eingehen – diese werde daher zum politischen Instrument. In einem Präsidentschaftswahljahr wie 2010 begünstige die Propaganda Brasilias zweifellos den Regierungskandidaten, also Dilma Rousseff.
Für Propagandazwecke ausgegebene Mittel fehlen indessen dann auch beispielsweise im Bildungs-oder Gefängnisbereich, bei der Aidsbekämpfung: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/15/brasilien-erste-potenz-der-halbgebildeten-gustavo-ioschpe-in-veja-zur-bildungssituation-unter-lula/
Hungerbekämpfung und Rüstungsausgaben: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/08/15/brasilias-u-boot-geschaft-mit-paris-so-teuer-wie-zwei-jahre-anti-hunger-programmbolsa-familia-meldet-o-globo/
In Ländern wie Deutschland erhält die Lula-Regierung wegen dieser Politik sehr viel Lob.
Lula und der politische Bündnispartner Collor – Ausstellungsfoto in Sao Paulo.
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/28/lula-anfang-mai-zu-wirtschaftskonferenz-nach-munchen/
Tags: Frauentag 2012, Petra Pfaller
“Da sein, wo gelitten wird”: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung besetzt Brasilien lediglich den 84. Platz.
Homenagem da Pastoral Carcerária às Mulheres Agentes de Pastoral
A Pastoral Carcerária é conhecida por trabalhar sempre em defesa dos direitos de todas as pessoas presas, mas hoje quer lembrar de um grupo específico de mulhere: as agentes de Pastoral Carcerária, que inscansavelmente se colocom na defesa de todos, das mulheres encarceradas, das mulheres que visitam seus filhos, esposos, companheiros, amigos, pais e que não encontram na barreira da revista humilhante e vexatória um limite para estar ao lado de quem ama.
Este ano, a Pastoral quer homenagear uma mulher especial, Maria Emília Guerra Ferreira, que faleceu em dezembro de 2011 depois de décadas de luta em defesa dos direitos humanos e especialmente das mulheres encarceradas. Alessandra Teixeira, amiga da Pastoral Carcerária, escrever esta homenagem.
Organizações cobram do governo publicidade às recomendações das Nações Unidas, à luz da recém aprovada Lei de Acesso à Informação
Tags: Brasilien, katholische Gefangenenseelsorge, Pastor Wolfgang Lauer, Petra Pfaller
“Das Gesundheitssystem funktioniert nicht in Brasilien.”
Nicht zufällig viel Lob für die Politik der Lula-und Rousseff-Regierung aus Europa.
In nicht wenigen deutschsprachigen Analysen über das erste Amtsjahr von Dilma Rousseff ist offenbar verboten, die gravierende Menschenrechtslage, darunter Folter und Todesschwadronen, auch nur zu erwähnen. 2013/2014 findet das deutsch-brasilianische Jahr statt.
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
Deutscher Gefangenenseelsorger Wolfgang Lauer in Sao Paulo.
Brasiliens katholische Kirche, die den Adveniat-Gottesdienst am 27. November in einer Favela Sao Paulos vorbereitet, ist beeindruckt über die Propagandahörigkeit deutscher Journalisten. “Immer wieder werden wir gefragt: Wenn Brasilien so gut dasteht, es dem Land so gut geht, es wegen Lula heute so entwickelt ist – warum dann noch überhaupt diese internationale Hilfe wie von Adveniat, diese Bitten um Spenden?” Für Brasiliens katholische Kirche erscheint unverständlich, daß im angeblich so aufgeklärten, gut informierten Deutschland ein so niedriger Informationsstand selbst bei Journalisten über die Lage in dem Tropenland existiert.Kirchliche Angaben über Massenelend und das fortdauernde Hungerproblem, die rasch wachsenden Slums, werden offenbar garnicht mehr zur Kenntnis genommen.
Laut Befreiungstheologe Frei Betto, der Regierungsberater des Anti-Hunger-Programms war, leben derzeit noch über 30 Millionen Brasilianer in extremer Armut, also betroffen von Elend und Hunger.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/07/eu-lateinamerika-karibik-stiftung-startet-in-hamburg/
Demokratie und alltägliche Folter
http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=234433&rubrik=7&ausg=200210
Schwarzer 2010 in Sao Paulo totgefoltert: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/24/neun-militarpolizisten-sao-paulos-folterten-schwarzen-tot-laut-sicherheitschef-prasidentschaftskandidat-jose-serra-bisher-als-gouverneur-fur-die-polizei-zustandig-sehr-besorgt-heist-es/
“Die Praxis der Folter ist als Form institutioneller Gewalt im Alltag des Sicherheitsapparats weiter präsent und richtet sich besonders gegen die Armen.” (Textzitat aus der Soziologiezeitschrift)
In meinungsbildenden deutschen Analysen wird die brasilianische Regierung ausdrücklich als “progressiv” eingestuft.
Leonardo Boff 2010 :“Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“
http://www.suedwind-magazin.at/start.asp?ID=242992&rubrik=2&ausg=201102
2011 – Menschenrechtsministerin Mario do Rosario zu Folter in Gefängnissen und psychiatrischen Anstalten: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/27/brasiliens-neue-menschenrechtsministerin-maria-do-rosario-definiert-das-tropenland-als-folterstaat-laut-landesmedieno-brasil-reconhece-a-existencia-e-a-presenca-da-tortura/
“In den brasilianischen Gefängnissen sind die Opfer des politisch-wirtschaftlichen Systems eingekerkert”: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/03/17/in-den-brasilianischen-gefangnissen-sind-die-opfer-des-politisch-wirtschaftlichen-systems-eingekerkert-anwalt-bruno-alves-de-souza-29-prasident-des-menschenrechtsrates-im-teilstaat-espirito-san/
Nicht zufällig findet daher die Politik der Lula-Regierung bei alten und neuen Rechten europäischer Länder soviel Anklang, erhält Lula soviel Lob. Folter als “Form institutioneller Gewalt” und “hemmungslose Aktionen der Todesschwadronen, institutionalisierte Barbarei” zählen im Falle Brasiliens offenbar zu den Positiv-Kriterien, bleibt auf andere Länder üblicherweise angewendete Kritik des Auslands aus. Bemerkenswert, daß auch die sonst üblichen Medien-und Kolumnisten-Proteste unterbleiben. Als bemerkenswert wurde offensichtlich auch diese Einschätzung empfunden: Brasiliens heutiger Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva hatte bereits als Gewerkschaftsführer im Jahre 1979 klargestellt, wie er zu Hitler steht. In einem Interview sagte Lula damals: “Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe.”
CONECTAS-Foto-Dokument: http://www.estadao.com.br/especiais/2009/11/crimesnobrasil_if_es.pdf
“Folter in Polizeiwachen stark zugenommen”: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/12/die-folter-in-polizeiwachen-hat-in-ganz-brasilien-stark-zugenommen-gefangenenpriester-valdir-joao-silveira-die-anti-folter-konvention-wird-nicht-eingehalten-was-tut-denn-die-uno-damit-die-k/
Leonardo Boff :“Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/04/07/unsagliche-folterpraxis-in-brasilien-gunter-nooke-menschenrechtsbeauftragter-der-deutschen-bundesregierung-kritisiert-in-brasilien-folter-und-andere-menschenrechtsverletzungen-druck-ist-noti/
“Lula Superstar”: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70569506.html
Gregor Gysi, Deutschland: “Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge.” (Die Zeit)
Welle des Konservativismus unter Lula, Zustimmung zu Folter: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/13/unter-lula-starke-welle-des-konservativismus-in-brasilien-betont-aktion-der-christen-fur-die-abschaffung-der-folteracat/
Diktaturopfer – getötete Regimegegnerin, Foto von kirchlichen Menschenrechtsaktivisten.
Die Diktatur begann mit dem Militärputsch von 1964 – 1969 schloß Bonn mit dem Militärregime laut Jahreschronik ein Kulturabkommen.
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Das Weltwirtschaftsforum 2010 hat angesichts dieser Sachlage Staatschef Lula mit dem “Global Statesmanship Award” ausgezeichnet. ”Hintergrund der Auszeichnung sei die hervorragende Art, in welcher der Präsident das Land seit acht Jahren führe. ”
José Zapatero, amtierender EU-Ratspräsident: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/jose-zapatero-spaniens-premierminister-lobt-lula-uber-alle-masen-der-mann-der-die-welt-uberrascht-esse-homem-honesto-integro-e-admiravel-von-amnesty-international-angeprangerte-folter/
“Trotz des Anti-Folter-Gesetzes wird in ganz Brasilien weitergefoltert”: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/02/24/trotz-des-anti-folter-gesetzes-wird-in-ganz-brasilien-weitergefoltert-nicht-selten-aus-sadistischem-vergnugen-am-foltern-cecilia-amin-castro-exekutivsekretarin-der-kommission-fur-gerechtigkeit/
Folter einst und jetzt: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/02/02/memorial-da-resistencia-in-sao-paulo-goethe-institut/
Fotodokumentation: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/05/brasiliens-zeitungen-eine-fundgrube-fur-medieninteressierte-kommunikations-und-kulturenforscher/
Österreichischer Priester und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic zu Folter unter der Lula-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/29/osterreichischer-pfarrer-und-gefangenenseelsorger-gunther-zgubic-in-brasilien-weiter-folter-in-allen-varianten-eine-deutsche-frau-wurde-unglaublich-mit-elektroschocks-kaputtgemacht-psychisch-ner/
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
“Kopf unter Wasser”: http://www.amnesty.de/journal/2009/juni/kolumne-kopf-unter-wasser
Clemens Schrage aus Köln – in Brasilien gefoltert: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/23/clemens-schrage-in-brasilien-zur-diktaturzeit-gefoltert-torturen-einst-und-jetzt/
Protest der jüdischen Gemeinde Sao Paulos: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/21/judische-gemeinde-sao-paulos-verurteilt-regierungssicht-zum-zweiten-weltkriegauserungen-des-ministers-fur-strategische-angelegenheiten-zeigen-ignoranz-oder-bose-absicht/
Menschenrecht auf Bildung unter Lula: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/22/fast-60-prozent-der-brasilianer-ab-15-sind-laut-pisa-kriterien-funktionelle-analphabeten-warnt-bildungsexperte-joao-batista-araujo-e-oliveira/
Lula zu Gefängnis-Folter: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/03/menschenrechtsexperten-lula-ironisiert-alltagliche-folter-in-staatsgefangnissen-brasiliens/
Bei den Menschenrechten, so “Caros Amigos”, sei Brasilien deutlich gegenüber Argentinien, Chile und Uruguay im Rückstand. Zu den Gründen zähle, daß praktisch alle Unternehmen, die den Militärputsch finanzierten und die Diktatur über mehr als zwei Jahrzehnte trugen, in Brasilien weiterhin wirtschaftlich aktiv seien.
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
In “Caros Amigos” publizieren Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe Frei Betto sowie Landlosenführer Joao Pedro Stedile.
Menschenrechtsminister Vannuchi: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/lulas-menschenrechtsminister-paulo-vannuchi-raumt-gravierende-menschenrechtsverletzungen-eindie-menschenrechtsverletzungen-sind-routine-alltaglich-und-allgemein-verbreitet-das-gefangnissystem-ist/
Tim Cahill, Brasilien-Experte von Amnesty International aus London, im Website-Interview: “Dies zählt zu den unglaublichen Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen offen und klar an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat.”
Tim Cahill, Mitte, in Slum von Sao Paulo 2009.
Glücklich sein in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/08/glucklich-sein-im-tropenland/#more-202
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/12/10/brasilianisierung/
Hunger in der achtgrößten Wirtschaftsnation unter Lula: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/09/gunther-zgubic-gefangenenpriester-aus-osterreich-etwa-15-millionen-brasilianer-leiden-hunger-das-offentliche-gesundheitswesen-ist-eine-katastrophe-die-offentlichen-schulen-sind-miserabel-doch/
Franziskaner in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/25/franziskaner-sao-paulos-verteilen-weihnachten-nahrungsmittel-an-tausende-von-armen-und-verelendeten/
Copacabana-Protest gegen Scheiterhaufen: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/12/09/copacabana-mit-microondas-menschenrechtsaktivisten-demonstrieren-gegen-verschwinden-tausender-in-rio-de-janeiro-auch-durch-verbrennen-auf-autoreifen-scheiterhaufen-wie-in-tropa-de-elite/
Kaum Interesse in Europa für Brasiliens systemkritische Blogger. Blogger Yoani in Kuba: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/blogger-yoani-and-her-contradicitions-brasiliens-wichtigster-befreiungstheologe-frei-betto-und-der-mainstream/
Befreiungstheologe Frei Betto: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/08/21/a-green-light-for-torture-befreiungstheologe-frei-betto-uber-die-respektierung-der-menschenrechte-durch-hochgeschatzte-westliche-demokratien-wie-usa-und-brasilien/
Entwicklungshindernis Gewalt: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/04/12/entwicklungshindernis-gewalt-ein-arbeitsbuch-uber-neue-kriege-und-erzwungene-armut-fur-oberstufe-und-erwachsenenbildung/
Umgang mit Geschichte: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Menschenrechts-Samba – anklicken: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/12/o-iraque-e-aqui-der-irak-ist-hier-hit-von-jorge-aragao/
Behinderter Junge in Rio zu Tode geschleift(2007)Brasilianische Öffentlichkeit reflektiert über Normalität sadistischer Verbrechen
Bestsellerautor Paulo Coelho: Wir sind alle schuldig
Rund eine Woche vor dem weltberühmten Karneval hat die barbarische Tat mehrerer Slum-Banditen Rios in dem Tropenland eine sehr emotionale Diskussion über zur Alltagsnormalität zählende sadistische Verbrechen ausgelöst.
Die Banditen hatten gemäß den Polizei-und Medienberichten in der Zuckerhutstadt zwecks Autoraub den Wagen einer Frau gestoppt, die mit ihrer 13-jährigen Tochter und dem behinderten sechsjährigen Sohn unterwegs war. Die Insassen wurden zum Aussteigen gezwungen, wobei es nicht gelang, den Sitzgurt des auf der Hinterbank befindlichen Jungen zu lösen. Die Banditen fuhren mit dem Wagen los, obwohl der Junge noch außerhalb der hinteren Wagentür im Gurt festhing. Er wurde auf rund zehn Kilometern durch vier Stadtviertel Rios mitgeschleift, was eine enorme Blutspur hinterließ. Die Banditen wollten durch verschiedene Manöver, wie Zickzackkurs und nahes Vorbeifahren an Verkehrshindernissen, sich des Körpers entledigen, was indessen mißlang. Zahlreiche Passanten, andere Verkehrsteilnehmer versuchten, die Banditen im Interesse des Lebens des Jungen zum Anhalten zu bewegen, wurden indessen mit der Waffe bedroht. Einem Zeugen wurde gesagt, bei dem Mitgeschleiften handele es sich um eine Judas-Puppe. Die Gangster stoppten den Wagen schließlich an ihrem Slum, gingen kurz zum Umziehen nach Hause, amüsierten sich dann auf einem Straßenfest. Von dem behinderten Jungen waren nur noch zerfetzte Reste übrig. Aufgrund von telefonischen Anzeigen konnte Rios Polizei mehrere Täter rasch fassen, die die Tat den Berichten zufolge sofort gestanden haben. Wie in Brasilien üblich, wurden zwei im Fernsehen interviewt – ein 18-jähriger Bandit beschrieb dabei die Tat und sagte, man habe den Jungen nicht gesehen. Der Bandit war, wie es hieß, als Minderjähriger bereits wegen Raubmordes vor Gericht. Ein 16-jähriger Mittäter dürfte gemäß brasilianischen Gesetzen höchstens drei Jahre in Gewahrsam bleiben.
An der Beerdigung des Jungen beteiligten sich sogar Rios Sicherheitschef sowie der Chef der Militärpolizei. In Rio de Janeiro weinten spontan viele Menschen auf den Straßen, darunter auch Polizeibeamte. Die Medien erhielten eine Rekordzahl von Leser-und Hörerreaktionen, in denen unter anderem die Einführung der von der Bevölkerungsmehrheit befürworteten Todesstrafe gefordert sowie die allgemeine Straffreiheit angeprangert wurde. In Rio de Janeiro werden jährlich deutlich weniger als fünf Prozent der Morde aufgeklärt.
Angesichts dieser barbarischen Tat, hieß es außerdem, sollte man den Rio-Karneval boykottieren. Erinnert wurde zudem an andere Verbrechen der jüngsten Zeit, bei denen u.a. Banditen Stadtbusse mit Benzin angezündet hatten, wodurch zahlreiche Menschen verbrannt waren.
Indessen handelt es sich bei diesen bekanntgewordenen Untaten nur um die Spitze des Eisberges, weil Brasiliens Medien im Interesse des Landesimage nur über einen Bruchteil der sadistischsten Taten überhaupt berichten. Gewöhnlich wird nur über Verbrechen informiert, die Angehörige der Mittel-und Oberschicht betreffen, nicht jedoch über schier unbeschreiblichen Sadismus, dem die Slumbevölkerung seit Jahrzehnten ausgesetzt ist. Daß von den die Slums neofeudal beherrschenden Banditenmilizen Mißliebige lebendig verbrannt oder zerstückelt werden, mit abgeschlagenen Köpfen Fußball gespielt wird, man Menschen durch Schweine auffressen läßt, haben zahlreiche Zeugen bestätigt. Ein Großteil der Slumbewohner, darunter bereits kleine Kinder, hat solchen Verbrechen zugesehen – mit den entsprechenden Wirkungen auf die Psyche. Es gibt zudem Berichte, demzufolge auf Rap-und HipHop-Massendiscos, die an der Slumperipherie Rios häufig vom organisierten Verbrechen veranstaltet werden, Jugendliche lebendig verbrannt worden sind. Die auf diesen “Bailes Funk” gespielten Titel sind extrem machistisch bzw. frauenfeindlich und verherrlichen detailliert sadistische Taten. Nicht zufällig wird in Deutschland von interessierter Seite versucht, derartige brasilianische Musik aus dieser Gewaltkultur gesellschaftsfähig zu machen, zu popularisieren.
Marina Maggessi, seit kurzem Kongreßabgeordnete und zuvor Rio de Janeiros Chefinspektorin der Zivilpolizei, hatte immer wieder die vom organisierten Verbrechen begangenen schweren Menschenrechtsverletzungen angeprangert. Die Banditenbosse, mit denen sich sogar weltbekannte Topathleten und Prominente einlassen, nannte sie Tyrannen:”Sie verbrennen Menschen lebendig, zerstückeln Personen, begehen Greueltaten jeder Art, herrschen über die Slums mit aller Brutalität.”
Auffällig, daß zahlreiche NGOs, die auch mit europäischen Spendengeldern finanziert werden, in den Slums der größten bürgerlichen Demokratie Lateinamerikas zwar tätig sind, jedoch zu den Vorgängen weitestgehend schweigen. Gleiches gilt für teils vom Steuerzahler finanzierte Alibi-Menschenrechtsorganisationen.
In Brasilien werden jährlich über 55000 Menschen ermordet. In Rio de Janeiro wurde jetzt eine Website eingerichtet, die die aktuelle Zahl der Ermordeten angibt: http://www.riobodycount.com.br/
Im Teilstaate Rio de Janeiro wurde 2006 gemäß neuesten Angaben eine Rekordzahl von Homosexuellen umgebracht. Wie es hieß, waren es mindestens 45. “Dies zeigt den machistischen und gewalttätigen Charakter der Gesellschaft Rio de Janeiros”, wurde betont. Rio de Janeiro hat etwa die gleiche Einwohnerzahl wie Kuba, das indessen auch gemäß dem UNO-Index für menschliche Entwicklung völlig andere soziokulturelle Bedingungen aufweist.
Auch in Deutschland nimmt machistische Gewalt ständig zu, wird sogar von den Autoritäten ganz bewußt, u.a. durch Tolerierung, stark gefördert. Die deutsch-türkische Anwältin Seyran Ates, die jetzt den Margherita-von-Brentano-Preis der FU Berlin erhielt, hat über Machismus und Gewaltbereitschaft sowie über Sexualität und Gewalt zahlreiche Analysen angestellt.
Viele Deutsche, auch aus der Drittweltszene, reden gerne von der sogenannten “Einen Welt”, lehnen es indessen ab, darüber zu reflektieren, wie die Öffentlichkeit reagierte, wenn sich Verbrechen wie die oben beschriebenen in deutschen Städten wie Berlin oder München ereignen würden. Verdrängungsmechanismen funktionieren gut.
Schriftsteller Paulo Coelho von der Copacabana zum sadistischen Verbrechen:
“Wir sind alle schuldig”
Entáo estamos nos aproximando cada vez mais do Mal Absoluto. Quando rapazes, em pleno controle de suas faculdades mentais, sáo capazes de arrastar um menino pelas ruas de uma cidade, isso náo é apenas um ato isolado: todos nós, em maior ou menor escala, somos culpados. Somos culpados pelo silêncio que permitiu que a situaçáo em nossa cidade chegasse a este ponto. Somos culpados porque vivemos em uma época de ”tolerância, e perdemos a capacidade de dizer NÃO. Somos culpados porque nos horrorizamos hoje, mas nos esquecemos amanhá, quando há outras coisas mais importantes para fazer e para pensar. Somos os olhos que viram o carro passar, o medo que nos impediu de telefonar para a polÃcia. Somos a polÃcia, que recebeu alguns telefonemas através do número 190, e demorou para reagir, porque o Mal Absoluto parece já náo pedir urgência para nada. Somos o asfalto por onde se espalharam os pedaços de corpo e os restos de sonhos do menino preso ao cinto de segurança. A cada dia uma nova barbárie, em maior ou menor escala. A cada dia algum protesto, mas o resto é silêncio. Estamos acostumados, náo é verdade?Muitos séculos atrás, John Donner escreveu: ”nenhum homem é uma ilha, que se basta a si mesma. Somos parte de um continente; se um simples pedaço de terra é levado pelo mar, a Europa inteira fica menor. A morte de cada ser humano me diminui, porque sou parte da humanidade. Portanto, náo me perguntem por quem os sinos dobram: eles dobram por ti. Na verdade, podemos pensar que os sinos estáo tocando porque o menino morreu, mas eles dobram mesmo é por nós. Tentam nos acordar deste cansaço e torpor, desta capacidade de aceitar conviver com o Mal Absoluto, sem reclamar muito “ desde que ele náo nos toque. Mas náo somos uma ilha, e a cada momento perdemos um pouco mais de nossa capacidade de reagir. Ficamos chocados, assistimos à s entrevistas, olhamos para nossos filhos, pedimos a Deus que nada aconteça conosco. SaÃmos para o trabalho ou para a escola olhando para os lados, com medo de crianças, jovens, adultos. Entra ano, sai ano, mudam-se governos, e tudo apenas piora. O que dizer? Que palavra de esperança posso colocar aqui nesta coluna?Nenhuma. Talvez apenas pedir que os sinos continuem tocando por nós. Dia e noite, noite e dia, até que já náo consigamos mais fingir que náo estamos escutando, que náo é conosco, que estas coisas se passam apenas com os outros. Que estes sinos continuem dobrando, sem nos deixar dormir, nos obrigando a ir até a rua, parar o trânsito, fechar as lojas, desligar as televisões, e dizer: ”basta. Náo agüento mais estes sinos. Preciso fazer alguma coisa, porque quero de volta a minha paz. Neste momento, entenderemos que embora culpemos a polÃcia, os assaltantes, o silêncio, os polÃticos, o hábito, apenas nós podemos parar estes sinos. Nosso poder é muito maior do que pensamos “ trata-se de entender que náo somos uma ilha, e precisamos usá-lo. Enquanto isso náo acontecer, o Mal Absoluto continuará ampliando seu reinado, e um belo dia corremos o risco de acreditar que ele é a nossa única alternativa, náo existe outra maneira de viver, melhor ficar escutando os sinos e náo correr riscos. Náo podemos deixar que chegue este dia. Náo tenho fórmulas para resolver a situaçáo, mas sou consciente de que náo sou uma ilha, e que a morte de cada ser humano me diminui. Preciso parar minha cidade. Náo apenas por uma hora, um dia, mas pelo tempo que for necessário. E recomeçar tudo de novo. E, se náo der certo, tentar náo apenas mais uma vez, mas setenta vezes. Chega de culpar a polÃcia, os assaltantes, as diferenças sociais, as condições econômicas, as milÃcias, os traficantes, os polÃticos. Eu sou a minha cidade, e só eu posso mudá-la. Mesmo com o coraçáo sem esperança, mesmo sem saber exatamente como dar o primeiro passo, mesmo achando que um esforço individual náo serve para nada, preciso colocar máos à obra. O caminho irá se mostrar por si mesmo, se eu vencer meus medos e aceitar um fato muito simples: cada um de nós faz uma grande diferença no mundo.http://www.riobodycount.com.br/Â
Scheiterhaufen in Sao Paulo: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/07/05/scheiterhaufen-in-sao-paulo-mindestens-15-menschen-in-der-megacity-seit-jahresbeginn-lebendig-verbrannt-laut-landesmedien-fogo-para-matar-rivais/
“Reife Demokratie”: http://www.fondsprofessionell.de/redsys/newsText.php?endDate=&per=&kat=&sid=39540
”Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst. Deutschsprachige Tourismuspropaganda.
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.
In den Archiven des Weltkirchenrates in Genf lagern Dokumente der brasilianischen Kirche, die laut Brasiliens Medien für das Diktaturjahr 1970 von “Bürgerkrieg” und etwa 12000 politischen Gefangenen sprechen. Die Diktatur erlaubte dem Internationalen Roten Kreuz nicht den Zugang zu den Gefängnissen, Diktator Medici erklärte, es gebe keine politischen Gefangenen in Brasilien. 1971 wurde ein Appell an die UNO wegen der gravierenden Menschenrechtsverletzungen gerichtet. In den Dokumenten des Weltkirchenrates werden die sadistischen Foltertechniken detailliert beschrieben, Folter werde als politische Waffe angewendet. Die Zahl der Folterzentren wird mit 242 angegeben, weibliche Gefangene seien häufig vergewaltigt worden. Zu den Taktiken gehörte, Oppositionelle in Gegenwart ihrer Ehepartner, teils sogar ihrer Kinder zu foltern.
Brasilianische Protestsongs:
Paralamas do Sucesso: http://www.youtube.com/watch?v=sI4ZF2qEzpE
Bezerra da Silva: http://www.youtube.com/watch?v=8i69t5BI3KI
Legiao Urbana: http://www.youtube.com/watch?v=zy2-b8Ze90A&feature=fvwrel
Rita Lee: http://www.youtube.com/watch?v=XTPV8cJoqSU
Jorge Aragao: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
Cazuza: http://www.youtube.com/watch?v=NkNv2BflaSU
Capital Inicial: http://www.youtube.com/watch?v=5xShbngQdaI
Titas: http://www.youtube.com/watch?v=0LXil87V6jQ
Biquini Cavadao: http://www.youtube.com/watch?v=lR4GeUpk-LE
Raul Seixas: https://www.youtube.com/watch?v=S2cWf8lrQ
http://das-blaettchen.de/schlagwort/klaus-hart
Die Adenauer-Stiftung und Brasilien:
http://www.kas.de/wf/doc/kas_22736-544-1-30.pdf?110509143349
Köln schließt eine Städtepartnerschaft mit Rio de Janeiro:
“Folter noch jeden Tag.”(2011)
Deutscher Gefangenenpastor Wolfgang Lauer:
ln-berlin.de/index.php?/artikel/2445.html
Song von Thaíde und DJ HUM. Text: Klaus Hart Ausgabe: Nummer 275 – Mai 1997. Weitere Artikel zum Thema Brasilien: Die im Haus arbeiten sieht man nicht …
“Krise – was denn für eine Krise?” – Kloake-Slum in Sao Paulo.
Amnesty Journal 2009:
“KOPF UNTER WASSER
Gravierende Menschenrechtsverletzungen offiziell abzustreiten oder zu vertuschen, kommt heutzutage bei der internationalen Gemeinschaft schlecht an. Das weiß auch die brasilianische Regierung und geht deshalb seit langem einen anderen Weg: Mit erstaunlicher, entwaffnender Offenheit wird in- wie ausländischen Kritikern bestätigt, dass sie völlig im Recht seien. Man sehe die Dinge ganz genau so und habe bereits wirksame Schritte, etwa zur Abschaffung der Folter, eingeleitet. Doch auf die Worte folgen meist keine Taten.
Menschenrechtsaktivisten wie der österreichische Pfarrer Günther Zgubic, der die bischöfliche Gefangenenseelsorge in Brasilien leitet, vermissen seit Jahren deutliche Worte von deutscher Seite. Schließlich ist Lateinamerikas größte Demokratie ein wichtiger strategischer Partner von Deutschland, und die Regierung in Berlin spricht gerne von den “gemeinsamen Werten”, die beide Staaten verbinden würden. Mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, hat jetzt zum ersten Mal endlich ein hochrangiger deutscher Politiker in der Hauptstadt Brasilia die Probleme offen angesprochen.
Zgubic erinnert immer wieder an die wohlklingenden Versprechungen, die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei seinem Amtsantritt 2003 verkündet hat: “Er hat öffentlich erklärt, dass er Folter und andere grausame, unmenschliche Praktiken nicht mehr duldet.” Leere Worte aus Brasilia, denn nach Informationen von Zgubic existiert die Folter in allen Varianten, um Geständnisse zu erzwingen: “Es werden Elektroschocks eingesetzt, man presst den Kopf unter Wasser. Auf allen Polizeiwachen Brasiliens werden Häftlinge gefoltert”, meint Zgubic.
Nun sieht er sich überraschend durch Nooke bestätigt. “Stehen Menschenrechtsprobleme wie die unsägliche Folterpraxis beim Staatspräsidenten ganz oben auf der Prioritätenliste? Wieso wird nicht stärker kritisiert, dass die Regierung alle internationalen Verpflichtungen eingeht, ohne sie dann auch konsequent umzusetzen? Wir merken, dass sich Brasilien beim Thema Menschenrechte von Europa entfernt”, erklärte Nooke kürzlich. Brasilien dürfe im Menschenrechtsbereich nicht abdriften.
Doch vielleicht ist dies längst passiert. Paulo Vannuchi, Leiter des Staatssekretariats für Menschenrechte in Brasilia, hatte in der Zeitung “Folha de São Paulo” betont, dass das brasilianische Strafgesetz die Todesstrafe zwar nicht vorsehe, dennoch aber täglich außergerichtliche Exekutionen stattfinden würden. Gemeinsame Werte? Pedro Ferreira, Anwalt bei der bischöflichen Gefangenenseelsorge, findet es bedrohlich, dass selbst nach offiziellen Angaben derzeit über 126.000 Häftlinge trotz verbüßter Strafe illegal weiter festgehalten werden.
Ehemalige Gegner der Diktatur (1964 bis 1985) weisen zudem auf die fatalen Folgen der nicht bewältigten Gewaltherrschaft hin. Nicht einmal die Öffnung der Geheimarchive aus der Zeit der Diktatur sei unter Lula veranlasst worden, kritisiert Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo. Die Straflosigkeit inspiriert seiner Meinung nach jene Staatsfunktionäre, die heute im Polizeiapparat und im Gefängnissystem “Folter und Ausrottung” betrieben. Mit leeren Worte kann man an diesen Zuständen wohl kaum etwas ändern.
Von Klaus Hart.
Der Autor ist Journalist und lebt in São Paulo.
BRASILIEN
Die “Hölle auf Erden”
Revolten, Hungerstreiks und Aids bestimmen den Alltag in den völlig überfüllten brasilianischen Gefängnissen. Brasilien gilt zwar als die zehntgrößte Wirtschaftsnation, leistet sich aber Haftanstalten, die man eher in Ruanda oder Burundi vermuten würde. Eine im April verkündete Amnestie entspannte die Situation nicht.
Eine mittelalterlich anmutende Gefangenenzelle in Rios Stadtteil Realengo: Jeder der mehreren Dutzend Insassen hat laut Gesetz Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter – hier ist es nicht mal ein einziger. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil der Gefangenen auf feuchtem Boden liegt, schlafen die anderen in Hängematten, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern bei beißendem Fäkaliengeruch und nächtlichem Besuch von Ratten. Die psychische Spannung ist fast mit Händen greifbar. Neun von zehn Gefangenen haben Furunkel, in der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu 60 Grad. Dann fallen täglich etwa 20 Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt.
Um aus dieser Hölle herauszukommen und in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit bis zu umgerechnet 5.000 Mark. Es gibt brasilianische Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld sammeln, um dann die Begünstigten auszulosen. In Bangu kommen die notwendigen “Real” von der Familie oder Verbrechersyndikaten – je unerträglicher die Hitze, desto höher die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Einmal am Tag gibt es schlechtes Essen; die Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt.
Folter ist üblich. Ein Anwalt beschreibt einen Fall von 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene, unter anderem mit Elektroschocks. Alle wiesen Blutergüsse auf, wurden zudem zu sexuellen Handlungen gezwungen.” Fast täglich werden Fälle zu Tode gefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt – die politisch Verantwortlichen bleiben meist passiv. Nur wenige Intellektuelle protestieren, die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Pervertieren statt resozialisieren
Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder “Human Rights Watch” prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten an – und auch die Gefangenenseelsorge der Katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der “Pastoral Carceraria” im Teilstaat Sao Paulo gegenüber dem ai-Journal: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier – niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen, läßt sie intellektuell, spirituell, moralisch und kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Mauzeroll hört in Polizeiwachen und Gefängnissen sehr häufig den Ausspruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die “Presidios” – was er täglich sieht, sind Bilder wie aus Horrorfilmen: Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Häftlinge verfaulen buchstäblich in Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst kriminell, weil sie Kranke bewußt
nicht behandeln, sondern sterben lassen. Sie werden aber nie zur Rechenschaft gezogen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind, jedoch nicht eingreifen.
Das Gefängnispersonal verkauft Lebensmittel, die für Häftlinge bestimmt sind und ermöglicht Rauschgifthandel und -konsum hinter Gitterstäben. Ein Gefängnisdirektor: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Erzwungenes Schweigen, Morddrohungen
Ein dunkles Kapitel ist auch die sexuelle Gewalt, von Aufsehern sogar gefördert. Mauzeroll zum ai-Journal: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken die Wärter ihn in bestimmte Massenzellen, damit er dort von 15 oder 20 Häftlingen vergewaltigt wird. Dies ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Nach amtlichen Angaben infizierten sich bereits mehr als 20 Prozent aller Inhaftierten mit dem HIV-Virus – ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt.
Vitor Carreiro teilte in Rio de Janeiro jahrelang eine Zelle mit 47 Gefangenen. Er ist von Aids gezeichnet und sagt: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” Promiskuität ist der Alltag: José Ferreira da Silva, HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern – keiner benutzt Präservative.
Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu vielen “politisch korrekten” Landsleuten nicht um unbequeme und unangenehme Wahrheiten. Er hat keine Probleme, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel. Berufskiller erledigen das – Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Diese ist schuld an der Situation.”
Gemäß einer neuen Studie der Vereinten Nationen lebt heute fast die Hälfte der 150 Millionen Brasilianer in verhältnismäßig entwickelten Gebieten. “Wenn in Sao Paulo und Rio de Janeiro die Lage in den Gefängnissen bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens sein?”
Amnestie nur Kosmetik
Die Rechtsanwältin Zoraide Fernandez weist darauf hin, daß Häftlinge nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang gefangengehalten werden. 1995 waren es allein in Rio mindestens 560.
Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso verkündete im April die, wie es offiziell hieß, größte Amnestie in der Geschichte des Landes: Etwa zehn Prozent der Gefangenen sollten freikommen. Wie die Gefängnisbehörden inzwischen einräumten, werden beispielsweise im Teilstaat Rio de Janeiro nur wenig mehr als ein Prozent amnestiert. Die 511 Gefängnisse bieten Platz für höchstens 60.000 Personen, sind aber nach jüngsten offiziellen Angaben mit 148.760 Häftlingen belegt – das sind 15 Prozent mehr als 1994. Notwendig, so hieß es, sei der Bau von 145 zusätzlichen Haftanstalten. Die Lage in der Metropole Sao Paulo ist den Angaben zufolge am dramatischsten. Eine Besserung ist nicht in Sicht: Per Haftbefehl suchte man allein 1996 rund 275.000 Straftäter.
Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent sind männlich und etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten, die meisten werden allerdings der Öffentlichkeit verschwiegen. Eine Ausnahme bildet lediglich der südliche, relativ hochentwickelte Teilstaat Rio Grande do Sul – nur dort soll es auch keine irregulär festgehaltenen Häftlinge geben.
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor: 1992 wurden im berüchtigten Gefängnis “Carandiru” von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschossen. Die politisch Verantwortlichen und die direkt Beteiligten blieben bisher straffrei. In “Carandiru” ereignete sich auch Ende Oktober wieder eine Revolte: 670 Gefangene nahmen 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Häftlinge versuchten währenddessen in einem Müllwagen zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Klaus Hart
Der Autor ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro
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„Die Lula-Regierung war bei den Menschenrechten eine Enttäuschung“(2009)
Tim Cahill, Brasilienexperte von Amnesty International, über fortdauernde Folter, Todesschwadronen, paramilitärische Milizen und Sklavenarbeit in Lateinamerikas größter Demokratie.
Paraisopolis heißt Paradies-Stadt – doch paradiesisch ist hier garnichts. Der Slum zählt zu den über 2000 in der reichsten südamerikanischen Megacity und grenzt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz-und Backsteinkaten rund 100000 Menschen in Moder, Abwässer-und Müllgestank hausen. Dabei gibt es an der fernen Peripherie weit grauenhaftere Slums. Auch für die Kirche ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, daß der von bewaffneten Gangstern gemanagte Drogenhandel in Paraisopolis nur dank der reichen Großkunden von nebenan so lukrativ funktioniert. Der junge schwarze Slumpriester Luciano Borges Basilio nimmt kein Blatt vor den Mund:“Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als die Polizei – oft sogar viel besser, während die Polizei desorganisiert ist.“ In Brasilien werden täglich mehrere Beamte ermordet. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisopolis einen Bauchschuß – die Beamten haben ja auch Familie und sind unter Streß und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen. Aber Willkür rechtfertigt das nicht.“ Anstatt jener kleinen Minderheit von Kriminellen das Handwerk zu legen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völlig unschuldigen Bewohnermehrheit, was weder die Kirche noch Amnesty International hinnimmt. Tim Cahill ist wiederholt vor Ort, spricht mit Zeugen. Sie berichten von Folterungen, ungerechtfertigtem Schußwaffengebrauch: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, wird ein neunmonatiges Baby in den Arm geschossen, eine Sechzehnjährige an den Brüsten verwundet.
Journal: Bewohner berichten, daß Elektroschocks zu den gängigsten polizeilichen Foltermethoden in Paraisopolis gehören. Die Beamten behandeln uns wie Tiere, lautet ein Vorwurf.
Cahill: Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier vor Ort sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen. Bei Folter-Anzeigen wird gewöhnlich garnicht ermittelt. Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Und ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie Wegwerf-Bevölkerung behandelt. Paraisopolis ist dafür ein Beispiel. Es fehlt die Verantwortung des Staates für diese Menschen. Öffentliche Sicherheit muß für alle Brasilianer garantiert werden – die armen Schichten darf man nicht einfach davon ausschließen.“
Journal: „Öffentliche Sicherheit“ ist in Brasilien vor allem Aufgabe der Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur. Weil Diktaturverbrecher, Folterer von einst nicht bestraft werden, fördert dies heutige Polizeigewalt und ermuntert die Folterer zum Weitermachen, argumentieren selbst frühere politische Gefangene.
