Der Papst besucht zunächst Mexiko, das auf dem UNO-Ranking für menschliche Entwicklung u.a. wegen der allgemein bekannten, geförderten Gewaltkultur nur Platz 57 belegt – in den letzten Jahren forderte das auch in Brasilien florierende Drogengeschäft über 50000 Todesopfer, hieß es in Medienberichten.
Kuba, die zweite Station, liegt auf Platz 51. Nächstes Jahr besucht der Papst Brasilien, das unter Lula-Rousseff weit abgeschlagen nur auf Platz 84 rangiert.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Folter in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Brasiliens Kindersoldaten: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Frei Betto beim Website-Interview im Dominikaner-Konvent von Sao Paulo.
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/879347/
Gerade ist Kuba-Experte und Bestseller-Autor Frei Betto von Havanna nach Saõ Paulo zurückgekehrt und bringt wieder einmal interessante Informationen mit. Frei Bettos Buch über seine Nachtgesprächemit Fidel Castro wurde unter dem Titel „Fidel und die Religion“ ein Weltbestseller, übersetzt in 22 Sprachen. Er verkaufte sich in 32 Ländern, darunter Deutschland sowie Kuba selbst über drei Millionen Mal.
Beim Interview in Saõ Paulos Stadtteil Pacaembu sagt der Dominikaner Frei Betto, früher habe es heftige Spannungen und Reibereien zwischen den Kirchen und der Revolutionsführung gegeben. „Das ist alles längst vorbei. Derzeit sind die Beziehungen sehr gut und herzlich, auch zur katholischen Kirche der Insel. Mein Buch hat mitgeholfen, die Probleme zu beseitigen, den Dialog zu fördern.“
Frei Betto hat dafür ein deutliches Indiz: „Als Fidel Castro jetzt in die Klinik mußte, haben die Bischöfe immerhin alle kubanischen Katholiken in einer offiziellen, bei den Gottesdiensten verlesenen Note aufgefordert, für die Gesundheit des Revolutionsführers zu beten. Und Havannas Kardinal Jaime Ortega erklärte vor Journalisten, er und die katholische Kirche würden keinesfalls eine nordamerikanische Intervention in Kuba akzeptieren.“
Die internationale Presse spekuliert massiv, daß bei einem Abtreten Castros ein tiefgreifender Wandel auf Kuba erfolgen werde. Wie sieht das die dortige Kirche? „Sie möchte zwar eine größere Öffnung des Landes, rechnet jedoch nicht mit Veränderungen. Denn die kubanische Revolution, so mein Eindruck, hat sich konsolidiert, das Volk wirkt ruhig und geeint. Die ganze Nation, selbst die Kirche, drückt dem Comandante jetzt die Daumen, damit es ihm möglichst rasch gesundheitlich besser geht. Zu möglichen gesellschaftlichen Veränderungen auf Kuba sagen mir die Leute dort, die habe es 1959, beim Übergang vom kapitalistischen zum sozialistischen System gegeben. Damals hörte Kuba auf, der große Puff der Karibik zu sein – heute hat der Inselstaat die besten Sozialindikatoren Lateinamerikas. Ich spüre nicht, daß die Bevölkerung Kubas zur früheren Situation zurück will und Zustände wie in Guatemala, Honduras oder Panama möchte. Man will Gerechtigkeit und Frieden, alle sozialen Errungenschaften, die die Revolution mit sich brachte. In diesem Sinne sind auch die Christen Kubas bereit, die Revolution zu unterstützen, damit diese weiter Vorteile für das Volk bringt.“
Daß es in Kuba anders als beispielsweise in Brasilien keine Straßenkinder gebe, sehe jeder Tourist. „Kuba ist ein armes Land, aber ohne Elend, Misere. Für die elf Millionen Bewohner sind die Basis-Menschenrechte Ernährung, Gesundheit und Bildung garantiert.“ Über den Horror in Brasiliens öffentlichem Gesundheitswesen schreibt Frei Betto regelmäßig in seinen vielen Zeitungskolumnen – daß Lulas Anti-Hunger-Programm längst noch nicht den Hunger austilgte, ist bekannt. Und der Bildungssektor unter „Hoffnungsträger“ Lula? „Es tut weh, mit ansehen zu müssen, daß das öffentliche Schulwesen heute Schrott ist, die Lehrer schlecht bezahlt werden. 65 Prozent der jungen Menschen Brasiliens zwischen 14 und 24 arbeiten nicht oder gehen keinerlei Ausbildung nach. Ich sehe keine Zukunft für Brasilien ohne eine bessere Bildung.“
Auf Kuba sei, so Frei Betto, die Religiosität nicht vorrangig katholisch, sondern durch afrikanische Wurzeln geprägt. Es habe eine Religionsvermischung stattgefunden, die man als afro-christlich charakterisieren könne. Seit der Dialog mit Regierung und kommunistischer Partei funktioniere, würden die Kirchen zunehmend in Staatsaufgaben einbezogen. Die staatlichen Hospitäler würden häufig von Religiösen geleitet. „Fidel Castro sagte mir einmal, Kliniken, in denen eine Ordensschwester der Chef sei, funktionierten viel besser als die anderen.“ Katholische und protestantische Kirche betrieben kontinuierlich Gefangenenseelsorge, Geistliche kümmerten sich um politische und sonstige Häftlinge. Die übrigen Kirchen hätten sich auf andere Bereiche konzentriert. Zentren für Volksbildung würden von den Baptisten geführt.
Frei Betto informierte sich auch über die Lage der über siebzig Castro-Gegner, die 2003 verhaftet und zu teils sehr hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden waren. „Alle sind inzwischen wieder frei, einige gingen ins Ausland. Die gesamte Gruppe wurde bei ihrer Konspiration von Diplomaten der US-Vertretung in Havanna gesteuert. Das wurde entdeckt, die Gruppe wurde verhaftet. Ich habe darüber mit Havannas Kardinal Jaime Ortega gesprochen, der die Strafen für übertrieben hielt. Doch auch der Kardinal betonte, die Gruppe sei bei der Konspiration von US-Diplomaten gesteuert worden.“
Wie hoch religiöse Fragen auf der Insel im Kurs stehen, läßt sich laut Frei Betto auch am Erfolg von Fidel und die Religion ablesen. Von dem Weltbestseller seien allein in Kuba bei einer Bevölkerung von elf Millionen Bewohnern bis heute 1,3 Millionen Exemplare verkauft worden. „Das Buch hat bewirkt, daß die Vorurteile der Kommunisten gegenüber der Religion sowie die Angst der Christen beseitigt wurden.“
Ab 1987 durften sich daher erstmals auch Gläubige der KP anschließen. „Ich fragte später einen Parteiführer, ob denn viele Christen eingetreten seien. Er sagte mir, nicht gerade viele – aber es ist etwas Unerwartetes passiert. Viele Kommunisten haben bekannt, schon immer an Gott zu glauben. Zuvor sei es nicht empfehlenswert gewesen, das offen zu sagen.“
Frei Betto nennt die soziale Lage Kubas weit besser als die Brasiliens. Nicht zufällig befinde sich Kuba auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung auf dem 52. Platz – und damit in der Spitzengruppe der Länder mit hohem Entwicklungsniveau. Brasilien rangiere dagegen auf dem 72. Platz, unter den Staaten mittleren Niveaus. Ein Vergleich zwischen Kuba und Rio de Janeiro drängt sich auf – wegen der annähernd gleichen Bevölkerungszahl. Wie ist das mit den Slums hier und dort, werden auf Kuba, gar in Havanna beinahe täglich Menschen lebendig verbrannt wie in Rio de Janeiro? Der Grüne Fernando Gabeira, einst im Westberliner Exil, stellt immer wieder heraus, daß es in Rio geheime Friedhöfe gibt, Felsenhöhlen fürs Lebendig-Verbrennen, alles gar nicht so weit von den Touristenstränden entfernt.
Zum achtzigsten Geburtstag Castros veröffentlichte Befreiungstheologe Leonardo Boff eine Zeitungskolumne. Die beginnt mit dem Satz: „Was ich hier schreibe, wird alle jene irritieren oder schwarz ärgern, die Kuba oder Fidel Castro nicht mögen.“ Boff erinnert daran, wie Castro Frei Betto und ihn regelrecht verpflichtete, Regierung und Parteiführung Kurse über Religion und Christianismus zu geben. Castro habe erklärt: „Ich bin mehr und mehr überzeugt, daß keine lateinamerikanische Revolution wahrhaft, populär und siegreich sein kann, wenn sie nicht das religiöse Element enthält.“ Leonardo Boff wollte über seine Gespräche mit Castro ebenso wie Frei Betto ein Buch veröffentlichen. „Ich hatte vier große Hefte über unsere Dialoge vollgeschrieben. Doch dann habe ich alles beim Überfall auf meinen Wagen in Rio de Janerio verloren – sie haben alles mitgenommen.“
Tags: Adveniat-Gottesdienst 2011, Brasilien, Favela Cachoeirinha, Sao Paulo, ZDF
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/26/zdf-uber-adveniat-gottesdienst-in-favela-von-sao-paulo/
Lateinamerikas teure Lebensmittel – Preissteigerungen um 40 Prozent in den letzten vier Jahren – Gefahr für Hungerbekämpfung: http://exame.abril.com.br/economia/mundo/noticias/precos-dos-alimentos-na-america-latina-sobem-40-em-4-anos–2
Bischof Bernardino sagte in Sao Paulo den Kirchenmedien vor dem Adveniat-Gottesdienst, Brasiliens durchlebe derzeit eine enorme politische Krise. Brasilien sei zwar theoretisch eine Republik, doch die republikanischen Prinzipien würden mißachtet. In der Verfassung von 1988 heiße es, alle Brasilianer hätten die gleichen Rechte. “Doch in Wahrheit ist dies eine Lüge.” Es reiche aus, in die Slums zu gehen. “Wir müssen uns von der Diktatur der wirtschaftlichen Macht befreien – und von einer politischen Macht, die sich der wirtschaftlichen Macht unterwirft.”
Leonardo Boff 2011:”Ratzinger wird als Feind der Armen in die Geschichte eingehen.”
“Die Wirtschaftskrise hat Brasilien kaum gespürt”(WAZ) Kloakegraben – nur einige Schritte vom Platz des Adveniat-Gottesdienstes entfernt. http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/15/staatschef-lula-erklart-rezession-und-krise-in-brasilien-fur-beendet-offizielle-daten-als-begrundung-grund-zum-feiern/
“…das Land die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise unbeschadet überstanden hat.” BDI 2011
Laut der Getulio-Vargas-Stiftung vom Oktober 2009 hatte die Krise indessen von den sechs wichtigsten Wirtschaftszentren Brasiliens die Megacity Sao Paulo am stärksten getroffen – das Elend habe deutlich zugenommen, hieß es gemäß Landesmedien.
Deutsche Unternehmer erklärten im Website-Interview, daß 2009 als Krisenwirkung, “der Außenhandel Brasiliens total eingebrochen ist, sowohl Export als auch Import”.
Auffällig, daß es nicht wenige ausländische und brasilianische Journalisten bewußt vermeiden, die sozialen Brennpunkte in den Slums aus der Nähe kennenzulernen. Selbst große Meinungsmacher Brasiliens äußern sich entsetzt, schockiert, wenn sie zum erstenmal im Leben die Realität einer Favela aus der Nähe sahen – gewöhnlich mit Body-Guards und TV-Gefolge an der Seite, nicht einmal in den gravierendsten Slums des Landes. Heute im marktgängigen Journalismus erbrachte Verdrängungsleistungen sind rundum beachtlich. Entsprechend gering sind die Chancen erfahrener Fotoreporter wie Barnabas Bosshart aus der Schweiz.
Ungezählte Behinderte hausen in den Slums: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/05/brasiliens-hohe-rate-von-behinderten-2391-prozent-der-bevolkerung-gegenuber-rund-1-prozent-in-hochentwickelten-landern-laut-studien/
Der soziale Aufstieg von Lula: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/04/lula-bekommt-500000-dollar-von-lg-fur-vortrag-in-sudkorea-laut-brasilianischen-landesmedien-uber-eine-million-dollar-damit-vier-monate-nach-ende-der-amtszeit-kassiert-laut-kalkulation-von-parte/
Wie in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften die Situation interpretiert wird:
Deutliches Wachstum bei Slums:
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/07/brasiliens-boom-und-die-slumhutten/
„Die Milliardärsstatistik zeigt, daß sich unter der Regierung von Präsident Lula an der grauenhaft ungerechten Einkommensverteilung, dem Begünstigen der ohnehin Privilegierten nichts geändert hat“, sagt Frei José Francisco, Leiter des Franziskaner-Sozialwerks von Sao Paulo im Website-Interview. „Die neue Präsidentin Dilma Rousseff fährt diesen Kurs weiter, tut nichts gegen Einkommenskonzentration in den Händen weniger – trotz soviel Hunger und Massenelend. Nur bei sozialer Ungleichheit ist Brasilien Weltspitze.“
http://www.adveniat.de/blog/?p=960
“Krise – was denn für eine Krise?” Brasilien hat Wirtschafts-und Finanzkrise gut überstanden, lauten europäische Bewertungen zu Hunger und Elend im Tropenland.