Cahill: Das ist in der Tat ein zentraler Punkt – Straffreiheit in Bezug auf Vergangenes stärkt die heutige Politik der Straflosigkeit. Das wird weithin akzeptiert. Ich war in vielen Polizeiwachen und Gefängnissen Brasiliens, habe hohe Amtsträger des Sicherheitsapparats getroffen. Da fand ich immer Leute mit ganz direkter Beziehung zu den Diktaturverbrechen. Das Ausmaß der Gewalt, die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen im heutigen Brasilien sind Erbe der Diktaturvergangenheit. Amnesty macht Druck auf Brasilia, auf Staatschef Lula, die Diktaturverbrechen zu bestrafen und die Geheimarchive des Militärregimes endlich zu öffnen. Brasilien ist bei der Vergangenheitsbewältigung deutlich hinter den anderen lateinamerikanischen Staaten zurück. Das ist gravierend.
Journal: Die Lula-Regierung hatte der UNO, den Menschenrechtsorganisationen 2003, zu Beginn der ersten Amtszeit versprochen, die eigenen Gesetze und internationalen Abkommen einzuhalten. Doch nach wie vor werden in Brasilien sogar Menschen auf Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Hielt Brasilia denn Wort?
Cahill: Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Es gab große Versprechen, Pläne und Projekte, sogar einen konstruktiven Diskurs – doch die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Es fehlt der Regierung ganz klar politischer Wille. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert. Die paramilitärischen Milizen haben Macht, üben wirtschaftliche Kontrolle aus – daraus wird politische Macht, eine reale Bedrohung im heutigen Brasilien.“
Journal: In der Olympia-Stadt Rio de Janeiro hat der Staat mehrere Hangslums besetzt, gemäß überschwenglichen europäischen Presseberichten die Verbrecherkommandos vertrieben und die Lage der Bewohner deutlich verbessert. Sind das nicht gute Beispiele, die auf positive Änderungen hindeuten?
Cahill: Es handelt sich bei diesen Slums lediglich um Inseln, während im großen Rest der Stadt sich an der staatlichen Politik, an Diskriminierung und Polizeigewalt kein Deut ändert. Für uns heißt dies, vor Ort noch intensiver zu recherchieren und Menschenrechtsverletzungen permanent anzuprangern. Die Situation Brasiliens ist sehr komplex.
Journal: Hochrangige Staatsvertreter geißeln die Lage gelegentlich drastisch, was auf manchen entwaffnend wirkt. Laut Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, ähnelt Brasiliens Gefängnissystem nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, daß tagtäglich außergerichtliche Exekutionen und Blutbäder von Polizisten sowie Todesschwadronen verübt würden. Gravierende Menschenrechtsverletzungen seien Routine, alltäglich und allgemein verbreitet.
Tim Cahill: Dies zählt zu den unglaublichen Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen offen und klar an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Denn das Gefängnissystem wird eben einfach nicht reformiert, trotz der häufigen Versprechen. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat. Wenn die Regierung in Brasilia weltweit mehr Anerkennung und Respekt will, muß sie sich für die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung einsetzen, besonders der Unterprivilegierten. Was falsch läuft, haben wir bei unseren Recherchen in der Sao-Paulo-Favela Paraisopolis, bei den Gesprächen mit Tatzeugen deutlich ermittelt: Der Staat marginalisiert diese Menschen – und das seit Jahrzehnten. Innerhalb des Staatsapparats herrscht Einverständnis, die Polizeistrukturen nicht zu kontrollieren. Angesichts extremer Kriminalität läßt man den Sicherheitskräften die Freiheit, Menschenrechte einfach zu verletzen. Wichtig ist, beide Seiten zu sehen.
http://www.ila-web.de/brasilientexte/inhalt.htm
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
Reimar Oltmans:
http://www.reimaroltmanns.com/2008/06/jeder-kann.html
Hintergrund von 1997 – veröffentlichte Texte in Lateinamerika-Nachrichten – hat sich seitdem an der Lage viel verändert?
Immer mehr Straßenkinder Brasiliens werden von der organisierten Kriminalität rekrutiert und landen damit in den Kreisläufen der täglichen Barbarei und Gewalt. Das „Missionsobjekt“ Straßenkind hat hierdurch neue Dimensionen erfahren, die bislang allerdings von den Straßenkinderprojekten im Ausland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Unser Autor Klaus Hart aus Rio de Janeiro schildert die wenig erfreuliche Entwicklug des Problems.
Bis zum entsetzlichen Candelaria-Massaker von 1993 (vgl. LN Nr. 231/232) gehörten die Meninos de Rua zum normalen Erscheinungsbild der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro. Ob in Copacabana, Ipanema oder in der City – immer zogen sie in Gruppen herum, bettelten, stahlen. Und schlimmer noch: Eine sichtbare Minderheit unter den Straßenkindern überfiel, terrorisierte regelrecht bevorzugt schwangere Frauen und alte Leute.
Im Stadtzentrum bin auch ich mehrfach von Straßenkindern verfolgt worden, flüchtete mich in Restaurants oder in von bewaffneten Pförtnern bewachte Hauseingänge. Wenn die Gruppen mich dennoch erwischten, waren eben Geld und teures Arbeitsgerät wie Sony-Recorder oder Kamera weg. Eine Bande ritzte mir vorm Wegrennen in Richtung Polizeikabine einmal Arm und Hand blutig. Aber das ist alles harmlos im Vergleich zu den Erlebnissen vieler Einheimischer. Eine brasilianische Bekannte fuhr mit dem Wagen die famose Avenida Atlantica entlang, ihr Kleinkind auf dem Rücksitz. An der Ampel wird das Auto von Straßenkindern umringt, eines schneidet ihrer Tochter die Kehle durch, sie verblutet. Einem Nordamerikaner, zum Arbeiten in Rio, schlägt eine Gruppe eine abgeschlagene Flasche ins Gesicht, einfach so, ohne Raubabsicht.
Derzeit muß man in Rios Kernbereichen Meninos de Rua allerdings fast mit der Lupe suchen. Statt der Tausenden von Anfang der 90er Jahre verlieren sich im Straßengewühl bestenfalls einige hundert. Will ich zur nächsten Metrostation, kommen mir gelegentlich ausgeraubte traumatisierte Frauen entgegen: „Gehen Sie nicht weiter, an der Ecke lauern drei Meninos mit Messern!“ Also laufe ich zurück, nehme am Stand ein Taxi, fahre an den Kids vorbei, höre vom Motorista: „Die da werden nicht alt, hinter denen sind schon die Kollegen her.“ Diskutieren sinnlos. Grundtenor an den Stehbars: Sofort umlegen, bevor die Blödsinn machen.
Straßenkinder-Experten wie Roberto Santos, Leiter der angesehenen Stiftung Sâo Martinho, bestätigen, daß die Gesellschaft, besonders die Mittel- und Oberschicht, auf Repression setzt und Gewalt gegen die Minderjährigen wie nie zuvor befürwortet. Gemäß einer neuen seriösen Umfrage sind rund 52 Prozent der BewohnerInnen von Rio generell für Lynchjustiz. Den Intellektuellen, ebenso wie den in-und ausländischen NGOs, gelang es nicht, einen Meinungsumschwung herbeizuführen – die brasilianische Gesellschaft ist neoliberaler, individualistischer und deutlich egoistischer geworden. Das früher bestehende Mitgefühl etwa der Mittelschicht mit den Armen hat spürbar abgenommem. Weiter gilt, was der inzwischen verstorbene Betinho konstatierte: Das Beseitigen von als störend empfundenen Minderjährigen wird von einem Großteil der BrasilianerInnen hingenommen, toleriert, und im Sinne einer geistigen Komplizenschaft mit den Mördern sogar befürwortet.
Anti-NGO-Kampagne
Inzwischen hat sich das Problemfeld verändert. Heute über gute oder schlechte Straßenkinderprojekte, über die Unterschlagung von Spendengeldern und über Kinderelend als Bereicherungsquelle für unehrliche NGOs zu debattieren, wäre müßig. Regierungsunabhängige Organisationen, die sich direkt den Straßenkindern widmen, gibt es kaum noch. Die meisten sind schlichtweg eingegangen, seit das Ausland weit weniger Spenden überweist und die Regierung nach einer geschickt betriebenen Anti-NGO-Kampagne Gelder stoppte. Cristina Leonardo, die couragierte Leiterin des Centro Brasileiro de Defesa dos Direitos da Crianca e do Adolescente (Brasilianisches Zentrum für die Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) und Verteidigerin von Opfern und Überlebenden des Candelaria-Massakers, wie auch Roberto Santos bestreiten vehement, daß die Regierung etwa durch gute Präventivprojekte die Zahl der Straßenkinder gesenkt habe. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso sei die Situation gerade im Sozialbereich, ob Bildung oder Gesundheit, so schlecht wie noch nie. Ausländische Unterstützergruppen, so ist immer wieder zu hören, hätten eine völlig falsche, oft sozialromantische Sicht der Dinge. Größtenteils werde übersehen, was sich bereits vor dem Candelaria-Massaker 1993 deutlich abzeichnete: Das organisierte Verbrechen offeriert den Kindern und Jugendlichen vergleichsweise gutbezahlte Jobs, bei keineswegs geringerem, sondern weit höherem Lebensrisiko, doch für umgerechnet bis zu tausend Mark die Woche. In sämtlichen Slums von Rio de Janeiro, auch dies ist inzwischen ein Gemeinplatz, funktionieren selbst die vom Ausland finanzierten Hilfsprojekte nur, wenn das organisierte Verbrechen seine Zustimmung gibt. In Europa denken immer noch viele, Kinder und Jugendliche der Unterschicht würden mehrheitlich von der Militärpolizei erschossen. Seriöse Untersuchungen stellten jedoch bereits 1993 richtig, daß der große „Exterminador“ eben das organisierte Verbrechen ist. Keiner weiß das besser als die mit Cristina Leonardo kooperierende Künstlerin Yvonne Bezerra de Mello. Kinder, die nicht richtig mitziehen, etwa drogensüchtig werden und statt Profiten Verluste bringen, werden kurzerhand eliminiert. Die Leichen, so Yvonne Bezerra de Mello, verschwinden meistens. Die großen Bosse, sagt sie, wohnen natürlich nicht im Slum, sondern in den Nobelvierteln Rios. In diesen Vierteln der Geld- und Politikerelite werden derzeit Drogen verbraucht wie nie zuvor – daher die enorme Nachfrage, die den Straßenkindern Jobs verschafft.
Das beste Beispiel für die jüngeren Entwicklungen sind die Candelaria-Überlebenden: Der Trafico, wie die auf Drogen-und Waffenhandel, Entführungen und Rauberüberfälle spezialisierten Gangsterkommandos genannt werden, hat sie adoptiert. Die Leute vom organisierten Verbrechen, so Roberto Santos, zeigten sich in der Tat weitaus besser organisiert und professioneller als der Staat und die NGOs. Kinder und Jugendliche brauchen die rund 800 Slums von Rio nicht mehr zu verlassen. Die Kleinsten verdienen als Fogueteiro (Leuchtrakete) über fünfzig Mark pro Tag. Sie warnen die schwerbewaffneten Gangster mittels Feuerwerksraketen vor herannahenden gegnerischen Verbrechermilizen oder der Polizei. Fünfjährige transportieren als sogenannte Aviôes, Flugzeuge, Drogen in der Stadt, und bringen sie auch zu den privaten Bestellern der Mittel-und Oberschicht. Sieben- oder Achtjährige haben für gewöhnlich schon Pistole oder Revolver im Hosenbund. Als Soldados schließlich gehören sie zum martialischsten Teil der nach militärischem Vorbild streng hierarchisch gegliederten wichtigsten Syndikate Comando Vermelho (Rotes Kommando) und Terceiro Comando (Drittes Komando). Soldados kontrollieren die Ein- und Ausgänge der Steilhangslums. Sie schießen auf Verdächtige, nehmen an Gefechten und Massakern teil, führen Mordbefehle aus und sind bei Entführungen und Banküberfällen dabei.
Kultur feudalistisch-machistischer Werte
Mit Reinaldo Guarany, militanter Diktaturgegner und einer der Entführer des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben im Jahre 1970, fahre ich eine enge steile Straße des malerisch wirkenden Bergstadtteils Santa Teresa hinunter. An der ersten Biegung richtet am Favela-Eingang ein nur mit Shorts und Sandalen bekleideter Zwölfjähriger seine verchromte MP auf uns. Er bräuchte nur einmal durchzuziehen, und alle im Wagen wären tot. Das passiert auch gelegentlich – im Drogenrausch sehen die Soldados in jedem einen Gegner, erschießen sogar die eigene Freundin oder Frau. Guaranys Kommentar: „Noch vor zwei Jahren habe ich hier viele von den Jungs, die mir heute mit MPs begegnen, Murmeln spielen sehen – sie wurden zu Soldaten des organisierten Verbrechens, prahlen damit herum und rühmen die Banditen als ihre Helden.“
Guarany sieht es nicht anders als Anwältin Cristina Leonardo: „Daß heute die große Mehrheit der Meninos de Rua beim Trafico ist, bedeutet, daß Staat und Regierung sie im Stich ließen und die Sozialprogramme einschränkten. Wenn ein Junge mit acht Jahren schon mit einer nordamerikanischen Heeres-MP umzugehen weiß, wird es kompliziert. Darüber spricht niemand, aber genau das müßte das Hauptthema sein!“ Die Drogenprobleme und das Ausmaß des organisierten Verbrechens herunterzuspielen, ist für sie „scheinheilig“.
Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, sieht inzwischen in den Slums eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte fest installiert – hingenommen von den Autoritäten des Staates. Denn die Herrschaft des organisierten Verbrechens über Rios Slums verhindert auf perfide Weise, daß deren BewohnerInnen politisch für ihre Rechte kämpfen. Immer wieder werden engagierte BürgerrechtlerInnen, die Selbsthilfegruppen in den Slums leiten und sich dem Normendiktat der Gangster nicht beugen wollen, zur Einschüchterung aller ermordet. Auch von ehemaligen, vom Trafico rekrutierten Straßenkinder.
So wollte im September eine 83-jährige Frau nicht mehr akzeptieren, daß Gangsterkommandos bei Gefahr stets ihr winziges Slum-Grundstück passierten. Sie diskutierte mit den Banditen. Eines Nachts wurde sie deshalb von einer Gruppe grausam ermordet. Ein brasilianischer Bekannter wohnt unglücklicherweise nur wenige Schritte von einem Kommando-Treffpunkt entfernt. Er muß mitansehen, wie dort Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefoltert, gekreuzigt, mit Schüssen durchsiebt werden. Mehrfach feuerten Jugendliche unter Drogeneinfluß in seine Haustür, und hätten die zwei kleinen Söhne treffen können. Die Kids tragen übrigens bevorzugt deutsche G-3 – und schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre. Weil diese eine besonders große Reichweite haben, werden immer mehr Stadtbewohner durch verirrte Kugeln getötet oder verwundet.
In Rio ist die Gewöhnung an diese tägliche Barbarei die Regel – in Deutschland dagegen, so scheint es, haben nur wenige die Entwicklungen der letzten Jahre und deren politische Dimension zur Kenntnis genommen. Andere wollen sie nicht wahrnehmen. Sie müßten sich sonst von ihren liebgewordenen Brasilien-Klischees trennen.
In einem 17stündigen Prozeß wurde der Führer der brasilianischen Landlosenbewegung MST José Rainha zu 26 Jahren und sechs Monaten Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord verurteilt. Mit vier zu drei Stimmen befand die Jury den 36jährigen für schuldig, obwohl der zur Tatzeit 1000 Kilometer vom Tatort entfernt war.
Lange vor dem Prozeß gegen den populärsten, charismatischsten Landlosenführer kündigte amnesty international an, daß es im Verfahren nicht mit rechten Dingen zugehen wird. Aber die bösen Erwartungen wurden noch übertroffen. Der 36jährige José Rainha erhielt im Juni 26 Jahre und sechs Monate Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord, der 1989 im Bundesstaat Espírito Santo begangen wurde. Amnesty international protestierte umgehend und erklärte Rainha für unschuldig: Das Urteil erinnere an Diktaturzeiten. Bleibe es auch beim zweiten Verfahren im September bei diesem Strafmaß, werde er zum politischen Gefangenen erklärt und ai rund um den Erdball für seine Freilassung mobilisieren. Nicht einmal die juristischen Mindestregeln seien im Prozeß eingehalten worden, kritisierte ai: Weder durch Beweise noch durch Zeugenaussagen konnte bestätigt werden, daß Rainha am Tatort war. Im Gegenteil gibt es Nachweise, daß er sich tausend Kilometer entfernt aufgehalten hat. Mit dem Gerichtsverfahren sollte viel mehr die Landlosenbewegung MST eingeschüchtert werden, die zur zweitwichtigsten Stimme der Opposition geworden ist.
Auch die katholische Kirche Brasiliens, in der Rainha seine politische Laufbahn begann, steht weiterhin zu ihm und unterstrich, daß den 922 Morden an BauerngewerkschaftlerInnen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Landlosen, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen von 1990 bis 1995 nur 47 Gerichtsverfahren und nur fünf verurteilte Täter gegenüberstehen, von denen zwei aus dem Gefängnis flohen.
Im Visier: Das MST
Daß Rainha noch lebt, grenzt fast an ein Wunder: Seit 1987 verfolgt ihn die berüchtigte Todesschwadron Escuderie Le Cocq seines Heimatstaates Espírito Santo, in dem er als Landarbeitersohn aufwuchs. Rainha entging Hinterhalten, überlebte Mordanschläge und konnte nur einmal durch Schüsse verwundet werden. Zwei seiner engen Freunde, Pfarrer Gabriel Maire und Gewerkschaftsführer Edson Ramos, dagegen starben 1988 im Kugelhagel der Pistoleros.
Ein Jahr später kam es zu einem Schußwechsel zwischen einem Großgrundbesitzer, seinem ihn begleitenden Militärpolizisten und einer Gruppe von Landlosen. “In Wahrheit verteidigten sich die Sem Terra, die Landlosen, gegen jenen Fazendero, der ein Blutbad anrichten wollte.” meint Anwalt Osmar Barcellos. Zeugen wollen Rainha bei der Schießerei gesehen haben, beschreiben ihn als ziemlich dick, mit rundem Gesicht und kastanienfarbigen Haaren. Rainha ist jedoch geradezu dürre, hat ein längliches Gesicht und schwarze Haare. Und vor allem wurde er zur Tatzeit nicht nur von zwei Lokalparlamentariern, sondern auch einem Obersten der Militärpolizei des nordöstlichen Bundesstaates Ceará gesehen. Beim Prozeß wurden aber weder Zeugen der Anklage noch der Verteidigung angehört. Die laut Nachrichtenmagazin Veja gravierendste Verurteilung einer brasilianischen Führungspersönlichkeit seit der Rückkehr zur Demokratie wird deshalb von zahlreichen Juristen und Kriminalisten des Landes als schlechter Witz bezeichnet, die Strafe als “absurd”. Auch das Pastoralbüro für Landangelegenheiten der Bischofskonferenz kritisierte, daß mit dem Schauprozeß nicht Rainha, sondern die gesamte Landlosenbewegung getroffen werden sollte. In vielen Medien dagegen wurde das Urteil einseitig dargestellt und sogar begrüßt: das MST also doch die Bande von Mördern, gewalttätigen Gesellen und Gesetzesbrechern, wie die mächtigen Großgrundbesitzer immer behaupten?
Käme Rainha tatsächlich hinter Gitter, wäre das für das MST ein herber Verlust. Niemand sonst hat in Brasilien so viele Besetzungen brachliegender Latifundien mit durchgeführt, hat so große Erfahrungen und kennt Brasilien und die Landlosenbasis so gut. An die zwanzig Prozesse wurden gegen Rainha geführt, etwa 50 Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet – ohne Erfolg. Hinter Gittern saß er bereits mehrfach, internationale Proteste führten jedoch stets zu seiner Freilassung.
Ist Rainha nur eine Art MST-Profi-Funktionär? Er besitzt vier Hektar im Hinterland des Bundesstaates Sâo Paulo, pflanzt Paprika, Mais, Tomaten und Melonen, und gehört zu einer Associaçao comunitaria mit 16 Familien. Von der brasilianischen Zeitschrift Imprensa nach seiner Schulbildung gefragt, antwortete er: “Ich war nie in der Schule. Lesen und Schreiben habe ich mir mit fünfzehn zuhause beigebracht. Wir waren eben verdammt arm, meine Brüder arbeiteten auf dem Feld, um zu Überleben. … Ich lese gerne. Von Frei Betto kenne ich fast alle Bücher – der ist mein Freund.”
Unter dem Druck von Gerichtsmedizinern, Kriminalisten und der Öffentlichkeit sieht sich Brasiliens Justiz gezwungen, den Mord an Paulo Cesar Farias, Symbolfigur für Korruption in Politik und Wirtschaft, erneut zu untersuchen. Die bislang verbreitete offizielle Tatversion ist nicht mehr haltbar.
Mit der finanziellen Unterstützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias, im Volksmund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsidentschaftswahlen. Aber auch nach der Wahl versorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch seines Amtes enthoben wurde, mit reichlich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Beweisen” 1994 in einem offensichtlich politisch motivierten Korruptionsprozeß freigesprochen, lebt Collor heute in Miami. PC bekam sieben Jahre, die er größtenteils höchst komfortabel im offenen Strafvollzug von Maceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.
PCs Comeback
Als ihn 1996 in seiner Wochenendvilla im Nordoststaat Alagoas der tödliche Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein politisches Comeback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zuständige Polizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahlköpfig-charmante Tangotänzer sei wegen Beziehungsproblemen von seiner Freundin Suzana Marcolino erschossen worden, die anschließend an seiner Seite Selbstmord begangen habe. – Spott und Ironie war der Tenor von Brasiliens Leitartikeln. Als Tatmotiv wurde allgemein Queima de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenommen, da PC exzellenter Kenner der brasilianischen Korruptionsmechanismen war und strenggehütete Geheimnisse der jüngeren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemeinen Verblüffung bestätigte zwei Monate später der bis dahin landesweit hochangesehene Gerichtsmediziner Badan Palhares nach vor Ort angestellten Untersuchungen die Version des Polizeichefs. Für die Regierung schien der Fall damit erledigt.
Von Anfang an hatte der alagoanische Gerichtsmediziner und Militärpolizeioberst George Sanguinette mit einem hohen Maß an Zivilcourage öffentlich auf Ungereimtheiten bei dem Mord hingewiesen. Seine ermittelnden Kollegen würden von “oben” gewaltig unter Druck gesetzt, bei dem Verbrechen handele es sich um einen Doppelmord. Sanguinette erhielt daraufhin Morddrohungen und wurde wegen seiner Aufmüpfigeit zeitweise unter Hausarrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht einschüchtern, wies überzeugend grobe Ermittlungsfehler nach, und veröffentlichte darüber sogar ein Buch. Die Untersuchungen wurden schließlich wiederaufgenommen. Die jüngste definitive Expertise vom Mai macht die bisherige offizielle Version zu Makulatur. Suzana Marcolino konnte nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschriebenen Weise umgebracht haben — gemäß der zuständigen Staatsanwältin weisen die Indizien nunmehr auf Doppelmord hin. Als PC und dessen Freundin bereits tot waren, wurden nachweislich Telefongespräche mit der Wochenendvilla geführt. Die Leichen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.
Zivilcourage eines Gerichtsmediziners
Laut Sanguinetti steht die Mafia von Alagoas hinter der Tat. Mittlerweile wurden auch Verbindungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waffenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC studierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die italienische Polizei vier Konten des Ermordeten ausmachen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar deponiert: Ein Bruchteil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschätzung nach säßen bei strengeren Gesetzen gegen Korruption im Wahlprozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bauunternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Gittern. Und er muß es wohl am besten wissen.
KASTEN
Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?
Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich vielverlegte brasilianische Romancier, staunte nicht schlecht, als er bei der Premiere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaikfußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Hakenkreuz nach dem anderen kunstvoll aufgereiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von einem Schauspieler erworben und in ein Theater umgewandelt worden war, hatte niemand Anstoß an der auch vom angrenzenden öffentlichen Platz deutlich erkennbaren Hakenkreuzornamentik genommen.
Obwohl in den brasilianischen Zeitungen häufig über Hakenkreuzschmierereien in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie über die entsprechenden Proteste jüdischer Organisationen berichtet wird, verkaufen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nachproduzierte Metall-Erinnerungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ostmark, Pfingsten 1933 in Regensburg”, darauf das Hakenkreuz unter’m Reichsadler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vornamen Hitler – die Eltern waren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Cantalice läßt einen Parlamentsabgeordneten wegen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt revoltieren, behält Polizeichef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhandlungen über Geiselfreilassungen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfahren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vornahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jüdischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbüchern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechender Proteste. Vergangenes Jahr hat erstmals auch die jüdische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf verurteilt, daß sogar im wichtigsten brasilianischen Nachschlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wucherer” definiert bzw. charakterisiert wird.
Der Präsident will wiedergewählt werden. Die entsprechende Verfassungsänderung kam Ende Januar nur mittels Stimmenkauf und andere Machenschaften durchs Parlament – sagten damals Kirche, Opposition und Medien. Doch niemand konnte es beweisen. Jetzt liegen Gesprächsmitschnitte vor, denen zufolge Cardosos rechte Hand, Kommunikationsminister Sergio Motta, den Stimmenkauf veranlaßte. Eine unbekannte Zahl von Abgeordneten erhielt demnach jeweils umgerechnet an die 300.000 DM in bar. Cardoso war noch nie so in der Bredouille.
Was Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Regierungsallianz zählende Kongreßabgeordnete erläutern klar und unzweideutig eine großangelegte Stimmenkaufoperation. Cardosos Intimfreund Sergio Motta von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gouverneure der Teilstaaten Acre und Amazonas umgerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier ausgezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wiederwahl-Novelle votierten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung allergrößte Bedeutung beigemessen worden.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeordneten, die die Verfassungsänderung stets öffentlich ablehnten, dann doch der Novelle zugestimmt. In den abgedruckten Gesprächsmitschnitten werden fünf bestochene Deputados aus Acre namentlich genannt, doch weit mehr sollen Summen zwischen 200.000 und 300.000 Reais erhalten haben. Diese bezeichen die Darstellungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Partei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld erhielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig angesehen, die Mitschnitte somit als authentisch betrachtet. Warum nur diese beiden und nicht die anderen Deputados – die zwei Gouverneure und der Minister?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gegebene Antwort: Entläßt Cardoso Minister Motta, wie sogar die PFL-Spitze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Collor-Impeachment von 1992.
Kurse der Stimmenbörse
Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, erhob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Regierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kongreßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kongreßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf einer Stimmenbörse. Am Morgen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais gehandelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung passieren würde. Einige Parlamentarier verlangten sogar 300.000 Reais. Kurz vor der Abstimmung glaubte die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- beziehungsweise verkaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verhindert, die ihr hätten gefährlich werden können. Zwar bekam die Opposition die nötigen Unterschriften der Abgeordneten zusammen, ohne die ein Ausschuß nicht gebildet werden kann. PFL und PSDB entsandten jedoch nicht die vorgeschriebenen Repräsentanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokratisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Gesprächsmitschnitte hatte die Opposition die Unterschriftenliste rasch komplett – auf Anweisung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten lassen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskonferenz CNBB hat den Megaescândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffentlichtes CNBB-Dokument, in dem die Regierung der aktiven Korruption beschuldigt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlnovelle heißt es, die Regierung besorge sich bei für sie interessanten Vorlagen die nötigen Stimmen ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Untersuchungen und Zeugenaussagen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf verwickelt. Im archaischen Nordosten, so Anwälte gegenüber den Lateinamerika Nachrichten, sei allgemein bekannt, daß der deutschstämmige PFL-Chef Jorge Bornhausen mit prallgefülltem Geldkoffer herumreise, Politiker besteche und den Stimmenkauf organisiere. Bornhausen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Partei Arena. Cardosos Vize Marco Maciel gehörte ebenfalls zur Arena und zählte zu den aktivsten Unterstützern der Foltergeneräle.
Alte Kameraden
Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch abgesetzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Folha de Sâo Paulo die Mitschnitte erhielt, hat inzwischen betont, weitere Tonbänder zu besitzen, auf denen noch mehr Personen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanterweise vor der Veröffentlichung der Mitschnitte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Veja, sie seien überzeugt davon, daß der PFL-Gouverneur von Amazonas mit der Absicht des Stimmenkaufs nach Brasilia gekommen sei. Mit Koffern voll Geld sei der Gouverneur in den Wiederwahl-Prozeß hineingegangen. Warum stellte die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Meinungsumfrage führt die Popularitätskurve des Staatschefs nach langer Stabilität erstmals deutlich nach unten. Brasiliens Börsen reagierten auf die Veröffentlichung der ersten, brisanten Mitschnitte in der Folha am 13. Mai sofort mit Kursabfall. Die Echtheit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Jene zwei Abgeordnete, die den Wortlaut des Abdrucks bestritten, stehen bös’ da. Ganz zu schweigen von den anderen Verwickelten.
Sie hatten angenommen es sei nur ein Bettler, verteidigten sich die fünf jungen Täter, die in Brasilia das schlafende Oberhaupt der Pataxó-Indianer Galdino Jesus dos Santos anzündeten. Der Fall erregte gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil es sich um einen Indigena handelte, reiht sich jedoch ein in die zunehmende Gewalt gegen Wohnungslose. Die Täter kommen meist aus der Mittel- und Oberschicht.
Die Avenida Rio Branco, einstige Prachtstraße Rio de Janeiros, bietet nachts ein deprimierendes Bild. Weil seit 1995 infolge von neoliberalen Regierungsprogrammen die Arbeitslosigkeit steil anstieg und Sozialeinrichtungen schlossen, liegen so viele Obdachlose, Bettler, psychisch Kranke und Straßenkinder wie selten zuvor aufgereiht nebeneinander auf dem Bürgersteig; nicht wenige nutzen als Unterlage oder zum Zudecken lediglich Zeitungspapier oder Pappe. Neuerdings hat ein Großteil von ihnen Angst, Opfer jener Brandattacken zu werden, die sich auch in Sâo Paulo und selbst in der Hauptstadt Brasilia häufen: Nur Schritte von der Avenida Rio Branco entfernt, übergoß vormittags eine gutgekleidete Frau einen sitzenden Bettler mit reichlich Alkohol, warf zynisch lachend ein brennendes Streichholz auf ihn. Und verschwand im Menschengewühl, während der Mann die Flammen zu ersticken suchte. Dreißig Prozent der Haut verbrannten, derzeit liegt er in einem öffentlichen Hospital der Sieben-Millionen-Stadt, das pro Monat mindestens zwei wohnungslose Brandopfer behandelt. Oft kommt indessen jede Hilfe zu spät, wie die fast täglich veröffentlichten Fotos von verkohlten Leichen beweisen.
Ivan Bertanha, Leiter einer Hospitalabteilung für Verbrennungen in Sâo Paulo, betont, daß die Eingelieferten fast nie gerichtsverwertbare Angaben liefern können: “Sie sagen, daß sie in Flammen stehend aufgewacht sind und keine Verdächtigen gesehen haben.” Pataxó-Häuptling Jesus dos Santos verbrannte in Brasilia lebendig, nachdem nicht weniger als zwei Liter Alkohol über ihn ausgegossen worden waren. Die inzwischen gefaßten fünf Täter aus Elitefamilien verteidigten mit dem Argument, sie hätten ihn “nur” für einen Bettler gehalten. Für regierungskritische Menschenrechtler und Soziologen spricht dieser Satz Bände. Herbert de Souza Betinho, Führer der nationalen Kampagne gegen Hunger und für Bürgerrechte, nennt das Handeln der jungen Männer einen Hinweis “auf den Grad der Degenerierung in bestimmten höheren Schichten der brasilianischen Gesellschaft.” Helio Bicudo, enger Mitarbeiter des Kardinals von Sâo Paulo und Kongreßabgeordneter der Arbeiterpartei PT, konstatiert, die brasilianische Gesellschaft entwürdige die Armen und banalisiere das Leben. Der angesehene Sozialwissenschaftler und Therapeut Jurandir Freire Costa bringt sogar die Globalisierung mit ins Spiel: Junge Männer, wie jene fünf von Brasilia, kennen die reiche “Erste Welt” sehr gut und glauben, eher per Zufall in Brasilien zu leben. Widerwillig sind sie dort mit einer Mehrheit von “Häßlichen, Armen, Zahnlosen und Nicht-Weißen” konfrontiert, analysiert Costa weiter. Eine Art von Umgang mit dieser Realität sei, sie nicht wahrzunehmen, eine andere, diese sogar physisch zu eliminieren. “Wir reden viel über die Modernisierung Brasiliens, doch wenig über die Befriedung der Gesellschaft”, sagt Oscar Vieira, Generalsekretär des UN-Lateinamerika-Instituts und weist auf die Straffreiheit hin, von der besonders die High Society profitiert. Gemäß neuesten UNO-Angaben werden in Brasilien mehr Menschen durch Feuerwaffen getötet als in jedem anderen nicht durch Krieg gezeichneten Land. In Sâo Paulo kann die Polizei bestenfalls in zwanzig Prozent der Fälle die Täter identifizieren, was nicht bedeutet, daß diese auch verhaftet werden.
Der neue Sport der Besserbetuchten
Inzwischen wurden sehr unvollständige Angaben über die Anzahl wohnungsloser Brandopfer veröffentlicht. Allein in der Hauptstadt Brasilia sind seit 1988 mindestens 29 Bettler angezündet worden. In Sâo Paulo und Rio sind mehrere Wohnungslose pro Monat betroffen. Brandattacken sind jedoch nicht alles: So gehört es in den genannten drei Städten zum makabren Sport Besserbetuchter, etwa nach der Disco vom Wagen aus auf schlafende Wohnungslose zu schießen. Auch ein Polizeioffizier Rios pflegte, gerichtlichen Zeugenaussagen von 1994 zufolge, seine Waffen nachts an Bettlern zu testen.
Schließlich wurden 1990 in der Stadt Matupá drei arbeitslose Landarbeiter, die versucht hatten, eine Fazenda zu überfallen, in Anwesenheit von Polizisten und einem Politiker auf offener Straße lebendig verbrannt: das von einem Amateur gedrehte Video der Untat übergab die katholische Kirche internationalen Menschenrechtsorganisationen. 22 Personen wurden zwar angeklagt – zu einer Bestrafung ist es aber bis heute nicht gekommen.
Wegen des spektakulären Brandanschlags auf Galdino Jesus dos Santos interessiert sich die brasilianische Öffentlichkeit auf einmal für das Leben der Pataxó. Nach Angaben der Kirche wurden in den letzten Jahren in Südbahia 24 Pataxó-Indios von Pistoleros der Großgrundbesitzer oder diesen selbst erschossen, 47 überlebten Mordversuche, 48 Indios starben wegen unterlassener Hilfeleistung.
Ein Großteil Südbahias war ursprünglich Pataxó-Land. Doch vor und während der Militärdiktatur legten Latifundistas im Stammesgebiet Kakaofarmen an, von denen auch große internationale Schokoladenmarken ihren Rohstoff beziehen. Vor Gericht streiten die Pataxó seit 15 Jahren um die Rückgabe von etwa 36.000 Hektar – 788 Hektar waren ihnen zwar von der Justiz zugesprochen, de facto aber nie übergeben worden. Der Stamm nutzt jetzt die Gunst der Stunde: Zur Beerdigung von Häuptling Jesus dos Santos kamen TV-Teams, Presse und sogar der Chef der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI, Julio Geiger. Nach der Beisetzung durften weder er noch die Journalisten das Reservat verlassen, vielmehr wurden sie gezwungen, die Pataxó beim Besetzen von vier benachbarten Kakaofarmen zu begleiten. Umringt von Indios mit Feder-Kokarden, Wurfspiessen, Pfeil und Bogen, mußte Geiger grimmigen Blickes als erster das aufgebrochene Farmtor jenes Großgrundbesitzers durchschreiten, der die Pataxó am meisten terrorisiert – während diese aufpaßten, daß die Szene für die TV-Abendnachrichten auch ordentlich gefilmt wurde. Erst nachdem das Gebiet ohne Gewalt und Zwischenfälle besetzt worden war, ließen sie den FUNAI-Chef und den Medientroß von dannen ziehen.
Die Aufnahmen gehen um die Welt: Polizisten errichten eine Straßensperre und terrorisieren vorbeikommende PassantInnen. Niemand wehrt sich: aus Angst, erschossen zu werden. Der Präsident ist international entrüstet und die heimischen Intellektuellen schweigen.
Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadistischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Strassensperre zu errichten und zufällig vorbeikommende BewohnerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blutig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort Sozial- und Menschenrechtsarbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten absolut normal und alltäglich ist. Der jüngste Fall von Polizeiterror erregt indessen enormes Aufsehen, weil jemand gut versteckt tagelang alles filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilianischen, sondern auch im nordamerikanischen, europäischen und asiatischen Fernsehen gezeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Padres protestieren vehement, stellen nicht anders als amnesty international (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greueltaten nicht überraschen. In ganz Brasilien würden die Menschenrechte von der Militärpolizei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unterprivilegierten Schichten, Anzeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies exemplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mitglieder einer Todesschwadron, die in jüngster Zeit mindestens dreizehn Menschen ermordet hat. Fünf Beamte standen bereits wegen acht Morden sowie Mordversuchen und schwerer Körperverletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Entrüstung im Ausland wurden inzwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Regierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.
Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung
Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien geschürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesellschaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibrutalität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbrechensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinamerikas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen SlumbewohnerInnen schlichtweg ignorierten. In Brasilien, so ai auf Anfrage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerechtfertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal überfallen und dabei zwei Gäste erschossen zu haben. Glücklicherweise fand man eher durch Zufall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.
“Beifall” für Todesschwadrone
Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blutbäder, sowie andere Aktionen der Todesschwadronen von sehr vielen BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Jurandir Freire Costa, Therapeut und Direktor des Instituts für Sozialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Oberschicht, so Costa, spreche SlumbewohnerInnen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und reagiere daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Betto, enger Mitarbeiter von Kardinal Arns, teilt den Standpunkt von Costa, zählt den Sozialwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadronen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Gespräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens protestierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso gegen all diese Greueltaten und verlangten energische Maßnahmen. Deren brasilianische KollegInnen duldeten indessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gravierende Verletzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Lateinamerikas, seien daher mitschuldig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektuellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffentlichen Meinung genössen, würden von Brasilia mit Posten, Positionen und Geldern begünstigt. Oder klarer ausgedrückt: korrumpiert. Der Theologe erinnerte auch daran, daß viele Intellektuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schriftsteller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filmemacher wie Héctor Babenco sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos ausgesprochen hatten. Positive Ausnahme: Chico Buarque. “Daß all diese Personen sich heute passiv verhalten”, so Frei Betto weiter, “wird von den Intellektuellen Europas natürlich bemerkt. Warum protestieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Brasilien nicht – wie steht es daher um deren Seriosität?” Sie sei nicht vorhanden, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Geisteswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Carandiru-Gefängnis Sâo Paulos eingekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht gestellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich angeprangert hatte. Im selben Jahr erschossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru mindestens 111 Häftlinge.
Zum Lärm um das Amateurvideo meint Frei Betto, das brasilianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall doppelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Firmenfilialen wird von einem Gouverneur und engem Vertrauten aus des Staatschefs Sozialdemokratischer Partei PSDB regiert. Gleiches trifft auf den politisch Hauptverantwortlichen des Landlosenmassakers von 1996 im Amazonasbundesstaat Pará zu – und auch auf den Gouverneur Rio de Janeiros, wo ein Blutbad an Minderjährigen dem anderen folgt.
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
In der größten Demokratie Lateinamerikas gehören die berüchtigten “Esquadrôes da Morte” auch über zehn Jahre nach Diktaturende zum Alltag. Sie ermorden Kinder, Jugendliche, Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner. Unter der Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Fernando Henrique Cardoso hat laut ai die Gewalt stark zugenommen.
An einem Februarnachmittag geschieht in Rio de Janeiros Slumgürtel Baixada Fluminense erneut, was viele in der Ersten Welt für unvorstellbar, unmöglich halten: Sechs aufgeweckte Jugendliche zwischen fünfzehn und siebzehn springen auf einen Linienbus auf und machen sich zweier “Vergehen” schuldig: Um nicht bezahlen zu müssen, passieren sie nicht das Drehkreuz des Buskassierers sondern bleiben, wie es täglich unzählige Schüler und Arbeitslose tun, auf den hintersten Bänken, lärmen, trommeln Disco-Rhythmen. Dem Kassierer wird es zu bunt. Er fordert zwei bewaffnete Sicherheitsleute der Busgesellschaft auf, die Jungen zum Schweigen zu bringen. Der Fahrer hält an, die sechs werden mit vorgehaltener Pistole zum Aussteigen gezwungen, müssen sich in einer Reihe auf die Erde knien. Dann werden sie kaltblütig mit Kopfschüssen außergerichtlich exekutiert, wie es ai und andere Menschenrechtsorganisationen stets in Untersuchungsberichten nennen. Die Mörder unterziehen sich, wie üblich, nicht der Mühe, die Toten zu verstecken oder zu verscharren. Ein Jugendlicher überlebte die Schüsse noch eine halbe Stunde, hätte gerettet werden können. Doch niemand der vielen herbeigelaufenen Neugierigen rührte aus Angst vor Rache eine Hand: Die Killer hatten es verboten, keiner der Gruppe sollte davonkommen.
Schlag für Rios Olympia-Bewerbung
Bereits in den 80er Jahren war die Baixeda Fluminense von den Vereinten Nationen als gefährlichste Stadtzone der Welt eingestuft worden – bis heute werden hier Morde selten aufgeklärt. Gemäß einer neuen Untersuchung sahen über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner schon einen Mord.
Auch diese Bluttat wäre gemäß jüngster Praxis von Öffentlichkeit und Medien übergangen worden, wenn nicht das Internationale Olympische Komitee gerade über die Kandidatur der Sieben-Millionen-Metropole am Zuckerhut für die Spiele 2004 entscheiden würde. In weltweit verbreiteten Imagekampagnen hatten Brasiliens Autoritäten für Rio getrommelt und stets argumentiert, daß sich Gewalttaten doch schließlich heute in allen großen Städten ereigneten. Die Nervosität der Politiker war nach dem Massaker groß. Anders als bei vorangegangenen Verbrechen dieser Art mußten Rios beste Kriminalisten Tag und Nacht nach den Tätern fahnden. Zeugen hatten sie laut Presseangaben zweifelsfrei erkannt. Einer gehört zu Rios Munizipalgarde und wird gemäß der engagierten Staatsanwältin und Killerkommando-Expertin Tania Salles Moreira stets dann als Mittäter genannt, wenn es in Bussen zu “Exekutionen” gekommen sei. Der andere leitet eine der zahlreichen regionalen Todesschwadronen.
Morddrohungen gegen holländischen Menschenrechtsaktivisten
Immer mehr brasilianische Pfarrer, Bischöfe, Sozialarbeiter, Künstler und Menschenrechtsaktivisten, die gegen das Wüten der Killerkommandos protestieren, werden durch Morddrohungen unter Druck gesetzt, müssen aus Sicherheitsgründen ihren Aktionsradius stark einschränken. Dies gilt auch für das neueste Blutbad. Zwei der Ermordeten stammten aus Slums, in denen das auch mit Geldern der deutschen Bundesregierung arbeitende Sozialinstitut IBISS seit Jahren Projekte realisiert. Der holländische Direktor Nanko van Buuren hatte als Arzt im zuständigen gerichtsmedizinischen Institut die beiden ihm bekannten Jugendlichen identifiziert – an der Ausgangspforte wurde er derweil von zwei Bewaffneten erwartet. Sie zeigten sich über alle Details der IBISS-Projekte gut informiert und drohten, den 48-jährigen umzubringen, falls er sich in die Ermittlungen einmische und juristisch gegen jene Busgesellschaft vorgehe, zu deren Sicherheitspersonal die Todesschützen nach bisherigen Ermittlungen gehören. Van Buuren hatte 1996 Bundespräsident Herzog während dessen Rio-Aufenthalts mit den IBISS-Projekten vertraut gemacht, hält zu ihm ständig Kontakt. “In Europa”, so der Experte, “schenkt man wahrheitsgemäßen Berichten über die Realitäten Rios gewöhnlich keine Beachtung. Das Ausmaß der Greueltaten gegen Arme und Verelendete wird für unwahrscheinlich gehalten.”
Politiker verwickelt
Duque de Caxias, Satellitenstadt Rios in der Baixada Fluminense, ist seit langem wegen der Todesschwadronen berüchtigt. Gegen Bürgermeister Zito dos Santos läuft ein Prozeß, weil er den Mord an einem seiner politischen Gegner befohlen haben soll. Mehrere seiner Kritiker, aber auch Menschenrechtler beschuldigen ihn, in Killerkommando-Aktivitäten verwickelt zu sein. Zito dos Santos gehört zur Sozialdemokratischen Partei von Staatschef Fernando Henrique Cardoso, dem Rios Pfarrer Caio Fabio vorwirft, zwar die monetäre Inflation, nicht aber die Abwertung des Lebens gestoppt zu haben. Todesschwadronen sind in ganz Amazonien und in Millionenstädten wie Manaus, Sâo Paulo, Salvador de Bahia, Recife, Fortaleza und Natal aktiv. In letzterer Provinzhauptstadt hatte der angesehene Menschenrechtler und Anwalt Francisco Negueira gegen die größtenteils aus Polizisten bestehenden Kommandos ermittelt: Vergangenen Oktober wurde er auf offener Straße durch MPi-Salven ermordet. Daraufhin forderte die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Brasilia auf, weiteren zehn von Kommandos in Natal Verfolgten Personenschutz zu gewähren.
KASTEN
Was ist das für ein Land?
In den Favelas, im Senat
Überall Dreck.
Die Verfassung achtet niemand,
Aber alle glauben an die Zukunft der Nation.
Was ist das für ein Land?
In Amazonas, in Arraguaia, in der Baixada Fluminense,
Mato Grosso, den Geraes und im Nordosten alles ruhig.
Im Tod finde ich Frieden, aber das Blut fließt weiter,
Befleckt die Papiere, die wahren Dokumente,
Auf denen der Patron sich ausruht.
Was ist das für ein Land?
Song von Renato Russo (Legiâo Urbana)
Schweine in Uniform
Die Männer des Gesetzes sind alle Verbrecher
Sie töten unschuldige Leute und machen in Ruhe weiter.
Unausgebildet, inkompetent handeln sie wider die Vernunft,
Anstatt für Sicherheit zu sorgen
Verängstigen sie die Bevölkerung.
Sie sind darauf trainiert, eine reiche Minderheit zu beschützen
Vor der armen Mehrheit, die mit ihrem Leben bezahlt.
Und wenn Du ein Arbeiter bist,
Dann hast Du die idealen Voraussetzungen,
Um in das Netz zu stürzen
Der offiziellen Todesschwadronen,
Schweine in Uniform.
Sie halten sich für Männer
Aber in Wirklichkeit ehren sie
Nicht einmal ihren Namen.
Bulle, mit Verlaub,
Ich werde die Dinge beim Namen nennen:
“Mit der Pistole in der Hand bist Du ein grimmiges Tier, ohne sie schwänzelst Du rum und Deine Stimme kiekst wie im Stimmbruch.”
Song von Marcelo D2 und Rafael (Planet Hemp)
Brasilianische Rapper- und Hip-Hop-Gruppen verarbeiten die brutale Realität in ihren Songs.
Übersetzung: Alina González / Elisabeth Schumann
Von 1964 bis 1985 unterdrückte Brasiliens Militärregime Andersdenkende und militante Oppositionelle auf grausamste Weise: Todesschwadronen ermordeten unzählige Gegner der Diktatur, politische Gefangene wurden Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen oder aus Helikoptern gestoßen, in Stücke gehackt, verscharrt an Stränden Rio de Janeiros – Brutalität war alltäglich. Daß der US-Geheimdienst CIA den Repressionsapparat der Generäle auf vielfältige Weise unterstützte, wußten Menschenrechtsgruppen aus dem In- und Ausland schon damals. Jetzt sorgen Dokumente über die damaligen CIA-Aktivitäten in Brasilien für Schlagzeilen.
Wie die angesehene Zeitung O Estado de Sâo Paulo berichtet, konnte die nordamerikanische Soziologin Martha Huggins bislang geheimgehaltene Kongreßdokumente einsehen, die die Komplizenschaft des CIA mit dem Unterdrückungsapparat von damals bestätigen. Das Fazit der 53-jährigen Wissenschaftlerin: “Die Teilnahme der CIA am Alltag der politischen Repression ist bewiesen – die Dokumente sprechen sogar von gemeinsamen Operationen – die amerikanische Demokratie partizipierte an der Schaffung eines unterdrückerischen Staates.”
Besonders gravierend ist für Martha Huggins, daß die CIA Spezialkommandos für die brasilianische Polizei ausbildete. In Rio de Janeiro wurde eine “Elite” von vierzig Beamten zum Grundstock der berüchtigten Todesschwadrone: “CIA-Agenten nahmen an Operationen in den Slums teil, aber auch an der politischen Unterdrückung – und berichteten alles, was sie sahen, nach Washington.” Bis heute sei in den USA wenig bekannt, daß die CIA bei der Ausbildung von Polizisten in anderen Ländern mitmacht: “Unsere Demokratie benutzte die Polizeibeamten, um in anderen Ländern eine ideologische Kontrolle auszuüben.”
CIA läßt Dokumente verschwinden
Ein anderes interessantes Detail der Recherchen von Martha Huggins: Die CIA half beim Aufbau des Diktaturgeheimdienstes SNI mit, “lieferte sogar eine Liste mit den Namen geeigneter, vertrauenswürdiger Mitarbeiter.” Auf einer anderen Liste waren alle Personen verzeichnet, die gemäß CIA-Einschätzung nach dem Militärputsch von 1964 verhaftet werden sollten.
Ärgerlich für die Soziologin, die bereits drei Bücher über Brasilien veröffentlichte, ist, daß laut Gesetz zwar jeder US-Bürger offizielle Dokumente über Regierungsaktivitäten einsehen darf, wenn diese länger als 25 Jahre zurückliegen – jene Seiten jedoch der Kongreßpapiere mit CIA-Berichten über Folterungen der politischen Polizei Brasiliens sind unleserlich gemacht; manchmal fehlen sogar ganze Blätter.
In mühseliger Kleinstarbeit gelang es der Expertin, 26 Folterer von politischen Gefangenen ausfindig zu machen und unter Wahrung der Anonymität zu interviewen. Einer davon, Militärpolizist, mochte nicht, wie seine Kollegen, bei einem Einsatz gefangengenommene “Subversive” mit Schlägen traktieren und die Frauen vergewaltigen. “Ich forderte, daß es doch besser sei, alle zu töten, anstatt sie zu foltern”, sagte der Militärpolizist zu Martha Huggins und berichtete auch über den Abschluß der Operation: Alle Gefangenen wurden hoch über der Wildnis lebendig aus einem Helikopter gestoßen.
Folterer heute in führenden Positionen
Helio Bicudo, während der Diktatur Präsident einer kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, hat die Aussagen der Soziologin bestätigt. Bicudo untersuchte damals die CIA-Aktivitäten ebenso wie das Wüten der Todesschwadronen. Polizisten und Armeeoffiziere Brasiliens seien in den USA ausgebildet worden – manche, die damals zum Repressionsapparat gehörten, machten und machen Karriere. Romeu Tuma, nach der Diktatur Chef der Bundespolizei, ist heute Kongreßsenator der starken Rechtspartei PPB. Regimeaktivist Marco Maciel wurde gar Vize des jetzigen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso – für Bicude auch Beleg dafür, daß von echter Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein kann: “Hier in Brasilien haben die Leute ein kurzes Gedächtnis.”
Wie die Jahresberichte von amnesty international und Human Rights Watch zeigen, gehören Folter und Todesschwadronen auch zwölf Jahre nach dem offiziellen Ende der Diktatur weiterhin zum Alltag Brasiliens, es “verschwinden” sogar mehr Menschen als damals nach der polizeilichen Festnahme. Die katholische Kirche beklagt, daß immer mehr nichtidentifizierte Gewaltopfer beerdigt werden, ein Großteil auf den überall im Lande anzutreffenden “geheimen Friedhöfen”.
CIA und evangelikale Sektenkirchen in Brasilien – warum die antikatholischen “Freikirchen” Brasiliens in den deutschsprachigen Ländern soviel Sympathie finden.
Hintergrund:
„CIA spionierte Brasiliens Kirche aus, fördert Sekten”
Bischofskonferenz analysiert freigegebene Geheimdokumente
Bischöfe und Theologen des Tropenlandes befassen sich derzeit mit ungewöhnlicher Lektüre: Das Weiße Haus hat weitere hochbrisante Geheimdokumente über CIA-Operationen vor und während der brasilianischen Militärdiktatur freigegeben, die auch die katholische Kirche betreffen. Renommierte Menschenrechtsaktivisten, Intellektuelle wie Helio Bicudo und der Befreiungstheologe Frei Betto aus Sao Paulo sehen ihre früheren Recherchen bestätigt. „Dank dieser Geheimdokumente wissen wir nun genau, daß Washington die südamerikanischen Militärputsche der sechziger und siebziger Jahre vorbereitete.” Auch in Brasilien, so der Dominikanerbruder und Bestsellerautor mit Millionenauflagen, sei mit CIA-Hilfe 1964 ein Willkürregime an die Macht gebracht worden, das bis 1985 währte. Der damalige US-Botschafter in Brasilia habe sogar finanzielle und militärische Hilfe für die Putschisten angefordert. „Argumentiert wurde mit dem Hirngespinst von der kommunistischen Gefahr – obwohl die katholische Kirche und speziell deren befreiungstheologischer Flügel bedrohlicher für die Interessen der USA angesehen wurden als der Marxismus.”Auf die Veröffentlichungen reagierte auch die Familie des 1964 weggeputschten demokratischen Präsidenten Joao Goulart. „Wir gehen jetzt vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag und werden beweisen, daß es eine Intervention der USA gab”, erklärten Joao Vicente und Denise Goulart, Kinder des damaligen Staatschefs, vor der Presse. „Sie haben einen gewählten Präsidenten gestürzt, Brasiliens Souveränität gebrochen.” Vicente und Denise Goulart verweisen zudem auf Dokumente, denen zufolge damals tatsächlich im Rahmen der sogenannten „Operation Brother Sam” eine US-Militärflotte vor der brasilianischen Küste bereitgestanden habe. Die Familie will eine hohe Entschädigungssumme von Washington – umgerechnet über 1,3 Milliarden Euro. Brasiliens Kirche war zur Diktaturzeit weitgehend regimekritisch, war Opposition. Um ein Gegengewicht zu schaffen, so Frei Betto, habe die CIA deshalb die Ausbreitung von Sekten gefördert – und tue dies offenbar bis heute. ”Die USA finanzierten jene Sektenkirchen, denen es darum geht, Brasiliens Christen zu spalten und progressive Tendenzen in der katholischen Kirche auszulöschen. Jene „elektronischen Kirchen” propagierten sogar eine Theologie des Wohlstands. Dagegen stehe die Botschaft Jesu für Gerechtigkeit und Frieden in der Welt. Dies sollten die Gläubigen nicht entdecken. Bezeichnend sei, daß die brasilianischen Chefs wichtiger evangelikaler Kirchen heute alle in den Vereinigten Staaten wohnten, nicht in Brasilien.
Nicht zufällig herrscht Frohlocken, klammheimliche bis offene Freude über ein Anwachsen der CIA-geförderten Sekten bei jenen, denen der weltweite Kampf der katholischen Kirche für Menschenrechte, darunter in Ländern wie Brasilien, sehr ungelegen kommt. Auch in deutschsprachigen Ländern stoßen daher solche Sekten auf viel Wohlwollen, werden häufig beschönigend als Freikirchen eingestuft.
Befreiungstheologe Frei Betto verbrachte als politischer Gefangener mehrere Jahre in den Foltergefängnissen der Diktatur, erlebte all den Horror am eigenen Leibe mit. In den CIA-Dokumenten steht, daß die USA über die Folterpraxis sehr genau Bescheid wußten. „Das Verhör politischer Gefangener ist häufig begleitet von Folter, unter anderem Aufhängen mit dem Kopf nach unten, Elektroschocks, Hunger”, heißt es in einem Geheimtelegramm von 1973. Zitiert wird auch ein CIA-Informant aus dem Repressionsapparat:”Er beschrieb uns den Mord an einem der Subversion Verdächtigten, der er „genäht” habe, wie er es nannte – indem er auf ihn mit einer automatischen Waffe vom Kopf bis zu den Zehen des Fußes gefeuert habe.” Kurz vor dem Putsch telegraphierte der damalige US-Botschafter Gordon nach Washington, man müsse Hilfe leisten, „um ein größeres Desaster zu verhindern, welches Brasilien zu einem China der sechziger Jahre machen könnte”. Der damalige US-Präsident Lyndon Johnson erklärte unter Bezug auf Brasilien:”Wir können das dort nicht tolerieren.” Öffentliche Kritik an diesen Menschenrechtsverletzungen und der laut US-Gesetzen mögliche Stopp von Wirtschaftshilfe seien unterblieben, um die Gewinne aus den rasch wachsenden Rüstungslieferungen an die Militärdiktatur nicht zu gefährden, betont der Dominikaner. ”Kardinal Evaristo Arns aus Sao Paulo zählte zum Widerstand gegen die Diktatur und schlug den USA sogar ein Wirtschaftsembargo gegen Brasilien vor.” Seine Bitte habe natürlich kein Gehör gefunden. „Denn die USA finanzierten ja die Diktatur.” Die CIA habe zudem Persönlichkeiten wie Kardinal Arns oder Erzbischof Helder Camara ausspioniert, Geistliche beispielsweise als progressiv, als hilfreich für die Interessen der USA oder gar als Feinde klassifiziert.Viele Dollars flossen gemäß den nordamerikanischen Quellen auch in die Ausbildung von Todesschwadronen, von Eliteeinheiten der politischen Polizei Brasiliens. „Ab 1968 ging die Diktatur brutaler, aggressiver gegen Regimegegner vor, wurde gemordet, ließ man Menschen verschwinden”, erinnert sich Frei Betto. Der Repressionsapparat sei mit Washingtoner Hilfe besser organisiert worden. „An US-Militärakademien wurden Folterer für verschiedene lateinamerikanische Diktaturen, darunter für Brasilien ausgebildet.”
Brasiliens Bischofskonferenz fordert seit Jahren, daß die Regierung von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva endlich die geheimen Diktaturarchive der Streitkräfte öffnet. „Damit würde mehr über die Zusammenarbeit mit der CIA bekannt.” Doch genau dies solle verhindert werden. Länder wie Chile oder Argentinien seien bei der Vergangenheitsbewältigung schon viel weiter. ”Die Lula-Regierung ist eigentlich dazu verpflichtet, die Öffentlichkeit über diese dunkle Phase unserer Geschichte aufzuklären, damit man weiß, wer verantwortlich war für all die Verbrechen.” Lula, so sieht es Frei Betto, müßte als Chef der Streitkräfte die Militärs zwingen, alle Repressionsarchive zu öffnen. „Unerklärlich, ja verrückt, daß er es nicht tut.” Schließlich legten selbst die USA ihre Geheimdokumente über diese Zeit, die Beteiligung am Militärputsch offen.
“Nicht ohne Grund hat etwa der frühere US-Präsident Ronald Reagan in Südamerika die Sekten gefördert, weil sie individualisierend und systemstabilisierend wirken.” Franziskaner Paulo Suess in Publik-Forum
Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der jetzigen Mitte-Rechts-Regierung ist in ganz Brasilien die Arbeitslosigkeit deutlich angestiegen; im Hinterland von Maranhao wurde deshalb laut Experteneinschätzung die Prostitution von Kindern und Jugendlichen erschreckenderweise zur wichtigsten und manchmal einzigen Einkommensquelle armer Familien. Nicht zuletzt die Kirche hat sich dem Problem angenommen.
Zu Dutzenden stehen zwölf- und dreizehnjährige Mädchen bereits in der Nachmittagsschwüle an der Brücke über dem von Hütten gesäumten Rio Mearim und bieten sich den Passanten für nur fünf Realen an,- das sind nicht einmal acht Mark. Andere warten in den von madames oder früheren Amazonas-Goldgräbern geführten Billigbordellen der neuen Rua do Campo auf Kunden. Doch auch dort sind sie keineswegs geschützt vor der Brutalität, die das Milieu prägt: Messerstechereien, Schußwechsel mit tödlichem Ausgang sind keine Seltenheit, wobei häufig Drogenkonsum die Hemmschwelle herabsetzt. Ausländische Sextouristen spielen hier nur eine geringe Rolle, da das im Nordosten Brasiliens gelegene Pedreiras zu weit von Touristengebieten entfernt liegt. Geradezu gierig auf möglichst junge Mädchen sind sexbesessene Machos aller sozialen Schichten aus der Stadt selbst: Nachbarn, Familienväter der Rua do Campo, Polizisten, Politiker. “Viele Mädchen prostituieren sich, weil die eigenen Eltern sie dazu anregen oder zwingen”, sagt die 52jährige Franziskanerin Maria Oliveira von der lokalen Frauenpastorale gegenüber. Sie verweist auf die Gründe der Misere: Von den rund 50 000 BewohnerInnen hat nicht einmal ein Viertel Arbeit, von denen wiederum verdienen 40 Prozent höchstens den Mindestlohn von umgerechnet 160 Mark.
Versteigerung von Jungfrauen
Pedreiras hat auch deshalb traurige Berühmtheit erlangt, weil dort in Bordellen makabere Auktionen abgehalten werden, wo Großgrundbesitzer, Politiker und Unternehmer Jungfrauen zwischen neun und vierzehn Jahren ersteigern, für eine einzige Nacht in einem besseren Stundenhotel. Anschließend werden die Mädchen gewöhnlich gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten; manche enden in den Goldgräbercamps Amazoniens.
Die Kirchengemeinde von Pedreiras fand sich mit der Situation nie ab. Pfarrer Luiz Mario Luís gründete bereits 1963 ein Rehabilitationszentrum, in dem Prostituierte lesen und schreiben sowie einen Beruf erlernen konnten.
Da die Zahl der Lernwilligen rasch zunahm, mußte das Zentrum vergrößert werden, und die Bezirksverwaltung stieg als finanzielle Trägerin mit ein. Schulunterricht erhalten inzwischen auch die Kinder der Frauen, derzeit sind es über 160 Mädchen und Jungen. Mehrere Dutzend jugendliche oder erwachsene Prostituierte sitzen auf den Bänken des Zentrums, das eher einer einfachen Lagerhalle ähnelt, und lernen Nähen sowie andere Handarbeiten. Inzwischen haben sie zum Teil Kolleginnen als Lehrkräfte. Die Direktorin und Mitbegründerin Benedita Leite versucht, sie davon abzubringen, weiter auf den Strich zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Denn wie in tausenden anderen Städten und Gemeinden der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt erhalten LehrerInnen und andere öffentliche Bedienstete auch in Pedreiras nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von umgerechnet etwa 160 Mark. Schlimmer noch: Die Bezirksverwaltung, der wichtigste lokale Arbeitgeber, zahlt das Hungersalär um bis zu elf Monate verspätet aus. “Ich gebe gerne Unterricht”, sagt eine Prostituierte, “doch das letzte Mal habe ich im August Geld gekriegt”. Viel ist es ohnehin nicht, nur an die neunzig Mark. Und Brasilien hat derzeit ein ähnliches Preisniveau wie Europa.
Erfolge – Rückschläge
Daß krasse Armut brutalisieren, verrohen und abstumpfen kann und die Betroffenen häufig dazu bringt, sich aufzugeben, beobachten Benedite Leite und die Franziskanerin Maria Oliveira täglich. In den Bretterhütten am Rio Mearim dominiert in den vielköpfigen Familien Promiskuität; Die Mädchen lernen nur die Gesetze ihres Milieus kennen und sehen die Prostitution als einzige – und attraktive – Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Ihnen Unterricht zu geben, ist extrem schwierig, denn die Mädchen sind nicht daran gewöhnt, sich zu konzentrieren und lange Zeit zuzuhören. “Wir dürfen sie nicht verurteilen, sie uns zu Feinden machen” betont Maria Oliveira, “sondern müssen immer wieder auf sie zugehen, ihnen helfen, den Raum der Kirche als Alternative anbieten.” Erfolge beim Schwimmen gegen den Strom gibt es. In der Straße am Fluß treffen sich Kinder und Erwachsene im neuen Gemeindesaal zu kirchlichen Aktivitäten, eine Jugendgruppe stabilisiert sich. Maria Oliveira lehrt Katechismus, feiert Weihnachten und Ostern in den Familien, bringt diesen die Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz nahe, und hält Kontakt zu denjenigen Frauen, die mit ihrer Hilfe aus dem Bordell in einen Beruf wechselten.
Doch die madames besorgen sich immer wieder Mädchennachschub. Dabei rekrutieren sie jetzt schon im Hinterland, ködern mit der Aussicht auf “ehrliche Arbeit” und locken damit Jugendliche in den Schuldenkreislauf. Versucht Maria Oliveira, solche Minderjährigen zur Rückkehr zu bewegen, hört sie immer wieder ein Argument: “Ich kann nicht weg, weil ich von der madame neue, schicke Kleider angenommen habe, die ich erst abbezahlen muß!” Die Franziskanerin stellt deshalb eine Bordellbesitzerin zur Rede und bekommt wie stets eine drastisch-grobe Antwort: “Meine Schuld ist das nicht. Diese Hündinnen kommen doch angelaufen und bitten mich um Arbeit!” Weil die madames den Neuankömmlingen weder den Besuch des Zentrums noch der Kirche gewähren, geht die Franziskanerin selbst zu ihnen an den Brückenstrich und setzt sich notfalls an die Bordelltischchen: “Einmal spreche ich mit den Mädchen über Gott, ein anderes Mal über Geschlechtskrankheiten und Aids. An der Brücke kommen viele schon auf mich zugerannt und umarmen mich!”
Kinderprostitution ist typisch für Brasiliens Norden und Nordosten. UNICEF, Kirche und NGOs haben in Maranhao bereits eine Kampagne gegen die praktisch straffreie sexuelle Ausbeutung Minderjähriger gestartet, denn laut Menschenrechtsaktivistin Sandra Torres gehört es bereits zur Gesellschaftskultur, abnorme Situationen als normal zu betrachten und hinzunehmen.
Während in Pedreiras Kinder aus Hunger und Not ihren Körper verkaufen, zeichnet der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso im nur 277 Kilometer entfernt Sao Luis, der Hauptstadt Maranhaos, vor Mikrophonen ein positives Bild der Lage im Lande. Der Soziologe weist auch die Kritik der Bischöfe an seiner neoliberalen Politik zurück, erwähnt weder Kindersklaverei noch Kinderprostitution oder Jungfrauenversteigerungen. Neben Cardoso steht der jetzige Kongreßpräsident und Ex-Staatschef José Sarney – seit Diktaturzeiten reichster und mächtigster Mann in Maranhao. Daß hier alles beim alten bleibt, liegt nach Aussagen von Menschenrechtlern vor allem an ihm und seinen politischen Freunden.
Der 47-jährige Schwarze Volmer do Nacimento wagte als einer der ersten Brasilianer, auf Straßenkinder spezialisierte Todesschwadronen und deren Drahtzieher öffentlich anzuzeigen. 1993 wurde er wegen vorgetäuschter Entführung und “Verleumdung von Richtern” zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, die er im halboffenen Strafvollzug verbringt (siehe LN 261). Die brasilianische Menschenrechtsorganisation Projeto Legal in Rio de Janeiro kämpft für seine Freilassung.
Am schlimmsten sind die Sonn- und Feiertage. Dann muß Volmer den ganzen Tag in einer engen Gefängniszelle verbringen, im fünf Autostunden nördlich von Rio gelegenen Provinzstädtchen Natividada. Seine Frau und seine Kinder sitzen derweil traurig nur rund 300 Meter von Nacimento entfernt. Der Bürgerrechtler liest dann stapelweise Bücher und Zeitungen, schmiedet Pläne für die Zeit nach der Haft, und erinnert sich auch an die Gespräche mit dem Präsidenten des Europaparlaments. Wütend macht Nacimento, daß er die nach wie vor aus Straßburg hereinflatternden Einladungen nicht annehmen darf. “Ich bin ein Gefangener, weil ich es selbst will, denn mit meinem Wagen könnte ich fast jederzeit fliehen – und niemand würde mich finden.” Der langjährige Koordinator der nationalen Straßenkinderbewegung tut es nicht. Schließlich trägt Nacimento die Verantwortung für mehrere von ihm selbst gegründete Projekte, die er selbst leitet. Zu einem der wichtigsten, einer auch mit deutschen Geldern finanzierten Landwirtschaftsschule für Jugendliche, eilt er an Arbeitstagen jeden Morgen. Der gelernte Buchhalter, dessen sozialpolitisches Engagement in Basisgemeinden und Pastoralen der katholischen Kirche begann, empfängt die bislang neunzig SchülerInnen, berät sich mit AgronomInnen, ZootechnikerInnen und LehrerInnen, verteilt Aufträge: “Die Eltern der meisten Jugendlichen hier sind verelendete Wanderarbeiter der Region, mit ihnen ziehen sie herum, schuften auf Plantagen der Großgrundbesitzer, gehen so gut wie nie in die Schule, flüchten aus Perspektivlosigkkeit in die Slums von Rio. Die Schule wurde gegründet, damit die Kinder hier bleiben, die Landflucht gestoppt wird.”
Die Landflucht stoppen
Jeder Schüler bekommt monatlich umgerechnet rund neunzig Mark und damit weit mehr als für Plantagenarbeit. Das Geld stammt von zwei holländischen Unternehmern. Der deutsche Children Mission Fund in Überlingen zahlt die Löhne der LehrerInnen und beteiligte sich am Bau des Schulhauses am Rande von Natividade in tropischer Idylle. Es ist nur halbfertig, ein Provisorium – in Deutschland würde niemand darin lernen und lehren wollen. Und auch die vom deutschen Konsulat in Rio finanzierten Ausrüstungen für ein Laboratorium zur einfachen Heilmittelherstellung können nicht installiert, rund 300 Kursanwärter nicht aufgenommen werden. Die Schuld trägt laut Volmer do Nacimento die Mitte-Rechts-Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso und dessen Freund aus der Sozialdemokratischen Partei PSDP, Rio-Gouverneur Marcello Alencar. Während eines Belgienbesuches 1995 traf Cardoso überraschenderweise auf eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, die ein Poster von Nacimento trugen und dessen Freilassung forderten. Wie stets in solchen eigentlich brenzligen Fällen stimmte Cardoso taktisch geschickt mit den KritikerInnen überein: “Ihr habt recht – wir werden damit aufhören.” Das Versprechen blieb folgenlos und auch die zum Jahresbeginn 1996 vertraglich zugesicherten rund 90.000 DM von Comunidade Solidaria, dem von der Präsidentengattin geleiteten Wohlfahrtsprogramm, trafen bisher nicht ein. Ebensowenig, trotz mehrfacher Mahnung, die etwa 100.000 DM des Rio-Gouverneurs. “Wir werden immer nur mit Ausflüchten abgespeist”, kommentiert Nacimento, “aber viele andere NGOs bekommen versprochene Mittel ebenfalls nicht – wofür ist die Comunidade Solidaria dann eigentlich da? Wir können nicht immer nur mit Geld aus dem Ausland arbeiten – wo bleibt da die eigene Verantwortung Brasiliens?” Den britischen Konsul in Rio, der dem Schulprojekt einen Traktor spendierte, verblüfft ebenfalls, daß die Regierung nichts überweist. Dagegen wird laut Presseangaben ein existierender “Sozialer Dringlichkeitsfonds” fast täglich vom Mitte-Rechts-Kabinett angezapft, um Diplomatenempfänge, Bankette oder üppige Geschenke für ausländische Gäste zu finanzieren.
Die achtzehnmonatigen Kurse der Escola Fasenda laufen dennoch weiter. “Fast alle, die mit amtlichem Zertifikat abschließen werden, haben bereits eine Arbeitsstelle sicher,” freut sich Nacimento, “nach der Präfektur sind wir hier der zweitgrößte Arbeitgeber!” Abends muß der nicht nur in Europa bekannteste Häftling Brasiliens wieder in die Zelle. Der Polizeichef von Natividade bekam bereits aus aller Welt über tausend Protest- und Solidaritätsbriefe, mindestens ebensoviele landeten beim Gouverneur von Rio und im Justizministerium.
Nacimento leidet indessen sichtlich unter der Situation, wollte 1996 durch einen Hungerstreik die Wiederaufnahme seines Verfahrens und Ermittlungen gegen Todesschwadronen und deren Hintermänner erreichen – was nicht gelang. Eine der wichtigsten moralischen vor allem aber juristischen Stützen ist die Menschenrechtsorganisation Projeto Lagal in Rio de Janeiro. Sie erreichte bisher, daß Nacimento seine Haft nicht unter ständiger Lebensgefahr in einer völlig überfüllten Zelle Rios, sondern im halboffenen Vollzug in Natividade verbringt. Für Anwalt Carlos Nicodemos, Leiter des ebenfalls vom deutschen Children Mission Fund unterstützten Projeto Legal, ist der Prozeß gegen Nacimento kafkaesk: “In Untersuchungsberichten des Bundesparlaments und selbst der Abgeordnetenkammer des Bundesstaates Rio über die Ermordung von Kindern und Jugendlichen, ebenso in der Presse, werden dieselben Richter wegen ihrer Verwicklung in Aktivitäten von Todesschwadronen aufgeführt, die auch Volmer do Nacimento nannte.”
Anwalt Nicodemos eilt mindestens einmal im Monat mit dem Wagen nach Natividade, spricht seinem Mandanten Mut zu. Dessen Geburtstag im vergangenen November fiel ausgerechnet auf einen Sonntag. Daß er ihn dank Nicodemos nicht durchweg in der Zelle verbringen mußte, sondern mit seiner schwangeren Frau und den Kinder zusammensein konnte, war wieder ein kleiner Sieg.
Letzte Meldung: Seit Anfang Januar hat Volmer rund um die Uhr Freigang, d.h. er muß sich jetzt lediglich regelmäßig bei der Polizei melden. Und die schlechte Nachricht: Nach heftigen Regenfällen versank das Gelände der Landwirtschaftsschule unter einer vierzig Zentimeter dicken Schlammschicht. Die Gebäude stehen zwar noch, aber die Ernte ist völlig zerstört.
Der Ehemann ist weiß, die Ehefrau ist schwarz. Am Hoteleingang verwehrt ein Wächter der Ehefrau den Zutritt: Prostituierte dürfen nicht mit aufs Zimmer. Wer glaubt, dieser Vorfall wäre die Ausnahme, irrt. Unter der Oberfläche scheinbarer Integration zeigt sich das Bild einer verdeckten Apartheid.
Die Schwarzen müssen wissen wo ihr Platz ist, lautet eine uralte, immer noch hochaktuelle Redewendung in Brasilien. Gemeint ist damit: Sklavennachfahren haben nichts in der Mittel- und Oberschicht, deren Kreisen und Ambiente zu suchen. Sie werden entsprechend stigmatisiert und behandelt. Wie dies in der Praxis funktioniert, bekam jetzt der Züricher Fritz Müller, Fachdirektor der Credite-Suisse-Bank, in Rio de Janeiro zu spüren. Als er mit seiner schwarzen, aus Rio stammenden Ehefrau Adriana nach einem Restaurantbesuch ins First-Class-Hotel Intercontinental zurückkehrte, wurde Adriana von einem muskulösen Wachmann grob gestoppt: Eine Garota de Programa, so heißen Prostituierte im Rio-Slang, dürfe nicht mit aufs Zimmer. Direktor Müller ließ sich von seiner Frau übersetzen worum es ging und schlug gehörigen Krach, stellte den Wachmann zur Rede, verlangte von der Hotelleitung eine formelle Entschuldigung. Denn ohne entsprechende Vorschrift hätte der Wächter kaum so gehandelt.
Rassismus – Machismus
Die Zeitung O Globo beschrieb den Fall unter der treffenden Überschrift “Fünf-Sterne-Rassismus”. Kaum ein mit einer dunkelhäutigen Brasilianerin befreundeter oder verheirateter Europäer, der in Rio, Sâo Paulo, Salvador de Bahia oder Fortaleza nicht ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wer brasilianisches Portugiesisch nicht versteht, bekommt kaum mit, daß der Gang über die Strandpromenade für seine Partnerin gelegentlich einem Spießrutenlauf gleicht. Weiße Mittelschichtsmachos der übelsten Sorte, in Brasilien alles andere als dünn gesät, lassen eine Bösartigkeit oder Obszönität nach der anderen fallen, gehen davon aus, daß der tumbe Gringo sicher nichts versteht und wohl immer noch glaubt, was die meisten Reiseführer kolportieren: Brasilien, ein wundervoller Schmelztiegel der Rassen, ein Beispiel gelungener Integration verschiedener Hautfarben, von Diskriminierung keine Spur.
Wer aber die Oberfläche, die schillernde Erscheinungsebene verläßt, stößt auf Brasiliens hocheffiziente verdeckte Apartheid. Die ist von den schwachen, wenig respektierten Schwarzenorganisationen weit schwerer zu packen und zu attackieren als die aus Südafrika bekannte offene Rassentrennung. Schwarze, MulattInnen gehören in die Slums, in die Unterschicht, in die drekkigsten, schlechtbezahltesten Berufe. Schwarze Frauen sind gemäß diesem Denk- und Verhaltensmuster Hausdienerinnen, Reinemachefrauen, bestenfalls Supermarktkassiererinnen. Oder aber: Schwarze Frauen sind bis zum Beweis des Gegenteils Prostituierte, Touristenhuren, die man entsprechend behandeln kann.
Untersuchungen belegen, daß informelle Mechanismen gewöhnlich den Aufstieg Dunkelhäutiger in gutbezahlte qualifizierte Mittelschichtsberufe verhindern. Privatbanken bilden da keine Ausnahme. Bei mehreren spricht das gängige System der zwei Kundenschlangen Bände. Wer besser verdient und umgerechnet mindestens einige tausend Mark auf seinem Konto hat, steht in der kürzeren Fila, wird bevorzugt behandelt und ist gewöhnlich weiß. Wer zu den Schlechtbezahlten gehört, aber glücklich ist, dennoch ein Konto besitzen zu dürfen, muß in der längeren Schlange gelegentlich Stunden warten, schaut neidisch, frustriert oder mit Groll auf die Bevorzugten mit dem dickeren Geldbeutel. Welche Hautfarbe in der langen Fila dominiert, läßt sich in Rio gut beobachten.