Lynchen eines Busfahrers am Tag des Adveniat-Gottesdienstes in Sao Paulo: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/28/brasiliens-lynchpraktiken-neuester-fall-in-sao-pauloeine-feige-tat-digeane-alves-ehefrau-des-gelynchten-busfahrers/
http://gottesdienste.zdf.de/ZDFde/inhalt/11/0,1872,8383083,00.html
Nach der ZDF-Übertragung äußerten vor Ort katholische Menschenrechtsaktivisten sowie Priester Sao Paulos auch Kritik an dem Adveniat-Gottesdienst. Vermißt wurden u.a. klare, kritische Worte zur konkreten Lage in der Favela Cachoeirinha, zum derzeitigen Regierungskurs Brasiliens sowie zu den gravierenden Menschenrechtsverletzungen im heutigen Brasilien, darunter systematischer Folter, Todesschwadronen, Sklavenarbeit und andere Formen struktureller Gewalt, von denen die brasilianischen Slums betroffen seien.
Viele Schlüsselbegriffe zur brasilianischen Realität hätten gefehlt, zudem Fakten zur krassen sozialen Ungleichheit in Brasilien, den politisch Verantwortlichen. “Der Ausbau einer Stadtautobahn wird die Favela Cachoeirinha schwer treffen, das Leben der Bewohner weiter verschlechtern. Das hätte man ebenso ansprechen können wie die Rolle von überbordender Gewalt und der sich epidemisch ausbreitenden harten Drogen, darunter Crack.” Erwartet wurde zudem, daß die deutsche Delegation sich gemeinsam mit Kardinal Scherer beispielsweise nach dem Gottesdienst in die engen Gassen des Slums just zu den erbärmlichsten Hütten und Katen begibt, um den direkten, hautnahen Kontakt zu den von Elend Betroffenen zu suchen. Dazu sei es indessen nicht gekommen – auch ein vorgesehener gemeinsamer Morgenkaffee mit den Slumbewohnern, direkt nach dem Gottesdienst, sei wenige Tage zuvor überraschend abgeblasen worden. All dies weise auf Berührungsprobleme mit der Slumrealität.
“Jeden Tag wird in Brasilien gefoltert.” Ausriß 2011
Geistliche Sao Paulos erklärten ferner im Website-Interview, zwar sei eine schöne Messe zelebriert worden – doch habe Kardinal Scherer vermieden, die deutschen Bischöfe zu den Orten krassen Favela-Elends zu führen, um weder den Gouverneur noch den Präfekt von Sao Paulo damit zu provozieren, das gute Verhältnis zu diesen Politikern zu gefährden. Zu den Zeiten von Kardinal Paulo Evaristo Arns wäre ein solcher Gottesdienst völlig anders abgelaufen, hieß es.
Auch der kirchliche Mainstream Deutschlands hatte entsprechend ausgespart, auf das klare, unmißverständliche Benennen politisch Verantwortlicher ebenso verzichtet wie auf die Frage, ob Demokratie mit Slum-Elend, dem Vorenthalten zahlreicher, theoretisch garantierter Bürgerrechte vereinbar ist. Im Falle Brasiliens drängt sich der Vergleich mit anderen lateinamerikanischen Staaten auf, die im UNO-Ranking 2011 für menschliche Entwicklung weit besser abschneiden als die siebte Wirtschaftsnation, welche lediglich Platz 84 belegt. (Chile 44., Argentinien 45., Kuba 51. Platz)
“Terror-Rap statt Samba”:
http://www.tagesspiegel.de/weltspiegel/terror-rap-statt-samba/763272.html
“Leute aus unserer Elite lassen sich hier in den Favelas nicht blicken, die wollen von all der Misere nichts wissen – erzählen aber überall in der Welt, daß es soetwas in Brasilien nicht gibt – besonders vor Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen.”
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Das Blutbad in den Tagen vor dem Adveniat-Gottesdienst: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/22/brasiliens-alltagliche-blutbader-sechs-jugendliche-in-belem-mit-genickschus-polizeimunition-ermordet-todesschwadronen-in-der-grosten-demokratie-lateinamerikas/
Öffentliche Diskussion in Brasilien kurz vor der Adveniat-Messe: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/25/brasilien-das-ungesuhnte-carandiru-massaker-von-sao-paulo-medienkritik-an-neuem-elitepolizei-chef-polizeipraktiken-erinnern-an-nazistisches-deutschland-laut-landesmedien/
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Brasiliens interessanter Qualitätsjournalismus:
Sao Paulos Slumpriester Aecio Cordeiro da Silva.
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/07/odilo-scherer-deutschstammiger-kardinal-von-sao-paulo/
Petra Pfaller zu Folter unter Lula-Rousseff: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/12/brasilienes-wird-immer-noch-sehr-viel-gefoltertdeutsche-petra-pfaller-aus-der-katholischen-gefangenenseelsorge-brasiliens-2011-uber-die-menschenrechtslage-unter-lula-rousseff/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/10/lepra-kranke-in-leprakolonie-bei-sao-paulo/
Brasiliens Kindersoldaten: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/22/brasiliens-kindersoldaten-junge-kinder-mit-waffen-die-einfach-anderre-kinder-erschossen-haben-die-sie-gerade-mal-schief-angeschaut-habenlesermail/
“…das Land die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise unbeschadet überstanden hat.” BDI 2011
Leonardo Boff 2010 :“Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“
Aktivisten der katholischen Basisgemeinde von Cachoeirinha. “Das ist gegen die Menschenwürde, so viele Leute in diesem Schlamm, diesem Moder hausen zu lassen. So viele Familien, mit vielen Kindern, leben hier nur in einem einzigen Hüttenraum, vor der Türöffnung hängt ein Lappen – so ist das. Die Mafia der Drogengangster ist hier sehr stark, die beobachten alles und jeden hier, das ist furchtbar. Wer jemanden aus dem Drogenmilieu, aus der Sucht rausholen will – also jemanden, der für deren Profit sorgt, da werden die böse, da wird man gnadenlos verfolgt. Die Polizei kommt und geht wieder – aber die Banditenkommandos bleiben, terrorisieren, zwingen den Bewohnern das Gesetz des Schweigens auf. Wer sich nicht unterwirft, weiß, was ihn erwartet. 2014 ist die Fußball-WM, da will man Brasilien als Land der Ersten Welt erscheinen lassen – aber hier an der Peripherie ist es nach wie vor triste. Die meist kinderreichen Familien haben monatlich nur so um die 200, 220 Real maximal. Doch im Ausland wird verbreitet, alles toll, alles gut in Brasilien. Wir merken, es ist schwierig, Menschen von außerhalb für diese Situation zu sensibilisieren, die das hier nicht kennen, es sich nicht vorstellen können. Wir haben unsere christlichen Kriterien, und wir haben Ausdauer – das macht den Unterschied. Denn entweder ist man Christ – oder ist mans nicht, halbe-halbe geht nicht.”
Elendsbeseitigung, Karikatur von Angeli: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/12/elendsbeseitigung-in-brasilien-karikatur-von-angeli-in-der-grosten-qualitatszeitung-des-landes-folha-de-sao-paulo-von-2011/
Benedita Maria dos Anjos, die Gründerin der wild gewachsenen Favela Cachoeirinha. “In der reichsten Stadt Brasiliens solche Zustände – das schreit zum Himmel! Wir müssen weiterkämpfen.”
Slogan der Regierungspropaganda.
Favelakinder Sao Paulos – Fotoserie: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/28/favelakinder-in-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
http://www.adveniat.de/blog/?p=969
Tags: , Adveniat, Favela do Moinho, Sao Paulo, ZDF
In den aus Pappe und Holzresten sowie anderen leicht brennbaren Materialien errichteten Elendsvierteln Sao Paulos brechen immer wieder Großfeuer aus, kommen zahlreiche Verelendete in den Flammen um. Dies gilt auch für die Innenstadt-Favela do Moinho, an deren Hütten und Baracken unglaublich dicht Züge vorbeifahren. Nach dem letzten Großbrand kampieren zahlreiche überlebende Slumbewohner auf dem Fußweg einer nahen Straße. Was diese Menschen zusätzlich auszustehen haben, wenn starke Tropengewitter toben, kann man sich leicht vorstellen.
Ausriß. Letztes Großfeuer in der Favela do Moinho.
Fotos von Ende Januar 2012. Lateinamerikas reichste Stadt Sao Paulo und die Überlebenden des Moinho-Großbrands.
Brasiliens katholische Kirche, Adveniat unterstützen die Slumbewohner.
Brasiliens Wachstumsbranche Crack – Havanna reagiert weiter zurückhaltend, anti-marktwirtschaftlich: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/16/brasiliens-crack-kinder-unter-lula-rousseff-trotz-offiziellem-kinderstatut-zahlreiche-kinder-landesweit-als-kunden-der-crack-wachstumsbrance/
Viele Slumbewohner überleben als Abfallsammler.
Ansprache von Erzbischof Dr. Robert Zollitsch zum Empfang des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz vor Vertretern von Kirche, Politik, Wirtschaft und Gesellschaft am 27. November 2011 in São Paulo:
Eminenzen, sehr verehrter Herr Kardinal Scherer, sehr verehrter Herr Kardinal Hummes,
sehr verehrte Exzellenzen, liebe Mitbrüder,
sehr geehrter Herr Gouverneur Dr. Alckmin, sehr geehrter Herr Bürgermeister Dr. Kassab,
sehr geehrte Stellvertretende Bürgermeisterin, Frau Dr. Marco Antônio,
sehr geehrte Damen und Herren, liebe Gäste,
es ist mir eine große Freude und Ehre, Sie zu diesem Empfang willkommen zu heißen.
Das Bischöfliche Hilfswerk Adveniat begeht in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag. Aus diesem Anlass haben wir heute Morgen mit Kardinal Scherer die diesjährige Aktion in einem Armenviertel von São Paulo eröffnet. In der Favela Cachoeirinha leben zurzeit rund 70.000 Menschen. Es gibt bisher keine Kirche in diesem ständig weiter wachsenden Viertel. Deshalb fand der Eröffnungsgottesdienst auf einem provisorischen Fußballplatz statt. Mit der Wahl dieses Ortes wollten wir im Jubiläumsjahr von Adveniat ganz bewusst ein Zeichen setzen: Wir wollten diesen Gottesdienst dort feiern, wo Adveniat hilft, nämlich bei den Armen.
In den Tagen zuvor haben wir in Aparecida mit Bischöfen, Theologen und Kirchenvertretern aus ganz Lateinamerika und der Karibik über die aktuellen pastoralen Herausforderungen auf diesem so wunderschönen Subkontinent beraten. Dabei stand immer wieder das Abschlussdokument der Generalversammlung des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM im Jahr 2007 in Aparecida im Vordergrund. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Zustände in vielen Ländern Lateinamerikas beklagen die Bischöfe in diesem Dokument, dass die Ärmsten der Armen oft als „Müll der Gesellschaft“ angesehen werden – o lixo de sociedade. Drastischer kann man die reale soziale Ausgrenzung nicht beschreiben. Auch hier in São Paulo sind Arm und Reich dicht beieinander: Während es in den Favelas oft am Notwendigen fehlt, findet nur wenige Kilometer entfernt der „Große Preis von Brasilien“ statt. Das Abschlussrennen der Formel-1-Weltmeisterschaft 2011 wird sicher auch in Deutschland von vielen Fans am Fernsehschirm verfolgt. Doch die so unverbunden nebeneinander existierenden Lebenswelten der Reichen und der Armen gehören in der Perspektive des Glaubens unbedingt zusammen. Gott lässt eine solche extreme soziale Trennung in seiner Menschheitsfamilie nicht zu. Vielmehr hat er sich in Jesus Christus solidarisch mit den Armen und Entrechteten gezeigt. Sie sind es, die uns zur Umkehr aufrufen.
Die große Stadt São Paulo bildet in unserer Welt keine Ausnahme. Unter den Ländern, denen die Vereinten Nationen einen insgesamt hohen Entwicklungsstand attestieren, nimmt Brasilien neben Kolumbien einen traurigen Spitzenplatz ein: Die Ungleichheit bei den Einkommen ist weltweit nirgendwo höher als hierzulande. Diese konkret erfahrbare Ungerechtigkeit ist auch global gesehen eher die Regel als die Ausnahme. Wir leben in einer Welt, die durch die Gleichzeitigkeit von Geld und Macht auf der einen und von Not und Ohnmacht auf der anderen Seite geprägt ist.
Diese globale Ungerechtigkeit ist keinesfalls ein Schicksal, dem die Menschheit wie einer dunklen Macht ausgeliefert wäre. Vielmehr sind alle wirtschaftlichen Prozesse auch im Kontext der Globalisierung Menschenwerk. Sie sind zu analysieren, gegebenenfalls zu kritisieren und immer zu gestalten.
Schauen wir uns die Bilanz der globalen wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte an: Auf der Weltebene haben die Globalisierungsprozesse das wirtschaftliche Wachstum beschleunigt und den Wohlstand vermehrt, dabei aber enorme ökologische Probleme produziert. Es gibt in diesen Prozessen Gewinner und Verlierer, wobei sich das klassische Schema des Nord-Süd-Konflikts zunehmend auflöst. Einige Länder – vor allem in Asien und hier in Lateinamerika – konnten die neuen Bedingungen nutzen und gesamtgesellschaftliche Wohlstandsgewinne erzielen. In vielen Ländern Afrikas hat sich dagegen der Trend zur Abkoppelung vom Weltmarkt eher noch verstärkt und die Armut verfestigt. Gleichzeitig hat sich in vielen Ländern das nationale Sozialgefüge verändert, oft nimmt die soziale Kluft zwischen den gesellschaftlichen Schichten zu. Und auch in den traditionellen Industrieländern des Nordens wie in Deutschland geht die Schere zwischen Arm und Reich, zwischen Gewinnern und Verlierern der Globalisierung zunehmend auseinander.
Welche Orientierung kann die Kirche in dieser Lage anbieten? Welche Leitgedanken bringt sie in die internationale Debatte ein, wenn es um das Zusammenleben einer immer enger zusammenrückenden Menschheit, um die Gestaltung der Wirtschaft und um die Suche nach gerechteren Verhältnissen für die Vielen geht, denen das tägliche Brot verweigert ist? Die katholische Soziallehre weist hier auf den Begriff „ganzheitliche Entwicklung“ hin. Dieses Leitbild für die Entwicklung der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse ist tief im christlichen Menschenbild verankert, aber prinzipiell auch jenen zugänglich, die einer anderen Religion oder Weltanschauung anhängen. Wir Christen glauben, dass jeder Mensch nach dem Bild Gottes geschaffen ist. Wir sind als Geschöpf und Mit-Geschöpf auf die Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen hin ausgerichtet. Unser Leben entfaltet sich in diesem Beziehungsreichtum. Entwicklung wird in dieser Perspektive daher als die Entwicklung des ganzen Menschen in all seinen beziehungsrelevanten leiblichen und geistigen Dimensionen begriffen. Eine Entwicklung, die den Menschen auf seine ökonomische Bedeutung reduziert, wird dem christlichen Menschenbild ebenso wenig gerecht wie ein Entwicklungsmodell, welches den Besitz von Gütern über die Beziehungsfähigkeit des Menschen stellt. „Wahre Entwicklung“, so hat es Papst Johannes Paul II. ausgedrückt, „darf nicht in der bloßen Anhäufung von Reichtum und einem wachsenden Angebot von Gütern und Dienstleistungen bestehen, wenn dies nur auf Kosten der Unterentwicklung der Massen und ohne die geschuldete Rücksicht auf die soziale, kulturelle und geistige Dimension des Menschen erreicht wird“ (Enzyklika Sollicitudo rei socialis, Nr. 9).
Die ganzheitliche Entwicklung des einzelnen Menschen ist nicht zu trennen von der Entwicklung aller Menschen. Was die unmittelbare Lebenswelt der Menschen betrifft, ist dies leicht einsichtig: Wir leben in Familien, Gruppen, Völkern und Nationen zusammen. Die Entwicklung der Einzelnen und der Gemeinschaften bzw. Gesellschaften bedingen sich wechselseitig. Diese Einsicht bezieht die Kirche ausdrücklich aber auch auf die Weltgesellschaft. Denn die ganzheitliche Entwicklung aller Menschen kann unter den heutigen Bedingungen nur gelingen, wenn sich die Völker als eine globale Gemeinschaft und nicht als Konkurrenten um die „Pole-Position“ verstehen.
Hier sind zwei Gesichtspunkte zu unterscheiden. Zum Einen gebietet es das wohlverstandene Eigeninteresse der wohlhabenden wie der ärmeren Nationen, neue Formen der Zusammenarbeit zu finden, die dem globalen Charakter heutiger Probleme Rechnung tragen. Das gemeinsame Interesse von Nord und Süd, Ost und West ist insofern zweifellos eine gute Grundlage und Antriebskraft für die Errichtung einer neuen internationalen Ordnung, die den Bedürfnissen aller Länder und aller Menschen besser gerecht wird als der heutige Zustand der Welt, dessen Krisenanfälligkeit und Zerbrechlichkeit die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise deutlich vor Augen geführt hat.
Zum Anderen kommen wir mit Blick auf das Weltgemeinwohl ohne wache Solidarität, die auch ein Moment von Selbstlosigkeit einschließt, nicht aus. Denn viele Menschen, die am Rande stehen, sind ökonomisch und gesellschaftlich für den besser gestellten Teil der Menschheit nicht von Bedeutung. Ihr Schicksal kommt im Interessenkalkül der Anderen nicht vor. Deshalb hält das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 14 fest: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“ Dieser Grundsatz ist in Deutschland die verfassungsmäßige Basis für die Soziale Marktwirtschaft. Er entspringt einem Gesellschaftsverständnis, welches das Gemeinwohl nicht gegen die Individualinteressen ausspielt, sondern beide positiv zueinander in Beziehung setzt.
Wir Christen glauben, dass die Armen, ja dass gerade die Armen uns interessieren müssen. Denn wir sind überzeugt: Auch sie sind nach dem Bild Gottes geschaffen. Auch sie sind unsere Brüder und Schwestern in der einen Menschheitsfamilie. Und wir wissen: Jesus Christus hat sich den Armen in besonderer Weise zugewandt und uns darauf hingewiesen, dass wir ihm, unserem Herrn, in den Leidenden, Ausgestoßenen und Zu-kurz-Gekommenen begegnen. Die Kirche spricht hier von der vorrangigen Option für die Armen, die in ihrem Glauben grundgelegt ist. Es braucht, so scheint mir, solcher Art von Motivation, um den Kampf gegen die Armut und die Marginalisierung in unseren Ländern und in der Weltgesellschaft immer neu aufzunehmen und nicht der Resignation zu verfallen.
Was ist zu tun, um die Armut in der Welt wirksam zu bekämpfen? Vor allem bedarf es struktureller Veränderungen, die auf verschiedenen Ebenen ansetzen und, indem sie ineinander greifen, ihre volle Wirksamkeit entfalten:
Was in Ihrem Land erforderlich ist, können Sie, werte Damen und Herren, weit besser beurteilen als ich. Generell wird man sicher sagen dürfen, dass die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit für alle, die Überwindung von Korruption und die Verbesserung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten, wesentliche Voraussetzungen für die Überwindung von Armut darstellen. Dazu gehört auch, dass gesellschaftlicher Reichtum so verteilt werden muss, dass alle – und gerade auch die Ärmsten – davon profitieren.
Auf der internationalen Ebene müssen Handel und Finanzen in eine tragfähige Ordnung eingebettet werden. Aus der Erfahrung Europas wissen wir: Marktwirtschaft ist kein naturwüchsiger Zustand. Sie bedarf eines politisch verantworteten Ordnungsrahmens, der verhindert, dass die im Markt wirkenden Kräfte über Kurz oder Lang die Existenzgrundlagen der Marktwirtschaft untergraben. Wie auf nationaler, so muss auch auf internationaler Ebene dieser Ordnungsrahmen so ausgestaltet sein, dass die wirtschaftlichen und sozialen Belange der Armen wirkungsvoll berücksichtigt werden und ihnen faire Chancen der Beteiligung eröffnet werden.
Erforderlich ist darüber hinaus aber auch eine Strukturbildung von unten, die die Armen in die Lage versetzt, das Leben in die eigene Hand zu nehmen und ihre Interessen eigenständig selbst zu vertreten. Die Förderung von Basisgesundheitsdiensten, von Bildung und Ausbildung, Kleinkreditprogramme und Gewerbeförderung, aber auch der Aufbau von wirtschaftlichen und politischen Selbstorganisationen der Armen tragen dazu bei, dass Marginalisierung überwunden und gesellschaftliche Integration ermöglicht wird. Auch als Kirche – im Norden wie im Süden – fühlen wir uns herausgefordert, auf vielfältige Weise solche Prozesse zu unterstützen und so einen Beitrag zum Gemeinwohl, national wie international, zu leisten.
Schließlich zeigt sich auch in dramatischer Weise, dass eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung nicht gelingen kann, wenn die Menschheit weiterhin Entwicklungspfade wählt, die den Raubbau an den natürlichen Lebensgrundlagen als unvermeidliches Nebenprodukt achselzuckend in Kauf nehmen. Vor allem die klassischen Industrienationen, neuerdings und in zunehmendem Maße aber auch die Schwellenländer, verbrauchen die nicht nachwachsenden Rohstoffe in einem menschheitsgeschichtlich atemberaubenden Tempo – vielfach ohne zu wissen, was in absehbarer Zeit an die Stelle dieser Ressourcen treten könnte. Das Artensterben, die Zerstörung ökologisch wichtiger Landschaften und steigende Emissionen sind Zeichen einer auf Dauer nicht tragfähigen Entwicklung. Dazu tritt der Klimawandel, der vor allem jene Weltgegenden bedroht, deren Bewohner am wenigsten zum übermäßigen Ausstoß von CO2 und anderen Klimagasen beigetragen haben. Wenn die Menschheit eine gute Zukunft haben will, muss sie sich in anderer Weise als bisher dieser ökologischen Herausforderungen stellen. Man kann hier von einer dreifachen Verantwortung sprechen: 1.) der Verantwortung für die natürliche Umwelt, die der Mensch zwar nutzen, aber nicht verbrauchen darf; 2.) der Verantwortung für die Nachwelt, deren Lebensbedingungen vom ökologischen Erbe vorangegangener Generationen entscheidend mitbestimmt werden; und schließlich 3.) der Verantwortung für die globale menschliche Mitwelt, die zunehmend die ökologischen Konsequenzen einer nicht nachhaltigen Wirtschaftsweise zu spüren bekommt.
Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass allen voran die wohlhabenden Länder einen entscheidenden Beitrag zur Überwindung der ökologischen Krise leisten. Die Sorge um die Umwelt und die Sorge um die Armen dürfen dabei nicht auseinanderfallen. Der Schutz der Armen und der Schutz unseres Planeten dürfen nicht als Gegensatz, sondern müssen als eine doppelte moralische Priorität der internationalen Politik begriffen werden. Die Bekämpfung der Armut muss einhergehen mit den Anstrengungen, den globalen Klimawandel abzuschwächen und darüber hinaus armen Ländern zu helfen, sich an die negativen Folgen klimatischer Veränderungen anzupassen.
Die katholische Kirche, Sie wissen es, ist Weltkirche. Als Kirche stellen wir uns deshalb auch überall auf der Welt einer gemeinsamen Verantwortung. Seien Sie gewiss: Wir mühen uns und werden uns weiter mühen, die Weisheit, die Erfahrungen und die moralische Kraft, die uns im Glauben zuwächst und über Kontinente hinweg verbindet, in den Dienst einer Entwicklung zu stellen, die jedem Menschen und allen Menschen zugute kommt. Wir wollen dabei helfen, Not und Ausbeutung zu überwinden und eine Weltgesellschaft aufzubauen, in der die Würde aller Menschen geachtet wird.