Wer mit dunkler Haut dennoch den sozialen Aufstieg schafft, hat im Alltag fast pausenlos Ärger. In Sâo Paulo wird eine erfolgreiche schwarze Schauspielerin von weißen Madames immer wieder auf der Straße gefragt, ob sie nicht als Hausdienerin anfangen wolle, sie sehe so gut und gesund aus. Der schwarze Sänger und Komponist Dicró wird in Rio de Janeiro von Sicherheitsleuten zu seiner eigenen Show nicht auf die Bühne gelassen. Ironisch erklärt er: “Mehrmals haben sie mich auch schon geschnappt, als ich meinen eigenen Wagen klauen wollte.” Wie überführte Autodiebe werden ebenfalls immer wieder gutverdienende schwarze Fußballspieler traktiert, die teure Importwagen fahren. Oleude Ribeiro vom Verein Portuguesa von Sâo Paulo wurde mit Blaulicht in seinem Ford-Jeep gestoppt und mit dem Revolver am Kopf gründlich durchsucht: “Mein tiefentsetzter kleiner Sohn wollte danach wissen, ob diese Männer Banditen waren. Schwierig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.”
Der auch in Europa bekannte schwarze brasilianische Musiker Djavan erläutert: “Wenn du berühmt wirst, verlierst du sozusagen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen. Sie beginnen nur, dich zuzulassen.”
Unter der Regierung von Präsident Cardoso verschlechtert sich die Lage in den total überfüllten Gefängnissen weiter. “Niemand ist an einer Resozialisierung der Häftlinge interessiert,” so Padre Mauzeroll von der Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche.
Eine mittelalterlich anmutende Gefängniszelle in Rios Stadtteil Realengo. Gesetzlich hat jeder der mehreren Dutzend Insassen Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter, hier dagegen hat er nicht einmal einen einzigen. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil auf dem feuchten Beton liegt, hängt der andere in Stoffschlaufen darüber, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu bietet sich ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern, beißender Fäkaliengeruch, nachts Ratten, die psychische Spannung fast mit Händen greifbar. Neun von zehn haben Krätze und Furunkel. In der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu sechzig Grad in den Zellen, täglich fallen dann an die zwanzig Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt. Um aus dieser Hölle herauszukommen, in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit umgerechnet bis zu 5.000 DM. Es gibt auch Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld zusammenlegen und dann den Begünstigten wie in einer Lotterie per Los bestimmen. In Bangu kommen die notwendigen Reais von der Familie oder von Verbrechersyndikaten. Je größer, je unerträglicher die Hitze, umso höher steigen die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Nur einmal am Tag gibt es Essen von haarsträubender Qualität, Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt. Folterungen sind die Regel, nicht nur in Rios Gefängnissen. Ein Anwalt beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene mit Elektroschocks, alle wiesen Blutergüsse auf und wurden darüberhinaus zu sexuellen Handlungen gezwungen.”
Fast täglich werden Fälle totgefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt. Doch die politisch Verantwortlichen rühren sich kaum, nur wenige Intellektuelle protestieren und die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Nach dem letzten offiziellen Zensus bieten die 511 Gefängnisse Brasiliens Platz für höchstens 60.000 Personen. Mit über 148.000 Gefangenen sind sie damit mehr als doppelt belegt. Notwendig, so heißt es, seien 145 neue Gefängnisse. Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent Männer, etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten; die meisten von ihnen werden allerdings der Öffentlichkeit verheimlicht.
Pervertieren statt resozialisieren
Amnesty international und Human Rights Watch/Americas prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten als “puren Horror” an. Aber auch die Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der Pastoral Carçeraria im Bundesstaat Sâo Paulo: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier. Niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung der Insassen interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen. Sie läßt sie intellektuell, seelisch, moralisch, kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Padre Mauzeroll hört auf Polizeiwachen und in Gefängnissen sehr häufig den Spruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die Gefängnisse und leitete die letzten sechs Jahren die Seelsorge. Was er täglich zu sehen bekommt, scheint kommerziellen Horrorfilmen entlehnt: Häftlinge verfaulen buchstäblich in ihren Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst Kriminelle, weil sie Kranke bewußt nicht behandeln, sie sterben lassen, dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen werden. Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die sehr wohl über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind und dennoch nicht eingreifen.
Gefängnisleitungen und Wärter ermöglichen den Drogenhandel und -konsum hinter den Gitterstäben. Ein Direktor zu Padre Mauzeroll: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Ein besonders finsteres Kapitel ist darüber hinaus die sexuelle Gewalt, die von perversen Aufsehern sogar gefördert wird. Padre Mauzeroll: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken ihn die Wärter extra in bestimmte Massenzellen, damit er dort von fünfzehn, zwanzig Häftlingen vergewaltigt wird. Das ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Selbst nach amtlichen Angaben haben sich bereits über zwanzig Prozent der Insassen mit dem Aids-Virus infiziert. Ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt, Promiskuität ist normal.
Vitor Carreiro teilte in Rio eine Zelle jahrelang mit 47 anderen Häftlingen, hat jetzt sichtbar Aids und sagt es deutlich: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” José Ferreira da Silva, ebenfalls HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern. Keiner hatte Präservative benutzen wollen.
“Wenn die Lage in den Gefängnissen in Sâo Paulo und Rio de Janeiro bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Gebieten des Nordens und Nordostens sein?” Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu so vielen Landsleuten um solche unbequemen Wahrheiten nicht. Er hat keine Probleme damit, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Doch wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel – Pistoleiros, Berufskiller, erledigen dies. Padre Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Sie ist schuld an der grauenhaften Situation!”
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor. 1992 wurden im Gefängnis Carandiru von Sâo Paulo mindestens 111 Insassen von Militärpolizisten massakriert. Politisch Verantwortliche und direkt Beteiligte blieben bisher straffrei. Die letzte Revolte in Carandiru ereignete sich Ende Oktober. 670 Gefangene nahmen dort 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Gefangene versuchten mit einem Müllfahrzeug zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Die Rechtanwältin Zoraide Fernandez weist noch auf eine besondere Absurdität hin. Tausende von Häftlingen werden nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang festgehalten, allein in Rio waren es 1995 mindestens 560. Hinzu kommen jene, die unrechtmäßig in die Zellen von Polizeiwachen gepfercht und dort mitunter regelrecht vergessen werden.
Staatspräsident Cardoso präsentierte in Brasilia mit großem Pomp einen “Nationalen Plan für Menschenrechte” – doch die Show stahl ihm Luiz Mott, intellektueller Führer der brasilianischen Schwulenbewegung. Weil die Homosexuellen in dem Dokument nicht einmal erwähnt werden, entrollte Mott ein Transparent “Gays querem Justiça”- (Schwule wollen Gerechtigkeit) und nannte Fakten zur systematischen Verfolgung der Homosexuellen in Brasilien.
Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und galten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kommandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmänner stoßen die beiden bis zur nahen Bahnlinie, dann krachen Pistolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ihrem Blut, stellen erschüttert Kerzen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Brasilien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Homosexuellen her. Seit 1980 wurden über 1300 Schwule ermordet, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr unvollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letzten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorurteile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens verschweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Sekretär für Menschenrechte der Brasilianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordostbrasilianischen Küstenmetropole Salvador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, verfolgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Machismus”, die Täter gingen gewöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter ermittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Gericht und wurden dann fast immer freigesprochen.
Archiv über Homosexualität
Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinamerikanischen Archiv über Homosexualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenvereinigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besucher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höflich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexuelle teilnehmen. Vor dem Abstieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präservative, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe besonders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vorsicht – suche Deine amantes besser aus”, steht groß auf Schautafeln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermorden!” Die Warnung ist nicht unbegründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salvador sauber – töte jeden Tag einen Homo!”
Erscheinungsebene – Wirklichkeit
Brasiliens Schwulenszene präsentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeitschriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen weiter, scheint sogar stark zuzunehmen. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Überlebenshandbuch” publiziert, das zahlreiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasilia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen bekannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.
Umfragen und Machismus
Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsentative Umfragen: So würden 36 Prozent der BrasilianerInnen einem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kollegen bewußt fernhalten, 56 Prozent würden zumindest ihr Verhalten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, akzeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Homosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne erzwingen müßten.
Politisches Asyl für Schwule
Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Tenorio, Luiz Mott trat in dem Asylverfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Medien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylstatus, wollen aber anonym bleiben, aus Angst, daß Familienangehörige in Brasilien Repressalien erleiden könnten. Eine unbekannte Zahl brasilianischer Homosexueller lebt illegal in den USA. Möglicherweise werden jetzt weitere einen Asylantrag stellen.
KASTEN
Staatstrauer für Ex-Diktator
Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im September 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso geladen worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Geisel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Orlando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die keineswegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, foltern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeitzeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Diktaturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Großteil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit begangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amtsvorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.
Hintergrund von 2001:
„Unerklärter Bürgerkrieg“ in Brasilien
Über 40000 Morde jährlich/Zunahme von Attentaten
Im Kontext der jüngsten internationalen Konflikte weisen brasillianische Experten immer nachdrücklicher darauf hin, welche hohen Menschenopfer der sogenannte „unerklärte Bürgerkrieg“ in Brasilien kostet. Wie die Universitätsprofessor und Politik-Berater Gaudencio Torquato jetzt in einer Analyse mit dem Titel „Wir und Afghanistan“ betonte, werden aus politischen und kriminellen Motiven selbst laut den geschönten offiziellen Angaben jährlich rund 40000 Menschen ermordet.
Hätte Deutschland, mit einer etwa halb so großen Bevölkerung, diese Rate, wären es pro Jahr etwa 20000 Getötete. Tatsächlich waren es im Jahr 2000 laut BKA-Angaben nur 1015.
Torquato zählte zu den Gründen der hohen Opferzahlen, daß die zehntgrößte Wirtschaftsnation anders als Afghanistan zwar sämtliche Hochtechnologie der letzten Generation nutze, die soziale Polarisierung zwischen den Privilegierten und den armen Schichten sich jedoch weiter verschärft habe. Die hohe Gewaltrate habe dazu geführt, daß nachbarschaftliches Zusammenleben immer weniger gepflegt werde, die brasilianische Gesellschaft sich von der menschlichen Solidarität verabschiede. Gängige Reaktion angesichts der täglichen Morde sei leider nur:“Gut, daß es mir nicht passiert ist.“
Derartige Verfallsprozesse resultieren laut Torquato aus einer „politisch-institutionellen Kultur“, die sich mit den alltäglichen Skandalen um hohe Volksvertreter und den Fällen von Regierungskorruption weiter degradiere.
Brasilianischer Menschenrechtsaktivist
“Generation eiskalter Killer“ wächst heran
Brasilien züchtet nach den Worten des angesehenen Menschenrechtsaktivisten Eduardo Capobianco „eine Generation eiskalter Killer“heran.“Sie töten einen Menschen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie eine Coca-Cola trinken“, sagte er im Dezember während der Auszeichnung mit einem Bürgerrechtler-Preis in Sao Paulo. Capobianco, Präsident von zwei regierungsunabhängigen Institutionen, die das organisierte Verbrechen sowie die tiefverwurzelte Korruption in Politik und Wirtschaft bekämpfen, hatte erst Anfang Dezember in der City der 17-Millionen-Stadt ein Attentat überlebt. „Brasilien hat gravierende soziale Ungleichheiten und eine kapitalistische Kultur, die auf dem Konsum basiert, Städte des Konsumismus wie Sao Paulo. Das stimuliert letztlich Gewalt – Armut allein ist dafür nicht verantwortlich zu machen.“ In entwickelten Ländern wie Japan entfalle statistisch pro Jahr ein Mord auf hunderttausend Einwohner – in einer Stadt wie Sao Paulo seien es dagegen gemäß offiziellen Zahlen immerhin fünfzig. Indessen gebe es bereits leichte Fortschritte bei der Verbrechensbekämpfung, die Arbeit seiner beiden Institutionen mißfalle der Gegenseite sehr und habe das Attentat bewirkt.
Capobianco überlebte den Anschlag nur, weil er eine Mappe mit Büchern vor die Herzgegend hielt, Kugeln darin steckenblieben bzw. nur seine Beine trafen. Weder die Polizei noch er selbst haben einen Hinweis auf die Täter und deren Hintermänner.
In den letzten drei Monaten kam es in Brasilien zu einer Attentatsserie, bei der mehrere Gewerkschaftsführer, ein progressiver Großstadtbürgermeister sowie Umweltaktivisten getötet wurden, Bombenanschläge forderten glücklicherweise keine Opfer. Eine bislang unbekannte rechtsextreme Organisation schickte Morddrohungen an 37 Bürgermeister der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT im Industrie- Teilstaat Sao Paulo, dessen Bruttosozialprodukt das von ganz Argentinien übertrifft.
Systematische Folterungen weiter alltäglich – trotz Anti-Folter-Gesetz
Menschenrechtler skeptisch über offizielle PR-Kampagne
Der Dreißig-Sekunden-TV-Spot ist gut gemacht, drastisch-realistisch: Ein Mann, halbnackt, blutend, gefesselt, wird von einem Sadisten gequält, mit dem Kopf immer wieder in einen Wassertank getaucht, soll Informationen preisgeben, ein Geständnis ablegen. Ein Dritter sieht die Szene, rennt zum Telefon, wählt die neue Gratis-Nummer von „SOS Tortura“, erstattet anonym Anzeige. Jeder sollte ab sofort genauso handeln, lautet der Appell an die Fernsehzuschauer – „denn Folter ist ein Verbrechen!“ Daß Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, jetzt auch in Rundfunk und Presse eine solche Medienkampagne starten ließ, einmalig in der Geschichte Brasilien, könnte die Menschenrechtler des In-und Auslands optimistisch stimmen. Doch Skepsis überwiegt. Befürchtet wird, daß Brasilia damit lediglich auf Imageverbesserung bei den Vereinten Nationen zielt. Deren Experte für Folterfälle, Nigel Rodley, hatte letztes Jahr nach einer Reise durch mehrere Teilstaaten die Zustände als erschreckend und eigentlich unbeschreiblich angeprangert. Nicht anders sieht es Amnesty International, stellte deshalb in der 17-Millionen-Stadt São Paulo, Lateinamerikas führendem Wirtschaftszentrum, im Oktober kurz vor Kampagnebeginn der brasilianischen Öffentlichkeit den neuesten Bericht über Folter und Mißhandlungen vor. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen, gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Laut Patrick Kopischke, Brasilien-Experte von Amnesty International, hat der starke politische Druck, die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, dazu geführt, daß Folter andere Ermittlungsmethoden ersetzt. Allein in São Paulo, wo über eintausend deutsche Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, ansässig sind, werden laut offiziellen Angaben monatlich über 440 Menschen ermordet. Zum üblichen Nachrichtenangebot der Radio-und TV-Stationen gehören die unaufhörlichen Gefangenenrevolten in den mit fast 100000 Insassen völlig überfüllten Polizeiwachen, Haftanstalten und provisorischen Gefängnissen der Metropole. Pro Monat werden rund eintausend weitere mutmaßliche oder tatsächliche Straftäter in teils fensterlose Zellen gepreßt, wo bereits bis zu 168 Männer auf einem Raum zusammenhocken müssen, der eigentlich nur für höchstens dreißig gedacht war. Wegen der schlechten Luft, der unhygienischen Zustände, des ständigen Fäkaliengeruchs und des damit verbundenen psychischen Drucks sind Aufstände die logische Folge – niedergeschlagen werden sie mit äußerster Brutalität, gibt es fast immer Tote. „Man greift auf Folter und Mißhandlungen zurück, um ein katastrophales Gefängnissystem unter Kontrolle zu halten“, betont deshalb Kopischke, grundlegende Reformen seien nötig, nicht nur kosmetische Verschönerungen. Aktivisten von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen Brasiliens empört zudem besonders, daß das auf ihren Druck hin erlassene Anti-Folter-Gesetz von 1997 an den Zuständen kaum etwas änderte, Täter gewöhnlich straffrei ausgehen, selbst aus der Diktaturzeit berüchtigte Folterer weiter im Dienst sind. Gemäß neuen UNO-Angaben verzeichnet der Teilstaat Minas Gerais die meisten bekanntgewordenen Folterfälle, ist die Polizeibrutalität traditionell besonders hoch. Dies gilt als Erbe des Militärregimes(1964-1985), als Fachleute der CIA gemäß Angaben von Zeitzeugen den Militär-und Zivilpolizisten in Kursen auch Foltertechniken beibrachten. „Heute noch sind es die gleichen“, so der renommierte Menschenrechtsanwalt Antonio Aurelio, „vor allem Elektroschocks, Aufhängen kopfunter an einer Stange, Eintauchen in Wassertanks, Schläge auf beide Ohren, Erstickungsanfälle mittels über den Kopf gestülpten Plastiksäcken“. Im Juni letzten Jahres wurden in einer Polizeiwache São Paulos etwa zweihundert Gefangene, einer nach dem anderen, völlig unbekleidet, mit Elektroschocks gepeinigt. Bei weiteren Mißhandlungen starb ein Insasse, dreißig weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Die beteiligten Polizeikommissare sind weiterhin im Dienst. Beim Interview mit dem Polizeichef einer nordostbrasilianischen Stadt fand dieser nichts dabei, den an den landesüblichen Elektroschock-Apparaturen verwendeten Regler sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen.
Über 40000 brasilianische Kinder arbeiten auf stinkenden Müllbergen
Unicef und NGO entwickeln Alternativprojekte
Im Kriechgang, fast mit Vollgas, arbeitet sich der Müll-LKW in Serpentinen fast bis zur Haldenspitze vor, kippt dort, an der Peripherie der 17-Millionen-Stadt São Paulo, bei 35, 40 Grad Tropenhitze stinkende Abfälle aller Art ab. Auf diesen Moment haben Schwärme von Schmeißfliegen, aber auch Dutzende von Kindern und Jugendlichen nur gewartet. Mit Säcken über der Schulter stürzen sie sich auf die Ladung, sinken bis zu den Knien ein, wühlen neben schwarzen Aasgeiern nach Essensresten, Glas-und Plastikflaschen, Papier und Getränkebüchsen aus Aluminium. Alles wird getrennt, sortiert, ein Stück entfernt bei anderen Familienmitgliedern angehäuft, Alu-Büchsen tritt man mit dem Fuß platt. Metallfirmen oder Papier-und Textilfabriken nehmen alles für lächerlich geringe Preise ab – jedes dreckverschmierte, oft von Hautkrankheiten gezeichnete Müll-Kind kommt pro Tag höchstens auf umgerechnet vier, fünf Mark – überlebenswichtig für die Familien an der Slum-Peripherie von Lateinamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive, aber auch von Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder Recife. In ganz Brasilien sind es über vierzigtausend „Crianças do Lixo“, Müll-Kinder – die nie zur Schule gehen, oder es aufgaben, weil man sie lächerlich machte, diskriminierte. Vor ein, zwei Jahren waren es indessen noch über dreizehntausend mehr – bevor das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die regierungsunabhängige Organisation „Agua e Vida“(Wasser und Leben) Projekte starteten, Druck auf den Staat, lokale Behörden ausübten, um diese schändliche Form der Kinderarbeit zu bekämpfen.
Hautkrankheiten, Cholera
Daß Minderjährige in einem Land, das zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehört, den ganzen Tag im Müll waten müssen, anstatt zu spielen und zu lernen, nennt Afonso Lima, Unicef-Mitarbeiter in São Paulo, einfach entsetzlich, unmenschlich. Die Regierung hat zudem internationale Konventionen, darunter gegen Kinderarbeit unterzeichnet, die derartiges eigentlich verbieten. „Weil die meisten Kliniken ihre sämtlichen Abfälle unsortiert und unbehandelt ebenfalls auf die Halde kippen, können sich die Kinder sogar gefährliche Krankheiten holen, finden Spritzennadeln, Chemikalien aller Art.“ Für seine Kollegin Paula Claycomb aus den USA fehlt es auch an politischem Willen. „Die brasilianische Gesellschaft muß endlich verstehen, daß stinkende Abfallhalden nicht der richtige Ort für Kinder sind.“ Dabei wurde bereits eine Menge erreicht: Unicef und die NGO „Agua e Vida“ brachten in geduldiger Überzeugungsarbeit Gouverneure und viele Gemeinden dazu, Mittel für die Gründung von Müll-Recycling-Kooperativen freizugeben, sogar Gebäude bereitzustellen. Der Vorteil: Wiederverwertbares wird bereits an Wohngebäuden, Supermärkten, Bürohäusern aussortiert – und nicht erst, mit organischen Abfällen verschmutzt, auf der Halde. Resultat: Das Familieneinkommen steigt, die Kinder brauchen nicht mehr mitzuarbeiten, gehen stattdessen zur Schule. Eine geringe staatliche Hilfe von monatlich umgerechnet über zehn Mark pro Kind wird auch an viele andere verelendete Familien nur gezahlt, wenn sie ihre Kinder kontinuierlich in die Schule schicken. „Und das funktioniert“, bekräftigt die NGO-Koordinatorin Teia Magalhaes in São Paulo. „Nur ist es leider oft so: Wir holen eine Familie aus dem Müll, doch andere treten sofort an deren Stelle – Folge der Misere in Brasilien.“ Da die Cholera im Lande längst nicht ausgerottet ist, man sich gerade auf den riesigen Abfallbergen leicht anstecken kann, verbreitet Teia Magalhaes auch ein entsprechendes Aufklärungs-Video, organisiert zusammen mit Präfekturen Musik-und Tanzkurse, um frühere „Crianças do Lixo“ in der Schule zu halten, an Kultur heranzuführen.
Banker und Müllsammler
Auch über Lateinamerikas Wallstreet, die Banken-Avenida Paulista, zerren täglich ungezählte schwitzende, zerlumpte Catadores do Lixo, Müllsammler, ihre hölzernen Karren, hochbeladen mit Verpackungen und anderem Material. Eigentlich sollten die Catadores allen Respekt verdienen: Nur ihnen ist es zu verdanken, daß immerhin achtzig Prozent der Aluminium-Getränkebüchsen, siebzig Prozent der Pappe und dreißig Prozent der Flaschen recycelt werden. Nur hier und da trifft man bereits auf jene Hausmüll-Container wie in Deutschland – ausgerechnet in einem Drittweltland wie Brasilien ist Ressourcenverschwendung weiterhin die Regel. Was vergeudet wird, ob Nahrungsmittel, Strom oder Wasser, hat laut neuesten Studien immerhin einen Wert von jährlich umgerechnet über einhundert Milliarden Mark. Besonders provozierend in einem Land mit ernsten Hungerproblemen: Was São Paulos Supermärkte an Lebensmitteln wegwerfen, reichte wertmäßig bequem aus, um monatlich 600000 Slum-Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Padre Julio Lancelotti kämpft gegen Folter an Kindern und Jugendlichen
Hohes Lebensrisiko, Morddrohungen, tätliche Angriffe
Auch von Unicef wegen Engagements für Kinderrechte ausgezeichnet
„Erstmals konnten wir jetzt achtzehn Aufseher, sogar drei Direktoren, wegen Folter vor Gericht bringen“, sagt Padre Julio Lancelotti im Büro des von ihm geleiteten „Zentrums zur Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ der Millionenstadt São Paulo. Aber Freude, Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg ist ihm nicht anzumerken. Denn auf einen Schlag hat er damit noch mehr erbitterte Feinde unter den Mitarbeitern der gefängnisähnlichen Anstalten für straffällig gewordene Minderjährige(Febem). Von den letzten Attacken hat er sich noch nicht erholt: Als in einer Febem-Einheit wiederum Jugendliche gegen Mißhandlungen, Überfüllung rebellierten, fuhr er sofort hin – eine Gruppe von Febem-Angestellten schlug ihm Zähne aus, trat auf ihn ein, zerbrach die Brille. Militärpolizisten schauten bewußt eine ganze Weile zu, griffen erst spät ein. „Sogar das Kreuz, das ich um den Hals trug, ein Geschenk aus Osnabrück, wurde mir abgerissen – hier ist die Situation eben längst außer Kontrolle.“ Lancelotti, der auch ein Heim für Aids-infizierte Kinder führt, erhält regelmäßig Morddrohungen – andere Pfarrer São Paulos haben ihr Engagement für Menschenrechte bereits mit dem Leben bezahlt – in Brasilien kommt es täglich zu politischen Morden, Attentaten. Theoretisch können er und seine Anwälte sich auf das Anti-Folter-Gesetz, das Statut zum Schutze der Heranwachsenden berufen. „In Brasilien dominiert aber leider Straflosigkeit, Folterer bleiben gewöhnlich ungeschoren, werden nicht einmal entlassen, sind durch die Autoritäten geschützt.“
„Kultur der Folter“
Daß die Gesetze nicht funktionieren, erklärt Lancelotti mit für manchen Europäer sicher überraschenden Gründen:“In diesem Land existiert die Sklavenhalterkultur, auch eine Kultur der Folter weiter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Im Teilstaate São Paulo, dem reichsten ganz Brasiliens, mit weit über eintausend deutschen Unternehmen, sind in den Febem-Anstalten derzeit mehr als viertausend Heranwachsende konzentriert, täglich kommen etwa dreißig hinzu. Wo eigentlich gemäß den Vorschriften nur Platz für sechzig Minderjährige ist, werden in Zellen bis zu vierhundert zusammengepfercht, sind gewöhnlich völlig sich selbst überlassen. „Als letztes Jahr der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nigel Rodley, hier war, erklärte man ihm allen Ernstes, Jugendliche hätten sich Verletzungen selber beigebracht, im Streit miteinander.“ Der Padre, die eng mit ihm kooperierende Anwältin Francisca de Assis Soares, wissen von solchen Fällen, auch von sexueller Gewalt unter den Jugendlichen. Doch das sind Ausnahmen. Die Struktur dieser Anstalten ziele auf Unterdrückung, Entwürdigung, Verrohung – „über viele besonders sadistische Folterungen“, so Lancelotti“, reden wir öffentlich gar nicht mehr, weil es uns ja doch keiner glaubt.“ In einer Febem-Anstalt hatte man allen Ernstes Skinheads angestellt, wegen ihrer Aggressivität von den Minderjährigen nur „Pitbulls“ genannt.
Sadismus der Aufseher
Bekommen Lancelotti und sein Team Wind von Mißhandlungen, fahren alle sofort los, um gerichtsverwertbare Beweise zu sammeln, Torturen zu unterbrechen. „In einer Anstalt trafen wir auf über vierzig gefolterte Jugendliche – mit schweren Verletzungen, gebrochenen Armen und Beinen!“ Rebellieren Insassen einer Febem-Einheit, toben sich bei der Niederschlagung Aufseher, herbeigerufene Polizisten sadistisch aus.“Jugendliche mußten tagelang nackt hintereinander aufgereiht und aneinandergepreßt auf dem Boden hocken, das Geschlechtsteil am Gesäß des Vordermanns, durften nur in Plastikflaschen urinieren, die man dann über ihnen ausschüttete. Scharfe Hunde wurden rudelweise zwischen die Insassen gehetzt – wer deshalb aufstand, erhielt sofort Schläge. Und selbst das – Wärter zwingen Jugendliche, auf andere Insassen zu urinieren. Alles Folterpraktiken, tief entwürdigend!“
Aber könnte die Mitte-Rechts-Regierung unter Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Bewohner São Paulos, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, diese Zustände nicht ändern? „Brasilien ist nur eine formale Demokratie“, analysiert Lancelotti, „die Politiker in Brasilia leben wie auf einem anderen Planeten, fern der Realität, wollen von diesen Dingen nichts wissen – Zugang zu Präsident Cardoso haben wir nicht.“ Bestenfalls mit Galgenhumor registriert der Padre, welches Prestige Cardoso gerade in Europa, auch in Deutschland genießt:“Der Präsident führt sich wie ein Prinz auf, erhält überall Doktortitel. Aber wenn man in europäischen Zeitungen oder in der Genfer UN-Menschenrechtskommission über diese Zustände hier spricht – das mag er, seine Regierung, garnicht.“
Lancelotti räumt ein, daß ihn die Menschenrechtsarbeit zugunsten der Minderjährigen Brasiliens streßt, psychisch ermüdet. „Der Haß auf uns ist groß, wir werden verfolgt, lächerlich gemacht, sind nur wenige – und die Folter nimmt zu!“ Mit seiner Wochenkolumne in einer Tageszeitung São Paulos erreicht er wenigstens einen Teil der Öffentlichkeit. Und ein bißchen Mut macht, daß ihn das UN-Kinderhilfswerk Unicef im neuesten Jahresbericht ausdrücklich als Anwalt der Heranwachsenden Brasiliens hervorhebt.
Manche Medien berichten über Brasiliens gravierende Menschenrechtslage – andere nicht.
The best of non-profit advertising and marketing for social causes
Posted by Marc | 12-05-2008 23:21 | Category: Human rights, Media
Two ads from Associação Brasileira de imprensa, the Brazilian press organisation.
Copy: “A censura nunca desiste. Ela sempre volta disfarçada. 3 de Maio Dia Mundial da Liberdade de Imprensa.”
“The censorship never gives up. It always return disguised. 3th of May, world day for the freedom of press.”
I have seen more censorship ads from Brazil in the past. What going on? Is censorship a big problem in Brazil?
”Leider sind es nicht mehr so viele, die die ganze Wahrheit wissen wollen. Man biegt sehr schnell ab, um bei seiner Meinung bleiben zu können – und bei den als angenehm empfundenen Lösungen. Ich habe mir angewöhnt, Leute danach zu beurteilen: Wieviel Wahrheit erträgt jemand?” Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke im Website-Interview 2009.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/07/eu-lateinamerika-karibik-stiftung-startet-in-hamburg/
Tags: Brasiliens Gefängnisse, Carandiru-Massaker, Folter, Massaker
O ATO DO DIA 02 DE OUTUBRO: “CARANDIRU 20 ANOS: NUNCA MAIS?”
Lulas Menschenrechtsbilanz zweier Amtszeiten hat die politische Glaubwürdigkeit seiner Regierung in europäischen Ländern offenbar sehr stark erhöht.
Leonardo Boff 2010 :“Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Überlebender von Carandirú.
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
Padre Valdir Joao Silveira erläutert gegenüber den nationalen TV-Sendern die weiterhin gravierende Situation in den brasilianischen Gefängnissen.
“O massacre não terminou e continua em nossas periferias com chacinas de população de rua e pessoas pobres. Com o ato de hoje, queremos dar início a uma grande discussão, durante todo o ano, até completar os 20 anos do massacre, sobre a segurança que temos e a segurança que queremos.”
“Movimento Maes de Maio” – Mütter von Ermordeten erinnern an die Blutbäder des Mai 2006.
http://maesdemaio.blogspot.com/2011/10/repercussoes-do-ato-carandiru-19-anos.html
Trailer des Carandirú-Films nach dem Buch von Drauzio Varella – anklicken:
http://www.youtube.com/watch?v=ZlTPEmjyyvI
http://www.youtube.com/watch?v=ZlTPEmjyyvI
(gesamter Film bei YouTube abrufbar)
Poet über Rassismus, die Lage in den Elendsvierteln Brasiliens.
1985 pfeifen Brasiliens rechtsgerichtete Machteliten die Militärs nach 21 Diktaturjahren zurück in die Kasernen – Carandiru wird zur Hölle erst in der „Demokratie”. Sao Paulos regimekritischer Kardinal Evaristo Arns ist Augenzeuge:”Über fünfzig Aidskranke im Endstadium liegen auf dem Boden und spucken Blut – schier unbeschreibliche Zustände!”
Sprecher zahlreicher Menschenrechtsgruppen vergleichen Diktaturgewalt mit heutigen Menschenrechtsverletzungen, darunter Folter und Blutbädern.
Deutscher evangelischer Pastor Wolfgang Lauer, Gefangenenseelsorger in Sao Paulo.
Aus gebrochenen, undichten Rohren fließen Abwässer, Scheiße und Urin über den Zellenboden, bei Sommerhitze bis über fünfzig Grad werden Gefangene von dem Gestank ohnmächtig, oder schier verrückt, rebellieren, attackieren die eigenen Zellennachbarn. „Für mich sind solche Knäste Konzentrationslager”, sagte der in Sao Paulo lebende Menschenrechtsaktivist und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic aus Österreich – er schreibt UNO-Dossiers, kaum einer kennt Carandiru besser. (Hintergrundtext)
Hintergrund – Ferrez – Notizen von der Stadtkriegsfront:
2007 Gast des Berliner Literaturfestivals
Der Irak und der Libanon sind täglich wegen der vielen unschuldigen Gewaltopfer in den Schlagzeilen – Brasilien nicht. Obwohl gemäß brasilianischen Erhebungen in dem Tropenland jährlich weit mehr Menschen umkommen als im Irakkrieg und die Folter alltäglich ist.
Ferrez, mit bürgerlichem Namen Reginaldo Ferreira da Silva, wurde unfreiwillig zum Frontberichterstatter im brasilianischen Stadtkrieg, weil er als einziger Romanautor an der von extremer Gewalt geprägten Slumperipherie der Megacity Sao Paulo lebt. Ferrez, dessen Bücher bei einem angesehenen brasilianischen Verlag erscheinen, bereits ins Französische, Spanische und Italienische übersetzt wurden, erhält wegen seines literarischen und politischen Engagements Morddrohungen, ist in Lebensgefahr.In den Slums ist Bücherlesen Luxus, die meisten Bewohner sind zudem funktionelle Analphabeten. Ferrèz wurde deshalb auch zum Rapper, ist in den Ghettos dadurch bekannter als durch seine Bücher.
Vom Goetheinstitut Sao Paulos bis zum Slumviertel Capao Redondo sind es mit den entsetzlich lauten, überfüllten Vorstadtbussen etwa drei Stunden. Aber wer in Brasilien nicht Bus fährt, sagt ein bekannter Schriftsteller, weiß nichts vom wirklichen Leben. In Capao Redondo hausen eine Million Menschen, darunter Ferrèz. 2006 führt das größte brasilianische Verbrechersyndikat PCC, Erstes Kommando der Hauptstadt, eine nicht endende Serie von Terroranschlägen gegen den Staat, erschießt an der Peripherie täglich Polizisten, Gefängniswärter und deren Angehörige – Ferrèz liefert als einziger fundierte Berichte von der Front: In seinen Büchern, seiner Zeitschrift, seinem Blog analysiert er Gewalt und Gegengewalt, die Rachefeldzüge der Polizei. Weit über sechshundert Tote werden gezählt, die meisten in Capao Redondo.
–”Krieg in den Slums, Panik in den Nobelvierteln”
Wir reden am Kaffeestand, im Krach einer vollen Bäckerei miteinander, hier fühlt sich Ferrèz sicher. ”Für mich ist das hier schon immer wie im Krieg. Doch die Eliten haben es erst jetzt, in diesen Tagen, wegen der Attentatswelle gespürt. Da haben sie in ihren Nobelvierteln die Panik gekriegt, sich verbarrikadiert und versteckt. Nur – so leben wir doch schon jahrelang. Durch Morde habe ich über zwanzig meiner Freunde verloren, das ist normal hier. Man tötet wahllos, wegen Banalitäten. Als ich mal in Spanien war, redeten die Leute, die Medien drei Wochen von einer ertrunkenen Frau. Ich dachte anfangs, ertrinkt hier jeden Tag eine? Bis ich mitbekam, es ist immer die selbe. Dort schockt die Leute noch der Tod. Hier redet man nicht mal mehr von den Toten, weil es zu viele sind. Wenn ich auf der Straße gehe, den Falschen treffe, killt der mich. Und wenn ich mal mit einem Verkäufer diskutieren würde, wäre möglich, daß der den Revolver zieht und mich erschießt, obwohl du neben mir stehst. Kürzlich rede ich mit vier Bekannten auf der Straße. Als ich gerade weg bin, kommt ein Killerkommando, erschießt die vier. Wäre ich noch da gewesen, hätten sie mich mit erschossen. Dazu kann man doch nicht schweigen. Capao Redondo – das ist wie ein Extra-Land, es ist dieses Brasilien, das in Deutschland und anderswo gewöhnlich nicht wahrgenommen wird. Dort denkt man bei Brasilien meist nur an Exotismus, Mulattinnen, Tropenwälder. Das hier ist völlig anders.” Ferrèz erwähnt in seinen Büchern die in Brasilien übliche Lynchjustiz, die nur zu oft Unschuldige trifft. Und auch die in den Favelas übliche Abtreibung mittels Medikamenten. Frauen legen die toten Föten nicht selten gleich auf der Straße, auf dem Fußweg ab.
Als Ferrèz mit seinen Blog-Frontberichten beginnt, stellen Brasiliens Medien die Sache noch so dar, als ob die Polizei lediglich auf die PCC-Attacken reagiert, die gefährlichsten Verbrecher bekämpft. Doch Ferrèz beobachtet, daß es meistens Unschuldige trifft, damit Haß und Gewalt in der Gesellschaft weiter geschürt werden. ”Ich mache den Versuch, der herrschenden Elitemeinung etwas entgegenzustellen. Denn die Eliten stimulieren ja das Morden, die Vorurteile gegen Slumbewohner. Vierzig Prozent der Getöteten hier waren junge Pizza-Austräger, die nachts mit ihren Motorrädern zu den Kunden fahren. Die Polizei feuerte einfach auf Leute, die gerade auf der Straße waren. Niemand prangerte das an, niemand sprach darüber, das hat mich beeindruckt. Und ich sagte mir, dann muß ich es eben tun. Also habe ich den Mund aufgemacht, und das hatte Wirkung. Die Polizei wurde angewiesen, vorsichtiger, weniger brutal vorzugehen. Man sagte den Beamten, Vorsicht, da gibt es jetzt welche, die darüber berichten. Doch mich bedrohen sie mit Mord.”
Ferrez, der früher Besenverkäufer und Bauhilfsarbeiter war, hat sich deshalb eine Weile versteckt, geht jetzt nachts nicht mehr aus dem Haus. Er wirkt fatalistisch, ohne Angst vor dem Tod. ”Ich lebe mit Mord und Tod seit meiner Kindheit. Als ich acht war, sagte mein Vater, vor unserm Haus liegt ein Erschossener. Da bin ich hin und habe mir den genau angesehen. Unglücklicherweise haben wir uns hier an die Gewalt gewöhnt. Klar, ich hoffe, daß mir nichts passiert, aber ich mache mir um den Tod auch keine Sorgen. Denn ehrlich gesagt, ich habe doch alles erreicht, was ich wollte. Ich habe ein Buch geschrieben, das sich verkauft, ich habe meiner Mutter, meiner Frau ein besseres Leben schaffen können. Jetzt habe ich keine Träume mehr, ich bin hoffnungslos, weil sich diese Realität hier nicht bessert, nur alles schlechter wird im Viertel. Ich sehe keine Ehrlichkeit, keinen guten Willen bei den brasilianischen Politikern, den Eliten, nicht mal in unserm Volk. Schau den Leuten ins Gesicht, da siehst du Traurigkeit. Sie engagieren sich nicht, ergeben sich dem Zuckerrohrschnaps, sind mutlos. Hier laufen nur Körper rum, haufenweise, ohne Richtung, Orientierung. Da ist es schwierig, etwas zu erreichen. Gut, andererseits kämpfe ich ja jeden Tag. Tagsüber würde mir die Polizei nichts tun, da gäbe es zu viele Zeugen. Außerdem gibt es Polizisten, die sehen die Lage wie ich. Aber nachts gehe ich nicht raus, oder übernachte dort, wo ich grade bin.”
–Lula und die Slums”
In Deutschland denken viele, Staatschef Lula macht progressive Politik, auch für einen wie dich, für die Leute im Slum. Lula spricht doch jeden Tag von Riesenerfolgen?