Eine Schnellstraße durchpflügt die Favelas von São Paulo. Hochhausbauten am Horizont, so weit das Auge reicht, zwischendurch ein wenig Grün, sonst Straßen, Brücken und Beton. Bevor wir am Sonntag die Eucharistie in einer der Favelas feiern, bin ich dort schon einmal zu Besuch. Der Erzbischof von São Paulo, Kardinal Odilo Scherer, nimmt mich herzlich in Empfang, um uns herum spielen die Kinder. Kardinal Scherer kennt einige von ihnen, segnet sie – ein kurzes Strahlen in den Kinderaugen, weil sie spüren, dass ihnen hier für einen Moment Aufmerksamkeit zuteil wird.
Die 16 Millionen-Einwohner-Metropole São Paulo kennt viel Glanz und viel Elend. Am Sonntag wird hier die Formel-1 gefahren, Tausende leben in parallelen Welten in bitterster Armut. Als wir von der Schnellstraße abbiegen, führt der Weg über holprige Straßen, die zu einer gefährlichen Piste werden, als es heftig zu regnen beginnt. Wild hat sich hier ein ganzer Stadtteil den Hügel hochgebaut. Müll liegt an den Straßenrändern und in dem kleinen Bach, der durch die Favela fließt. Wenig Elektrizität gibt es hier, aber viel Aussichtslosigkeit. Die zahlreichen Favelas unterscheiden sich fast nicht. Einige sind sicherer als die anderen. Dort herrschen Drogenkartelle, an anderer Stelle mafiöse Strukturen. Hier seien wir sicher – versichert man uns.
Wenn wir nicht zu den Ärmsten gehen, bleibt unsere Botschaft vom Evangelium leer – das verstehe ich heute Abend noch besser. Grau sind die Häuserfronten, unsicher die Blicke, die uns begegnen. Ein beklommenes Gefühl breitet sich in mir aus. Es ist weniger Angst als vielmehr die tiefe Betroffenheit über das Elend, das mir hier begegnet.
Während unser Wagen die Hügelkuppe erreicht hat, breitet sich unter uns das Lichtermeer von São Paulo aus, im Dunst des Abendhimmels. Manchmal gibt es Situationen, in denen mir die Worte fehlen. Eine solche Situation spüre ich, während wir wieder einmal im Rückwärtsgang fahren und den Verkehr vor uns vorbeilassen. Mein Blick fällt auf eine Mutter mit ihren vier Kindern, die am Straßenrand steht. Das Gebet aber hilft. Ich bin mir sicher: Diese Menschen schließe ich heute ganz bewusst mit in mein Gebet ein.
Erzbischof Dr. Robert Zollitsch
Hintergrund – das Elendsviertel neben dem Gottesdienst-Platz:
Weihnachten im Slum – Christus in Brasilien
Kobras, Ratten, Gewalt und viel Überlebensmut
„Bei diesem Leben hier brauchen wir Hoffnung auf Gottes Beistand“, sagt die tiefreligiöse Cleide de Souza Nascimento in ihrer Elendskate – und wünscht sich nur eins:“Weihnachten darf es nicht schütten – sonst sind wir geliefert.“ Direkt vor der Bretterhütte schwillt bei starken Tropengewittern der barbarisch stinkende Kloakebach an – ebenso übelriechendes Abwasser dringt dann von hinten in die Kate herein und fließt wasserfallartig von der Eingangsluke, da, wo die Dreißigjährige steht, den Grabenhang hinunter, trifft sich mit der Kloake. „Abwasser läuft sogar aufs Bett – mein kleinster Sohn hat chronische Asthma, für den ist das hier besonders schlecht.“
Modrig-feucht ist es auch bei Sonne in der fensterlosen Kate – vier alte, zerschlissene Matratzen für die sechs Bewohner, ein Herd mit blauem Kochgasbehälter, das bißchen Kleidung baumelt an Wandhaken. „Weihnachten gibts keine Geschenke, nichts, dafür reicht das Geld nicht, ein bißchen Weihnachtsschmuck ist auch nicht drin. Heiligabend wärs für uns alle zu eng in der Kate – wir machens wie die Nachbarn, treffen uns oben auf der Gasse, da ist mehr Platz.“
Als noch unter Staatschef Lula die Regierung 2003 das Anti-Hunger-Programm startet, kämpft und streitet Cleide solange mit der Staatsbürokratie, bis sie die sogenannte „Bolsa Familia“ endlich für ihre vier Kinder kriegt – 198 Real monatlich, macht umgerechnet rund 21 Euro pro Kind. Der Liter pasteurisierte Frischmilch kostet in Sao Paulo umgerechnet einen Euro dreißig, auch andere Grundnahrungsmittel sind in Brasilien, dem Niedrigstlohnland, auffällig teurer als im Hochlohnland Deutschland.
Was geben Sie so vor Weihnachten aus?
Brasilien zählt längst nicht mehr zu den Billigpreisländern, merken selbst deutsche Touristen verärgert an der Copacabana.
Cleide macht Gelegenheitsarbeit, Tagelöhnerei, wäscht bei Mittelschichtsfamilien, putzt denen die Wohnung:“Mein Mann ist behindert, taub – der macht manchmal den Einweiser auf Parkplätzen.“ So werden es dann wenigstens 31 Euro pro Kopf, für jeden der sechs monatlich – der Fahrschein für den Bus raus aus der Favela kostet über einen Euro. 42 Prozent aller Empfänger von Bolsa Familia seien nach wie vor verelendet, melden die Landesmedien. Der Slum von Cleide zeigt es anschaulich.
Wird es in der Weihnachtszeit ein bißchen besser, gibts da spendenfreudige Leute? „Gottseidank kriegen wir von der Kirche stets Pakete mit Grundnahrungsmitteln – da sind Reis, Bohnen, Zucker, Speiseöl dabei – Kleidung wird auch verteilt!“
Brasilien ist die siebtgrößte Wirtschaftsnation, Sao Paulo die reichste Stadt ganz Lateinamerikas – läßt sich wenigstens mal ein Sozialarbeiter in dieser Favela Cachoeirinha blicken, aus der am ersten Advent vom ZDF der Adveniat-Gottesdienst übertragen wurde? Cleide verneint:“Hier kommt nie mal einer von der Präfektur, vom Staat vorbei – man muß unheimlich bei den Behörden hinterher sein, um Bolsa Familia zu kriegen. Wer von den vielen Halb-und Voll-Analphabeten hier das nicht weiß, geht leer aus. Sechs Monate haben sie mir die Bolsa Familia unter einem Vorwand gesperrt – das war für uns grauenhaft. So viele haben eigentlich ein Anrecht, kriegen aber keinen Centavo.“ Übertreibt sie da nicht ein bißchen?
Zahlreiche Katen kleben wie die von Cleide in dem Kloakegraben, die Eingänge wirken wie dunkle Löcher – auch wegen der Sicherheit, um nicht beklaut zu werden, gibts keine anderen Öffnungen, in die Tageslicht fallen könnte. Starken Hautausschlag, viel Grind und Bläschen am Mund bemerkt man bei vielen Slumbewohnern – Tuberkulose und sogar Lepra finden beste Ausbreitungsbedingungen. Hier holt man sich rasch Elendskrankheiten, sagen Slumpriester, weil das Immunsystem der Bewohner stark geschwächt ist.
Cleide haust seit 14 Jahren in dieser Hütte – nur einen Steinwurf entfernt hat Cleyton dos Santos, 22, für seine Frau Erica und die zwei kleinen Kinder eine Holzkate direkt an einen breiten Abwasserbach gebaut. „Die Kinder bitten uns, Lichter, ein bißchen Weihnachtsschmuck an die Wand zu hängen – aber das ist unmöglich, wir haben tagtäglich so viel Dringenderes im Kopf! Jetzt, im Hochsommer, regnets alle paar Tage heftig, tritt der Bach über die Ufer, trägt stinkenden Schlamm in die Gasse, waten wir notgedrungen drin herum. Hier gibt es massenweise Ratten, die Krankheiten übertragen, müssen wir besonders wegen der Kinder aufpassen.“ Cleyton, entsetzlich mager, ist arbeitslos – Erica kriegt als Reinemachfrau maximal 550 Real im Monat – das macht für alle vier umgerechnet höchstens 57 Euro pro Kopf – Weihnachtsgeschenke, Weihnachtsschmaus am Heiligabend? Fehlanzeige. „Wir setzen uns zu den Hüttennachbarn auf die Gasse – jeder gibt was für einen Teller mit Essen. Ich habe gehört, die Regierung erzählt draußen in der Welt, daß es den Brasilianern jetzt viel besser geht und allen geholfen wird. Das ist gelogen – man läßt uns hier im Slum total im Stich!“
Rosilene, 33, Cleytons Nachbarin, wird just um Weihnachten herum niederkommen – es ist das siebte Kind. „Weihnachten“, lacht sie bitter-ironisch, „Gott im Himmel, was soll ich da schon machen? Ich hocke in der Kate wie immer, hoffe auf die Hilfe der Nachbarn. Ich kriege ja vom Staat garnichts, nur ein bißchen Geld von den Vätern meiner Kinder. Wenns mal 200 Real im Monat werden, bin ich direkt zufrieden…“
200 Real – umgerechnet rund 12 Euro monatlich für jedes der sechs Kinder, für Rosilene – wie soll das gehen, bei den Preisen? „Mein ältester Sohn kann schon ein bißchen arbeiten, der organisiert uns immer mal was zu essen, sorgt für ein bißchen Reis und Milch, das Kochgas – meine Nachbarn sind zwar wunderbar, aber die haben ja selber nichts. Ich schlage mich irgendwie durch – ja – ich lebe noch!“
Pedro, der Gelegenheitsarbeiter, kam mit seiner Frau, den fünf Kindern zu spät – weil nirgendwo noch eine Hütte hingepaßt hätte, baut er sie mitten in den Abwässerbach – ausgerechnet am Eingang mündet ein Kloakegraben hinein, vergrößert den Gestank noch mehr. „Letzte Weihnachten haben wir die Kate eingeweiht – feiern jetzt einjähriges Überleben. Das Abwasser steigt bei Gewitterregen nicht zu uns hoch – aber Ratten, sogar weiße, und Kobras klettern nachts hinein – wir müssen unheimlich auf der Hut sein. Denn das Dumme ist – Hauskatzen helfen nicht, die hauen vor den Rattenhorden ab. Egal, wir haben uns dran gewöhnt. Ich beklage mich nicht – grade vor Weihnachten gibts für mich mehr Jobs, schaufle ich mal Erde weg, repariere, streiche, schleppe was. Aber Heiligabend sind wir alle in der Kate, feiern Christi Geburt. Die Leute im Slum beten sehr viel – bitten Gott um spirituelle Kraft, um Hilfe in dieser Misere. Der Mann da neben Dir – den kenne ich – das ist doch der Padre, der jetzt vor Weihnachten die Lebensmittelpakete und das Spielzeug verteilt!“
Pedro meint Slumpfarrer Bernardo Daly, einen Iren, der mit seiner Schar hochengagierter kirchlicher Menschenrechtsaktivisten trotz bescheidenster Mittel weit schlimmeres Elend und krassesten Hunger verhindert – und die Räumung des Slums, die Vertreibung der Favelados durch die Polizei. Todesschwadronen, Drogenbanditen-und Polizeigewalt, dazu immer wieder Hüttenbrände, bei denen Kleinkinder verkohlen – Daly muß als Seelsorger tagtäglich mit Situationen fertigwerden, Dinge verkraften, die das Vorstellungsvermögen der meisten Deutschen übersteigt.
Der Padre wirkt erstaunlich ruhig und besonnen – doch manchmal macht er seiner Empörung Luft. Wie an der Kate von Elise, die direkt am Kloakegraben haust. „Ich kriege 134 Real Bolsa Familia, weil die ältere meiner beiden Töchter geistig behindert ist, ständig meine Betreuung braucht – mehr Geld haben wir nicht im Monat.“ 134 Real – also umgerechnet rund 18 Euro für jede der drei. Padre Daly ist geschockt:“Das ist doch unmöglich. Wer so lebt, muß manchmal das eigentlich Unmögliche tun, weil es keinen anderen Ausweg gibt…“ Der Geistliche läßt offen, was er konkret meint – nicht nötig.