„Die Lula-Regierung ist weniger schlecht als die vorangegangene, ist das kleinere Übel. Aber was hat sich denn seit Lulas Amtsantritt getan? Es gibt nicht mehr Arbeit. Daß sich für die Slumperipherie was verbesserte, ist einfach nicht wahr. Für die Unternehmer sieht die Sache natürlich ganz anders aus.”
Drei Viertel der 185 Millionen Brasilianer, so sagen neue Studien, sind nicht in der Lage, einen einfachen Zeitungs-oder Buchtext zu lesen und zu verstehen. Das vereinfacht die Manipulierung der Pflichtwähler kolossal, dient Neopopulisten wie dem Staatschef ungemein. (Wer nicht wählt, kriegt auch unter Lula keine Arbeit im öffentlichen Dienst, keinen Reisepaß etc.- wie wäre das in Deutschland?)
Aber wer sind dann die Leser von Ferrèz? Sein Buch „Capao Pecado” produzierte er selber, zog fünfzig Kopien, verteilte es unter Freunden und Bekannten des Viertels. Manche von denen arbeiten für die Mittel-und Oberschicht als Hausdiener, Wächter, zeigten es den Arbeitgebern. Manche bestellten „Capao Pecado” daraufhin bei Ferrèz, der die Bücher persönlich zu deren Villen brachte, sie dort den bewaffneten Wächtern übergab, die Besteller nicht zu Gesicht bekam.
”Ja, so lief es – die Peripherie hat das Buch den Betuchten gezeigt, jetzt ist es bei einem Verlag in der fünften Auflage. Das System hatte für mich nichts vorgesehen, also habe ich mich auf meine Weise organisiert, mache meine Literatur. Als ich in einer Bäckerei arbeitete, habe ich nebenher was auf Zettel gekritzelt, daraus dann zuhause eine Geschichte montiert. Das lesen jetzt sogar Leute aus der Upperclass. Manche von denen sagen mir, Puta, du hast Recht, die Oberschicht ist idiotisch, die will sich nicht ändern. Dreihundert Familien besitzen achtzig Prozent allen Einkommens, allen Geldes “ wir kriegen nur den allerletzten Rest. Ja, unsere Eliten handeln selbstmörderisch, suchen sich in ihren Privilegiertenghettos abzuschotten, langfristig planen die ihren eigenen Tod. Das kann hier alles mal explodieren. Den Aufstand dieses Verbrechersyndikats, das sich immer besser in den Slums organisiert, konnten sie nicht verhindern “ auf einen Schlag hundert tote Polizisten, brennende Banken und Staatsgebäude. Morgen könnten sich viele das als Beispiel nehmen, es intelligenter anstellen, eine revolutionäre Organisation schaffen. Und wenn es dann losbricht, kann es keiner aufhalten. Dann werden die Eliten wieder mit Gewalt antworten. Die jungen Menschen hier haben doch keinerlei Perspektiven. Frag hier mal ein Kind, was willst du denn werden? Da lacht es dich aus, sagt, ich will nichts werden, wie sollte ich denn? Mein Bruder ist 18, kann nicht mal richtig lesen “ die öffentlichen Schulen formen doch nur funktionelle Analphabeten.”
–Rap, Chico Cesar, Arnaldo Antunes, Paulo Lins”
Daher ist Rap an der Peripherie wichtiger als das Buch, um die Bewohner zu erreichen. In Capao Redondo kennt man Ferrèz daher mehr wegen seiner Rap-Konzerte, der Rap-CD „Determinaçao”, auf der er mit Chico Cesar und Arnaldo Antunes zu hören ist . Beide suchten Kontakt zu Ferrèz, wollten von ihm Texte, wollten mit ihm auftreten.
Ferrèz ist inzwischen mit dem Schwarzen Paulo Lins aus Rio de Janeiro befreundet. Lins schrieb den Slum-Roman „Cidade de Deus”, Gottesstadt. Der wurde verfilmt “ war auch in Deutschland als „City of God” ein Erfolg, zeigte das andere Brasilien “ und auch die Lächerlichkeit so vieler Brasilienklischees von Traumstränden, Karneval und Lebenslust. Die Produzenten von „City of God” werden jetzt das neue Buch von Ferrèz verfilmen “ „Manual pratico do Odio”, praktische Anleitung zum Haß. „Das Leben ist hart an der Peripherie. Die Leute lieben und hassen in gleichem Maß.”
2009 wird eine abschließende Universitätsstudie über die PCC-Rebellion vom Mai 2006 veröffentlicht: Danach wurden zwischen dem 12. und 21. Mai 2006 im Teilstaat Sao Paulo 564 Menschen erschossen – 59 waren öffentliche Bedienstete, meist Polizisten, die restlichen 505 Zivilisten. 118 davon wurden bei Zusammenstößen mit der Polizei getötet, die weiteren bei summarischen Exekutionen, teils von Kapuzen-Männern verübt.
2 de outubro de 1992: uma pequena desavença entre presidiários do pavilhão 9 da Casa de Detenção do Carandiru se transforma em uma rebelião desprovida de viés reivindicativo ou de fuga. Apesar disso, o Governo estadual da época determinou a invasão da Casa de Detenção por centenas de policiais militares que exterminaram a sangue frio 111 pessoas desarmadas e desesperadas. Foi a maior chacina da história do sistema penitenciário brasileiro.
Passadas quase duas décadas dessa “página infeliz de nossa história”, os tijolos da Casa de Detenção foram deitados ao chão e, no seu lugar, foi erigido o sugestivo Parque da Juventude. Todavia, a construção de um parque para a juventude no lugar de uma unidade de aprisionamento da juventude não significou, infelizmente, qualquer mudança na política criminal do Estado: após todos esses anos, ninguém foi responsabilizado pelos 111 assassinatos!
Pior: ainda hoje, divisamos jovens, em regra pobres e negros, sendo perseguidos pelo aparato repressor estatal. Quando conseguem driblar a morte, caem na vala imunda e cada vez mais superlotada do sistema carcerário (de 1992 para cá, a população prisional cresceu mais de 400% contra pouco mais de 27% de crescimento da população brasileira).
Diante desse quadro desafiador, movimentos e entidades da sociedade civil organizada e alguns órgãos públicos planejam uma grande articulação em torno do vintenário do massacre do Carandiru, com a pretensão de pautar diversas ações para promover a responsabilização do Poder Público e também para trazer ao debate público o tema da segurança pública e da cidadania.
Como pontapé inicial dessa articulação, promoveremos um ato em memória aos 19 anos do massacre. Será nesse domingo, dia 02.10.2011, A PARTIR DAS 15HS, NO PARQUE DA JUVENTUDE.
Assinam:
ACAT-BRASIL, AMPARAR, ASSOCIAÇÃO JUÍZES PARA A DEMOCRACIA (AJD), ASSOCIAÇÃO NACIONAL DE DEFENSORES PÚBLICOS FEDERAIS (ANADEF), ASSOCIAÇÃO PAULISTA DE DEFENSORES PÚBLICOS (APADEP), CENTRO ACADÊMICO XI DE AGOSTO, CENTRO PELA JUSTIÇA E DIREITO INTERNACIONAL (CEJIL), CÍRCULO PALMARINO, COLETIVO 2 DE OUTUBRO, COLETIVO CINE BIJOU – CINEMA E MEMÓRIA, COLETIVO PERIATIVIDADE, COLETIVO VÍDEO POPULAR, COMISSÃO DE JUSTIÇA E PAZ, COMISSÃO TEOTÔNIO VILELA, CONSELHO ESTADUAL DE DEFESA DOS DIREITOS DA PESSOA HUMANA (CONDEPE), COOPERIFA, DEFENSORIA PÚBLICA DA UNIÃO EM SÃO PAULO, ESPÍRITO DE ZUMBI, ESTUDO, COMIDA E CIDADANIA (ECC), FÓRUM DE HIP-HOP, GELEDÉS, GEPEX – SEGURANÇA PÚBLICA, JUSTIÇA CRIMINAL E DIREITOS HUMANOS DA UNIFESP/BS, GRUPO CULTURAL MARACATU BOIGY, GRUPO TORTURA NUNCA MAIS – SP, IDENTIDADE – GRUPO DE LUTA PELA DIVERSIDADE SEXUAL, INSTITUTO PRÁXIS DE DIREITOS HUMANOS (IPDH), INSTITUTO TERRA, TRABALHO E CIDADANIA (ITTC), INSTITUTO UMOJÁ, JUSTIÇA GLOBAL, LUTA POPULAR, MÃES DE MAIO, MARGINALIARIA, MOVIMENTO NACIONAL DA POPULAÇÃO DE RUA, MOVIMENTO NACIONAL DOS DIREITOS HUMANOS, MOVIMENTO NEGRO UNIFICADO, NSN, NÚCLEO DA SITUAÇÃO CARCERÁRIA DA DEFENSORIA PÚBLICA DO ESTADO DE SÃO PAULO, NÚCLEO DE PRESERVAÇÃO DA MEMÓRIA POLÍTICA, NÚCLEO ESPECIALIZADO DE CIDADANIA E DIREITOS HUMANOS DA DEFENSORIA PÚBLICA DO ESTADO DE SÃO PAULO, OS CRESPOS, PÂNICO BRUTAL, PASTORAL CARCERÁRIA, PASTORAL DA JUVENTUDE, QI ALFORRIA, QUILOMBAQUE PERUS, REDE EXTREMO SUL, SARAU DA ADEMAR, SARAU DA BRASA, SARAU ELO DA CORRENTE, SARAU DOS MESQUITEIROS, SARAU VILA FUNDÃO, SINDICATO DOS ADVOGADOS DO ESTADO DE SÃO PAULO, TRIBUNAL POPULAR, UNEAFRO-BRASIL, VERSÃO POPULAR
http://www.pucsp.br/fecultura/textos/pessoa_sociedade/12_dentro_terror.html
http://www.controversia.com.br/index.php?act=textos&id=10034
Viel Lob in Europa für Lulas Politik:
Rainer Stadler, NZZ:
“Die Stresssymptome sind bereits jetzt unübersehbar. Was man aus ökonomischer Sicht gelassen als Verdrängungswettbewerb bezeichnen kann, bedeutet in publizistischer Hinsicht: schmalbrüstige Redaktionen, schrumpfende Kompetenz bei der journalistischen Bewältigung der nahen und fernen Ereignisse, aggressivere Schlagzeilen als Folge wachsender Ahnungslosigkeit, Hysterien, Missachtungen der Unschuldsvermutung und mehr Übergriffe in die Privatsphäre, weil gerade dort attraktive Unterhaltungsstoffe zu holen sind.
Was sonst Wirtschaftsmanagern vorgeworfen wird – der bloss kurzfristige Blick auf die Quartalszahlen –, ist im Journalismus weiterhin das dominierende Richtmass: die Deadline, der Redaktionsschluss. Er gewährt in der Internet-Ära kaum noch Besinnungszeit. Das ist umso verheerender, wenn es an Ressourcen mangelt. Die Gefahr schrumpfender publizistischer Kompetenzen kontrastiert scharf mit den wachsenden Ansprüchen einer Gesellschaft, die auf die Vermittlung von komplexem Wissen angewiesen wäre. Sie begibt sich im «Easy-News-Jet» auf einen gefährlichen Blindflug.
Der Ausleseprozess wird schon bald den Blätterwald drastisch auslichten. Es entsteht eine andere (Medien-)Schweiz. Die Annahme, dass künftig gerade noch zwei bis drei Medienunternehmen den hiesigen Markt prägen werden, scheint nicht mehr abwegig. Die Spannung zwischen dem von Zürich aus gesteuerten Kommunikationsmarkt und der föderalistisch geprägten politischen Schweiz wird wachsen, die gesellschaftliche Verständigung wird unübersichtlicher und instabiler.”
BRASILIEN
Die “Hölle auf Erden”
Revolten, Hungerstreiks und Aids bestimmen den Alltag in den völlig überfüllten brasilianischen Gefängnissen. Brasilien gilt zwar als die zehntgrößte Wirtschaftsnation, leistet sich aber Haftanstalten, die man eher in Ruanda oder Burundi vermuten würde. Eine im April verkündete Amnestie entspannte die Situation nicht.
Eine mittelalterlich anmutende Gefangenenzelle in Rios Stadtteil Realengo: Jeder der mehreren Dutzend Insassen hat laut Gesetz Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter – hier ist es nicht mal ein einziger. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil der Gefangenen auf feuchtem Boden liegt, schlafen die anderen in Hängematten, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern bei beißendem Fäkaliengeruch und nächtlichem Besuch von Ratten. Die psychische Spannung ist fast mit Händen greifbar. Neun von zehn Gefangenen haben Furunkel, in der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu 60 Grad. Dann fallen täglich etwa 20 Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt.
Um aus dieser Hölle herauszukommen und in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit bis zu umgerechnet 5.000 Mark. Es gibt brasilianische Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld sammeln, um dann die Begünstigten auszulosen. In Bangu kommen die notwendigen “Real” von der Familie oder Verbrechersyndikaten – je unerträglicher die Hitze, desto höher die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Einmal am Tag gibt es schlechtes Essen; die Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt.
Folter ist üblich. Ein Anwalt beschreibt einen Fall von 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene, unter anderem mit Elektroschocks. Alle wiesen Blutergüsse auf, wurden zudem zu sexuellen Handlungen gezwungen.” Fast täglich werden Fälle zu Tode gefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt – die politisch Verantwortlichen bleiben meist passiv. Nur wenige Intellektuelle protestieren, die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Pervertieren statt resozialisieren
Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder “Human Rights Watch” prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten an – und auch die Gefangenenseelsorge der Katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der “Pastoral Carceraria” im Teilstaat Sao Paulo gegenüber dem ai-Journal: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier – niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen, läßt sie intellektuell, spirituell, moralisch und kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Mauzeroll hört in Polizeiwachen und Gefängnissen sehr häufig den Ausspruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die “Presidios” – was er täglich sieht, sind Bilder wie aus Horrorfilmen: Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Häftlinge verfaulen buchstäblich in Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst kriminell, weil sie Kranke bewußt
nicht behandeln, sondern sterben lassen. Sie werden aber nie zur Rechenschaft gezogen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind, jedoch nicht eingreifen.
Das Gefängnispersonal verkauft Lebensmittel, die für Häftlinge bestimmt sind und ermöglicht Rauschgifthandel und -konsum hinter Gitterstäben. Ein Gefängnisdirektor: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Erzwungenes Schweigen, Morddrohungen
Ein dunkles Kapitel ist auch die sexuelle Gewalt, von Aufsehern sogar gefördert. Mauzeroll zum ai-Journal: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken die Wärter ihn in bestimmte Massenzellen, damit er dort von 15 oder 20 Häftlingen vergewaltigt wird. Dies ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Nach amtlichen Angaben infizierten sich bereits mehr als 20 Prozent aller Inhaftierten mit dem HIV-Virus – ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt.
Vitor Carreiro teilte in Rio de Janeiro jahrelang eine Zelle mit 47 Gefangenen. Er ist von Aids gezeichnet und sagt: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” Promiskuität ist der Alltag: José Ferreira da Silva, HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern – keiner benutzt Präservative.
Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu vielen “politisch korrekten” Landsleuten nicht um unbequeme und unangenehme Wahrheiten. Er hat keine Probleme, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel. Berufskiller erledigen das – Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Diese ist schuld an der Situation.”
Gemäß einer neuen Studie der Vereinten Nationen lebt heute fast die Hälfte der 150 Millionen Brasilianer in verhältnismäßig entwickelten Gebieten. “Wenn in Sao Paulo und Rio de Janeiro die Lage in den Gefängnissen bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens sein?”
Amnestie nur Kosmetik
Die Rechtsanwältin Zoraide Fernandez weist darauf hin, daß Häftlinge nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang gefangengehalten werden. 1995 waren es allein in Rio mindestens 560.
Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso verkündete im April die, wie es offiziell hieß, größte Amnestie in der Geschichte des Landes: Etwa zehn Prozent der Gefangenen sollten freikommen. Wie die Gefängnisbehörden inzwischen einräumten, werden beispielsweise im Teilstaat Rio de Janeiro nur wenig mehr als ein Prozent amnestiert. Die 511 Gefängnisse bieten Platz für höchstens 60.000 Personen, sind aber nach jüngsten offiziellen Angaben mit 148.760 Häftlingen belegt – das sind 15 Prozent mehr als 1994. Notwendig, so hieß es, sei der Bau von 145 zusätzlichen Haftanstalten. Die Lage in der Metropole Sao Paulo ist den Angaben zufolge am dramatischsten. Eine Besserung ist nicht in Sicht: Per Haftbefehl suchte man allein 1996 rund 275.000 Straftäter.
Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent sind männlich und etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten, die meisten werden allerdings der Öffentlichkeit verschwiegen. Eine Ausnahme bildet lediglich der südliche, relativ hochentwickelte Teilstaat Rio Grande do Sul – nur dort soll es auch keine irregulär festgehaltenen Häftlinge geben.
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor: 1992 wurden im berüchtigten Gefängnis “Carandiru” von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschossen. Die politisch Verantwortlichen und die direkt Beteiligten blieben bisher straffrei. In “Carandiru” ereignete sich auch Ende Oktober wieder eine Revolte: 670 Gefangene nahmen 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Häftlinge versuchten währenddessen in einem Müllwagen zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Klaus Hart
Der Autor ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro
Hintergrund von 2001:
„Unerklärter Bürgerkrieg“ in Brasilien
Über 40000 Morde jährlich/Zunahme von Attentaten
Im Kontext der jüngsten internationalen Konflikte weisen brasillianische Experten immer nachdrücklicher darauf hin, welche hohen Menschenopfer der sogenannte „unerklärte Bürgerkrieg“ in Brasilien kostet. Wie die Universitätsprofessor und Politik-Berater Gaudencio Torquato jetzt in einer Analyse mit dem Titel „Wir und Afghanistan“ betonte, werden aus politischen und kriminellen Motiven selbst laut den geschönten offiziellen Angaben jährlich rund 40000 Menschen ermordet.
Hätte Deutschland, mit einer etwa halb so großen Bevölkerung, diese Rate, wären es pro Jahr etwa 20000 Getötete. Tatsächlich waren es im Jahr 2000 laut BKA-Angaben nur 1015.
Torquato zählte zu den Gründen der hohen Opferzahlen, daß die zehntgrößte Wirtschaftsnation anders als Afghanistan zwar sämtliche Hochtechnologie der letzten Generation nutze, die soziale Polarisierung zwischen den Privilegierten und den armen Schichten sich jedoch weiter verschärft habe. Die hohe Gewaltrate habe dazu geführt, daß nachbarschaftliches Zusammenleben immer weniger gepflegt werde, die brasilianische Gesellschaft sich von der menschlichen Solidarität verabschiede. Gängige Reaktion angesichts der täglichen Morde sei leider nur:“Gut, daß es mir nicht passiert ist.“
Derartige Verfallsprozesse resultieren laut Torquato aus einer „politisch-institutionellen Kultur“, die sich mit den alltäglichen Skandalen um hohe Volksvertreter und den Fällen von Regierungskorruption weiter degradiere.
Brasilianischer Menschenrechtsaktivist
“Generation eiskalter Killer“ wächst heran
Brasilien züchtet nach den Worten des angesehenen Menschenrechtsaktivisten Eduardo Capobianco „eine Generation eiskalter Killer“heran.“Sie töten einen Menschen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie eine Coca-Cola trinken“, sagte er im Dezember während der Auszeichnung mit einem Bürgerrechtler-Preis in Sao Paulo. Capobianco, Präsident von zwei regierungsunabhängigen Institutionen, die das organisierte Verbrechen sowie die tiefverwurzelte Korruption in Politik und Wirtschaft bekämpfen, hatte erst Anfang Dezember in der City der 17-Millionen-Stadt ein Attentat überlebt. „Brasilien hat gravierende soziale Ungleichheiten und eine kapitalistische Kultur, die auf dem Konsum basiert, Städte des Konsumismus wie Sao Paulo. Das stimuliert letztlich Gewalt – Armut allein ist dafür nicht verantwortlich zu machen.“ In entwickelten Ländern wie Japan entfalle statistisch pro Jahr ein Mord auf hunderttausend Einwohner – in einer Stadt wie Sao Paulo seien es dagegen gemäß offiziellen Zahlen immerhin fünfzig. Indessen gebe es bereits leichte Fortschritte bei der Verbrechensbekämpfung, die Arbeit seiner beiden Institutionen mißfalle der Gegenseite sehr und habe das Attentat bewirkt.
Capobianco überlebte den Anschlag nur, weil er eine Mappe mit Büchern vor die Herzgegend hielt, Kugeln darin steckenblieben bzw. nur seine Beine trafen. Weder die Polizei noch er selbst haben einen Hinweis auf die Täter und deren Hintermänner.
In den letzten drei Monaten kam es in Brasilien zu einer Attentatsserie, bei der mehrere Gewerkschaftsführer, ein progressiver Großstadtbürgermeister sowie Umweltaktivisten getötet wurden, Bombenanschläge forderten glücklicherweise keine Opfer. Eine bislang unbekannte rechtsextreme Organisation schickte Morddrohungen an 37 Bürgermeister der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT im Industrie- Teilstaat Sao Paulo, dessen Bruttosozialprodukt das von ganz Argentinien übertrifft.
Systematische Folterungen weiter alltäglich – trotz Anti-Folter-Gesetz
Menschenrechtler skeptisch über offizielle PR-Kampagne
Der Dreißig-Sekunden-TV-Spot ist gut gemacht, drastisch-realistisch: Ein Mann, halbnackt, blutend, gefesselt, wird von einem Sadisten gequält, mit dem Kopf immer wieder in einen Wassertank getaucht, soll Informationen preisgeben, ein Geständnis ablegen. Ein Dritter sieht die Szene, rennt zum Telefon, wählt die neue Gratis-Nummer von „SOS Tortura“, erstattet anonym Anzeige. Jeder sollte ab sofort genauso handeln, lautet der Appell an die Fernsehzuschauer – „denn Folter ist ein Verbrechen!“ Daß Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, jetzt auch in Rundfunk und Presse eine solche Medienkampagne starten ließ, einmalig in der Geschichte Brasilien, könnte die Menschenrechtler des In-und Auslands optimistisch stimmen. Doch Skepsis überwiegt. Befürchtet wird, daß Brasilia damit lediglich auf Imageverbesserung bei den Vereinten Nationen zielt. Deren Experte für Folterfälle, Nigel Rodley, hatte letztes Jahr nach einer Reise durch mehrere Teilstaaten die Zustände als erschreckend und eigentlich unbeschreiblich angeprangert. Nicht anders sieht es Amnesty International, stellte deshalb in der 17-Millionen-Stadt São Paulo, Lateinamerikas führendem Wirtschaftszentrum, im Oktober kurz vor Kampagnebeginn der brasilianischen Öffentlichkeit den neuesten Bericht über Folter und Mißhandlungen vor. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen, gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Laut Patrick Kopischke, Brasilien-Experte von Amnesty International, hat der starke politische Druck, die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, dazu geführt, daß Folter andere Ermittlungsmethoden ersetzt. Allein in São Paulo, wo über eintausend deutsche Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, ansässig sind, werden laut offiziellen Angaben monatlich über 440 Menschen ermordet. Zum üblichen Nachrichtenangebot der Radio-und TV-Stationen gehören die unaufhörlichen Gefangenenrevolten in den mit fast 100000 Insassen völlig überfüllten Polizeiwachen, Haftanstalten und provisorischen Gefängnissen der Metropole. Pro Monat werden rund eintausend weitere mutmaßliche oder tatsächliche Straftäter in teils fensterlose Zellen gepreßt, wo bereits bis zu 168 Männer auf einem Raum zusammenhocken müssen, der eigentlich nur für höchstens dreißig gedacht war. Wegen der schlechten Luft, der unhygienischen Zustände, des ständigen Fäkaliengeruchs und des damit verbundenen psychischen Drucks sind Aufstände die logische Folge – niedergeschlagen werden sie mit äußerster Brutalität, gibt es fast immer Tote. „Man greift auf Folter und Mißhandlungen zurück, um ein katastrophales Gefängnissystem unter Kontrolle zu halten“, betont deshalb Kopischke, grundlegende Reformen seien nötig, nicht nur kosmetische Verschönerungen. Aktivisten von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen Brasiliens empört zudem besonders, daß das auf ihren Druck hin erlassene Anti-Folter-Gesetz von 1997 an den Zuständen kaum etwas änderte, Täter gewöhnlich straffrei ausgehen, selbst aus der Diktaturzeit berüchtigte Folterer weiter im Dienst sind. Gemäß neuen UNO-Angaben verzeichnet der Teilstaat Minas Gerais die meisten bekanntgewordenen Folterfälle, ist die Polizeibrutalität traditionell besonders hoch. Dies gilt als Erbe des Militärregimes(1964-1985), als Fachleute der CIA gemäß Angaben von Zeitzeugen den Militär-und Zivilpolizisten in Kursen auch Foltertechniken beibrachten. „Heute noch sind es die gleichen“, so der renommierte Menschenrechtsanwalt Antonio Aurelio, „vor allem Elektroschocks, Aufhängen kopfunter an einer Stange, Eintauchen in Wassertanks, Schläge auf beide Ohren, Erstickungsanfälle mittels über den Kopf gestülpten Plastiksäcken“. Im Juni letzten Jahres wurden in einer Polizeiwache São Paulos etwa zweihundert Gefangene, einer nach dem anderen, völlig unbekleidet, mit Elektroschocks gepeinigt. Bei weiteren Mißhandlungen starb ein Insasse, dreißig weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Die beteiligten Polizeikommissare sind weiterhin im Dienst. Beim Interview mit dem Polizeichef einer nordostbrasilianischen Stadt fand dieser nichts dabei, den an den landesüblichen Elektroschock-Apparaturen verwendeten Regler sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen.
Über 40000 brasilianische Kinder arbeiten auf stinkenden Müllbergen
Unicef und NGO entwickeln Alternativprojekte
Im Kriechgang, fast mit Vollgas, arbeitet sich der Müll-LKW in Serpentinen fast bis zur Haldenspitze vor, kippt dort, an der Peripherie der 17-Millionen-Stadt São Paulo, bei 35, 40 Grad Tropenhitze stinkende Abfälle aller Art ab. Auf diesen Moment haben Schwärme von Schmeißfliegen, aber auch Dutzende von Kindern und Jugendlichen nur gewartet. Mit Säcken über der Schulter stürzen sie sich auf die Ladung, sinken bis zu den Knien ein, wühlen neben schwarzen Aasgeiern nach Essensresten, Glas-und Plastikflaschen, Papier und Getränkebüchsen aus Aluminium. Alles wird getrennt, sortiert, ein Stück entfernt bei anderen Familienmitgliedern angehäuft, Alu-Büchsen tritt man mit dem Fuß platt. Metallfirmen oder Papier-und Textilfabriken nehmen alles für lächerlich geringe Preise ab – jedes dreckverschmierte, oft von Hautkrankheiten gezeichnete Müll-Kind kommt pro Tag höchstens auf umgerechnet vier, fünf Mark – überlebenswichtig für die Familien an der Slum-Peripherie von Lateinamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive, aber auch von Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder Recife. In ganz Brasilien sind es über vierzigtausend „Crianças do Lixo“, Müll-Kinder – die nie zur Schule gehen, oder es aufgaben, weil man sie lächerlich machte, diskriminierte. Vor ein, zwei Jahren waren es indessen noch über dreizehntausend mehr – bevor das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die regierungsunabhängige Organisation „Agua e Vida“(Wasser und Leben) Projekte starteten, Druck auf den Staat, lokale Behörden ausübten, um diese schändliche Form der Kinderarbeit zu bekämpfen.
Hautkrankheiten, Cholera
Daß Minderjährige in einem Land, das zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehört, den ganzen Tag im Müll waten müssen, anstatt zu spielen und zu lernen, nennt Afonso Lima, Unicef-Mitarbeiter in São Paulo, einfach entsetzlich, unmenschlich. Die Regierung hat zudem internationale Konventionen, darunter gegen Kinderarbeit unterzeichnet, die derartiges eigentlich verbieten. „Weil die meisten Kliniken ihre sämtlichen Abfälle unsortiert und unbehandelt ebenfalls auf die Halde kippen, können sich die Kinder sogar gefährliche Krankheiten holen, finden Spritzennadeln, Chemikalien aller Art.“ Für seine Kollegin Paula Claycomb aus den USA fehlt es auch an politischem Willen. „Die brasilianische Gesellschaft muß endlich verstehen, daß stinkende Abfallhalden nicht der richtige Ort für Kinder sind.“ Dabei wurde bereits eine Menge erreicht: Unicef und die NGO „Agua e Vida“ brachten in geduldiger Überzeugungsarbeit Gouverneure und viele Gemeinden dazu, Mittel für die Gründung von Müll-Recycling-Kooperativen freizugeben, sogar Gebäude bereitzustellen. Der Vorteil: Wiederverwertbares wird bereits an Wohngebäuden, Supermärkten, Bürohäusern aussortiert – und nicht erst, mit organischen Abfällen verschmutzt, auf der Halde. Resultat: Das Familieneinkommen steigt, die Kinder brauchen nicht mehr mitzuarbeiten, gehen stattdessen zur Schule. Eine geringe staatliche Hilfe von monatlich umgerechnet über zehn Mark pro Kind wird auch an viele andere verelendete Familien nur gezahlt, wenn sie ihre Kinder kontinuierlich in die Schule schicken. „Und das funktioniert“, bekräftigt die NGO-Koordinatorin Teia Magalhaes in São Paulo. „Nur ist es leider oft so: Wir holen eine Familie aus dem Müll, doch andere treten sofort an deren Stelle – Folge der Misere in Brasilien.“ Da die Cholera im Lande längst nicht ausgerottet ist, man sich gerade auf den riesigen Abfallbergen leicht anstecken kann, verbreitet Teia Magalhaes auch ein entsprechendes Aufklärungs-Video, organisiert zusammen mit Präfekturen Musik-und Tanzkurse, um frühere „Crianças do Lixo“ in der Schule zu halten, an Kultur heranzuführen.
Banker und Müllsammler
Auch über Lateinamerikas Wallstreet, die Banken-Avenida Paulista, zerren täglich ungezählte schwitzende, zerlumpte Catadores do Lixo, Müllsammler, ihre hölzernen Karren, hochbeladen mit Verpackungen und anderem Material. Eigentlich sollten die Catadores allen Respekt verdienen: Nur ihnen ist es zu verdanken, daß immerhin achtzig Prozent der Aluminium-Getränkebüchsen, siebzig Prozent der Pappe und dreißig Prozent der Flaschen recycelt werden. Nur hier und da trifft man bereits auf jene Hausmüll-Container wie in Deutschland – ausgerechnet in einem Drittweltland wie Brasilien ist Ressourcenverschwendung weiterhin die Regel. Was vergeudet wird, ob Nahrungsmittel, Strom oder Wasser, hat laut neuesten Studien immerhin einen Wert von jährlich umgerechnet über einhundert Milliarden Mark. Besonders provozierend in einem Land mit ernsten Hungerproblemen: Was São Paulos Supermärkte an Lebensmitteln wegwerfen, reichte wertmäßig bequem aus, um monatlich 600000 Slum-Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Padre Julio Lancelotti kämpft gegen Folter an Kindern und Jugendlichen
Hohes Lebensrisiko, Morddrohungen, tätliche Angriffe
Auch von Unicef wegen Engagements für Kinderrechte ausgezeichnet
„Erstmals konnten wir jetzt achtzehn Aufseher, sogar drei Direktoren, wegen Folter vor Gericht bringen“, sagt Padre Julio Lancelotti im Büro des von ihm geleiteten „Zentrums zur Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ der Millionenstadt São Paulo. Aber Freude, Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg ist ihm nicht anzumerken. Denn auf einen Schlag hat er damit noch mehr erbitterte Feinde unter den Mitarbeitern der gefängnisähnlichen Anstalten für straffällig gewordene Minderjährige(Febem). Von den letzten Attacken hat er sich noch nicht erholt: Als in einer Febem-Einheit wiederum Jugendliche gegen Mißhandlungen, Überfüllung rebellierten, fuhr er sofort hin – eine Gruppe von Febem-Angestellten schlug ihm Zähne aus, trat auf ihn ein, zerbrach die Brille. Militärpolizisten schauten bewußt eine ganze Weile zu, griffen erst spät ein. „Sogar das Kreuz, das ich um den Hals trug, ein Geschenk aus Osnabrück, wurde mir abgerissen – hier ist die Situation eben längst außer Kontrolle.“ Lancelotti, der auch ein Heim für Aids-infizierte Kinder führt, erhält regelmäßig Morddrohungen – andere Pfarrer São Paulos haben ihr Engagement für Menschenrechte bereits mit dem Leben bezahlt – in Brasilien kommt es täglich zu politischen Morden, Attentaten. Theoretisch können er und seine Anwälte sich auf das Anti-Folter-Gesetz, das Statut zum Schutze der Heranwachsenden berufen. „In Brasilien dominiert aber leider Straflosigkeit, Folterer bleiben gewöhnlich ungeschoren, werden nicht einmal entlassen, sind durch die Autoritäten geschützt.“
„Kultur der Folter“
Daß die Gesetze nicht funktionieren, erklärt Lancelotti mit für manchen Europäer sicher überraschenden Gründen:“In diesem Land existiert die Sklavenhalterkultur, auch eine Kultur der Folter weiter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Im Teilstaate São Paulo, dem reichsten ganz Brasiliens, mit weit über eintausend deutschen Unternehmen, sind in den Febem-Anstalten derzeit mehr als viertausend Heranwachsende konzentriert, täglich kommen etwa dreißig hinzu. Wo eigentlich gemäß den Vorschriften nur Platz für sechzig Minderjährige ist, werden in Zellen bis zu vierhundert zusammengepfercht, sind gewöhnlich völlig sich selbst überlassen. „Als letztes Jahr der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nigel Rodley, hier war, erklärte man ihm allen Ernstes, Jugendliche hätten sich Verletzungen selber beigebracht, im Streit miteinander.“ Der Padre, die eng mit ihm kooperierende Anwältin Francisca de Assis Soares, wissen von solchen Fällen, auch von sexueller Gewalt unter den Jugendlichen. Doch das sind Ausnahmen. Die Struktur dieser Anstalten ziele auf Unterdrückung, Entwürdigung, Verrohung – „über viele besonders sadistische Folterungen“, so Lancelotti“, reden wir öffentlich gar nicht mehr, weil es uns ja doch keiner glaubt.“ In einer Febem-Anstalt hatte man allen Ernstes Skinheads angestellt, wegen ihrer Aggressivität von den Minderjährigen nur „Pitbulls“ genannt.
Sadismus der Aufseher
Bekommen Lancelotti und sein Team Wind von Mißhandlungen, fahren alle sofort los, um gerichtsverwertbare Beweise zu sammeln, Torturen zu unterbrechen. „In einer Anstalt trafen wir auf über vierzig gefolterte Jugendliche – mit schweren Verletzungen, gebrochenen Armen und Beinen!“ Rebellieren Insassen einer Febem-Einheit, toben sich bei der Niederschlagung Aufseher, herbeigerufene Polizisten sadistisch aus.“Jugendliche mußten tagelang nackt hintereinander aufgereiht und aneinandergepreßt auf dem Boden hocken, das Geschlechtsteil am Gesäß des Vordermanns, durften nur in Plastikflaschen urinieren, die man dann über ihnen ausschüttete. Scharfe Hunde wurden rudelweise zwischen die Insassen gehetzt – wer deshalb aufstand, erhielt sofort Schläge. Und selbst das – Wärter zwingen Jugendliche, auf andere Insassen zu urinieren. Alles Folterpraktiken, tief entwürdigend!“
Aber könnte die Mitte-Rechts-Regierung unter Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Bewohner São Paulos, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, diese Zustände nicht ändern? „Brasilien ist nur eine formale Demokratie“, analysiert Lancelotti, „die Politiker in Brasilia leben wie auf einem anderen Planeten, fern der Realität, wollen von diesen Dingen nichts wissen – Zugang zu Präsident Cardoso haben wir nicht.“ Bestenfalls mit Galgenhumor registriert der Padre, welches Prestige Cardoso gerade in Europa, auch in Deutschland genießt:“Der Präsident führt sich wie ein Prinz auf, erhält überall Doktortitel. Aber wenn man in europäischen Zeitungen oder in der Genfer UN-Menschenrechtskommission über diese Zustände hier spricht – das mag er, seine Regierung, garnicht.“
Lancelotti räumt ein, daß ihn die Menschenrechtsarbeit zugunsten der Minderjährigen Brasiliens streßt, psychisch ermüdet. „Der Haß auf uns ist groß, wir werden verfolgt, lächerlich gemacht, sind nur wenige – und die Folter nimmt zu!“ Mit seiner Wochenkolumne in einer Tageszeitung São Paulos erreicht er wenigstens einen Teil der Öffentlichkeit. Und ein bißchen Mut macht, daß ihn das UN-Kinderhilfswerk Unicef im neuesten Jahresbericht ausdrücklich als Anwalt der Heranwachsenden Brasiliens hervorhebt.
Tags: „Folter ohne Ende“, Amnesty, Blogger Yoani, Brasilien, Folter, Gregor Gysi, José Zapatero, Lula, Menschenrechte, Paulo Vannuchi, Peter Scholl-Latour, Scheiterhaufen, Slum-Diktatur, Todesschwadronen
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
Vannuchi wies gegenüber der Presse speziell auf Todesschwadronen im brasilianischen Nordosten, aus dem Staatschef Lula stammt. Die Organisation Amerikanischer Staaten prüfe derzeit 98 Anklagen gegen Brasilien wegen Menschenrechtsverletzungen gravierender Art. Bei Brasiliens Todesschwadronen bestehe eine promiskuitive Allianz zwischen Vertretern des Staates(agentes publicos) und Vertretern außerhalb des Staatsapparats.
In meinungsbildenden deutschen Analysen, in der deutschen Parteipropaganda wird die brasilianische Regierung ausdrücklich als “progressiv” eingestuft.
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
In nicht wenigen deutschsprachigen Analysen über das erste Amtsjahr von Dilma Rousseff ist offenbar verboten, die gravierende Menschenrechtslage, darunter Folter und Todesschwadronen, auch nur zu erwähnen.
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Auch aus europäischen Ländern erhält die sehr spezielle Demokratie-Politik der Lula-Regierung sehr viel Lob. Beifall kommt auch von alten und neuen Rechten. Im Gegensatz zu Amnesty International London sind angesichts rasch zunehmender neoliberaler Herzenskälte für die meisten europäischen Medien gravierende Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, wie Scheiterhaufen sowie von Staatsangestellten praktizierte Folter und Todesschwadronen, nicht der Rede und damit auch nicht der Erwähnung wert. Lulas Menschenrechtsbilanz zweier Amtszeiten hat die politische Glaubwürdigkeit seiner Regierung in europäischen Ländern offenbar sehr stark erhöht.
Menschenrechtsanwalt Bruno Alves de Souza Toledo: http://www.hart-brasilientexte.de/2010
In der INSI-Rangliste der für Journalisten gefährlichsten Länder der Welt steht Brasilien 2012 auf Platz 8.
Ausriß.
Fotodokumentation und Slum-Dikatur: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/05/brasiliens-zeitungen-eine-fundgrube-fur-medieninteressierte-kommunikations-und-kulturenforscher/
Gregor Gysi, Linkspartei, Deutschland: “Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge.”
“Lula Superstar”: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70569506.html
Scheiterhaufen und Slum-Diktatur: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/16/scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-der-grausame-tod-einer-48-jahrigen-frau-in-der-microondas-laut-lokalzeitung/
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
José Zapatero, amtierender EU-Ratspräsident: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/jose-zapatero-spaniens-premierminister-lobt-lula-uber-alle-masen-der-mann-der-die-welt-uberrascht-esse-homem-honesto-integro-e-admiravel-von-amnesty-international-angeprangerte-folter/
Gefängnishorror unter Lula – UNO-Menschenrechtskommission in Genf befaßt sich mit den Zuständen. Foto von brasilianischen Menschenrechtsaktivisten.