„Jetzt, vor Weihnachten, kämpfe ich dafür, daß mehr Nahrungsmittelspenden in den Slum gelangen – auch zu denen, die garnicht wissen können, wo es Ausgabestellen gibt, also Alte, Behinderte, Kranke“, sagt Eliane Takeko, 46, engste Mitstreiterin von Padre Doty, zudem Präsidentin der Bewohnerassoziation. “Ein bißchen mehr Spielzeug für die Kinder – das müßte doch drin sein, auch dafür streite ich mich mit der Präfektur herum. Die Lage im Slum macht mich traurig und wütend – Brasilien ist doch soooo reich – die Mittel sind da! Wir von der katholischen Kirche akzeptieren nicht diese grauenhafte Logik, daß es Arme, Verelendete nun mal gibt und immer geben wird. In den über 2600 Slums von São Paulo gibts viele sogenannte Kirchen, die nichts fürs Soziale tun. Wir legen uns mit denen `oben` an.“
Dieses Jahr ist der Slum noch voller, noch dichter bewohnt als letzte Weihnachten, meint Eliane Takeko. „Manche Slums werden von der Polizei geräumt und zerstört, vor der Fußball-WM werden Obdachlose aus der City vertrieben – die kommen notgedrungen zu uns an die Peripherie. Deswegen wird es immer enger in den Hütten.“ Aber warum gibt es dann keine Massenproteste der Slumbewohner? „Die Menschen haben Angst“, sagt Padre Doty. „Nicht wenige hatten sich engagiert, haben resigniert aufgegeben. Zudem ist das Bildungsniveau in Brasilien entsetzlich niedrig – Leute ohne Bildung, Analphabeten wissen garnicht, wie man das macht – sich organisieren, auf die Straße gehen, Bürgerrechte durchsetzen. Die kennen ihre Rechte já garnicht.“
Eliane Takeko stimmt zu: „Es liegt auch am Hunger – wer sich nur schlecht ernährt, in solchen Katen haust, kann nicht richtig denken, ist schnell kaputt, noch dazu bei Tropenhitze. Und wer zu oft den Mund aufmacht, fliegt raus, kriegt nicht mal eine Tagelöhnerarbeit. Auch ich muß aufpassen.“
Selbst in ihrer engen Kate gibts keinen Weihnachtsschmuck – denn auch sie schlägt sich mit Gelegenheitsarbeit durch, wie die Tochter. „Wir beide kommen auf höchstens 500 Real im Monat – das muß für alle sechs in der Kate reichen. Mein Mann ist behindert, hatte einen Unfall. Da heißt es, irrsinnig sparen.“ Maximal umgerechnet 200 Euro monatlich, für sechs Leute – wie macht sie das?
Körperlich und geistig Behinderte – auffällig, wie viele in den Slums hausen. Laut Studien sind es 23, 91 Prozent der brasilianischen Bevölkerung, gegenüber rund einem Prozent in hochentwickelten Staaten wie Deutschland. Immer wieder geschieht, daß geistig behinderte Mädchen und Frauen der Favelas vergewaltigt werden.
Über 30 Millionen Brasilianer leben laut Kirchenangaben noch in extremer Armut. Nimmt man jedoch die offizielle Regierungseinstufung, zählen Eliane Takeko und ihre Familie nicht mehr dazu, liegen oberhalb der amtlich allen Ernstes auf umgerechnet etwa 29 Euro angesetzten Pro-Kopf-Grenze, sind nur noch „arm“ – Rosilene mit den sechs Kindern und Elise aber liegen darunter…
Haben alle in gewisser Weise sogar „Glück“, Weihnachten im Slum einer reichen Wirtschaftsmetropole wie Sao Paulo zu feiern? Denn Brasiliens grauenhafteste Elendsviertel liegen nicht hier, sondern in den kraß unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens.
“Krise bestens überstanden”: Eingang von Slumkate in Lateinamerikas reichster Stadt Sao Paulo. http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/01/bewohnerin-eines-der-uber-2000-slums-in-lateinamerikas-reichster-stadt-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
Zwei Crack-Süchtige, laut brasilianischen Augenzeugen, vor Bahnhofseingang, Dezember 2011, nahe der Kulturbehörde des Teilstaats Sao Paulo.
Katholik Schlingensief: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/23/den-leuten-zu-sagen-in-was-fur-einer-verlogenen-scheise-wir-alle-leben-schlingensief-in-sao-paulo/
http://de.wikipedia.org/wiki/Das_deutsche_Kettens%C3%A4genmassaker
Schlingensief: http://www.youtube.com/watch?v=OM8ZevwUf2A
Brasiliens Wirtschaftslage 2011: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/06/boomland-brasilien-stagnierende-wirtschaft-im-dritten-quartal-industrieproduktion-schrumpfte-um-09-prozent-gegenuber-zweitem-quartal/
Hausen an stinkender Kloake, nahe dem Platz des Adveniat-Gottesdienstes – in Lateinamerikas reichster Stadt Sao Paulo. “Ich lebe hier schon 14 Jahre so in dieser Kate.”(Mutter von vier Kindern) Die
Der Teilstaat Sao Paulo ist die führende Wirtschaftsregion Lateinamerikas mit der entsprechenden Konzentration von Ober-und Mittelschicht – man kann sich daher vorstellen, wie die Slums in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens der siebtgrößten Wirtschaftsnation aussehen.
http://www.adveniat.de/blog/?p=960
“Die Wirtschaftskrise hat Brasilien kaum gespürt”(WAZ)
Der soziale Aufstieg von Lula: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/04/lula-bekommt-500000-dollar-von-lg-fur-vortrag-in-sudkorea-laut-brasilianischen-landesmedien-uber-eine-million-dollar-damit-vier-monate-nach-ende-der-amtszeit-kassiert-laut-kalkulation-von-parte/
“Wirtschaftsmacht der Zukunft”:
Spürbare Preissprünge bei brasilianischen Lebensmitteln in den letzten Monaten.
Lateinamerikas teure Lebensmittel – Preissteigerungen um 40 Prozent in den letzten vier Jahren – Gefahr für Hungerbekämpfung: http://exame.abril.com.br/economia/mundo/noticias/precos-dos-alimentos-na-america-latina-sobem-40-em-4-anos–2
Wie in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften die Situation interpretiert wird:
“…das Land die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise unbeschadet überstanden hat.” BDI 2011
Favelakinder Sao Paulos – Fotoserie: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/28/favelakinder-in-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
Crack-Epidemie unter der Lula-Rousseff-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/12/03/brasiliens-crack-epidemie-unter-der-rousseff-regierung-wie-crack-wirktverkehrsumleitung-wegen-offener-crack-szene-die-strasen-total-verstopft-in-sao-paulo/
Samstag, 10. Dezember 2011 von Klaus Hart **
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
http://brueckenbauer.blogspot.com/2011_05_01_archive.html
Tags: “Folter ohne Ende”, Amnesty, Blogger Yoani, Brasilien, Folter, Gregor Gysi, José Zapatero, Lula, Menschenrechte, Paulo Vannuchi, Peter Scholl-Latour, Scheiterhaufen, Slum-Diktatur, Todesschwadronen
Vannuchi wies gegenüber der Presse speziell auf Todesschwadronen im brasilianischen Nordosten, aus dem Staatschef Lula stammt. Die Organisation Amerikanischer Staaten prüfe derzeit 98 Anklagen gegen Brasilien wegen Menschenrechtsverletzungen gravierender Art. Bei Brasiliens Todesschwadronen bestehe eine promiskuitive Allianz zwischen Vertretern des Staates(agentes publicos) und Vertretern außerhalb des Staatsapparats.
In meinungsbildenden deutschen Analysen wird die brasilianische Regierung ausdrücklich als “progressiv” eingestuft.
“Brasilien ist eine Industriemacht, die achtgrößte Wirtschaftsnation der Welt, modern und fortschrittlich.”
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Auch aus europäischen Ländern erhält die sehr spezielle Demokratie-Politik der Lula-Regierung sehr viel Lob. Beifall kommt auch von alten und neuen Rechten. Im Gegensatz zu Amnesty International London sind angesichts rasch zunehmender neoliberaler Herzenskälte für die meisten europäischen Medien gravierende Menschenrechtsverletzungen in Brasilien, wie Scheiterhaufen sowie von Staatsangestellten praktizierte Folter und Todesschwadronen, nicht der Rede und damit auch nicht der Erwähnung wert. Lulas Menschenrechtsbilanz zweier Amtszeiten hat die politische Glaubwürdigkeit seiner Regierung in europäischen Ländern offenbar sehr stark erhöht.
Menschenrechtsanwalt Bruno Alves de Souza Toledo: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/12/08/brasiliens-menschenrechtsanwalt-bruno-alves-de-souza-toledo-sein-energisches-auftreten-vor-dem-uno-menschenrechtsrat-in-genf-bewirkte-dort-proteste-gegen-einen-standigen-uno-sicherheitsratssitz-bras/
Fotodokumentation und Slum-Dikatur: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/05/brasiliens-zeitungen-eine-fundgrube-fur-medieninteressierte-kommunikations-und-kulturenforscher/
Gregor Gysi, Linkspartei, Deutschland: “Von allen linken Präsidenten hat Lula, der als am wenigsten links eingeschätzt wird, die größten Erfolge.”
“Lula Superstar”: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-70569506.html
Scheiterhaufen und Slum-Diktatur: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/16/scheiterhaufenstadt-rio-de-janeiro-der-grausame-tod-einer-48-jahrigen-frau-in-der-microondas-laut-lokalzeitung/
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
José Zapatero, amtierender EU-Ratspräsident: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/jose-zapatero-spaniens-premierminister-lobt-lula-uber-alle-masen-der-mann-der-die-welt-uberrascht-esse-homem-honesto-integro-e-admiravel-von-amnesty-international-angeprangerte-folter/
Gefängnishorror unter Lula – UNO-Menschenrechtskommission in Genf befaßt sich mit den Zuständen. Foto von brasilianischen Menschenrechtsaktivisten.
Umgang mit Geschichte: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Menschenrechtsminister Paulo Vannuchi zur Sklavenarbeit: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/22/a-censura-nunca-desiste-kampagne-gegen-zensur-von-pubaddict/
Zeitungsfoto – Rio-Bewohner betrachten Ermordete. Das Desinteresse an den tatsächlichen Lebensbedingungen der Slumbewohner ist enorm.
”Die Praxis der Folter ist als Form institutioneller Gewalt im Alltag des Sicherheitsapparats weiter präsent und richtet sich besonders gegen die Armen.(brasilianische Soziologie-Zeitschrift “Sociologia” in ihrer neuesten Ausgabe)
“Folter ohne Ende”: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/12/folter-ohne-ende-tortura-sem-fim-brasiliens-soziologiezeitschrift-sociologia-uber-folter-unter-der-lula-regierung/
Zeitungsfoto.
Menschenrechtsminister Paulo Vannuchi zu außergerichtlichen Exekutionen und Blutbädern während der Lula-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/10/taglich-ausergerichtliche-exekutionen-in-brasilien-menschenrechts-minister-paulo-vannuchi/
Vannuchi zu täglichen Menschenrechtsverletzungen: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/11/lulas-menschenrechtsminister-paulo-vannuchi-raumt-gravierende-menschenrechtsverletzungen-eindie-menschenrechtsverletzungen-sind-routine-alltaglich-und-allgemein-verbreitet-das-gefangnissystem-ist/
Lula-Pressekonferenz vom Dezember 2009 in Berlin: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/12/03/pressekonferenz-mit-lula-in-berlin-keine-einzige-frage-zu-gravierenden-von-amnesty-international-kritisierten-menschenrechtsverletzungen-wie-folter-scheiterhaufen-todesschwadronen-sklavenarbeit/
Kopf unter Wasser: http://www.amnesty.de/journal/2009/juni/kolumne-kopf-unter-wasser
“Krieg auf dem Morro dos Macacos”: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/17/krieg-auf-dem-morro-dos-macacos-von-rio-de-janeiro-youtube-anklicken-bope-im-einsatz/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Menschenrechts-Samba – anklicken: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/10/12/o-iraque-e-aqui-der-irak-ist-hier-hit-von-jorge-aragao/
”Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst. Deutschsprachige Tourismuspropaganda.