Umgang mit Geschichte: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Menschenrechtsminister Paulo Vannuchi zur Sklavenarbeit: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/22/a-censura-nunca-desiste-kampagne-gegen-zensur-von-pubaddict/
Zeitungsfoto – Rio-Bewohner betrachten Ermordete. Das Desinteresse an den tatsächlichen Lebensbedingungen der Slumbewohner ist enorm.
”Die Praxis der Folter ist als Form institutioneller Gewalt im Alltag des Sicherheitsapparats weiter präsent und richtet sich besonders gegen die Armen.(brasilianische Soziologie-Zeitschrift “Sociologia” in ihrer neuesten Ausgabe)
“Folter ohne Ende”: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Zeitungsfoto.
Menschenrechtsminister Paulo Vannuchi zu außergerichtlichen Exekutionen und Blutbädern während der Lula-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/10/taglich-ausergerichtliche-exekutionen-in-brasilien-menschenrechts-minister-paulo-vannuchi/
Vannuchi zu täglichen Menschenrechtsverletzungen: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/lulas-menschenrechtsminister-paulo-vannuchi-raumt-gravierende-menschenrechtsverletzungen-eindie-menschenrechtsverletzungen-sind-routine-alltaglich-und-allgemein-verbreitet-das-gefangnissystem-ist/
Lula-Pressekonferenz vom Dezember 2009 in Berlin: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/03/pressekonferenz-mit-lula-in-berlin-keine-einzige-frage-zu-gravierenden-von-amnesty-international-kritisierten-menschenrechtsverletzungen-wie-folter-scheiterhaufen-todesschwadronen-sklavenarbeit/
Kopf unter Wasser: http://www.amnesty.de/journal/2009/juni/kolumne-kopf-unter-wasser
“Krieg auf dem Morro dos Macacos”: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/17/krieg-auf-dem-morro-dos-macacos-von-rio-de-janeiro-youtube-anklicken-bope-im-einsatz/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Menschenrechts-Samba – anklicken: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/12/o-iraque-e-aqui-der-irak-ist-hier-hit-von-jorge-aragao/
”Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst. Deutschsprachige Tourismuspropaganda.
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.
Kindstötung bei Indianerstämmen: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/18/brasilien-kindsmord-am-amazonas-ard-weltspiegel-berichtet-erstmals-uber-infantizid-bei-brasilianischen-indianerstammen/
Brasilianische Protestsongs:
Paralamas do Sucesso: http://www.youtube.com/watch?v=sI4ZF2qEzpE
Jorge Aragao: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
Bezerra da Silva: http://www.youtube.com/watch?v=8i69t5BI3KI
Legiao Urbana: http://www.youtube.com/watch?v=zy2-b8Ze90A&feature=fvwrel
Rita Lee: http://www.youtube.com/watch?v=XTPV8cJoqSU
Cazuza: http://www.youtube.com/watch?v=NkNv2BflaSU
Capital Inicial: http://www.youtube.com/watch?v=5xShbngQdaI
Titas: http://www.youtube.com/watch?v=0LXil87V6jQ
Biquini Cavadao: http://www.youtube.com/watch?v=lR4GeUpk-LE
Raul Seixas: https://www.youtube.com/watch?v=S2cWf8lrQAQ
“Folter noch jeden Tag.”(2011)
Amnesty Journal 2009:
“KOPF UNTER WASSER
Gravierende Menschenrechtsverletzungen offiziell abzustreiten oder zu vertuschen, kommt heutzutage bei der internationalen Gemeinschaft schlecht an. Das weiß auch die brasilianische Regierung und geht deshalb seit langem einen anderen Weg: Mit erstaunlicher, entwaffnender Offenheit wird in- wie ausländischen Kritikern bestätigt, dass sie völlig im Recht seien. Man sehe die Dinge ganz genau so und habe bereits wirksame Schritte, etwa zur Abschaffung der Folter, eingeleitet. Doch auf die Worte folgen meist keine Taten.
Menschenrechtsaktivisten wie der österreichische Pfarrer Günther Zgubic, der die bischöfliche Gefangenenseelsorge in Brasilien leitet, vermissen seit Jahren deutliche Worte von deutscher Seite. Schließlich ist Lateinamerikas größte Demokratie ein wichtiger strategischer Partner von Deutschland, und die Regierung in Berlin spricht gerne von den “gemeinsamen Werten”, die beide Staaten verbinden würden. Mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, hat jetzt zum ersten Mal endlich ein hochrangiger deutscher Politiker in der Hauptstadt Brasilia die Probleme offen angesprochen.
Zgubic erinnert immer wieder an die wohlklingenden Versprechungen, die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei seinem Amtsantritt 2003 verkündet hat: “Er hat öffentlich erklärt, dass er Folter und andere grausame, unmenschliche Praktiken nicht mehr duldet.” Leere Worte aus Brasilia, denn nach Informationen von Zgubic existiert die Folter in allen Varianten, um Geständnisse zu erzwingen: “Es werden Elektroschocks eingesetzt, man presst den Kopf unter Wasser. Auf allen Polizeiwachen Brasiliens werden Häftlinge gefoltert”, meint Zgubic.
Nun sieht er sich überraschend durch Nooke bestätigt. “Stehen Menschenrechtsprobleme wie die unsägliche Folterpraxis beim Staatspräsidenten ganz oben auf der Prioritätenliste? Wieso wird nicht stärker kritisiert, dass die Regierung alle internationalen Verpflichtungen eingeht, ohne sie dann auch konsequent umzusetzen? Wir merken, dass sich Brasilien beim Thema Menschenrechte von Europa entfernt”, erklärte Nooke kürzlich. Brasilien dürfe im Menschenrechtsbereich nicht abdriften.
Doch vielleicht ist dies längst passiert. Paulo Vannuchi, Leiter des Staatssekretariats für Menschenrechte in Brasilia, hatte in der Zeitung “Folha de São Paulo” betont, dass das brasilianische Strafgesetz die Todesstrafe zwar nicht vorsehe, dennoch aber täglich außergerichtliche Exekutionen stattfinden würden. Gemeinsame Werte? Pedro Ferreira, Anwalt bei der bischöflichen Gefangenenseelsorge, findet es bedrohlich, dass selbst nach offiziellen Angaben derzeit über 126.000 Häftlinge trotz verbüßter Strafe illegal weiter festgehalten werden.
Ehemalige Gegner der Diktatur (1964 bis 1985) weisen zudem auf die fatalen Folgen der nicht bewältigten Gewaltherrschaft hin. Nicht einmal die Öffnung der Geheimarchive aus der Zeit der Diktatur sei unter Lula veranlasst worden, kritisiert Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo. Die Straflosigkeit inspiriert seiner Meinung nach jene Staatsfunktionäre, die heute im Polizeiapparat und im Gefängnissystem “Folter und Ausrottung” betrieben. Mit leeren Worte kann man an diesen Zuständen wohl kaum etwas ändern.
Von Klaus Hart.
Der Autor ist Journalist und lebt in São Paulo.
BRASILIEN
Die “Hölle auf Erden”
Revolten, Hungerstreiks und Aids bestimmen den Alltag in den völlig überfüllten brasilianischen Gefängnissen. Brasilien gilt zwar als die zehntgrößte Wirtschaftsnation, leistet sich aber Haftanstalten, die man eher in Ruanda oder Burundi vermuten würde. Eine im April verkündete Amnestie entspannte die Situation nicht.
Eine mittelalterlich anmutende Gefangenenzelle in Rios Stadtteil Realengo: Jeder der mehreren Dutzend Insassen hat laut Gesetz Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter – hier ist es nicht mal ein einziger. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil der Gefangenen auf feuchtem Boden liegt, schlafen die anderen in Hängematten, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern bei beißendem Fäkaliengeruch und nächtlichem Besuch von Ratten. Die psychische Spannung ist fast mit Händen greifbar. Neun von zehn Gefangenen haben Furunkel, in der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu 60 Grad. Dann fallen täglich etwa 20 Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt.
Um aus dieser Hölle herauszukommen und in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit bis zu umgerechnet 5.000 Mark. Es gibt brasilianische Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld sammeln, um dann die Begünstigten auszulosen. In Bangu kommen die notwendigen “Real” von der Familie oder Verbrechersyndikaten – je unerträglicher die Hitze, desto höher die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Einmal am Tag gibt es schlechtes Essen; die Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt.
Folter ist üblich. Ein Anwalt beschreibt einen Fall von 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene, unter anderem mit Elektroschocks. Alle wiesen Blutergüsse auf, wurden zudem zu sexuellen Handlungen gezwungen.” Fast täglich werden Fälle zu Tode gefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt – die politisch Verantwortlichen bleiben meist passiv. Nur wenige Intellektuelle protestieren, die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Pervertieren statt resozialisieren
Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder “Human Rights Watch” prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten an – und auch die Gefangenenseelsorge der Katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der “Pastoral Carceraria” im Teilstaat Sao Paulo gegenüber dem ai-Journal: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier – niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen, läßt sie intellektuell, spirituell, moralisch und kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Mauzeroll hört in Polizeiwachen und Gefängnissen sehr häufig den Ausspruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die “Presidios” – was er täglich sieht, sind Bilder wie aus Horrorfilmen: Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Häftlinge verfaulen buchstäblich in Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst kriminell, weil sie Kranke bewußt
nicht behandeln, sondern sterben lassen. Sie werden aber nie zur Rechenschaft gezogen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind, jedoch nicht eingreifen.
Das Gefängnispersonal verkauft Lebensmittel, die für Häftlinge bestimmt sind und ermöglicht Rauschgifthandel und -konsum hinter Gitterstäben. Ein Gefängnisdirektor: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Erzwungenes Schweigen, Morddrohungen
Ein dunkles Kapitel ist auch die sexuelle Gewalt, von Aufsehern sogar gefördert. Mauzeroll zum ai-Journal: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken die Wärter ihn in bestimmte Massenzellen, damit er dort von 15 oder 20 Häftlingen vergewaltigt wird. Dies ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Nach amtlichen Angaben infizierten sich bereits mehr als 20 Prozent aller Inhaftierten mit dem HIV-Virus – ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt.
Vitor Carreiro teilte in Rio de Janeiro jahrelang eine Zelle mit 47 Gefangenen. Er ist von Aids gezeichnet und sagt: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” Promiskuität ist der Alltag: José Ferreira da Silva, HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern – keiner benutzt Präservative.
Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu vielen “politisch korrekten” Landsleuten nicht um unbequeme und unangenehme Wahrheiten. Er hat keine Probleme, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel. Berufskiller erledigen das – Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Diese ist schuld an der Situation.”
Gemäß einer neuen Studie der Vereinten Nationen lebt heute fast die Hälfte der 150 Millionen Brasilianer in verhältnismäßig entwickelten Gebieten. “Wenn in Sao Paulo und Rio de Janeiro die Lage in den Gefängnissen bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens sein?”
Amnestie nur Kosmetik
Die Rechtsanwältin Zoraide Fernandez weist darauf hin, daß Häftlinge nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang gefangengehalten werden. 1995 waren es allein in Rio mindestens 560.
Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso verkündete im April die, wie es offiziell hieß, größte Amnestie in der Geschichte des Landes: Etwa zehn Prozent der Gefangenen sollten freikommen. Wie die Gefängnisbehörden inzwischen einräumten, werden beispielsweise im Teilstaat Rio de Janeiro nur wenig mehr als ein Prozent amnestiert. Die 511 Gefängnisse bieten Platz für höchstens 60.000 Personen, sind aber nach jüngsten offiziellen Angaben mit 148.760 Häftlingen belegt – das sind 15 Prozent mehr als 1994. Notwendig, so hieß es, sei der Bau von 145 zusätzlichen Haftanstalten. Die Lage in der Metropole Sao Paulo ist den Angaben zufolge am dramatischsten. Eine Besserung ist nicht in Sicht: Per Haftbefehl suchte man allein 1996 rund 275.000 Straftäter.
Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent sind männlich und etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten, die meisten werden allerdings der Öffentlichkeit verschwiegen. Eine Ausnahme bildet lediglich der südliche, relativ hochentwickelte Teilstaat Rio Grande do Sul – nur dort soll es auch keine irregulär festgehaltenen Häftlinge geben.
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor: 1992 wurden im berüchtigten Gefängnis “Carandiru” von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschossen. Die politisch Verantwortlichen und die direkt Beteiligten blieben bisher straffrei. In “Carandiru” ereignete sich auch Ende Oktober wieder eine Revolte: 670 Gefangene nahmen 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Häftlinge versuchten währenddessen in einem Müllwagen zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Klaus Hart
Der Autor ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro
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„Die Lula-Regierung war bei den Menschenrechten eine Enttäuschung“(2009)
Tim Cahill, Brasilienexperte von Amnesty International, über fortdauernde Folter, Todesschwadronen, paramilitärische Milizen und Sklavenarbeit in Lateinamerikas größter Demokratie.
Paraisopolis heißt Paradies-Stadt – doch paradiesisch ist hier garnichts. Der Slum zählt zu den über 2000 in der reichsten südamerikanischen Megacity und grenzt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz-und Backsteinkaten rund 100000 Menschen in Moder, Abwässer-und Müllgestank hausen. Dabei gibt es an der fernen Peripherie weit grauenhaftere Slums. Auch für die Kirche ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, daß der von bewaffneten Gangstern gemanagte Drogenhandel in Paraisopolis nur dank der reichen Großkunden von nebenan so lukrativ funktioniert. Der junge schwarze Slumpriester Luciano Borges Basilio nimmt kein Blatt vor den Mund:“Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als die Polizei – oft sogar viel besser, während die Polizei desorganisiert ist.“ In Brasilien werden täglich mehrere Beamte ermordet. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisopolis einen Bauchschuß – die Beamten haben ja auch Familie und sind unter Streß und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen. Aber Willkür rechtfertigt das nicht.“ Anstatt jener kleinen Minderheit von Kriminellen das Handwerk zu legen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völlig unschuldigen Bewohnermehrheit, was weder die Kirche noch Amnesty International hinnimmt. Tim Cahill ist wiederholt vor Ort, spricht mit Zeugen. Sie berichten von Folterungen, ungerechtfertigtem Schußwaffengebrauch: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, wird ein neunmonatiges Baby in den Arm geschossen, eine Sechzehnjährige an den Brüsten verwundet.
Journal: Bewohner berichten, daß Elektroschocks zu den gängigsten polizeilichen Foltermethoden in Paraisopolis gehören. Die Beamten behandeln uns wie Tiere, lautet ein Vorwurf.
Cahill: Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier vor Ort sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen. Bei Folter-Anzeigen wird gewöhnlich garnicht ermittelt. Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Und ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie Wegwerf-Bevölkerung behandelt. Paraisopolis ist dafür ein Beispiel. Es fehlt die Verantwortung des Staates für diese Menschen. Öffentliche Sicherheit muß für alle Brasilianer garantiert werden – die armen Schichten darf man nicht einfach davon ausschließen.“
Journal: „Öffentliche Sicherheit“ ist in Brasilien vor allem Aufgabe der Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur. Weil Diktaturverbrecher, Folterer von einst nicht bestraft werden, fördert dies heutige Polizeigewalt und ermuntert die Folterer zum Weitermachen, argumentieren selbst frühere politische Gefangene.
Cahill: Das ist in der Tat ein zentraler Punkt – Straffreiheit in Bezug auf Vergangenes stärkt die heutige Politik der Straflosigkeit. Das wird weithin akzeptiert. Ich war in vielen Polizeiwachen und Gefängnissen Brasiliens, habe hohe Amtsträger des Sicherheitsapparats getroffen. Da fand ich immer Leute mit ganz direkter Beziehung zu den Diktaturverbrechen. Das Ausmaß der Gewalt, die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen im heutigen Brasilien sind Erbe der Diktaturvergangenheit. Amnesty macht Druck auf Brasilia, auf Staatschef Lula, die Diktaturverbrechen zu bestrafen und die Geheimarchive des Militärregimes endlich zu öffnen. Brasilien ist bei der Vergangenheitsbewältigung deutlich hinter den anderen lateinamerikanischen Staaten zurück. Das ist gravierend.
Journal: Die Lula-Regierung hatte der UNO, den Menschenrechtsorganisationen 2003, zu Beginn der ersten Amtszeit versprochen, die eigenen Gesetze und internationalen Abkommen einzuhalten. Doch nach wie vor werden in Brasilien sogar Menschen auf Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Hielt Brasilia denn Wort?
Cahill: Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Es gab große Versprechen, Pläne und Projekte, sogar einen konstruktiven Diskurs – doch die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Es fehlt der Regierung ganz klar politischer Wille. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert. Die paramilitärischen Milizen haben Macht, üben wirtschaftliche Kontrolle aus – daraus wird politische Macht, eine reale Bedrohung im heutigen Brasilien.“
Journal: In der Olympia-Stadt Rio de Janeiro hat der Staat mehrere Hangslums besetzt, gemäß überschwenglichen europäischen Presseberichten die Verbrecherkommandos vertrieben und die Lage der Bewohner deutlich verbessert. Sind das nicht gute Beispiele, die auf positive Änderungen hindeuten?
Cahill: Es handelt sich bei diesen Slums lediglich um Inseln, während im großen Rest der Stadt sich an der staatlichen Politik, an Diskriminierung und Polizeigewalt kein Deut ändert. Für uns heißt dies, vor Ort noch intensiver zu recherchieren und Menschenrechtsverletzungen permanent anzuprangern. Die Situation Brasiliens ist sehr komplex.
Journal: Hochrangige Staatsvertreter geißeln die Lage gelegentlich drastisch, was auf manchen entwaffnend wirkt. Laut Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, ähnelt Brasiliens Gefängnissystem nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, daß tagtäglich außergerichtliche Exekutionen und Blutbäder von Polizisten sowie Todesschwadronen verübt würden. Gravierende Menschenrechtsverletzungen seien Routine, alltäglich und allgemein verbreitet.
Tim Cahill: Dies zählt zu den unglaublichen Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen offen und klar an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Denn das Gefängnissystem wird eben einfach nicht reformiert, trotz der häufigen Versprechen. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat. Wenn die Regierung in Brasilia weltweit mehr Anerkennung und Respekt will, muß sie sich für die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung einsetzen, besonders der Unterprivilegierten. Was falsch läuft, haben wir bei unseren Recherchen in der Sao-Paulo-Favela Paraisopolis, bei den Gesprächen mit Tatzeugen deutlich ermittelt: Der Staat marginalisiert diese Menschen – und das seit Jahrzehnten. Innerhalb des Staatsapparats herrscht Einverständnis, die Polizeistrukturen nicht zu kontrollieren. Angesichts extremer Kriminalität läßt man den Sicherheitskräften die Freiheit, Menschenrechte einfach zu verletzen. Wichtig ist, beide Seiten zu sehen.
“Cities of Terror” – WOXX:
http://archiv.woxx.lu/0700-0799/700-709/703/703p5.pdf
http://www.ila-web.de/brasilientexte/inhalt.htm
Hintergrund von 1997 – veröffentlichte Texte in Lateinamerika-Nachrichten – hat sich seitdem an der Lage viel verändert?
Immer mehr Straßenkinder Brasiliens werden von der organisierten Kriminalität rekrutiert und landen damit in den Kreisläufen der täglichen Barbarei und Gewalt. Das „Missionsobjekt“ Straßenkind hat hierdurch neue Dimensionen erfahren, die bislang allerdings von den Straßenkinderprojekten im Ausland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Unser Autor Klaus Hart aus Rio de Janeiro schildert die wenig erfreuliche Entwicklug des Problems.
Bis zum entsetzlichen Candelaria-Massaker von 1993 (vgl. LN Nr. 231/232) gehörten die Meninos de Rua zum normalen Erscheinungsbild der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro. Ob in Copacabana, Ipanema oder in der City – immer zogen sie in Gruppen herum, bettelten, stahlen. Und schlimmer noch: Eine sichtbare Minderheit unter den Straßenkindern überfiel, terrorisierte regelrecht bevorzugt schwangere Frauen und alte Leute.
Im Stadtzentrum bin auch ich mehrfach von Straßenkindern verfolgt worden, flüchtete mich in Restaurants oder in von bewaffneten Pförtnern bewachte Hauseingänge. Wenn die Gruppen mich dennoch erwischten, waren eben Geld und teures Arbeitsgerät wie Sony-Recorder oder Kamera weg. Eine Bande ritzte mir vorm Wegrennen in Richtung Polizeikabine einmal Arm und Hand blutig. Aber das ist alles harmlos im Vergleich zu den Erlebnissen vieler Einheimischer. Eine brasilianische Bekannte fuhr mit dem Wagen die famose Avenida Atlantica entlang, ihr Kleinkind auf dem Rücksitz. An der Ampel wird das Auto von Straßenkindern umringt, eines schneidet ihrer Tochter die Kehle durch, sie verblutet. Einem Nordamerikaner, zum Arbeiten in Rio, schlägt eine Gruppe eine abgeschlagene Flasche ins Gesicht, einfach so, ohne Raubabsicht.
Derzeit muß man in Rios Kernbereichen Meninos de Rua allerdings fast mit der Lupe suchen. Statt der Tausenden von Anfang der 90er Jahre verlieren sich im Straßengewühl bestenfalls einige hundert. Will ich zur nächsten Metrostation, kommen mir gelegentlich ausgeraubte traumatisierte Frauen entgegen: „Gehen Sie nicht weiter, an der Ecke lauern drei Meninos mit Messern!“ Also laufe ich zurück, nehme am Stand ein Taxi, fahre an den Kids vorbei, höre vom Motorista: „Die da werden nicht alt, hinter denen sind schon die Kollegen her.“ Diskutieren sinnlos. Grundtenor an den Stehbars: Sofort umlegen, bevor die Blödsinn machen.
Straßenkinder-Experten wie Roberto Santos, Leiter der angesehenen Stiftung Sâo Martinho, bestätigen, daß die Gesellschaft, besonders die Mittel- und Oberschicht, auf Repression setzt und Gewalt gegen die Minderjährigen wie nie zuvor befürwortet. Gemäß einer neuen seriösen Umfrage sind rund 52 Prozent der BewohnerInnen von Rio generell für Lynchjustiz. Den Intellektuellen, ebenso wie den in-und ausländischen NGOs, gelang es nicht, einen Meinungsumschwung herbeizuführen – die brasilianische Gesellschaft ist neoliberaler, individualistischer und deutlich egoistischer geworden. Das früher bestehende Mitgefühl etwa der Mittelschicht mit den Armen hat spürbar abgenommem. Weiter gilt, was der inzwischen verstorbene Betinho konstatierte: Das Beseitigen von als störend empfundenen Minderjährigen wird von einem Großteil der BrasilianerInnen hingenommen, toleriert, und im Sinne einer geistigen Komplizenschaft mit den Mördern sogar befürwortet.
Anti-NGO-Kampagne
Inzwischen hat sich das Problemfeld verändert. Heute über gute oder schlechte Straßenkinderprojekte, über die Unterschlagung von Spendengeldern und über Kinderelend als Bereicherungsquelle für unehrliche NGOs zu debattieren, wäre müßig. Regierungsunabhängige Organisationen, die sich direkt den Straßenkindern widmen, gibt es kaum noch. Die meisten sind schlichtweg eingegangen, seit das Ausland weit weniger Spenden überweist und die Regierung nach einer geschickt betriebenen Anti-NGO-Kampagne Gelder stoppte. Cristina Leonardo, die couragierte Leiterin des Centro Brasileiro de Defesa dos Direitos da Crianca e do Adolescente (Brasilianisches Zentrum für die Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) und Verteidigerin von Opfern und Überlebenden des Candelaria-Massakers, wie auch Roberto Santos bestreiten vehement, daß die Regierung etwa durch gute Präventivprojekte die Zahl der Straßenkinder gesenkt habe. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso sei die Situation gerade im Sozialbereich, ob Bildung oder Gesundheit, so schlecht wie noch nie. Ausländische Unterstützergruppen, so ist immer wieder zu hören, hätten eine völlig falsche, oft sozialromantische Sicht der Dinge. Größtenteils werde übersehen, was sich bereits vor dem Candelaria-Massaker 1993 deutlich abzeichnete: Das organisierte Verbrechen offeriert den Kindern und Jugendlichen vergleichsweise gutbezahlte Jobs, bei keineswegs geringerem, sondern weit höherem Lebensrisiko, doch für umgerechnet bis zu tausend Mark die Woche. In sämtlichen Slums von Rio de Janeiro, auch dies ist inzwischen ein Gemeinplatz, funktionieren selbst die vom Ausland finanzierten Hilfsprojekte nur, wenn das organisierte Verbrechen seine Zustimmung gibt. In Europa denken immer noch viele, Kinder und Jugendliche der Unterschicht würden mehrheitlich von der Militärpolizei erschossen. Seriöse Untersuchungen stellten jedoch bereits 1993 richtig, daß der große „Exterminador“ eben das organisierte Verbrechen ist. Keiner weiß das besser als die mit Cristina Leonardo kooperierende Künstlerin Yvonne Bezerra de Mello. Kinder, die nicht richtig mitziehen, etwa drogensüchtig werden und statt Profiten Verluste bringen, werden kurzerhand eliminiert. Die Leichen, so Yvonne Bezerra de Mello, verschwinden meistens. Die großen Bosse, sagt sie, wohnen natürlich nicht im Slum, sondern in den Nobelvierteln Rios. In diesen Vierteln der Geld- und Politikerelite werden derzeit Drogen verbraucht wie nie zuvor – daher die enorme Nachfrage, die den Straßenkindern Jobs verschafft.
Das beste Beispiel für die jüngeren Entwicklungen sind die Candelaria-Überlebenden: Der Trafico, wie die auf Drogen-und Waffenhandel, Entführungen und Rauberüberfälle spezialisierten Gangsterkommandos genannt werden, hat sie adoptiert. Die Leute vom organisierten Verbrechen, so Roberto Santos, zeigten sich in der Tat weitaus besser organisiert und professioneller als der Staat und die NGOs. Kinder und Jugendliche brauchen die rund 800 Slums von Rio nicht mehr zu verlassen. Die Kleinsten verdienen als Fogueteiro (Leuchtrakete) über fünfzig Mark pro Tag. Sie warnen die schwerbewaffneten Gangster mittels Feuerwerksraketen vor herannahenden gegnerischen Verbrechermilizen oder der Polizei. Fünfjährige transportieren als sogenannte Aviôes, Flugzeuge, Drogen in der Stadt, und bringen sie auch zu den privaten Bestellern der Mittel-und Oberschicht. Sieben- oder Achtjährige haben für gewöhnlich schon Pistole oder Revolver im Hosenbund. Als Soldados schließlich gehören sie zum martialischsten Teil der nach militärischem Vorbild streng hierarchisch gegliederten wichtigsten Syndikate Comando Vermelho (Rotes Kommando) und Terceiro Comando (Drittes Komando). Soldados kontrollieren die Ein- und Ausgänge der Steilhangslums. Sie schießen auf Verdächtige, nehmen an Gefechten und Massakern teil, führen Mordbefehle aus und sind bei Entführungen und Banküberfällen dabei.
Kultur feudalistisch-machistischer Werte
Mit Reinaldo Guarany, militanter Diktaturgegner und einer der Entführer des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben im Jahre 1970, fahre ich eine enge steile Straße des malerisch wirkenden Bergstadtteils Santa Teresa hinunter. An der ersten Biegung richtet am Favela-Eingang ein nur mit Shorts und Sandalen bekleideter Zwölfjähriger seine verchromte MP auf uns. Er bräuchte nur einmal durchzuziehen, und alle im Wagen wären tot. Das passiert auch gelegentlich – im Drogenrausch sehen die Soldados in jedem einen Gegner, erschießen sogar die eigene Freundin oder Frau. Guaranys Kommentar: „Noch vor zwei Jahren habe ich hier viele von den Jungs, die mir heute mit MPs begegnen, Murmeln spielen sehen – sie wurden zu Soldaten des organisierten Verbrechens, prahlen damit herum und rühmen die Banditen als ihre Helden.“
Guarany sieht es nicht anders als Anwältin Cristina Leonardo: „Daß heute die große Mehrheit der Meninos de Rua beim Trafico ist, bedeutet, daß Staat und Regierung sie im Stich ließen und die Sozialprogramme einschränkten. Wenn ein Junge mit acht Jahren schon mit einer nordamerikanischen Heeres-MP umzugehen weiß, wird es kompliziert. Darüber spricht niemand, aber genau das müßte das Hauptthema sein!“ Die Drogenprobleme und das Ausmaß des organisierten Verbrechens herunterzuspielen, ist für sie „scheinheilig“.
Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, sieht inzwischen in den Slums eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte fest installiert – hingenommen von den Autoritäten des Staates. Denn die Herrschaft des organisierten Verbrechens über Rios Slums verhindert auf perfide Weise, daß deren BewohnerInnen politisch für ihre Rechte kämpfen. Immer wieder werden engagierte BürgerrechtlerInnen, die Selbsthilfegruppen in den Slums leiten und sich dem Normendiktat der Gangster nicht beugen wollen, zur Einschüchterung aller ermordet. Auch von ehemaligen, vom Trafico rekrutierten Straßenkinder.
So wollte im September eine 83-jährige Frau nicht mehr akzeptieren, daß Gangsterkommandos bei Gefahr stets ihr winziges Slum-Grundstück passierten. Sie diskutierte mit den Banditen. Eines Nachts wurde sie deshalb von einer Gruppe grausam ermordet. Ein brasilianischer Bekannter wohnt unglücklicherweise nur wenige Schritte von einem Kommando-Treffpunkt entfernt. Er muß mitansehen, wie dort Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefoltert, gekreuzigt, mit Schüssen durchsiebt werden. Mehrfach feuerten Jugendliche unter Drogeneinfluß in seine Haustür, und hätten die zwei kleinen Söhne treffen können. Die Kids tragen übrigens bevorzugt deutsche G-3 – und schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre. Weil diese eine besonders große Reichweite haben, werden immer mehr Stadtbewohner durch verirrte Kugeln getötet oder verwundet.
In Rio ist die Gewöhnung an diese tägliche Barbarei die Regel – in Deutschland dagegen, so scheint es, haben nur wenige die Entwicklungen der letzten Jahre und deren politische Dimension zur Kenntnis genommen. Andere wollen sie nicht wahrnehmen. Sie müßten sich sonst von ihren liebgewordenen Brasilien-Klischees trennen.
In einem 17stündigen Prozeß wurde der Führer der brasilianischen Landlosenbewegung MST José Rainha zu 26 Jahren und sechs Monaten Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord verurteilt. Mit vier zu drei Stimmen befand die Jury den 36jährigen für schuldig, obwohl der zur Tatzeit 1000 Kilometer vom Tatort entfernt war.
Lange vor dem Prozeß gegen den populärsten, charismatischsten Landlosenführer kündigte amnesty international an, daß es im Verfahren nicht mit rechten Dingen zugehen wird. Aber die bösen Erwartungen wurden noch übertroffen. Der 36jährige José Rainha erhielt im Juni 26 Jahre und sechs Monate Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord, der 1989 im Bundesstaat Espírito Santo begangen wurde. Amnesty international protestierte umgehend und erklärte Rainha für unschuldig: Das Urteil erinnere an Diktaturzeiten. Bleibe es auch beim zweiten Verfahren im September bei diesem Strafmaß, werde er zum politischen Gefangenen erklärt und ai rund um den Erdball für seine Freilassung mobilisieren. Nicht einmal die juristischen Mindestregeln seien im Prozeß eingehalten worden, kritisierte ai: Weder durch Beweise noch durch Zeugenaussagen konnte bestätigt werden, daß Rainha am Tatort war. Im Gegenteil gibt es Nachweise, daß er sich tausend Kilometer entfernt aufgehalten hat. Mit dem Gerichtsverfahren sollte viel mehr die Landlosenbewegung MST eingeschüchtert werden, die zur zweitwichtigsten Stimme der Opposition geworden ist.
Auch die katholische Kirche Brasiliens, in der Rainha seine politische Laufbahn begann, steht weiterhin zu ihm und unterstrich, daß den 922 Morden an BauerngewerkschaftlerInnen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Landlosen, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen von 1990 bis 1995 nur 47 Gerichtsverfahren und nur fünf verurteilte Täter gegenüberstehen, von denen zwei aus dem Gefängnis flohen.
Im Visier: Das MST
Daß Rainha noch lebt, grenzt fast an ein Wunder: Seit 1987 verfolgt ihn die berüchtigte Todesschwadron Escuderie Le Cocq seines Heimatstaates Espírito Santo, in dem er als Landarbeitersohn aufwuchs. Rainha entging Hinterhalten, überlebte Mordanschläge und konnte nur einmal durch Schüsse verwundet werden. Zwei seiner engen Freunde, Pfarrer Gabriel Maire und Gewerkschaftsführer Edson Ramos, dagegen starben 1988 im Kugelhagel der Pistoleros.
Ein Jahr später kam es zu einem Schußwechsel zwischen einem Großgrundbesitzer, seinem ihn begleitenden Militärpolizisten und einer Gruppe von Landlosen. “In Wahrheit verteidigten sich die Sem Terra, die Landlosen, gegen jenen Fazendero, der ein Blutbad anrichten wollte.” meint Anwalt Osmar Barcellos. Zeugen wollen Rainha bei der Schießerei gesehen haben, beschreiben ihn als ziemlich dick, mit rundem Gesicht und kastanienfarbigen Haaren. Rainha ist jedoch geradezu dürre, hat ein längliches Gesicht und schwarze Haare. Und vor allem wurde er zur Tatzeit nicht nur von zwei Lokalparlamentariern, sondern auch einem Obersten der Militärpolizei des nordöstlichen Bundesstaates Ceará gesehen. Beim Prozeß wurden aber weder Zeugen der Anklage noch der Verteidigung angehört. Die laut Nachrichtenmagazin Veja gravierendste Verurteilung einer brasilianischen Führungspersönlichkeit seit der Rückkehr zur Demokratie wird deshalb von zahlreichen Juristen und Kriminalisten des Landes als schlechter Witz bezeichnet, die Strafe als “absurd”. Auch das Pastoralbüro für Landangelegenheiten der Bischofskonferenz kritisierte, daß mit dem Schauprozeß nicht Rainha, sondern die gesamte Landlosenbewegung getroffen werden sollte. In vielen Medien dagegen wurde das Urteil einseitig dargestellt und sogar begrüßt: das MST also doch die Bande von Mördern, gewalttätigen Gesellen und Gesetzesbrechern, wie die mächtigen Großgrundbesitzer immer behaupten?
Käme Rainha tatsächlich hinter Gitter, wäre das für das MST ein herber Verlust. Niemand sonst hat in Brasilien so viele Besetzungen brachliegender Latifundien mit durchgeführt, hat so große Erfahrungen und kennt Brasilien und die Landlosenbasis so gut. An die zwanzig Prozesse wurden gegen Rainha geführt, etwa 50 Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet – ohne Erfolg. Hinter Gittern saß er bereits mehrfach, internationale Proteste führten jedoch stets zu seiner Freilassung.
Ist Rainha nur eine Art MST-Profi-Funktionär? Er besitzt vier Hektar im Hinterland des Bundesstaates Sâo Paulo, pflanzt Paprika, Mais, Tomaten und Melonen, und gehört zu einer Associaçao comunitaria mit 16 Familien. Von der brasilianischen Zeitschrift Imprensa nach seiner Schulbildung gefragt, antwortete er: “Ich war nie in der Schule. Lesen und Schreiben habe ich mir mit fünfzehn zuhause beigebracht. Wir waren eben verdammt arm, meine Brüder arbeiteten auf dem Feld, um zu Überleben. … Ich lese gerne. Von Frei Betto kenne ich fast alle Bücher – der ist mein Freund.”
Unter dem Druck von Gerichtsmedizinern, Kriminalisten und der Öffentlichkeit sieht sich Brasiliens Justiz gezwungen, den Mord an Paulo Cesar Farias, Symbolfigur für Korruption in Politik und Wirtschaft, erneut zu untersuchen. Die bislang verbreitete offizielle Tatversion ist nicht mehr haltbar.
Mit der finanziellen Unterstützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias, im Volksmund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsidentschaftswahlen. Aber auch nach der Wahl versorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch seines Amtes enthoben wurde, mit reichlich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Beweisen” 1994 in einem offensichtlich politisch motivierten Korruptionsprozeß freigesprochen, lebt Collor heute in Miami. PC bekam sieben Jahre, die er größtenteils höchst komfortabel im offenen Strafvollzug von Maceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.
PCs Comeback
Als ihn 1996 in seiner Wochenendvilla im Nordoststaat Alagoas der tödliche Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein politisches Comeback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zuständige Polizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahlköpfig-charmante Tangotänzer sei wegen Beziehungsproblemen von seiner Freundin Suzana Marcolino erschossen worden, die anschließend an seiner Seite Selbstmord begangen habe. – Spott und Ironie war der Tenor von Brasiliens Leitartikeln. Als Tatmotiv wurde allgemein Queima de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenommen, da PC exzellenter Kenner der brasilianischen Korruptionsmechanismen war und strenggehütete Geheimnisse der jüngeren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemeinen Verblüffung bestätigte zwei Monate später der bis dahin landesweit hochangesehene Gerichtsmediziner Badan Palhares nach vor Ort angestellten Untersuchungen die Version des Polizeichefs. Für die Regierung schien der Fall damit erledigt.
Von Anfang an hatte der alagoanische Gerichtsmediziner und Militärpolizeioberst George Sanguinette mit einem hohen Maß an Zivilcourage öffentlich auf Ungereimtheiten bei dem Mord hingewiesen. Seine ermittelnden Kollegen würden von “oben” gewaltig unter Druck gesetzt, bei dem Verbrechen handele es sich um einen Doppelmord. Sanguinette erhielt daraufhin Morddrohungen und wurde wegen seiner Aufmüpfigeit zeitweise unter Hausarrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht einschüchtern, wies überzeugend grobe Ermittlungsfehler nach, und veröffentlichte darüber sogar ein Buch. Die Untersuchungen wurden schließlich wiederaufgenommen. Die jüngste definitive Expertise vom Mai macht die bisherige offizielle Version zu Makulatur. Suzana Marcolino konnte nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschriebenen Weise umgebracht haben — gemäß der zuständigen Staatsanwältin weisen die Indizien nunmehr auf Doppelmord hin. Als PC und dessen Freundin bereits tot waren, wurden nachweislich Telefongespräche mit der Wochenendvilla geführt. Die Leichen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.
Zivilcourage eines Gerichtsmediziners
Laut Sanguinetti steht die Mafia von Alagoas hinter der Tat. Mittlerweile wurden auch Verbindungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waffenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC studierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die italienische Polizei vier Konten des Ermordeten ausmachen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar deponiert: Ein Bruchteil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschätzung nach säßen bei strengeren Gesetzen gegen Korruption im Wahlprozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bauunternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Gittern. Und er muß es wohl am besten wissen.
KASTEN
Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?
Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich vielverlegte brasilianische Romancier, staunte nicht schlecht, als er bei der Premiere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaikfußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Hakenkreuz nach dem anderen kunstvoll aufgereiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von einem Schauspieler erworben und in ein Theater umgewandelt worden war, hatte niemand Anstoß an der auch vom angrenzenden öffentlichen Platz deutlich erkennbaren Hakenkreuzornamentik genommen.
Obwohl in den brasilianischen Zeitungen häufig über Hakenkreuzschmierereien in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie über die entsprechenden Proteste jüdischer Organisationen berichtet wird, verkaufen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nachproduzierte Metall-Erinnerungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ostmark, Pfingsten 1933 in Regensburg”, darauf das Hakenkreuz unter’m Reichsadler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vornamen Hitler – die Eltern waren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Cantalice läßt einen Parlamentsabgeordneten wegen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt revoltieren, behält Polizeichef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhandlungen über Geiselfreilassungen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfahren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vornahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jüdischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbüchern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechender Proteste. Vergangenes Jahr hat erstmals auch die jüdische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf verurteilt, daß sogar im wichtigsten brasilianischen Nachschlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wucherer” definiert bzw. charakterisiert wird.
Der Präsident will wiedergewählt werden. Die entsprechende Verfassungsänderung kam Ende Januar nur mittels Stimmenkauf und andere Machenschaften durchs Parlament – sagten damals Kirche, Opposition und Medien. Doch niemand konnte es beweisen. Jetzt liegen Gesprächsmitschnitte vor, denen zufolge Cardosos rechte Hand, Kommunikationsminister Sergio Motta, den Stimmenkauf veranlaßte. Eine unbekannte Zahl von Abgeordneten erhielt demnach jeweils umgerechnet an die 300.000 DM in bar. Cardoso war noch nie so in der Bredouille.
Was Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Regierungsallianz zählende Kongreßabgeordnete erläutern klar und unzweideutig eine großangelegte Stimmenkaufoperation. Cardosos Intimfreund Sergio Motta von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gouverneure der Teilstaaten Acre und Amazonas umgerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier ausgezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wiederwahl-Novelle votierten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung allergrößte Bedeutung beigemessen worden.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeordneten, die die Verfassungsänderung stets öffentlich ablehnten, dann doch der Novelle zugestimmt. In den abgedruckten Gesprächsmitschnitten werden fünf bestochene Deputados aus Acre namentlich genannt, doch weit mehr sollen Summen zwischen 200.000 und 300.000 Reais erhalten haben. Diese bezeichen die Darstellungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Partei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld erhielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig angesehen, die Mitschnitte somit als authentisch betrachtet. Warum nur diese beiden und nicht die anderen Deputados – die zwei Gouverneure und der Minister?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gegebene Antwort: Entläßt Cardoso Minister Motta, wie sogar die PFL-Spitze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Collor-Impeachment von 1992.
Kurse der Stimmenbörse
Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, erhob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Regierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kongreßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kongreßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf einer Stimmenbörse. Am Morgen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais gehandelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung passieren würde. Einige Parlamentarier verlangten sogar 300.000 Reais. Kurz vor der Abstimmung glaubte die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- beziehungsweise verkaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verhindert, die ihr hätten gefährlich werden können. Zwar bekam die Opposition die nötigen Unterschriften der Abgeordneten zusammen, ohne die ein Ausschuß nicht gebildet werden kann. PFL und PSDB entsandten jedoch nicht die vorgeschriebenen Repräsentanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokratisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Gesprächsmitschnitte hatte die Opposition die Unterschriftenliste rasch komplett – auf Anweisung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten lassen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskonferenz CNBB hat den Megaescândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffentlichtes CNBB-Dokument, in dem die Regierung der aktiven Korruption beschuldigt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlnovelle heißt es, die Regierung besorge sich bei für sie interessanten Vorlagen die nötigen Stimmen ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Untersuchungen und Zeugenaussagen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf verwickelt. Im archaischen Nordosten, so Anwälte gegenüber den Lateinamerika Nachrichten, sei allgemein bekannt, daß der deutschstämmige PFL-Chef Jorge Bornhausen mit prallgefülltem Geldkoffer herumreise, Politiker besteche und den Stimmenkauf organisiere. Bornhausen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Partei Arena. Cardosos Vize Marco Maciel gehörte ebenfalls zur Arena und zählte zu den aktivsten Unterstützern der Foltergeneräle.
Alte Kameraden
Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch abgesetzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Folha de Sâo Paulo die Mitschnitte erhielt, hat inzwischen betont, weitere Tonbänder zu besitzen, auf denen noch mehr Personen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanterweise vor der Veröffentlichung der Mitschnitte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Veja, sie seien überzeugt davon, daß der PFL-Gouverneur von Amazonas mit der Absicht des Stimmenkaufs nach Brasilia gekommen sei. Mit Koffern voll Geld sei der Gouverneur in den Wiederwahl-Prozeß hineingegangen. Warum stellte die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Meinungsumfrage führt die Popularitätskurve des Staatschefs nach langer Stabilität erstmals deutlich nach unten. Brasiliens Börsen reagierten auf die Veröffentlichung der ersten, brisanten Mitschnitte in der Folha am 13. Mai sofort mit Kursabfall. Die Echtheit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Jene zwei Abgeordnete, die den Wortlaut des Abdrucks bestritten, stehen bös’ da. Ganz zu schweigen von den anderen Verwickelten.
Sie hatten angenommen es sei nur ein Bettler, verteidigten sich die fünf jungen Täter, die in Brasilia das schlafende Oberhaupt der Pataxó-Indianer Galdino Jesus dos Santos anzündeten. Der Fall erregte gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil es sich um einen Indigena handelte, reiht sich jedoch ein in die zunehmende Gewalt gegen Wohnungslose. Die Täter kommen meist aus der Mittel- und Oberschicht.
Die Avenida Rio Branco, einstige Prachtstraße Rio de Janeiros, bietet nachts ein deprimierendes Bild. Weil seit 1995 infolge von neoliberalen Regierungsprogrammen die Arbeitslosigkeit steil anstieg und Sozialeinrichtungen schlossen, liegen so viele Obdachlose, Bettler, psychisch Kranke und Straßenkinder wie selten zuvor aufgereiht nebeneinander auf dem Bürgersteig; nicht wenige nutzen als Unterlage oder zum Zudecken lediglich Zeitungspapier oder Pappe. Neuerdings hat ein Großteil von ihnen Angst, Opfer jener Brandattacken zu werden, die sich auch in Sâo Paulo und selbst in der Hauptstadt Brasilia häufen: Nur Schritte von der Avenida Rio Branco entfernt, übergoß vormittags eine gutgekleidete Frau einen sitzenden Bettler mit reichlich Alkohol, warf zynisch lachend ein brennendes Streichholz auf ihn. Und verschwand im Menschengewühl, während der Mann die Flammen zu ersticken suchte. Dreißig Prozent der Haut verbrannten, derzeit liegt er in einem öffentlichen Hospital der Sieben-Millionen-Stadt, das pro Monat mindestens zwei wohnungslose Brandopfer behandelt. Oft kommt indessen jede Hilfe zu spät, wie die fast täglich veröffentlichten Fotos von verkohlten Leichen beweisen.
Ivan Bertanha, Leiter einer Hospitalabteilung für Verbrennungen in Sâo Paulo, betont, daß die Eingelieferten fast nie gerichtsverwertbare Angaben liefern können: “Sie sagen, daß sie in Flammen stehend aufgewacht sind und keine Verdächtigen gesehen haben.” Pataxó-Häuptling Jesus dos Santos verbrannte in Brasilia lebendig, nachdem nicht weniger als zwei Liter Alkohol über ihn ausgegossen worden waren. Die inzwischen gefaßten fünf Täter aus Elitefamilien verteidigten mit dem Argument, sie hätten ihn “nur” für einen Bettler gehalten. Für regierungskritische Menschenrechtler und Soziologen spricht dieser Satz Bände. Herbert de Souza Betinho, Führer der nationalen Kampagne gegen Hunger und für Bürgerrechte, nennt das Handeln der jungen Männer einen Hinweis “auf den Grad der Degenerierung in bestimmten höheren Schichten der brasilianischen Gesellschaft.” Helio Bicudo, enger Mitarbeiter des Kardinals von Sâo Paulo und Kongreßabgeordneter der Arbeiterpartei PT, konstatiert, die brasilianische Gesellschaft entwürdige die Armen und banalisiere das Leben. Der angesehene Sozialwissenschaftler und Therapeut Jurandir Freire Costa bringt sogar die Globalisierung mit ins Spiel: Junge Männer, wie jene fünf von Brasilia, kennen die reiche “Erste Welt” sehr gut und glauben, eher per Zufall in Brasilien zu leben. Widerwillig sind sie dort mit einer Mehrheit von “Häßlichen, Armen, Zahnlosen und Nicht-Weißen” konfrontiert, analysiert Costa weiter. Eine Art von Umgang mit dieser Realität sei, sie nicht wahrzunehmen, eine andere, diese sogar physisch zu eliminieren. “Wir reden viel über die Modernisierung Brasiliens, doch wenig über die Befriedung der Gesellschaft”, sagt Oscar Vieira, Generalsekretär des UN-Lateinamerika-Instituts und weist auf die Straffreiheit hin, von der besonders die High Society profitiert. Gemäß neuesten UNO-Angaben werden in Brasilien mehr Menschen durch Feuerwaffen getötet als in jedem anderen nicht durch Krieg gezeichneten Land. In Sâo Paulo kann die Polizei bestenfalls in zwanzig Prozent der Fälle die Täter identifizieren, was nicht bedeutet, daß diese auch verhaftet werden.
Der neue Sport der Besserbetuchten
Inzwischen wurden sehr unvollständige Angaben über die Anzahl wohnungsloser Brandopfer veröffentlicht. Allein in der Hauptstadt Brasilia sind seit 1988 mindestens 29 Bettler angezündet worden. In Sâo Paulo und Rio sind mehrere Wohnungslose pro Monat betroffen. Brandattacken sind jedoch nicht alles: So gehört es in den genannten drei Städten zum makabren Sport Besserbetuchter, etwa nach der Disco vom Wagen aus auf schlafende Wohnungslose zu schießen. Auch ein Polizeioffizier Rios pflegte, gerichtlichen Zeugenaussagen von 1994 zufolge, seine Waffen nachts an Bettlern zu testen.
Schließlich wurden 1990 in der Stadt Matupá drei arbeitslose Landarbeiter, die versucht hatten, eine Fazenda zu überfallen, in Anwesenheit von Polizisten und einem Politiker auf offener Straße lebendig verbrannt: das von einem Amateur gedrehte Video der Untat übergab die katholische Kirche internationalen Menschenrechtsorganisationen. 22 Personen wurden zwar angeklagt – zu einer Bestrafung ist es aber bis heute nicht gekommen.
Wegen des spektakulären Brandanschlags auf Galdino Jesus dos Santos interessiert sich die brasilianische Öffentlichkeit auf einmal für das Leben der Pataxó. Nach Angaben der Kirche wurden in den letzten Jahren in Südbahia 24 Pataxó-Indios von Pistoleros der Großgrundbesitzer oder diesen selbst erschossen, 47 überlebten Mordversuche, 48 Indios starben wegen unterlassener Hilfeleistung.
Ein Großteil Südbahias war ursprünglich Pataxó-Land. Doch vor und während der Militärdiktatur legten Latifundistas im Stammesgebiet Kakaofarmen an, von denen auch große internationale Schokoladenmarken ihren Rohstoff beziehen. Vor Gericht streiten die Pataxó seit 15 Jahren um die Rückgabe von etwa 36.000 Hektar – 788 Hektar waren ihnen zwar von der Justiz zugesprochen, de facto aber nie übergeben worden. Der Stamm nutzt jetzt die Gunst der Stunde: Zur Beerdigung von Häuptling Jesus dos Santos kamen TV-Teams, Presse und sogar der Chef der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI, Julio Geiger. Nach der Beisetzung durften weder er noch die Journalisten das Reservat verlassen, vielmehr wurden sie gezwungen, die Pataxó beim Besetzen von vier benachbarten Kakaofarmen zu begleiten. Umringt von Indios mit Feder-Kokarden, Wurfspiessen, Pfeil und Bogen, mußte Geiger grimmigen Blickes als erster das aufgebrochene Farmtor jenes Großgrundbesitzers durchschreiten, der die Pataxó am meisten terrorisiert – während diese aufpaßten, daß die Szene für die TV-Abendnachrichten auch ordentlich gefilmt wurde. Erst nachdem das Gebiet ohne Gewalt und Zwischenfälle besetzt worden war, ließen sie den FUNAI-Chef und den Medientroß von dannen ziehen.
Die Aufnahmen gehen um die Welt: Polizisten errichten eine Straßensperre und terrorisieren vorbeikommende PassantInnen. Niemand wehrt sich: aus Angst, erschossen zu werden. Der Präsident ist international entrüstet und die heimischen Intellektuellen schweigen.
Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadistischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Strassensperre zu errichten und zufällig vorbeikommende BewohnerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blutig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort Sozial- und Menschenrechtsarbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten absolut normal und alltäglich ist. Der jüngste Fall von Polizeiterror erregt indessen enormes Aufsehen, weil jemand gut versteckt tagelang alles filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilianischen, sondern auch im nordamerikanischen, europäischen und asiatischen Fernsehen gezeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Padres protestieren vehement, stellen nicht anders als amnesty international (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greueltaten nicht überraschen. In ganz Brasilien würden die Menschenrechte von der Militärpolizei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unterprivilegierten Schichten, Anzeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies exemplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mitglieder einer Todesschwadron, die in jüngster Zeit mindestens dreizehn Menschen ermordet hat. Fünf Beamte standen bereits wegen acht Morden sowie Mordversuchen und schwerer Körperverletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Entrüstung im Ausland wurden inzwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Regierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.
Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung
Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien geschürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesellschaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibrutalität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbrechensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinamerikas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen SlumbewohnerInnen schlichtweg ignorierten. In Brasilien, so ai auf Anfrage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerechtfertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal überfallen und dabei zwei Gäste erschossen zu haben. Glücklicherweise fand man eher durch Zufall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.
“Beifall” für Todesschwadrone
Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blutbäder, sowie andere Aktionen der Todesschwadronen von sehr vielen BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Jurandir Freire Costa, Therapeut und Direktor des Instituts für Sozialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Oberschicht, so Costa, spreche SlumbewohnerInnen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und reagiere daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Betto, enger Mitarbeiter von Kardinal Arns, teilt den Standpunkt von Costa, zählt den Sozialwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadronen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Gespräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens protestierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso gegen all diese Greueltaten und verlangten energische Maßnahmen. Deren brasilianische KollegInnen duldeten indessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gravierende Verletzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Lateinamerikas, seien daher mitschuldig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektuellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffentlichen Meinung genössen, würden von Brasilia mit Posten, Positionen und Geldern begünstigt. Oder klarer ausgedrückt: korrumpiert. Der Theologe erinnerte auch daran, daß viele Intellektuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schriftsteller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filmemacher wie Héctor Babenco sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos ausgesprochen hatten. Positive Ausnahme: Chico Buarque. “Daß all diese Personen sich heute passiv verhalten”, so Frei Betto weiter, “wird von den Intellektuellen Europas natürlich bemerkt. Warum protestieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Brasilien nicht – wie steht es daher um deren Seriosität?” Sie sei nicht vorhanden, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Geisteswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Carandiru-Gefängnis Sâo Paulos eingekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht gestellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich angeprangert hatte. Im selben Jahr erschossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru mindestens 111 Häftlinge.
Zum Lärm um das Amateurvideo meint Frei Betto, das brasilianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall doppelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Firmenfilialen wird von einem Gouverneur und engem Vertrauten aus des Staatschefs Sozialdemokratischer Partei PSDB regiert. Gleiches trifft auf den politisch Hauptverantwortlichen des Landlosenmassakers von 1996 im Amazonasbundesstaat Pará zu – und auch auf den Gouverneur Rio de Janeiros, wo ein Blutbad an Minderjährigen dem anderen folgt.
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
In der größten Demokratie Lateinamerikas gehören die berüchtigten “Esquadrôes da Morte” auch über zehn Jahre nach Diktaturende zum Alltag. Sie ermorden Kinder, Jugendliche, Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner. Unter der Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Fernando Henrique Cardoso hat laut ai die Gewalt stark zugenommen.
An einem Februarnachmittag geschieht in Rio de Janeiros Slumgürtel Baixada Fluminense erneut, was viele in der Ersten Welt für unvorstellbar, unmöglich halten: Sechs aufgeweckte Jugendliche zwischen fünfzehn und siebzehn springen auf einen Linienbus auf und machen sich zweier “Vergehen” schuldig: Um nicht bezahlen zu müssen, passieren sie nicht das Drehkreuz des Buskassierers sondern bleiben, wie es täglich unzählige Schüler und Arbeitslose tun, auf den hintersten Bänken, lärmen, trommeln Disco-Rhythmen. Dem Kassierer wird es zu bunt. Er fordert zwei bewaffnete Sicherheitsleute der Busgesellschaft auf, die Jungen zum Schweigen zu bringen. Der Fahrer hält an, die sechs werden mit vorgehaltener Pistole zum Aussteigen gezwungen, müssen sich in einer Reihe auf die Erde knien. Dann werden sie kaltblütig mit Kopfschüssen außergerichtlich exekutiert, wie es ai und andere Menschenrechtsorganisationen stets in Untersuchungsberichten nennen. Die Mörder unterziehen sich, wie üblich, nicht der Mühe, die Toten zu verstecken oder zu verscharren. Ein Jugendlicher überlebte die Schüsse noch eine halbe Stunde, hätte gerettet werden können. Doch niemand der vielen herbeigelaufenen Neugierigen rührte aus Angst vor Rache eine Hand: Die Killer hatten es verboten, keiner der Gruppe sollte davonkommen.
Schlag für Rios Olympia-Bewerbung
Bereits in den 80er Jahren war die Baixeda Fluminense von den Vereinten Nationen als gefährlichste Stadtzone der Welt eingestuft worden – bis heute werden hier Morde selten aufgeklärt. Gemäß einer neuen Untersuchung sahen über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner schon einen Mord.
Auch diese Bluttat wäre gemäß jüngster Praxis von Öffentlichkeit und Medien übergangen worden, wenn nicht das Internationale Olympische Komitee gerade über die Kandidatur der Sieben-Millionen-Metropole am Zuckerhut für die Spiele 2004 entscheiden würde. In weltweit verbreiteten Imagekampagnen hatten Brasiliens Autoritäten für Rio getrommelt und stets argumentiert, daß sich Gewalttaten doch schließlich heute in allen großen Städten ereigneten. Die Nervosität der Politiker war nach dem Massaker groß. Anders als bei vorangegangenen Verbrechen dieser Art mußten Rios beste Kriminalisten Tag und Nacht nach den Tätern fahnden. Zeugen hatten sie laut Presseangaben zweifelsfrei erkannt. Einer gehört zu Rios Munizipalgarde und wird gemäß der engagierten Staatsanwältin und Killerkommando-Expertin Tania Salles Moreira stets dann als Mittäter genannt, wenn es in Bussen zu “Exekutionen” gekommen sei. Der andere leitet eine der zahlreichen regionalen Todesschwadronen.
Morddrohungen gegen holländischen Menschenrechtsaktivisten
Immer mehr brasilianische Pfarrer, Bischöfe, Sozialarbeiter, Künstler und Menschenrechtsaktivisten, die gegen das Wüten der Killerkommandos protestieren, werden durch Morddrohungen unter Druck gesetzt, müssen aus Sicherheitsgründen ihren Aktionsradius stark einschränken. Dies gilt auch für das neueste Blutbad. Zwei der Ermordeten stammten aus Slums, in denen das auch mit Geldern der deutschen Bundesregierung arbeitende Sozialinstitut IBISS seit Jahren Projekte realisiert. Der holländische Direktor Nanko van Buuren hatte als Arzt im zuständigen gerichtsmedizinischen Institut die beiden ihm bekannten Jugendlichen identifiziert – an der Ausgangspforte wurde er derweil von zwei Bewaffneten erwartet. Sie zeigten sich über alle Details der IBISS-Projekte gut informiert und drohten, den 48-jährigen umzubringen, falls er sich in die Ermittlungen einmische und juristisch gegen jene Busgesellschaft vorgehe, zu deren Sicherheitspersonal die Todesschützen nach bisherigen Ermittlungen gehören. Van Buuren hatte 1996 Bundespräsident Herzog während dessen Rio-Aufenthalts mit den IBISS-Projekten vertraut gemacht, hält zu ihm ständig Kontakt. “In Europa”, so der Experte, “schenkt man wahrheitsgemäßen Berichten über die Realitäten Rios gewöhnlich keine Beachtung. Das Ausmaß der Greueltaten gegen Arme und Verelendete wird für unwahrscheinlich gehalten.”
Politiker verwickelt
Duque de Caxias, Satellitenstadt Rios in der Baixada Fluminense, ist seit langem wegen der Todesschwadronen berüchtigt. Gegen Bürgermeister Zito dos Santos läuft ein Prozeß, weil er den Mord an einem seiner politischen Gegner befohlen haben soll. Mehrere seiner Kritiker, aber auch Menschenrechtler beschuldigen ihn, in Killerkommando-Aktivitäten verwickelt zu sein. Zito dos Santos gehört zur Sozialdemokratischen Partei von Staatschef Fernando Henrique Cardoso, dem Rios Pfarrer Caio Fabio vorwirft, zwar die monetäre Inflation, nicht aber die Abwertung des Lebens gestoppt zu haben. Todesschwadronen sind in ganz Amazonien und in Millionenstädten wie Manaus, Sâo Paulo, Salvador de Bahia, Recife, Fortaleza und Natal aktiv. In letzterer Provinzhauptstadt hatte der angesehene Menschenrechtler und Anwalt Francisco Negueira gegen die größtenteils aus Polizisten bestehenden Kommandos ermittelt: Vergangenen Oktober wurde er auf offener Straße durch MPi-Salven ermordet. Daraufhin forderte die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Brasilia auf, weiteren zehn von Kommandos in Natal Verfolgten Personenschutz zu gewähren.
KASTEN
Was ist das für ein Land?
In den Favelas, im Senat
Überall Dreck.
Die Verfassung achtet niemand,
Aber alle glauben an die Zukunft der Nation.
Was ist das für ein Land?
In Amazonas, in Arraguaia, in der Baixada Fluminense,
Mato Grosso, den Geraes und im Nordosten alles ruhig.
Im Tod finde ich Frieden, aber das Blut fließt weiter,
Befleckt die Papiere, die wahren Dokumente,
Auf denen der Patron sich ausruht.
Was ist das für ein Land?
Song von Renato Russo (Legiâo Urbana)
Schweine in Uniform
Die Männer des Gesetzes sind alle Verbrecher
Sie töten unschuldige Leute und machen in Ruhe weiter.
Unausgebildet, inkompetent handeln sie wider die Vernunft,
Anstatt für Sicherheit zu sorgen
Verängstigen sie die Bevölkerung.
Sie sind darauf trainiert, eine reiche Minderheit zu beschützen
Vor der armen Mehrheit, die mit ihrem Leben bezahlt.
Und wenn Du ein Arbeiter bist,
Dann hast Du die idealen Voraussetzungen,
Um in das Netz zu stürzen
Der offiziellen Todesschwadronen,
Schweine in Uniform.
Sie halten sich für Männer
Aber in Wirklichkeit ehren sie
Nicht einmal ihren Namen.
Bulle, mit Verlaub,
Ich werde die Dinge beim Namen nennen:
“Mit der Pistole in der Hand bist Du ein grimmiges Tier, ohne sie schwänzelst Du rum und Deine Stimme kiekst wie im Stimmbruch.”
Song von Marcelo D2 und Rafael (Planet Hemp)
Brasilianische Rapper- und Hip-Hop-Gruppen verarbeiten die brutale Realität in ihren Songs.
Übersetzung: Alina González / Elisabeth Schumann
Von 1964 bis 1985 unterdrückte Brasiliens Militärregime Andersdenkende und militante Oppositionelle auf grausamste Weise: Todesschwadronen ermordeten unzählige Gegner der Diktatur, politische Gefangene wurden Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen oder aus Helikoptern gestoßen, in Stücke gehackt, verscharrt an Stränden Rio de Janeiros – Brutalität war alltäglich. Daß der US-Geheimdienst CIA den Repressionsapparat der Generäle auf vielfältige Weise unterstützte, wußten Menschenrechtsgruppen aus dem In- und Ausland schon damals. Jetzt sorgen Dokumente über die damaligen CIA-Aktivitäten in Brasilien für Schlagzeilen.
Wie die angesehene Zeitung O Estado de Sâo Paulo berichtet, konnte die nordamerikanische Soziologin Martha Huggins bislang geheimgehaltene Kongreßdokumente einsehen, die die Komplizenschaft des CIA mit dem Unterdrückungsapparat von damals bestätigen. Das Fazit der 53-jährigen Wissenschaftlerin: “Die Teilnahme der CIA am Alltag der politischen Repression ist bewiesen – die Dokumente sprechen sogar von gemeinsamen Operationen – die amerikanische Demokratie partizipierte an der Schaffung eines unterdrückerischen Staates.”
Besonders gravierend ist für Martha Huggins, daß die CIA Spezialkommandos für die brasilianische Polizei ausbildete. In Rio de Janeiro wurde eine “Elite” von vierzig Beamten zum Grundstock der berüchtigten Todesschwadrone: “CIA-Agenten nahmen an Operationen in den Slums teil, aber auch an der politischen Unterdrückung – und berichteten alles, was sie sahen, nach Washington.” Bis heute sei in den USA wenig bekannt, daß die CIA bei der Ausbildung von Polizisten in anderen Ländern mitmacht: “Unsere Demokratie benutzte die Polizeibeamten, um in anderen Ländern eine ideologische Kontrolle auszuüben.”
CIA läßt Dokumente verschwinden
Ein anderes interessantes Detail der Recherchen von Martha Huggins: Die CIA half beim Aufbau des Diktaturgeheimdienstes SNI mit, “lieferte sogar eine Liste mit den Namen geeigneter, vertrauenswürdiger Mitarbeiter.” Auf einer anderen Liste waren alle Personen verzeichnet, die gemäß CIA-Einschätzung nach dem Militärputsch von 1964 verhaftet werden sollten.
Ärgerlich für die Soziologin, die bereits drei Bücher über Brasilien veröffentlichte, ist, daß laut Gesetz zwar jeder US-Bürger offizielle Dokumente über Regierungsaktivitäten einsehen darf, wenn diese länger als 25 Jahre zurückliegen – jene Seiten jedoch der Kongreßpapiere mit CIA-Berichten über Folterungen der politischen Polizei Brasiliens sind unleserlich gemacht; manchmal fehlen sogar ganze Blätter.
In mühseliger Kleinstarbeit gelang es der Expertin, 26 Folterer von politischen Gefangenen ausfindig zu machen und unter Wahrung der Anonymität zu interviewen. Einer davon, Militärpolizist, mochte nicht, wie seine Kollegen, bei einem Einsatz gefangengenommene “Subversive” mit Schlägen traktieren und die Frauen vergewaltigen. “Ich forderte, daß es doch besser sei, alle zu töten, anstatt sie zu foltern”, sagte der Militärpolizist zu Martha Huggins und berichtete auch über den Abschluß der Operation: Alle Gefangenen wurden hoch über der Wildnis lebendig aus einem Helikopter gestoßen.
Folterer heute in führenden Positionen
Helio Bicudo, während der Diktatur Präsident einer kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, hat die Aussagen der Soziologin bestätigt. Bicudo untersuchte damals die CIA-Aktivitäten ebenso wie das Wüten der Todesschwadronen. Polizisten und Armeeoffiziere Brasiliens seien in den USA ausgebildet worden – manche, die damals zum Repressionsapparat gehörten, machten und machen Karriere. Romeu Tuma, nach der Diktatur Chef der Bundespolizei, ist heute Kongreßsenator der starken Rechtspartei PPB. Regimeaktivist Marco Maciel wurde gar Vize des jetzigen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso – für Bicude auch Beleg dafür, daß von echter Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein kann: “Hier in Brasilien haben die Leute ein kurzes Gedächtnis.”
Wie die Jahresberichte von amnesty international und Human Rights Watch zeigen, gehören Folter und Todesschwadronen auch zwölf Jahre nach dem offiziellen Ende der Diktatur weiterhin zum Alltag Brasiliens, es “verschwinden” sogar mehr Menschen als damals nach der polizeilichen Festnahme. Die katholische Kirche beklagt, daß immer mehr nichtidentifizierte Gewaltopfer beerdigt werden, ein Großteil auf den überall im Lande anzutreffenden “geheimen Friedhöfen”.
Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der jetzigen Mitte-Rechts-Regierung ist in ganz Brasilien die Arbeitslosigkeit deutlich angestiegen; im Hinterland von Maranhao wurde deshalb laut Experteneinschätzung die Prostitution von Kindern und Jugendlichen erschreckenderweise zur wichtigsten und manchmal einzigen Einkommensquelle armer Familien. Nicht zuletzt die Kirche hat sich dem Problem angenommen.
Zu Dutzenden stehen zwölf- und dreizehnjährige Mädchen bereits in der Nachmittagsschwüle an der Brücke über dem von Hütten gesäumten Rio Mearim und bieten sich den Passanten für nur fünf Realen an,- das sind nicht einmal acht Mark. Andere warten in den von madames oder früheren Amazonas-Goldgräbern geführten Billigbordellen der neuen Rua do Campo auf Kunden. Doch auch dort sind sie keineswegs geschützt vor der Brutalität, die das Milieu prägt: Messerstechereien, Schußwechsel mit tödlichem Ausgang sind keine Seltenheit, wobei häufig Drogenkonsum die Hemmschwelle herabsetzt. Ausländische Sextouristen spielen hier nur eine geringe Rolle, da das im Nordosten Brasiliens gelegene Pedreiras zu weit von Touristengebieten entfernt liegt. Geradezu gierig auf möglichst junge Mädchen sind sexbesessene Machos aller sozialen Schichten aus der Stadt selbst: Nachbarn, Familienväter der Rua do Campo, Polizisten, Politiker. “Viele Mädchen prostituieren sich, weil die eigenen Eltern sie dazu anregen oder zwingen”, sagt die 52jährige Franziskanerin Maria Oliveira von der lokalen Frauenpastorale gegenüber. Sie verweist auf die Gründe der Misere: Von den rund 50 000 BewohnerInnen hat nicht einmal ein Viertel Arbeit, von denen wiederum verdienen 40 Prozent höchstens den Mindestlohn von umgerechnet 160 Mark.
Versteigerung von Jungfrauen
Pedreiras hat auch deshalb traurige Berühmtheit erlangt, weil dort in Bordellen makabere Auktionen abgehalten werden, wo Großgrundbesitzer, Politiker und Unternehmer Jungfrauen zwischen neun und vierzehn Jahren ersteigern, für eine einzige Nacht in einem besseren Stundenhotel. Anschließend werden die Mädchen gewöhnlich gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten; manche enden in den Goldgräbercamps Amazoniens.
Die Kirchengemeinde von Pedreiras fand sich mit der Situation nie ab. Pfarrer Luiz Mario Luís gründete bereits 1963 ein Rehabilitationszentrum, in dem Prostituierte lesen und schreiben sowie einen Beruf erlernen konnten.
Da die Zahl der Lernwilligen rasch zunahm, mußte das Zentrum vergrößert werden, und die Bezirksverwaltung stieg als finanzielle Trägerin mit ein. Schulunterricht erhalten inzwischen auch die Kinder der Frauen, derzeit sind es über 160 Mädchen und Jungen. Mehrere Dutzend jugendliche oder erwachsene Prostituierte sitzen auf den Bänken des Zentrums, das eher einer einfachen Lagerhalle ähnelt, und lernen Nähen sowie andere Handarbeiten. Inzwischen haben sie zum Teil Kolleginnen als Lehrkräfte. Die Direktorin und Mitbegründerin Benedita Leite versucht, sie davon abzubringen, weiter auf den Strich zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Denn wie in tausenden anderen Städten und Gemeinden der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt erhalten LehrerInnen und andere öffentliche Bedienstete auch in Pedreiras nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von umgerechnet etwa 160 Mark. Schlimmer noch: Die Bezirksverwaltung, der wichtigste lokale Arbeitgeber, zahlt das Hungersalär um bis zu elf Monate verspätet aus. “Ich gebe gerne Unterricht”, sagt eine Prostituierte, “doch das letzte Mal habe ich im August Geld gekriegt”. Viel ist es ohnehin nicht, nur an die neunzig Mark. Und Brasilien hat derzeit ein ähnliches Preisniveau wie Europa.
Erfolge – Rückschläge
Daß krasse Armut brutalisieren, verrohen und abstumpfen kann und die Betroffenen häufig dazu bringt, sich aufzugeben, beobachten Benedite Leite und die Franziskanerin Maria Oliveira täglich. In den Bretterhütten am Rio Mearim dominiert in den vielköpfigen Familien Promiskuität; Die Mädchen lernen nur die Gesetze ihres Milieus kennen und sehen die Prostitution als einzige – und attraktive – Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Ihnen Unterricht zu geben, ist extrem schwierig, denn die Mädchen sind nicht daran gewöhnt, sich zu konzentrieren und lange Zeit zuzuhören. “Wir dürfen sie nicht verurteilen, sie uns zu Feinden machen” betont Maria Oliveira, “sondern müssen immer wieder auf sie zugehen, ihnen helfen, den Raum der Kirche als Alternative anbieten.” Erfolge beim Schwimmen gegen den Strom gibt es. In der Straße am Fluß treffen sich Kinder und Erwachsene im neuen Gemeindesaal zu kirchlichen Aktivitäten, eine Jugendgruppe stabilisiert sich. Maria Oliveira lehrt Katechismus, feiert Weihnachten und Ostern in den Familien, bringt diesen die Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz nahe, und hält Kontakt zu denjenigen Frauen, die mit ihrer Hilfe aus dem Bordell in einen Beruf wechselten.
Doch die madames besorgen sich immer wieder Mädchennachschub. Dabei rekrutieren sie jetzt schon im Hinterland, ködern mit der Aussicht auf “ehrliche Arbeit” und locken damit Jugendliche in den Schuldenkreislauf. Versucht Maria Oliveira, solche Minderjährigen zur Rückkehr zu bewegen, hört sie immer wieder ein Argument: “Ich kann nicht weg, weil ich von der madame neue, schicke Kleider angenommen habe, die ich erst abbezahlen muß!” Die Franziskanerin stellt deshalb eine Bordellbesitzerin zur Rede und bekommt wie stets eine drastisch-grobe Antwort: “Meine Schuld ist das nicht. Diese Hündinnen kommen doch angelaufen und bitten mich um Arbeit!” Weil die madames den Neuankömmlingen weder den Besuch des Zentrums noch der Kirche gewähren, geht die Franziskanerin selbst zu ihnen an den Brückenstrich und setzt sich notfalls an die Bordelltischchen: “Einmal spreche ich mit den Mädchen über Gott, ein anderes Mal über Geschlechtskrankheiten und Aids. An der Brücke kommen viele schon auf mich zugerannt und umarmen mich!”
Kinderprostitution ist typisch für Brasiliens Norden und Nordosten. UNICEF, Kirche und NGOs haben in Maranhao bereits eine Kampagne gegen die praktisch straffreie sexuelle Ausbeutung Minderjähriger gestartet, denn laut Menschenrechtsaktivistin Sandra Torres gehört es bereits zur Gesellschaftskultur, abnorme Situationen als normal zu betrachten und hinzunehmen.
Während in Pedreiras Kinder aus Hunger und Not ihren Körper verkaufen, zeichnet der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso im nur 277 Kilometer entfernt Sao Luis, der Hauptstadt Maranhaos, vor Mikrophonen ein positives Bild der Lage im Lande. Der Soziologe weist auch die Kritik der Bischöfe an seiner neoliberalen Politik zurück, erwähnt weder Kindersklaverei noch Kinderprostitution oder Jungfrauenversteigerungen. Neben Cardoso steht der jetzige Kongreßpräsident und Ex-Staatschef José Sarney – seit Diktaturzeiten reichster und mächtigster Mann in Maranhao. Daß hier alles beim alten bleibt, liegt nach Aussagen von Menschenrechtlern vor allem an ihm und seinen politischen Freunden.
Der 47-jährige Schwarze Volmer do Nacimento wagte als einer der ersten Brasilianer, auf Straßenkinder spezialisierte Todesschwadronen und deren Drahtzieher öffentlich anzuzeigen. 1993 wurde er wegen vorgetäuschter Entführung und “Verleumdung von Richtern” zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, die er im halboffenen Strafvollzug verbringt (siehe LN 261). Die brasilianische Menschenrechtsorganisation Projeto Legal in Rio de Janeiro kämpft für seine Freilassung.
Am schlimmsten sind die Sonn- und Feiertage. Dann muß Volmer den ganzen Tag in einer engen Gefängniszelle verbringen, im fünf Autostunden nördlich von Rio gelegenen Provinzstädtchen Natividada. Seine Frau und seine Kinder sitzen derweil traurig nur rund 300 Meter von Nacimento entfernt. Der Bürgerrechtler liest dann stapelweise Bücher und Zeitungen, schmiedet Pläne für die Zeit nach der Haft, und erinnert sich auch an die Gespräche mit dem Präsidenten des Europaparlaments. Wütend macht Nacimento, daß er die nach wie vor aus Straßburg hereinflatternden Einladungen nicht annehmen darf. “Ich bin ein Gefangener, weil ich es selbst will, denn mit meinem Wagen könnte ich fast jederzeit fliehen – und niemand würde mich finden.” Der langjährige Koordinator der nationalen Straßenkinderbewegung tut es nicht. Schließlich trägt Nacimento die Verantwortung für mehrere von ihm selbst gegründete Projekte, die er selbst leitet. Zu einem der wichtigsten, einer auch mit deutschen Geldern finanzierten Landwirtschaftsschule für Jugendliche, eilt er an Arbeitstagen jeden Morgen. Der gelernte Buchhalter, dessen sozialpolitisches Engagement in Basisgemeinden und Pastoralen der katholischen Kirche begann, empfängt die bislang neunzig SchülerInnen, berät sich mit AgronomInnen, ZootechnikerInnen und LehrerInnen, verteilt Aufträge: “Die Eltern der meisten Jugendlichen hier sind verelendete Wanderarbeiter der Region, mit ihnen ziehen sie herum, schuften auf Plantagen der Großgrundbesitzer, gehen so gut wie nie in die Schule, flüchten aus Perspektivlosigkkeit in die Slums von Rio. Die Schule wurde gegründet, damit die Kinder hier bleiben, die Landflucht gestoppt wird.”
Die Landflucht stoppen
Jeder Schüler bekommt monatlich umgerechnet rund neunzig Mark und damit weit mehr als für Plantagenarbeit. Das Geld stammt von zwei holländischen Unternehmern. Der deutsche Children Mission Fund in Überlingen zahlt die Löhne der LehrerInnen und beteiligte sich am Bau des Schulhauses am Rande von Natividade in tropischer Idylle. Es ist nur halbfertig, ein Provisorium – in Deutschland würde niemand darin lernen und lehren wollen. Und auch die vom deutschen Konsulat in Rio finanzierten Ausrüstungen für ein Laboratorium zur einfachen Heilmittelherstellung können nicht installiert, rund 300 Kursanwärter nicht aufgenommen werden. Die Schuld trägt laut Volmer do Nacimento die Mitte-Rechts-Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso und dessen Freund aus der Sozialdemokratischen Partei PSDP, Rio-Gouverneur Marcello Alencar. Während eines Belgienbesuches 1995 traf Cardoso überraschenderweise auf eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, die ein Poster von Nacimento trugen und dessen Freilassung forderten. Wie stets in solchen eigentlich brenzligen Fällen stimmte Cardoso taktisch geschickt mit den KritikerInnen überein: “Ihr habt recht – wir werden damit aufhören.” Das Versprechen blieb folgenlos und auch die zum Jahresbeginn 1996 vertraglich zugesicherten rund 90.000 DM von Comunidade Solidaria, dem von der Präsidentengattin geleiteten Wohlfahrtsprogramm, trafen bisher nicht ein. Ebensowenig, trotz mehrfacher Mahnung, die etwa 100.000 DM des Rio-Gouverneurs. “Wir werden immer nur mit Ausflüchten abgespeist”, kommentiert Nacimento, “aber viele andere NGOs bekommen versprochene Mittel ebenfalls nicht – wofür ist die Comunidade Solidaria dann eigentlich da? Wir können nicht immer nur mit Geld aus dem Ausland arbeiten – wo bleibt da die eigene Verantwortung Brasiliens?” Den britischen Konsul in Rio, der dem Schulprojekt einen Traktor spendierte, verblüfft ebenfalls, daß die Regierung nichts überweist. Dagegen wird laut Presseangaben ein existierender “Sozialer Dringlichkeitsfonds” fast täglich vom Mitte-Rechts-Kabinett angezapft, um Diplomatenempfänge, Bankette oder üppige Geschenke für ausländische Gäste zu finanzieren.