Brasiliens Massengräber
„Wenn die Toten da reingeschmissen werden, sind das Szenen wie in diesen Holocaustfilmen“, beklagen sich Anwohner von Massengräber-Friedhöfen der größten lateinamerikanischen Demokratie. In der Tat wird seit der Diktaturzeit vom Staat die Praxis beibehalten, nicht identifizierte, zu „Unbekannten“ erklärte Tote in Massengräbern zu verscharren. Die Kirche protestiert seit Jahrzehnten dagegen und sieht darin ein gravierendes ethisch-moralisches Problem, weil es in einem Land der Todesschwadronen damit auch sehr leicht sei, unerwünschte Personen verschwinden zu lassen. In der Megacity Sao Paulo mit ihren mehr als 23 Millionen Einwohnern empört sich der weltweit angesehene Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: „In Brasilien wird monatlich eine erschreckend hohe Zahl von Toten anonym in Massengräbern verscharrt, verschwinden damit Menschen auf offiziellem Wege, werden als Existenz für immer ausgelöscht. Wir von der Kirche nehmen das nicht hin, versuchen möglichst viele Tote zu identifizieren, um sie dann auf würdige Weise christlich zu bestatten. Wir brauchten einen großen Apparat, ein großes Büro, um alle Fälle aufklären zu können – dabei ist dies eigentlich Aufgabe des Staates!“Padre Lancelotti erinnert daran, daß während der 21-jährigen Diktaturzeit in Sao Paulo von den Machthabern 1971 eigens der Friedhof Dom Bosco geschaffen wurde, um dort zahlreiche ermordete Regimegegner heimlich gemeinsam mit jenen unbekannten Toten, den sogenannten „Indigentes“, in Massengräber zu werfen. Wie die Menschenrechtskommission des Stadtparlaments jetzt erfuhr, wurden seit damals allen Ernstes 231000 Tote als Namenlose verscharrt – allein auf d i e s e m Friedhof. Heute kommen Monat für Monat dort zwischen 130 und 140 weitere Indigentes hinzu. Nach einem Massaker an Obdachlosen Sao Paulos kann Priester Lancelotti zufällig auf dem Friedhof Dom Bosco beobachten, wie sich der Staat der Namenlosen entledigt: “Als der Lastwagen kommt und geöffnet wird, sehe ich mit Erschrecken, daß er bis obenhin voller Leichen ist. Alle sind nackt und werden direkt ins Massengrab geworfen. Das wird zugeschüttet – und fertig. Sollten wir später noch Angehörige ermitteln, wäre es unmöglich, die Verstorbenen in der Masse der Leichen wiederzufinden. Was sage ich als Geistlicher dann einer Mutter?“ Lancelotti hält einen Moment inne, reflektiert: „Heute hat das Konzentrationslager keinen Zaun mehr, das KZ ist sozusagen weit verteilt – die Menschen sind nach wie vor klar markiert, allerdings nicht auf der Kleidung, sondern auf dem Gesicht, dem Körper. Und sie werden verbrannt, verscharrt, wie die Gefangenen damals, und es gibt weiter Massengräber.“ Was in Sao Paulo geschieht, ist keineswegs ein Einzelfall. In der nordostbrasilianischen Millionenstadt Fortaleza leiden die Anwohner des Friedhofs „Bom Jardim“ seit Jahren bei den hohen Tropentemperaturen unter grauenhaftem Leichengeruch. „Die Toten werden oft schon verwest hergebracht, wie Tiere verscharrt, wir müssen zwangsläufig zusehen, es ist grauenhaft“, klagt eine Frau. „Fast jeden Tag kommt der Leichen-LKW – doch bei den heftigen Gewitterregen wird die dünne Erdschicht über den Toten weggeschwemmt, sehen wir die Massengräber offen, wird der Geruch im Stadtviertel so unerträglich, daß viele Kopfschmerzen kriegen, niemand hier eine Mahlzeit zu sich nimmt.“ Der Nachbar schildert, wie das vergiftete Regenwasser vom Friedhof durch die Straßen und Gassen des Viertels läuft: „Das Wasser ist grünlich und stinkt, manchmal werden sogar Leichenteile mitgeschwemmt – und weggeworfene Schutzhandschuhe der Leichenverscharrer. Die Kinder spielen damit – haben sich an die schrecklichen Vorgänge des Friedhofs gewöhnt. Wir alle haben Angst, daß hier Krankheiten, Seuchen ausbrechen.“Selbst in Rio de Janeiro sind die Zustände ähnlich, werden zahllose Menschen von Banditenkommandos der über 1000 Slums liquidiert und gewöhnlich bei Hitze um die 35 bis 40 Grad erst nach Tagen in fortgeschrittenem Verwesungszustand zum gerichtsmedizinischen Institut abtransportiert. Wie aus den Statistiken hervorgeht, werden in den Großstädten monatlich stets ähnlich viele Tote als „Namenlose“ in Massengräber geworfen wie in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas. Priester Julio Lancelotti und seine Mitarbeiter stellen immer wieder Merkwürdigkeiten und verdächtige Tatbestände fest. „Werden Obdachlose krank und gehen in bestimmte öffentliche Hospitäler, bringt man an ihrem Körper eine Markierung an, die bedeutet, daß der Person nach dem Tode zu Studienzwecken Organe entnommen werden. Die Männer registriert man durchweg auf den Namen Joao, alle Frauen als Maria. Wir streiten heftig mit diesen Hospitälern und wollen, daß die Obdachlosen auch nach dem Tode mit den echten Namen geführt werden. Schließlich kennen wir diese Menschen, haben über sie Dokumente. Man meint eben, solche Leute sind von der Straße, besitzen also weder eine Würde noch Bürgerrechte. Wir haben in der Kirche eine Gruppe, die den illegalen, kriminellen Organhandel aufklären will, aber rundum nur auf Hindernisse stößt. Denn wir fragen uns natürlich auch, ob jenen namenlos Verscharrten vorher illegal Organe entnommen werden.“Fast in ganz Brasilien und auch in Sao Paulo sind Todesschwadronen aktiv, zu denen Polizeibeamte gehören, wie sogar das Menschenrechtsministerium in Brasilia einräumt. Tagtäglich würden mißliebige Personen außergerichtlich exekutiert, heißt es. Darunter sind auch Obdachlose, von denen allein in Sao Paulos Zentrum weit über zehntausend auf der Straße hausen. Wie Priester Julio Lancelotti betont, ist zudem die Zahl der Verschwundenen auffällig hoch. „Auf den Straßen Sao Paulos werden viele Leichen gefunden. Denn es ist sehr einfach, so einen Namenlosen zu fabrizieren. Man nimmt ihm die Personaldokumente weg, tötet ihn und wirft ihn irgendwo hin. Wir gehen deshalb jeden Monat ins gerichtsmedizinische Institut, um möglichst viele Opfer zu identifizieren. Die Polizei ist immer überrascht und fragt, warum uns das interessiert. Das Identifizieren ist für uns eine furchtbare, psychisch sehr belastende Sache, denn wir müssen monatlich stets Hunderte von Getöteten anschauen, die in großen Leichenkühlschränken liegen – alle schon obduziert und wieder zugenäht. Und man weiß eben nicht, ob da Organe entnommen wurden.“Solchen Verdacht hegen nicht wenige Angehörige von Toten, die seltsamerweise als „Namenlose“ im Massengrab endeten. In der nordostbrasilianischen Küstenstadt Maceio geht letztes Jahr der 69-jährige Sebastiao Pereira sogar mit einem Protestplakat voller Fotos seines ermordeten Sohnes auf die Straße. Dem Vater hatte man im gerichtsmedizinischen Institut die Identifizierung der Leiche verweigert – diese dann mysteriöserweise auf einen Indigentes-Friedhof gebracht. Kaum zu fassen – ein Friedhofsverwalter bringt es fertig, Sebastiao Ferreira später mehrere Leichenteile, darunter einen Kopf zu zeigen. „Mein Sohn wurde allein am Kopf von vier MG-Schüssen getroffen – und dieser Kopf war doch intakt! Ich setzte eine DNA-Analyse durch – der Kopf war von einem Mann, das Bein von einem anderen, der Arm wiederum von einem anderen – doch nichts stammte von meinem Sohn“, sagt er der Presse. In Sao Paulo hat Priester Lancelotti durchgesetzt, daß ein Mahnmal auf dem Friedhof Dom Bosco an die ermordeten Regimegegner, aber auch an die mehr als 200000 „Namenlosen“ erinnern wird. Neuerdings macht der Friedhof in Brasilien immer wieder Schlagzeilen, allerdings nicht wegen der Massengräber von heute. Progressive Staatsanwälte versuchen das Oberste Gericht in Brasilia zu überzeugen, den zur Diktaturzeit für den Friedhof verantwortlichen Bürgermeister Paulo Maluf und den damaligen Chef der Politischen Polizei, Romeu Tuma, wegen des Verschwindenlassens von Oppositionellen vor Gericht zu stellen. Erschwert wird dies jedoch durch den Politikerstatus der Beschuldigten: Paulo Maluf ist Kongreßabgeordneter und Romeu Tuma sogar Kongreßsenator – beide gehören zum Regierungsbündnis von Staatspräsident Lula.
Kindstötung bei Indianerstämmen: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/18/brasilien-kindsmord-am-amazonas-ard-weltspiegel-berichtet-erstmals-uber-infantizid-bei-brasilianischen-indianerstammen/
Brasilianische Protestsongs:
Paralamas do Sucesso: http://www.youtube.com/watch?v=sI4ZF2qEzpE
Jorge Aragao: http://www.youtube.com/watch?v=XkvjkxERac4
Bezerra da Silva: http://www.youtube.com/watch?v=8i69t5BI3KI
Legiao Urbana: http://www.youtube.com/watch?v=zy2-b8Ze90A&feature=fvwrel
Rita Lee: http://www.youtube.com/watch?v=XTPV8cJoqSU
Cazuza: http://www.youtube.com/watch?v=NkNv2BflaSU
Capital Inicial: http://www.youtube.com/watch?v=5xShbngQdaI
Titas: http://www.youtube.com/watch?v=0LXil87V6jQ
Biquini Cavadao: http://www.youtube.com/watch?v=lR4GeUpk-LE
Raul Seixas: https://www.youtube.com/watch?v=S2cWf8lrQAQ
“Folter noch jeden Tag.”(2011)
Amnesty Journal 2009:
“KOPF UNTER WASSER
Gravierende Menschenrechtsverletzungen offiziell abzustreiten oder zu vertuschen, kommt heutzutage bei der internationalen Gemeinschaft schlecht an. Das weiß auch die brasilianische Regierung und geht deshalb seit langem einen anderen Weg: Mit erstaunlicher, entwaffnender Offenheit wird in- wie ausländischen Kritikern bestätigt, dass sie völlig im Recht seien. Man sehe die Dinge ganz genau so und habe bereits wirksame Schritte, etwa zur Abschaffung der Folter, eingeleitet. Doch auf die Worte folgen meist keine Taten.
Menschenrechtsaktivisten wie der österreichische Pfarrer Günther Zgubic, der die bischöfliche Gefangenenseelsorge in Brasilien leitet, vermissen seit Jahren deutliche Worte von deutscher Seite. Schließlich ist Lateinamerikas größte Demokratie ein wichtiger strategischer Partner von Deutschland, und die Regierung in Berlin spricht gerne von den “gemeinsamen Werten”, die beide Staaten verbinden würden. Mit dem Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Günter Nooke, hat jetzt zum ersten Mal endlich ein hochrangiger deutscher Politiker in der Hauptstadt Brasilia die Probleme offen angesprochen.
Zgubic erinnert immer wieder an die wohlklingenden Versprechungen, die Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bei seinem Amtsantritt 2003 verkündet hat: “Er hat öffentlich erklärt, dass er Folter und andere grausame, unmenschliche Praktiken nicht mehr duldet.” Leere Worte aus Brasilia, denn nach Informationen von Zgubic existiert die Folter in allen Varianten, um Geständnisse zu erzwingen: “Es werden Elektroschocks eingesetzt, man presst den Kopf unter Wasser. Auf allen Polizeiwachen Brasiliens werden Häftlinge gefoltert”, meint Zgubic.
Nun sieht er sich überraschend durch Nooke bestätigt. “Stehen Menschenrechtsprobleme wie die unsägliche Folterpraxis beim Staatspräsidenten ganz oben auf der Prioritätenliste? Wieso wird nicht stärker kritisiert, dass die Regierung alle internationalen Verpflichtungen eingeht, ohne sie dann auch konsequent umzusetzen? Wir merken, dass sich Brasilien beim Thema Menschenrechte von Europa entfernt”, erklärte Nooke kürzlich. Brasilien dürfe im Menschenrechtsbereich nicht abdriften.
Doch vielleicht ist dies längst passiert. Paulo Vannuchi, Leiter des Staatssekretariats für Menschenrechte in Brasilia, hatte in der Zeitung “Folha de São Paulo” betont, dass das brasilianische Strafgesetz die Todesstrafe zwar nicht vorsehe, dennoch aber täglich außergerichtliche Exekutionen stattfinden würden. Gemeinsame Werte? Pedro Ferreira, Anwalt bei der bischöflichen Gefangenenseelsorge, findet es bedrohlich, dass selbst nach offiziellen Angaben derzeit über 126.000 Häftlinge trotz verbüßter Strafe illegal weiter festgehalten werden.
Ehemalige Gegner der Diktatur (1964 bis 1985) weisen zudem auf die fatalen Folgen der nicht bewältigten Gewaltherrschaft hin. Nicht einmal die Öffnung der Geheimarchive aus der Zeit der Diktatur sei unter Lula veranlasst worden, kritisiert Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus São Paulo. Die Straflosigkeit inspiriert seiner Meinung nach jene Staatsfunktionäre, die heute im Polizeiapparat und im Gefängnissystem “Folter und Ausrottung” betrieben. Mit leeren Worte kann man an diesen Zuständen wohl kaum etwas ändern.
Von Klaus Hart.
Der Autor ist Journalist und lebt in São Paulo.
BRASILIEN
Die “Hölle auf Erden”
Revolten, Hungerstreiks und Aids bestimmen den Alltag in den völlig überfüllten brasilianischen Gefängnissen. Brasilien gilt zwar als die zehntgrößte Wirtschaftsnation, leistet sich aber Haftanstalten, die man eher in Ruanda oder Burundi vermuten würde. Eine im April verkündete Amnestie entspannte die Situation nicht.
Eine mittelalterlich anmutende Gefangenenzelle in Rios Stadtteil Realengo: Jeder der mehreren Dutzend Insassen hat laut Gesetz Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter – hier ist es nicht mal ein einziger. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil der Gefangenen auf feuchtem Boden liegt, schlafen die anderen in Hängematten, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern bei beißendem Fäkaliengeruch und nächtlichem Besuch von Ratten. Die psychische Spannung ist fast mit Händen greifbar. Neun von zehn Gefangenen haben Furunkel, in der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu 60 Grad. Dann fallen täglich etwa 20 Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt.
Um aus dieser Hölle herauszukommen und in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit bis zu umgerechnet 5.000 Mark. Es gibt brasilianische Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld sammeln, um dann die Begünstigten auszulosen. In Bangu kommen die notwendigen “Real” von der Familie oder Verbrechersyndikaten – je unerträglicher die Hitze, desto höher die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Einmal am Tag gibt es schlechtes Essen; die Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt.
Folter ist üblich. Ein Anwalt beschreibt einen Fall von 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene, unter anderem mit Elektroschocks. Alle wiesen Blutergüsse auf, wurden zudem zu sexuellen Handlungen gezwungen.” Fast täglich werden Fälle zu Tode gefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt – die politisch Verantwortlichen bleiben meist passiv. Nur wenige Intellektuelle protestieren, die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Pervertieren statt resozialisieren
Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international oder “Human Rights Watch” prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten an – und auch die Gefangenenseelsorge der Katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der “Pastoral Carceraria” im Teilstaat Sao Paulo gegenüber dem ai-Journal: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier – niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen, läßt sie intellektuell, spirituell, moralisch und kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Mauzeroll hört in Polizeiwachen und Gefängnissen sehr häufig den Ausspruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die “Presidios” – was er täglich sieht, sind Bilder wie aus Horrorfilmen: Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Häftlinge verfaulen buchstäblich in Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst kriminell, weil sie Kranke bewußt
nicht behandeln, sondern sterben lassen. Sie werden aber nie zur Rechenschaft gezogen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind, jedoch nicht eingreifen.
Das Gefängnispersonal verkauft Lebensmittel, die für Häftlinge bestimmt sind und ermöglicht Rauschgifthandel und -konsum hinter Gitterstäben. Ein Gefängnisdirektor: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Erzwungenes Schweigen, Morddrohungen
Ein dunkles Kapitel ist auch die sexuelle Gewalt, von Aufsehern sogar gefördert. Mauzeroll zum ai-Journal: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken die Wärter ihn in bestimmte Massenzellen, damit er dort von 15 oder 20 Häftlingen vergewaltigt wird. Dies ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Nach amtlichen Angaben infizierten sich bereits mehr als 20 Prozent aller Inhaftierten mit dem HIV-Virus – ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt.
Vitor Carreiro teilte in Rio de Janeiro jahrelang eine Zelle mit 47 Gefangenen. Er ist von Aids gezeichnet und sagt: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” Promiskuität ist der Alltag: José Ferreira da Silva, HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern – keiner benutzt Präservative.
Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu vielen “politisch korrekten” Landsleuten nicht um unbequeme und unangenehme Wahrheiten. Er hat keine Probleme, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel. Berufskiller erledigen das – Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Diese ist schuld an der Situation.”
Gemäß einer neuen Studie der Vereinten Nationen lebt heute fast die Hälfte der 150 Millionen Brasilianer in verhältnismäßig entwickelten Gebieten. “Wenn in Sao Paulo und Rio de Janeiro die Lage in den Gefängnissen bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Regionen des Nordens und Nordostens sein?”
Amnestie nur Kosmetik
Die Rechtsanwältin Zoraide Fernandez weist darauf hin, daß Häftlinge nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang gefangengehalten werden. 1995 waren es allein in Rio mindestens 560.
Brasiliens Staatschef Fernando Henrique Cardoso verkündete im April die, wie es offiziell hieß, größte Amnestie in der Geschichte des Landes: Etwa zehn Prozent der Gefangenen sollten freikommen. Wie die Gefängnisbehörden inzwischen einräumten, werden beispielsweise im Teilstaat Rio de Janeiro nur wenig mehr als ein Prozent amnestiert. Die 511 Gefängnisse bieten Platz für höchstens 60.000 Personen, sind aber nach jüngsten offiziellen Angaben mit 148.760 Häftlingen belegt – das sind 15 Prozent mehr als 1994. Notwendig, so hieß es, sei der Bau von 145 zusätzlichen Haftanstalten. Die Lage in der Metropole Sao Paulo ist den Angaben zufolge am dramatischsten. Eine Besserung ist nicht in Sicht: Per Haftbefehl suchte man allein 1996 rund 275.000 Straftäter.
Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent sind männlich und etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten, die meisten werden allerdings der Öffentlichkeit verschwiegen. Eine Ausnahme bildet lediglich der südliche, relativ hochentwickelte Teilstaat Rio Grande do Sul – nur dort soll es auch keine irregulär festgehaltenen Häftlinge geben.
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor: 1992 wurden im berüchtigten Gefängnis “Carandiru” von Sao Paulo mindestens 111 Insassen erschossen. Die politisch Verantwortlichen und die direkt Beteiligten blieben bisher straffrei. In “Carandiru” ereignete sich auch Ende Oktober wieder eine Revolte: 670 Gefangene nahmen 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Häftlinge versuchten währenddessen in einem Müllwagen zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Klaus Hart
Der Autor ist freier Korrespondent in Rio de Janeiro
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„Die Lula-Regierung war bei den Menschenrechten eine Enttäuschung“(2009)
Tim Cahill, Brasilienexperte von Amnesty International, über fortdauernde Folter, Todesschwadronen, paramilitärische Milizen und Sklavenarbeit in Lateinamerikas größter Demokratie.
Paraisopolis heißt Paradies-Stadt – doch paradiesisch ist hier garnichts. Der Slum zählt zu den über 2000 in der reichsten südamerikanischen Megacity und grenzt an ein Viertel der Wohlhabenden – nicht wenige davon blicken von ihren luxuriösen Penthouse-Appartements direkt auf das unüberschaubare Gassenlabyrinth, wo auf engstem Raum in Holz-und Backsteinkaten rund 100000 Menschen in Moder, Abwässer-und Müllgestank hausen. Dabei gibt es an der fernen Peripherie weit grauenhaftere Slums. Auch für die Kirche ist an Scheinheiligkeit nicht zu überbieten, daß der von bewaffneten Gangstern gemanagte Drogenhandel in Paraisopolis nur dank der reichen Großkunden von nebenan so lukrativ funktioniert. Der junge schwarze Slumpriester Luciano Borges Basilio nimmt kein Blatt vor den Mund:“Das organisierte Verbrechen ist besser organisiert als die Polizei – oft sogar viel besser, während die Polizei desorganisiert ist.“ In Brasilien werden täglich mehrere Beamte ermordet. „Ein Polizeioffizier erhielt 2009 hier in Paraisopolis einen Bauchschuß – die Beamten haben ja auch Familie und sind unter Streß und Hochspannung, wenn sie in einen Slum hineinmüssen. Aber Willkür rechtfertigt das nicht.“ Anstatt jener kleinen Minderheit von Kriminellen das Handwerk zu legen, verletzt die Polizei bei Razzien permanent Grundrechte der völlig unschuldigen Bewohnermehrheit, was weder die Kirche noch Amnesty International hinnimmt. Tim Cahill ist wiederholt vor Ort, spricht mit Zeugen. Sie berichten von Folterungen, ungerechtfertigtem Schußwaffengebrauch: Bei der Verfolgung von Gangstern, die in das Gassengewirr und Menschengewimmel des Slums flüchten, wird ein neunmonatiges Baby in den Arm geschossen, eine Sechzehnjährige an den Brüsten verwundet.
Journal: Bewohner berichten, daß Elektroschocks zu den gängigsten polizeilichen Foltermethoden in Paraisopolis gehören. Die Beamten behandeln uns wie Tiere, lautet ein Vorwurf.
Cahill: Die brasilianische Regierung hat zwar die Anti-Folter-Konvention unterzeichnet, doch wie wir hier vor Ort sehen, fehlt jeglicher politischer Wille, Folterer zu bestrafen. Bei Folter-Anzeigen wird gewöhnlich garnicht ermittelt. Die Polizei ist landesweit zunehmend in kriminelle Aktivitäten verwickelt, bildet Todesschwadronen und paramilitärische Milizen. Und ein beträchtlicher Teil der Brasilianer, vor allem jene in den Slums, wird wie Wegwerf-Bevölkerung behandelt. Paraisopolis ist dafür ein Beispiel. Es fehlt die Verantwortung des Staates für diese Menschen. Öffentliche Sicherheit muß für alle Brasilianer garantiert werden – die armen Schichten darf man nicht einfach davon ausschließen.“
Journal: „Öffentliche Sicherheit“ ist in Brasilien vor allem Aufgabe der Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur. Weil Diktaturverbrecher, Folterer von einst nicht bestraft werden, fördert dies heutige Polizeigewalt und ermuntert die Folterer zum Weitermachen, argumentieren selbst frühere politische Gefangene.
Cahill: Das ist in der Tat ein zentraler Punkt – Straffreiheit in Bezug auf Vergangenes stärkt die heutige Politik der Straflosigkeit. Das wird weithin akzeptiert. Ich war in vielen Polizeiwachen und Gefängnissen Brasiliens, habe hohe Amtsträger des Sicherheitsapparats getroffen. Da fand ich immer Leute mit ganz direkter Beziehung zu den Diktaturverbrechen. Das Ausmaß der Gewalt, die alltäglichen Menschenrechtsverletzungen im heutigen Brasilien sind Erbe der Diktaturvergangenheit. Amnesty macht Druck auf Brasilia, auf Staatschef Lula, die Diktaturverbrechen zu bestrafen und die Geheimarchive des Militärregimes endlich zu öffnen. Brasilien ist bei der Vergangenheitsbewältigung deutlich hinter den anderen lateinamerikanischen Staaten zurück. Das ist gravierend.
Journal: Die Lula-Regierung hatte der UNO, den Menschenrechtsorganisationen 2003, zu Beginn der ersten Amtszeit versprochen, die eigenen Gesetze und internationalen Abkommen einzuhalten. Doch nach wie vor werden in Brasilien sogar Menschen auf Scheiterhaufen lebendig verbrannt. Hielt Brasilia denn Wort?
Cahill: Die Lula-Regierung war eine Enttäuschung. Es gab große Versprechen, Pläne und Projekte, sogar einen konstruktiven Diskurs – doch die Probleme sind tief verwurzelt geblieben. Es wird weiter gefoltert und exekutiert, die Lage in den Gefängnissen ist nach wie vor grauenhaft, und es gibt sogar weiterhin Todesschwadronen und Sklavenarbeit. Es fehlt der Regierung ganz klar politischer Wille. Echte Reformen werden durch wirtschaftliche und politische Interessen verhindert. Die paramilitärischen Milizen haben Macht, üben wirtschaftliche Kontrolle aus – daraus wird politische Macht, eine reale Bedrohung im heutigen Brasilien.“
Journal: In der Olympia-Stadt Rio de Janeiro hat der Staat mehrere Hangslums besetzt, gemäß überschwenglichen europäischen Presseberichten die Verbrecherkommandos vertrieben und die Lage der Bewohner deutlich verbessert. Sind das nicht gute Beispiele, die auf positive Änderungen hindeuten?