Die achtzehnmonatigen Kurse der Escola Fasenda laufen dennoch weiter. “Fast alle, die mit amtlichem Zertifikat abschließen werden, haben bereits eine Arbeitsstelle sicher,” freut sich Nacimento, “nach der Präfektur sind wir hier der zweitgrößte Arbeitgeber!” Abends muß der nicht nur in Europa bekannteste Häftling Brasiliens wieder in die Zelle. Der Polizeichef von Natividade bekam bereits aus aller Welt über tausend Protest- und Solidaritätsbriefe, mindestens ebensoviele landeten beim Gouverneur von Rio und im Justizministerium.
Nacimento leidet indessen sichtlich unter der Situation, wollte 1996 durch einen Hungerstreik die Wiederaufnahme seines Verfahrens und Ermittlungen gegen Todesschwadronen und deren Hintermänner erreichen – was nicht gelang. Eine der wichtigsten moralischen vor allem aber juristischen Stützen ist die Menschenrechtsorganisation Projeto Lagal in Rio de Janeiro. Sie erreichte bisher, daß Nacimento seine Haft nicht unter ständiger Lebensgefahr in einer völlig überfüllten Zelle Rios, sondern im halboffenen Vollzug in Natividade verbringt. Für Anwalt Carlos Nicodemos, Leiter des ebenfalls vom deutschen Children Mission Fund unterstützten Projeto Legal, ist der Prozeß gegen Nacimento kafkaesk: “In Untersuchungsberichten des Bundesparlaments und selbst der Abgeordnetenkammer des Bundesstaates Rio über die Ermordung von Kindern und Jugendlichen, ebenso in der Presse, werden dieselben Richter wegen ihrer Verwicklung in Aktivitäten von Todesschwadronen aufgeführt, die auch Volmer do Nacimento nannte.”
Anwalt Nicodemos eilt mindestens einmal im Monat mit dem Wagen nach Natividade, spricht seinem Mandanten Mut zu. Dessen Geburtstag im vergangenen November fiel ausgerechnet auf einen Sonntag. Daß er ihn dank Nicodemos nicht durchweg in der Zelle verbringen mußte, sondern mit seiner schwangeren Frau und den Kinder zusammensein konnte, war wieder ein kleiner Sieg.
Letzte Meldung: Seit Anfang Januar hat Volmer rund um die Uhr Freigang, d.h. er muß sich jetzt lediglich regelmäßig bei der Polizei melden. Und die schlechte Nachricht: Nach heftigen Regenfällen versank das Gelände der Landwirtschaftsschule unter einer vierzig Zentimeter dicken Schlammschicht. Die Gebäude stehen zwar noch, aber die Ernte ist völlig zerstört.
Der Ehemann ist weiß, die Ehefrau ist schwarz. Am Hoteleingang verwehrt ein Wächter der Ehefrau den Zutritt: Prostituierte dürfen nicht mit aufs Zimmer. Wer glaubt, dieser Vorfall wäre die Ausnahme, irrt. Unter der Oberfläche scheinbarer Integration zeigt sich das Bild einer verdeckten Apartheid.
Die Schwarzen müssen wissen wo ihr Platz ist, lautet eine uralte, immer noch hochaktuelle Redewendung in Brasilien. Gemeint ist damit: Sklavennachfahren haben nichts in der Mittel- und Oberschicht, deren Kreisen und Ambiente zu suchen. Sie werden entsprechend stigmatisiert und behandelt. Wie dies in der Praxis funktioniert, bekam jetzt der Züricher Fritz Müller, Fachdirektor der Credite-Suisse-Bank, in Rio de Janeiro zu spüren. Als er mit seiner schwarzen, aus Rio stammenden Ehefrau Adriana nach einem Restaurantbesuch ins First-Class-Hotel Intercontinental zurückkehrte, wurde Adriana von einem muskulösen Wachmann grob gestoppt: Eine Garota de Programa, so heißen Prostituierte im Rio-Slang, dürfe nicht mit aufs Zimmer. Direktor Müller ließ sich von seiner Frau übersetzen worum es ging und schlug gehörigen Krach, stellte den Wachmann zur Rede, verlangte von der Hotelleitung eine formelle Entschuldigung. Denn ohne entsprechende Vorschrift hätte der Wächter kaum so gehandelt.
Rassismus – Machismus
Die Zeitung O Globo beschrieb den Fall unter der treffenden Überschrift “Fünf-Sterne-Rassismus”. Kaum ein mit einer dunkelhäutigen Brasilianerin befreundeter oder verheirateter Europäer, der in Rio, Sâo Paulo, Salvador de Bahia oder Fortaleza nicht ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wer brasilianisches Portugiesisch nicht versteht, bekommt kaum mit, daß der Gang über die Strandpromenade für seine Partnerin gelegentlich einem Spießrutenlauf gleicht. Weiße Mittelschichtsmachos der übelsten Sorte, in Brasilien alles andere als dünn gesät, lassen eine Bösartigkeit oder Obszönität nach der anderen fallen, gehen davon aus, daß der tumbe Gringo sicher nichts versteht und wohl immer noch glaubt, was die meisten Reiseführer kolportieren: Brasilien, ein wundervoller Schmelztiegel der Rassen, ein Beispiel gelungener Integration verschiedener Hautfarben, von Diskriminierung keine Spur.
Wer aber die Oberfläche, die schillernde Erscheinungsebene verläßt, stößt auf Brasiliens hocheffiziente verdeckte Apartheid. Die ist von den schwachen, wenig respektierten Schwarzenorganisationen weit schwerer zu packen und zu attackieren als die aus Südafrika bekannte offene Rassentrennung. Schwarze, MulattInnen gehören in die Slums, in die Unterschicht, in die drekkigsten, schlechtbezahltesten Berufe. Schwarze Frauen sind gemäß diesem Denk- und Verhaltensmuster Hausdienerinnen, Reinemachefrauen, bestenfalls Supermarktkassiererinnen. Oder aber: Schwarze Frauen sind bis zum Beweis des Gegenteils Prostituierte, Touristenhuren, die man entsprechend behandeln kann.
Untersuchungen belegen, daß informelle Mechanismen gewöhnlich den Aufstieg Dunkelhäutiger in gutbezahlte qualifizierte Mittelschichtsberufe verhindern. Privatbanken bilden da keine Ausnahme. Bei mehreren spricht das gängige System der zwei Kundenschlangen Bände. Wer besser verdient und umgerechnet mindestens einige tausend Mark auf seinem Konto hat, steht in der kürzeren Fila, wird bevorzugt behandelt und ist gewöhnlich weiß. Wer zu den Schlechtbezahlten gehört, aber glücklich ist, dennoch ein Konto besitzen zu dürfen, muß in der längeren Schlange gelegentlich Stunden warten, schaut neidisch, frustriert oder mit Groll auf die Bevorzugten mit dem dickeren Geldbeutel. Welche Hautfarbe in der langen Fila dominiert, läßt sich in Rio gut beobachten.
Wer mit dunkler Haut dennoch den sozialen Aufstieg schafft, hat im Alltag fast pausenlos Ärger. In Sâo Paulo wird eine erfolgreiche schwarze Schauspielerin von weißen Madames immer wieder auf der Straße gefragt, ob sie nicht als Hausdienerin anfangen wolle, sie sehe so gut und gesund aus. Der schwarze Sänger und Komponist Dicró wird in Rio de Janeiro von Sicherheitsleuten zu seiner eigenen Show nicht auf die Bühne gelassen. Ironisch erklärt er: “Mehrmals haben sie mich auch schon geschnappt, als ich meinen eigenen Wagen klauen wollte.” Wie überführte Autodiebe werden ebenfalls immer wieder gutverdienende schwarze Fußballspieler traktiert, die teure Importwagen fahren. Oleude Ribeiro vom Verein Portuguesa von Sâo Paulo wurde mit Blaulicht in seinem Ford-Jeep gestoppt und mit dem Revolver am Kopf gründlich durchsucht: “Mein tiefentsetzter kleiner Sohn wollte danach wissen, ob diese Männer Banditen waren. Schwierig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.”
Der auch in Europa bekannte schwarze brasilianische Musiker Djavan erläutert: “Wenn du berühmt wirst, verlierst du sozusagen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen. Sie beginnen nur, dich zuzulassen.”
Unter der Regierung von Präsident Cardoso verschlechtert sich die Lage in den total überfüllten Gefängnissen weiter. “Niemand ist an einer Resozialisierung der Häftlinge interessiert,” so Padre Mauzeroll von der Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche.
Eine mittelalterlich anmutende Gefängniszelle in Rios Stadtteil Realengo. Gesetzlich hat jeder der mehreren Dutzend Insassen Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter, hier dagegen hat er nicht einmal einen einzigen. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil auf dem feuchten Beton liegt, hängt der andere in Stoffschlaufen darüber, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu bietet sich ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern, beißender Fäkaliengeruch, nachts Ratten, die psychische Spannung fast mit Händen greifbar. Neun von zehn haben Krätze und Furunkel. In der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu sechzig Grad in den Zellen, täglich fallen dann an die zwanzig Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt. Um aus dieser Hölle herauszukommen, in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit umgerechnet bis zu 5.000 DM. Es gibt auch Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld zusammenlegen und dann den Begünstigten wie in einer Lotterie per Los bestimmen. In Bangu kommen die notwendigen Reais von der Familie oder von Verbrechersyndikaten. Je größer, je unerträglicher die Hitze, umso höher steigen die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Nur einmal am Tag gibt es Essen von haarsträubender Qualität, Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt. Folterungen sind die Regel, nicht nur in Rios Gefängnissen. Ein Anwalt beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene mit Elektroschocks, alle wiesen Blutergüsse auf und wurden darüberhinaus zu sexuellen Handlungen gezwungen.”
Fast täglich werden Fälle totgefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt. Doch die politisch Verantwortlichen rühren sich kaum, nur wenige Intellektuelle protestieren und die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Nach dem letzten offiziellen Zensus bieten die 511 Gefängnisse Brasiliens Platz für höchstens 60.000 Personen. Mit über 148.000 Gefangenen sind sie damit mehr als doppelt belegt. Notwendig, so heißt es, seien 145 neue Gefängnisse. Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent Männer, etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten; die meisten von ihnen werden allerdings der Öffentlichkeit verheimlicht.
Pervertieren statt resozialisieren
Amnesty international und Human Rights Watch/Americas prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten als “puren Horror” an. Aber auch die Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der Pastoral Carçeraria im Bundesstaat Sâo Paulo: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier. Niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung der Insassen interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen. Sie läßt sie intellektuell, seelisch, moralisch, kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Padre Mauzeroll hört auf Polizeiwachen und in Gefängnissen sehr häufig den Spruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die Gefängnisse und leitete die letzten sechs Jahren die Seelsorge. Was er täglich zu sehen bekommt, scheint kommerziellen Horrorfilmen entlehnt: Häftlinge verfaulen buchstäblich in ihren Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst Kriminelle, weil sie Kranke bewußt nicht behandeln, sie sterben lassen, dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen werden. Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die sehr wohl über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind und dennoch nicht eingreifen.
Gefängnisleitungen und Wärter ermöglichen den Drogenhandel und -konsum hinter den Gitterstäben. Ein Direktor zu Padre Mauzeroll: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Ein besonders finsteres Kapitel ist darüber hinaus die sexuelle Gewalt, die von perversen Aufsehern sogar gefördert wird. Padre Mauzeroll: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken ihn die Wärter extra in bestimmte Massenzellen, damit er dort von fünfzehn, zwanzig Häftlingen vergewaltigt wird. Das ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Selbst nach amtlichen Angaben haben sich bereits über zwanzig Prozent der Insassen mit dem Aids-Virus infiziert. Ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt, Promiskuität ist normal.
Vitor Carreiro teilte in Rio eine Zelle jahrelang mit 47 anderen Häftlingen, hat jetzt sichtbar Aids und sagt es deutlich: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” José Ferreira da Silva, ebenfalls HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern. Keiner hatte Präservative benutzen wollen.
“Wenn die Lage in den Gefängnissen in Sâo Paulo und Rio de Janeiro bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Gebieten des Nordens und Nordostens sein?” Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu so vielen Landsleuten um solche unbequemen Wahrheiten nicht. Er hat keine Probleme damit, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Doch wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel – Pistoleiros, Berufskiller, erledigen dies. Padre Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Sie ist schuld an der grauenhaften Situation!”
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor. 1992 wurden im Gefängnis Carandiru von Sâo Paulo mindestens 111 Insassen von Militärpolizisten massakriert. Politisch Verantwortliche und direkt Beteiligte blieben bisher straffrei. Die letzte Revolte in Carandiru ereignete sich Ende Oktober. 670 Gefangene nahmen dort 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Gefangene versuchten mit einem Müllfahrzeug zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Die Rechtanwältin Zoraide Fernandez weist noch auf eine besondere Absurdität hin. Tausende von Häftlingen werden nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang festgehalten, allein in Rio waren es 1995 mindestens 560. Hinzu kommen jene, die unrechtmäßig in die Zellen von Polizeiwachen gepfercht und dort mitunter regelrecht vergessen werden.
Staatspräsident Cardoso präsentierte in Brasilia mit großem Pomp einen “Nationalen Plan für Menschenrechte” – doch die Show stahl ihm Luiz Mott, intellektueller Führer der brasilianischen Schwulenbewegung. Weil die Homosexuellen in dem Dokument nicht einmal erwähnt werden, entrollte Mott ein Transparent “Gays querem Justiça”- (Schwule wollen Gerechtigkeit) und nannte Fakten zur systematischen Verfolgung der Homosexuellen in Brasilien.
Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und galten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kommandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmänner stoßen die beiden bis zur nahen Bahnlinie, dann krachen Pistolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ihrem Blut, stellen erschüttert Kerzen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Brasilien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Homosexuellen her. Seit 1980 wurden über 1300 Schwule ermordet, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr unvollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letzten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorurteile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens verschweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Sekretär für Menschenrechte der Brasilianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordostbrasilianischen Küstenmetropole Salvador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, verfolgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Machismus”, die Täter gingen gewöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter ermittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Gericht und wurden dann fast immer freigesprochen.
Archiv über Homosexualität
Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinamerikanischen Archiv über Homosexualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenvereinigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besucher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höflich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexuelle teilnehmen. Vor dem Abstieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präservative, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe besonders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vorsicht – suche Deine amantes besser aus”, steht groß auf Schautafeln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermorden!” Die Warnung ist nicht unbegründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salvador sauber – töte jeden Tag einen Homo!”
Erscheinungsebene – Wirklichkeit
Brasiliens Schwulenszene präsentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeitschriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen weiter, scheint sogar stark zuzunehmen. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Überlebenshandbuch” publiziert, das zahlreiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasilia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen bekannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.
Umfragen und Machismus
Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsentative Umfragen: So würden 36 Prozent der BrasilianerInnen einem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kollegen bewußt fernhalten, 56 Prozent würden zumindest ihr Verhalten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, akzeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Homosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne erzwingen müßten.
Politisches Asyl für Schwule
Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Tenorio, Luiz Mott trat in dem Asylverfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Medien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylstatus, wollen aber anonym bleiben, aus Angst, daß Familienangehörige in Brasilien Repressalien erleiden könnten. Eine unbekannte Zahl brasilianischer Homosexueller lebt illegal in den USA. Möglicherweise werden jetzt weitere einen Asylantrag stellen.
KASTEN
Staatstrauer für Ex-Diktator
Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im September 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso geladen worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Geisel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Orlando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die keineswegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, foltern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeitzeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Diktaturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Großteil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit begangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amtsvorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.
Hintergrund von 2001:
„Unerklärter Bürgerkrieg“ in Brasilien
Über 40000 Morde jährlich/Zunahme von Attentaten
Im Kontext der jüngsten internationalen Konflikte weisen brasillianische Experten immer nachdrücklicher darauf hin, welche hohen Menschenopfer der sogenannte „unerklärte Bürgerkrieg“ in Brasilien kostet. Wie die Universitätsprofessor und Politik-Berater Gaudencio Torquato jetzt in einer Analyse mit dem Titel „Wir und Afghanistan“ betonte, werden aus politischen und kriminellen Motiven selbst laut den geschönten offiziellen Angaben jährlich rund 40000 Menschen ermordet.
Hätte Deutschland, mit einer etwa halb so großen Bevölkerung, diese Rate, wären es pro Jahr etwa 20000 Getötete. Tatsächlich waren es im Jahr 2000 laut BKA-Angaben nur 1015.
Torquato zählte zu den Gründen der hohen Opferzahlen, daß die zehntgrößte Wirtschaftsnation anders als Afghanistan zwar sämtliche Hochtechnologie der letzten Generation nutze, die soziale Polarisierung zwischen den Privilegierten und den armen Schichten sich jedoch weiter verschärft habe. Die hohe Gewaltrate habe dazu geführt, daß nachbarschaftliches Zusammenleben immer weniger gepflegt werde, die brasilianische Gesellschaft sich von der menschlichen Solidarität verabschiede. Gängige Reaktion angesichts der täglichen Morde sei leider nur:“Gut, daß es mir nicht passiert ist.“
Derartige Verfallsprozesse resultieren laut Torquato aus einer „politisch-institutionellen Kultur“, die sich mit den alltäglichen Skandalen um hohe Volksvertreter und den Fällen von Regierungskorruption weiter degradiere.
Brasilianischer Menschenrechtsaktivist
“Generation eiskalter Killer“ wächst heran
Brasilien züchtet nach den Worten des angesehenen Menschenrechtsaktivisten Eduardo Capobianco „eine Generation eiskalter Killer“heran.“Sie töten einen Menschen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie eine Coca-Cola trinken“, sagte er im Dezember während der Auszeichnung mit einem Bürgerrechtler-Preis in Sao Paulo. Capobianco, Präsident von zwei regierungsunabhängigen Institutionen, die das organisierte Verbrechen sowie die tiefverwurzelte Korruption in Politik und Wirtschaft bekämpfen, hatte erst Anfang Dezember in der City der 17-Millionen-Stadt ein Attentat überlebt. „Brasilien hat gravierende soziale Ungleichheiten und eine kapitalistische Kultur, die auf dem Konsum basiert, Städte des Konsumismus wie Sao Paulo. Das stimuliert letztlich Gewalt – Armut allein ist dafür nicht verantwortlich zu machen.“ In entwickelten Ländern wie Japan entfalle statistisch pro Jahr ein Mord auf hunderttausend Einwohner – in einer Stadt wie Sao Paulo seien es dagegen gemäß offiziellen Zahlen immerhin fünfzig. Indessen gebe es bereits leichte Fortschritte bei der Verbrechensbekämpfung, die Arbeit seiner beiden Institutionen mißfalle der Gegenseite sehr und habe das Attentat bewirkt.
Capobianco überlebte den Anschlag nur, weil er eine Mappe mit Büchern vor die Herzgegend hielt, Kugeln darin steckenblieben bzw. nur seine Beine trafen. Weder die Polizei noch er selbst haben einen Hinweis auf die Täter und deren Hintermänner.
In den letzten drei Monaten kam es in Brasilien zu einer Attentatsserie, bei der mehrere Gewerkschaftsführer, ein progressiver Großstadtbürgermeister sowie Umweltaktivisten getötet wurden, Bombenanschläge forderten glücklicherweise keine Opfer. Eine bislang unbekannte rechtsextreme Organisation schickte Morddrohungen an 37 Bürgermeister der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT im Industrie- Teilstaat Sao Paulo, dessen Bruttosozialprodukt das von ganz Argentinien übertrifft.
Systematische Folterungen weiter alltäglich – trotz Anti-Folter-Gesetz
Menschenrechtler skeptisch über offizielle PR-Kampagne
Der Dreißig-Sekunden-TV-Spot ist gut gemacht, drastisch-realistisch: Ein Mann, halbnackt, blutend, gefesselt, wird von einem Sadisten gequält, mit dem Kopf immer wieder in einen Wassertank getaucht, soll Informationen preisgeben, ein Geständnis ablegen. Ein Dritter sieht die Szene, rennt zum Telefon, wählt die neue Gratis-Nummer von „SOS Tortura“, erstattet anonym Anzeige. Jeder sollte ab sofort genauso handeln, lautet der Appell an die Fernsehzuschauer – „denn Folter ist ein Verbrechen!“ Daß Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, jetzt auch in Rundfunk und Presse eine solche Medienkampagne starten ließ, einmalig in der Geschichte Brasilien, könnte die Menschenrechtler des In-und Auslands optimistisch stimmen. Doch Skepsis überwiegt. Befürchtet wird, daß Brasilia damit lediglich auf Imageverbesserung bei den Vereinten Nationen zielt. Deren Experte für Folterfälle, Nigel Rodley, hatte letztes Jahr nach einer Reise durch mehrere Teilstaaten die Zustände als erschreckend und eigentlich unbeschreiblich angeprangert. Nicht anders sieht es Amnesty International, stellte deshalb in der 17-Millionen-Stadt São Paulo, Lateinamerikas führendem Wirtschaftszentrum, im Oktober kurz vor Kampagnebeginn der brasilianischen Öffentlichkeit den neuesten Bericht über Folter und Mißhandlungen vor. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen, gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Laut Patrick Kopischke, Brasilien-Experte von Amnesty International, hat der starke politische Druck, die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, dazu geführt, daß Folter andere Ermittlungsmethoden ersetzt. Allein in São Paulo, wo über eintausend deutsche Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, ansässig sind, werden laut offiziellen Angaben monatlich über 440 Menschen ermordet. Zum üblichen Nachrichtenangebot der Radio-und TV-Stationen gehören die unaufhörlichen Gefangenenrevolten in den mit fast 100000 Insassen völlig überfüllten Polizeiwachen, Haftanstalten und provisorischen Gefängnissen der Metropole. Pro Monat werden rund eintausend weitere mutmaßliche oder tatsächliche Straftäter in teils fensterlose Zellen gepreßt, wo bereits bis zu 168 Männer auf einem Raum zusammenhocken müssen, der eigentlich nur für höchstens dreißig gedacht war. Wegen der schlechten Luft, der unhygienischen Zustände, des ständigen Fäkaliengeruchs und des damit verbundenen psychischen Drucks sind Aufstände die logische Folge – niedergeschlagen werden sie mit äußerster Brutalität, gibt es fast immer Tote. „Man greift auf Folter und Mißhandlungen zurück, um ein katastrophales Gefängnissystem unter Kontrolle zu halten“, betont deshalb Kopischke, grundlegende Reformen seien nötig, nicht nur kosmetische Verschönerungen. Aktivisten von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen Brasiliens empört zudem besonders, daß das auf ihren Druck hin erlassene Anti-Folter-Gesetz von 1997 an den Zuständen kaum etwas änderte, Täter gewöhnlich straffrei ausgehen, selbst aus der Diktaturzeit berüchtigte Folterer weiter im Dienst sind. Gemäß neuen UNO-Angaben verzeichnet der Teilstaat Minas Gerais die meisten bekanntgewordenen Folterfälle, ist die Polizeibrutalität traditionell besonders hoch. Dies gilt als Erbe des Militärregimes(1964-1985), als Fachleute der CIA gemäß Angaben von Zeitzeugen den Militär-und Zivilpolizisten in Kursen auch Foltertechniken beibrachten. „Heute noch sind es die gleichen“, so der renommierte Menschenrechtsanwalt Antonio Aurelio, „vor allem Elektroschocks, Aufhängen kopfunter an einer Stange, Eintauchen in Wassertanks, Schläge auf beide Ohren, Erstickungsanfälle mittels über den Kopf gestülpten Plastiksäcken“. Im Juni letzten Jahres wurden in einer Polizeiwache São Paulos etwa zweihundert Gefangene, einer nach dem anderen, völlig unbekleidet, mit Elektroschocks gepeinigt. Bei weiteren Mißhandlungen starb ein Insasse, dreißig weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Die beteiligten Polizeikommissare sind weiterhin im Dienst. Beim Interview mit dem Polizeichef einer nordostbrasilianischen Stadt fand dieser nichts dabei, den an den landesüblichen Elektroschock-Apparaturen verwendeten Regler sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen.
Über 40000 brasilianische Kinder arbeiten auf stinkenden Müllbergen
Unicef und NGO entwickeln Alternativprojekte
Im Kriechgang, fast mit Vollgas, arbeitet sich der Müll-LKW in Serpentinen fast bis zur Haldenspitze vor, kippt dort, an der Peripherie der 17-Millionen-Stadt São Paulo, bei 35, 40 Grad Tropenhitze stinkende Abfälle aller Art ab. Auf diesen Moment haben Schwärme von Schmeißfliegen, aber auch Dutzende von Kindern und Jugendlichen nur gewartet. Mit Säcken über der Schulter stürzen sie sich auf die Ladung, sinken bis zu den Knien ein, wühlen neben schwarzen Aasgeiern nach Essensresten, Glas-und Plastikflaschen, Papier und Getränkebüchsen aus Aluminium. Alles wird getrennt, sortiert, ein Stück entfernt bei anderen Familienmitgliedern angehäuft, Alu-Büchsen tritt man mit dem Fuß platt. Metallfirmen oder Papier-und Textilfabriken nehmen alles für lächerlich geringe Preise ab – jedes dreckverschmierte, oft von Hautkrankheiten gezeichnete Müll-Kind kommt pro Tag höchstens auf umgerechnet vier, fünf Mark – überlebenswichtig für die Familien an der Slum-Peripherie von Lateinamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive, aber auch von Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder Recife. In ganz Brasilien sind es über vierzigtausend „Crianças do Lixo“, Müll-Kinder – die nie zur Schule gehen, oder es aufgaben, weil man sie lächerlich machte, diskriminierte. Vor ein, zwei Jahren waren es indessen noch über dreizehntausend mehr – bevor das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die regierungsunabhängige Organisation „Agua e Vida“(Wasser und Leben) Projekte starteten, Druck auf den Staat, lokale Behörden ausübten, um diese schändliche Form der Kinderarbeit zu bekämpfen.
Hautkrankheiten, Cholera
Daß Minderjährige in einem Land, das zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehört, den ganzen Tag im Müll waten müssen, anstatt zu spielen und zu lernen, nennt Afonso Lima, Unicef-Mitarbeiter in São Paulo, einfach entsetzlich, unmenschlich. Die Regierung hat zudem internationale Konventionen, darunter gegen Kinderarbeit unterzeichnet, die derartiges eigentlich verbieten. „Weil die meisten Kliniken ihre sämtlichen Abfälle unsortiert und unbehandelt ebenfalls auf die Halde kippen, können sich die Kinder sogar gefährliche Krankheiten holen, finden Spritzennadeln, Chemikalien aller Art.“ Für seine Kollegin Paula Claycomb aus den USA fehlt es auch an politischem Willen. „Die brasilianische Gesellschaft muß endlich verstehen, daß stinkende Abfallhalden nicht der richtige Ort für Kinder sind.“ Dabei wurde bereits eine Menge erreicht: Unicef und die NGO „Agua e Vida“ brachten in geduldiger Überzeugungsarbeit Gouverneure und viele Gemeinden dazu, Mittel für die Gründung von Müll-Recycling-Kooperativen freizugeben, sogar Gebäude bereitzustellen. Der Vorteil: Wiederverwertbares wird bereits an Wohngebäuden, Supermärkten, Bürohäusern aussortiert – und nicht erst, mit organischen Abfällen verschmutzt, auf der Halde. Resultat: Das Familieneinkommen steigt, die Kinder brauchen nicht mehr mitzuarbeiten, gehen stattdessen zur Schule. Eine geringe staatliche Hilfe von monatlich umgerechnet über zehn Mark pro Kind wird auch an viele andere verelendete Familien nur gezahlt, wenn sie ihre Kinder kontinuierlich in die Schule schicken. „Und das funktioniert“, bekräftigt die NGO-Koordinatorin Teia Magalhaes in São Paulo. „Nur ist es leider oft so: Wir holen eine Familie aus dem Müll, doch andere treten sofort an deren Stelle – Folge der Misere in Brasilien.“ Da die Cholera im Lande längst nicht ausgerottet ist, man sich gerade auf den riesigen Abfallbergen leicht anstecken kann, verbreitet Teia Magalhaes auch ein entsprechendes Aufklärungs-Video, organisiert zusammen mit Präfekturen Musik-und Tanzkurse, um frühere „Crianças do Lixo“ in der Schule zu halten, an Kultur heranzuführen.
Banker und Müllsammler
Auch über Lateinamerikas Wallstreet, die Banken-Avenida Paulista, zerren täglich ungezählte schwitzende, zerlumpte Catadores do Lixo, Müllsammler, ihre hölzernen Karren, hochbeladen mit Verpackungen und anderem Material. Eigentlich sollten die Catadores allen Respekt verdienen: Nur ihnen ist es zu verdanken, daß immerhin achtzig Prozent der Aluminium-Getränkebüchsen, siebzig Prozent der Pappe und dreißig Prozent der Flaschen recycelt werden. Nur hier und da trifft man bereits auf jene Hausmüll-Container wie in Deutschland – ausgerechnet in einem Drittweltland wie Brasilien ist Ressourcenverschwendung weiterhin die Regel. Was vergeudet wird, ob Nahrungsmittel, Strom oder Wasser, hat laut neuesten Studien immerhin einen Wert von jährlich umgerechnet über einhundert Milliarden Mark. Besonders provozierend in einem Land mit ernsten Hungerproblemen: Was São Paulos Supermärkte an Lebensmitteln wegwerfen, reichte wertmäßig bequem aus, um monatlich 600000 Slum-Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Padre Julio Lancelotti kämpft gegen Folter an Kindern und Jugendlichen
Hohes Lebensrisiko, Morddrohungen, tätliche Angriffe
Auch von Unicef wegen Engagements für Kinderrechte ausgezeichnet
„Erstmals konnten wir jetzt achtzehn Aufseher, sogar drei Direktoren, wegen Folter vor Gericht bringen“, sagt Padre Julio Lancelotti im Büro des von ihm geleiteten „Zentrums zur Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ der Millionenstadt São Paulo. Aber Freude, Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg ist ihm nicht anzumerken. Denn auf einen Schlag hat er damit noch mehr erbitterte Feinde unter den Mitarbeitern der gefängnisähnlichen Anstalten für straffällig gewordene Minderjährige(Febem). Von den letzten Attacken hat er sich noch nicht erholt: Als in einer Febem-Einheit wiederum Jugendliche gegen Mißhandlungen, Überfüllung rebellierten, fuhr er sofort hin – eine Gruppe von Febem-Angestellten schlug ihm Zähne aus, trat auf ihn ein, zerbrach die Brille. Militärpolizisten schauten bewußt eine ganze Weile zu, griffen erst spät ein. „Sogar das Kreuz, das ich um den Hals trug, ein Geschenk aus Osnabrück, wurde mir abgerissen – hier ist die Situation eben längst außer Kontrolle.“ Lancelotti, der auch ein Heim für Aids-infizierte Kinder führt, erhält regelmäßig Morddrohungen – andere Pfarrer São Paulos haben ihr Engagement für Menschenrechte bereits mit dem Leben bezahlt – in Brasilien kommt es täglich zu politischen Morden, Attentaten. Theoretisch können er und seine Anwälte sich auf das Anti-Folter-Gesetz, das Statut zum Schutze der Heranwachsenden berufen. „In Brasilien dominiert aber leider Straflosigkeit, Folterer bleiben gewöhnlich ungeschoren, werden nicht einmal entlassen, sind durch die Autoritäten geschützt.“
„Kultur der Folter“
Daß die Gesetze nicht funktionieren, erklärt Lancelotti mit für manchen Europäer sicher überraschenden Gründen:“In diesem Land existiert die Sklavenhalterkultur, auch eine Kultur der Folter weiter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Im Teilstaate São Paulo, dem reichsten ganz Brasiliens, mit weit über eintausend deutschen Unternehmen, sind in den Febem-Anstalten derzeit mehr als viertausend Heranwachsende konzentriert, täglich kommen etwa dreißig hinzu. Wo eigentlich gemäß den Vorschriften nur Platz für sechzig Minderjährige ist, werden in Zellen bis zu vierhundert zusammengepfercht, sind gewöhnlich völlig sich selbst überlassen. „Als letztes Jahr der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nigel Rodley, hier war, erklärte man ihm allen Ernstes, Jugendliche hätten sich Verletzungen selber beigebracht, im Streit miteinander.“ Der Padre, die eng mit ihm kooperierende Anwältin Francisca de Assis Soares, wissen von solchen Fällen, auch von sexueller Gewalt unter den Jugendlichen. Doch das sind Ausnahmen. Die Struktur dieser Anstalten ziele auf Unterdrückung, Entwürdigung, Verrohung – „über viele besonders sadistische Folterungen“, so Lancelotti“, reden wir öffentlich gar nicht mehr, weil es uns ja doch keiner glaubt.“ In einer Febem-Anstalt hatte man allen Ernstes Skinheads angestellt, wegen ihrer Aggressivität von den Minderjährigen nur „Pitbulls“ genannt.
Sadismus der Aufseher
Bekommen Lancelotti und sein Team Wind von Mißhandlungen, fahren alle sofort los, um gerichtsverwertbare Beweise zu sammeln, Torturen zu unterbrechen. „In einer Anstalt trafen wir auf über vierzig gefolterte Jugendliche – mit schweren Verletzungen, gebrochenen Armen und Beinen!“ Rebellieren Insassen einer Febem-Einheit, toben sich bei der Niederschlagung Aufseher, herbeigerufene Polizisten sadistisch aus.“Jugendliche mußten tagelang nackt hintereinander aufgereiht und aneinandergepreßt auf dem Boden hocken, das Geschlechtsteil am Gesäß des Vordermanns, durften nur in Plastikflaschen urinieren, die man dann über ihnen ausschüttete. Scharfe Hunde wurden rudelweise zwischen die Insassen gehetzt – wer deshalb aufstand, erhielt sofort Schläge. Und selbst das – Wärter zwingen Jugendliche, auf andere Insassen zu urinieren. Alles Folterpraktiken, tief entwürdigend!“
Aber könnte die Mitte-Rechts-Regierung unter Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Bewohner São Paulos, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, diese Zustände nicht ändern? „Brasilien ist nur eine formale Demokratie“, analysiert Lancelotti, „die Politiker in Brasilia leben wie auf einem anderen Planeten, fern der Realität, wollen von diesen Dingen nichts wissen – Zugang zu Präsident Cardoso haben wir nicht.“ Bestenfalls mit Galgenhumor registriert der Padre, welches Prestige Cardoso gerade in Europa, auch in Deutschland genießt:“Der Präsident führt sich wie ein Prinz auf, erhält überall Doktortitel. Aber wenn man in europäischen Zeitungen oder in der Genfer UN-Menschenrechtskommission über diese Zustände hier spricht – das mag er, seine Regierung, garnicht.“
Lancelotti räumt ein, daß ihn die Menschenrechtsarbeit zugunsten der Minderjährigen Brasiliens streßt, psychisch ermüdet. „Der Haß auf uns ist groß, wir werden verfolgt, lächerlich gemacht, sind nur wenige – und die Folter nimmt zu!“ Mit seiner Wochenkolumne in einer Tageszeitung São Paulos erreicht er wenigstens einen Teil der Öffentlichkeit. Und ein bißchen Mut macht, daß ihn das UN-Kinderhilfswerk Unicef im neuesten Jahresbericht ausdrücklich als Anwalt der Heranwachsenden Brasiliens hervorhebt.
Manche Medien berichten über Brasiliens gravierende Menschenrechtslage – andere nicht.
The best of non-profit advertising and marketing for social causes
Posted by Marc | 12-05-2008 23:21 | Category: Human rights, Media
Two ads from Associação Brasileira de imprensa, the Brazilian press organisation.
Copy: “A censura nunca desiste. Ela sempre volta disfarçada. 3 de Maio Dia Mundial da Liberdade de Imprensa.”
“The censorship never gives up. It always return disguised. 3th of May, world day for the freedom of press.”
I have seen more censorship ads from Brazil in the past. What going on? Is censorship a big problem in Brazil?
”Leider sind es nicht mehr so viele, die die ganze Wahrheit wissen wollen. Man biegt sehr schnell ab, um bei seiner Meinung bleiben zu können – und bei den als angenehm empfundenen Lösungen. Ich habe mir angewöhnt, Leute danach zu beurteilen: Wieviel Wahrheit erträgt jemand?” Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke im Website-Interview 2009.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/07/eu-lateinamerika-karibik-stiftung-startet-in-hamburg/
Samstag, 10. Dezember 2011 von Klaus Hart **
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
http://brueckenbauer.blogspot.com/2011_05_01_archive.html
Ausriß. Zuschauen, wie jemand in Rio de Janeiro lebendig verbrennt…Könnten Sies?
Auswärtiges Amt, Berlin:
“Ziele für die Zusammenarbeit mit
neuen Gestaltungsmächten im Bereich
Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit
Gemeinsam mit den neuen Gestaltungsmachten
streben wir ein klares Bekenntnis zu den
grundlegenden Werten des Rechtsstaates
und dem weltweiten Engagement fur die
Durchsetzung und Achtung der Menschenrechte
an.
Der Richtungspunkt unserer Initiativen
zum standigen Rechtsdialog muss sein, zugleich
das bessere Verstandnis der jeweiligen
Traditionen und der jeweiligen Kulturen
unserer Partner zu fordern. Die effektive
Durchsetzung von rechtsstaatlichen Denkens
und Handelns sowie der Menschenrechte
und einer demokratischen Gesetzgebung
wollen wir gemeinsam fordern.
Wir wollen zusammen ein Justizsystem
fordern, in dem Rechte nicht nur gewahr t
werden, sondern auch durchgesetzt werden
konnen mit einer unabhangigen Justiz, die
die Moglichkeit hat, staatliches Handeln zu
kontrollieren.”
Attentate auf Systemkritiker: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/02/10/gestaltungsmacht-brasilien-erneut-systemkritischer-journalist-erschossen-nationale-journalistenvereinigung-protestiert-reporter-ohne-grenzen-zur-pressefreiheit-unter-lula-rousseff-bundesau/
« Brasiliens Agrarminister gekippt – „wegen schwacher Leistung“, laut Landesmedien. Ministerwechsel ohne Ende in der Rousseff-Regierung. Mit Chefminister Antonio Palocci fing es an…15 Umbesetzungen in 15 Amtsmonaten. – Prinz Harry in Rio de Janeiro: Kurioser Medien-und Propagandazirkus vor allem wegen Besuch in Slumregion „Complexo do Alemao“. Wegen bewaffneten Banditenkommandos wurden sogar Panzer zur Harry-Visite aufgeboten. »
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