Cahill: Es handelt sich bei diesen Slums lediglich um Inseln, während im großen Rest der Stadt sich an der staatlichen Politik, an Diskriminierung und Polizeigewalt kein Deut ändert. Für uns heißt dies, vor Ort noch intensiver zu recherchieren und Menschenrechtsverletzungen permanent anzuprangern. Die Situation Brasiliens ist sehr komplex.
Journal: Hochrangige Staatsvertreter geißeln die Lage gelegentlich drastisch, was auf manchen entwaffnend wirkt. Laut Gilmar Mendes, Präsident des Obersten Gerichts, ähnelt Brasiliens Gefängnissystem nazistischen Konzentrationslagern. Und Paulo Vannuchi, Brasiliens Menschenrechtsminister, räumt ein, daß tagtäglich außergerichtliche Exekutionen und Blutbäder von Polizisten sowie Todesschwadronen verübt würden. Gravierende Menschenrechtsverletzungen seien Routine, alltäglich und allgemein verbreitet.
Tim Cahill: Dies zählt zu den unglaublichen Dingen in Brasilien – Teile der Autoritäten erkennen diese Tatsachen offen und klar an – aber tun so, als seien sie dafür nicht verantwortlich. Denn das Gefängnissystem wird eben einfach nicht reformiert, trotz der häufigen Versprechen. Das große Problem Brasiliens ist heute, daß der offizielle Diskurs nichts mit der politischen Praxis zu tun hat. Wenn die Regierung in Brasilia weltweit mehr Anerkennung und Respekt will, muß sie sich für die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung einsetzen, besonders der Unterprivilegierten. Was falsch läuft, haben wir bei unseren Recherchen in der Sao-Paulo-Favela Paraisopolis, bei den Gesprächen mit Tatzeugen deutlich ermittelt: Der Staat marginalisiert diese Menschen – und das seit Jahrzehnten. Innerhalb des Staatsapparats herrscht Einverständnis, die Polizeistrukturen nicht zu kontrollieren. Angesichts extremer Kriminalität läßt man den Sicherheitskräften die Freiheit, Menschenrechte einfach zu verletzen. Wichtig ist, beide Seiten zu sehen.
“Cities of Terror” – WOXX:
http://archiv.woxx.lu/0700-0799/700-709/703/703p5.pdf
http://www.ila-web.de/brasilientexte/inhalt.htm
Hintergrund von 1997 – veröffentlichte Texte in Lateinamerika-Nachrichten – hat sich seitdem an der Lage viel verändert?
Immer mehr Straßenkinder Brasiliens werden von der organisierten Kriminalität rekrutiert und landen damit in den Kreisläufen der täglichen Barbarei und Gewalt. Das „Missionsobjekt“ Straßenkind hat hierdurch neue Dimensionen erfahren, die bislang allerdings von den Straßenkinderprojekten im Ausland kaum zur Kenntnis genommen wurden. Unser Autor Klaus Hart aus Rio de Janeiro schildert die wenig erfreuliche Entwicklug des Problems.
Bis zum entsetzlichen Candelaria-Massaker von 1993 (vgl. LN Nr. 231/232) gehörten die Meninos de Rua zum normalen Erscheinungsbild der Sieben-Millionen-Stadt Rio de Janeiro. Ob in Copacabana, Ipanema oder in der City – immer zogen sie in Gruppen herum, bettelten, stahlen. Und schlimmer noch: Eine sichtbare Minderheit unter den Straßenkindern überfiel, terrorisierte regelrecht bevorzugt schwangere Frauen und alte Leute.
Im Stadtzentrum bin auch ich mehrfach von Straßenkindern verfolgt worden, flüchtete mich in Restaurants oder in von bewaffneten Pförtnern bewachte Hauseingänge. Wenn die Gruppen mich dennoch erwischten, waren eben Geld und teures Arbeitsgerät wie Sony-Recorder oder Kamera weg. Eine Bande ritzte mir vorm Wegrennen in Richtung Polizeikabine einmal Arm und Hand blutig. Aber das ist alles harmlos im Vergleich zu den Erlebnissen vieler Einheimischer. Eine brasilianische Bekannte fuhr mit dem Wagen die famose Avenida Atlantica entlang, ihr Kleinkind auf dem Rücksitz. An der Ampel wird das Auto von Straßenkindern umringt, eines schneidet ihrer Tochter die Kehle durch, sie verblutet. Einem Nordamerikaner, zum Arbeiten in Rio, schlägt eine Gruppe eine abgeschlagene Flasche ins Gesicht, einfach so, ohne Raubabsicht.
Derzeit muß man in Rios Kernbereichen Meninos de Rua allerdings fast mit der Lupe suchen. Statt der Tausenden von Anfang der 90er Jahre verlieren sich im Straßengewühl bestenfalls einige hundert. Will ich zur nächsten Metrostation, kommen mir gelegentlich ausgeraubte traumatisierte Frauen entgegen: „Gehen Sie nicht weiter, an der Ecke lauern drei Meninos mit Messern!“ Also laufe ich zurück, nehme am Stand ein Taxi, fahre an den Kids vorbei, höre vom Motorista: „Die da werden nicht alt, hinter denen sind schon die Kollegen her.“ Diskutieren sinnlos. Grundtenor an den Stehbars: Sofort umlegen, bevor die Blödsinn machen.
Straßenkinder-Experten wie Roberto Santos, Leiter der angesehenen Stiftung Sâo Martinho, bestätigen, daß die Gesellschaft, besonders die Mittel- und Oberschicht, auf Repression setzt und Gewalt gegen die Minderjährigen wie nie zuvor befürwortet. Gemäß einer neuen seriösen Umfrage sind rund 52 Prozent der BewohnerInnen von Rio generell für Lynchjustiz. Den Intellektuellen, ebenso wie den in-und ausländischen NGOs, gelang es nicht, einen Meinungsumschwung herbeizuführen – die brasilianische Gesellschaft ist neoliberaler, individualistischer und deutlich egoistischer geworden. Das früher bestehende Mitgefühl etwa der Mittelschicht mit den Armen hat spürbar abgenommem. Weiter gilt, was der inzwischen verstorbene Betinho konstatierte: Das Beseitigen von als störend empfundenen Minderjährigen wird von einem Großteil der BrasilianerInnen hingenommen, toleriert, und im Sinne einer geistigen Komplizenschaft mit den Mördern sogar befürwortet.
Anti-NGO-Kampagne
Inzwischen hat sich das Problemfeld verändert. Heute über gute oder schlechte Straßenkinderprojekte, über die Unterschlagung von Spendengeldern und über Kinderelend als Bereicherungsquelle für unehrliche NGOs zu debattieren, wäre müßig. Regierungsunabhängige Organisationen, die sich direkt den Straßenkindern widmen, gibt es kaum noch. Die meisten sind schlichtweg eingegangen, seit das Ausland weit weniger Spenden überweist und die Regierung nach einer geschickt betriebenen Anti-NGO-Kampagne Gelder stoppte. Cristina Leonardo, die couragierte Leiterin des Centro Brasileiro de Defesa dos Direitos da Crianca e do Adolescente (Brasilianisches Zentrum für die Verteidigung der Rechte von Kindern und Jugendlichen) und Verteidigerin von Opfern und Überlebenden des Candelaria-Massakers, wie auch Roberto Santos bestreiten vehement, daß die Regierung etwa durch gute Präventivprojekte die Zahl der Straßenkinder gesenkt habe. Unter Präsident Fernando Henrique Cardoso sei die Situation gerade im Sozialbereich, ob Bildung oder Gesundheit, so schlecht wie noch nie. Ausländische Unterstützergruppen, so ist immer wieder zu hören, hätten eine völlig falsche, oft sozialromantische Sicht der Dinge. Größtenteils werde übersehen, was sich bereits vor dem Candelaria-Massaker 1993 deutlich abzeichnete: Das organisierte Verbrechen offeriert den Kindern und Jugendlichen vergleichsweise gutbezahlte Jobs, bei keineswegs geringerem, sondern weit höherem Lebensrisiko, doch für umgerechnet bis zu tausend Mark die Woche. In sämtlichen Slums von Rio de Janeiro, auch dies ist inzwischen ein Gemeinplatz, funktionieren selbst die vom Ausland finanzierten Hilfsprojekte nur, wenn das organisierte Verbrechen seine Zustimmung gibt. In Europa denken immer noch viele, Kinder und Jugendliche der Unterschicht würden mehrheitlich von der Militärpolizei erschossen. Seriöse Untersuchungen stellten jedoch bereits 1993 richtig, daß der große „Exterminador“ eben das organisierte Verbrechen ist. Keiner weiß das besser als die mit Cristina Leonardo kooperierende Künstlerin Yvonne Bezerra de Mello. Kinder, die nicht richtig mitziehen, etwa drogensüchtig werden und statt Profiten Verluste bringen, werden kurzerhand eliminiert. Die Leichen, so Yvonne Bezerra de Mello, verschwinden meistens. Die großen Bosse, sagt sie, wohnen natürlich nicht im Slum, sondern in den Nobelvierteln Rios. In diesen Vierteln der Geld- und Politikerelite werden derzeit Drogen verbraucht wie nie zuvor – daher die enorme Nachfrage, die den Straßenkindern Jobs verschafft.
Das beste Beispiel für die jüngeren Entwicklungen sind die Candelaria-Überlebenden: Der Trafico, wie die auf Drogen-und Waffenhandel, Entführungen und Rauberüberfälle spezialisierten Gangsterkommandos genannt werden, hat sie adoptiert. Die Leute vom organisierten Verbrechen, so Roberto Santos, zeigten sich in der Tat weitaus besser organisiert und professioneller als der Staat und die NGOs. Kinder und Jugendliche brauchen die rund 800 Slums von Rio nicht mehr zu verlassen. Die Kleinsten verdienen als Fogueteiro (Leuchtrakete) über fünfzig Mark pro Tag. Sie warnen die schwerbewaffneten Gangster mittels Feuerwerksraketen vor herannahenden gegnerischen Verbrechermilizen oder der Polizei. Fünfjährige transportieren als sogenannte Aviôes, Flugzeuge, Drogen in der Stadt, und bringen sie auch zu den privaten Bestellern der Mittel-und Oberschicht. Sieben- oder Achtjährige haben für gewöhnlich schon Pistole oder Revolver im Hosenbund. Als Soldados schließlich gehören sie zum martialischsten Teil der nach militärischem Vorbild streng hierarchisch gegliederten wichtigsten Syndikate Comando Vermelho (Rotes Kommando) und Terceiro Comando (Drittes Komando). Soldados kontrollieren die Ein- und Ausgänge der Steilhangslums. Sie schießen auf Verdächtige, nehmen an Gefechten und Massakern teil, führen Mordbefehle aus und sind bei Entführungen und Banküberfällen dabei.
Kultur feudalistisch-machistischer Werte
Mit Reinaldo Guarany, militanter Diktaturgegner und einer der Entführer des deutschen Botschafters Ehrenfried von Holleben im Jahre 1970, fahre ich eine enge steile Straße des malerisch wirkenden Bergstadtteils Santa Teresa hinunter. An der ersten Biegung richtet am Favela-Eingang ein nur mit Shorts und Sandalen bekleideter Zwölfjähriger seine verchromte MP auf uns. Er bräuchte nur einmal durchzuziehen, und alle im Wagen wären tot. Das passiert auch gelegentlich – im Drogenrausch sehen die Soldados in jedem einen Gegner, erschießen sogar die eigene Freundin oder Frau. Guaranys Kommentar: „Noch vor zwei Jahren habe ich hier viele von den Jungs, die mir heute mit MPs begegnen, Murmeln spielen sehen – sie wurden zu Soldaten des organisierten Verbrechens, prahlen damit herum und rühmen die Banditen als ihre Helden.“
Guarany sieht es nicht anders als Anwältin Cristina Leonardo: „Daß heute die große Mehrheit der Meninos de Rua beim Trafico ist, bedeutet, daß Staat und Regierung sie im Stich ließen und die Sozialprogramme einschränkten. Wenn ein Junge mit acht Jahren schon mit einer nordamerikanischen Heeres-MP umzugehen weiß, wird es kompliziert. Darüber spricht niemand, aber genau das müßte das Hauptthema sein!“ Die Drogenprobleme und das Ausmaß des organisierten Verbrechens herunterzuspielen, ist für sie „scheinheilig“.
Alba Zaluar, Brasiliens führende Gewaltexpertin, sieht inzwischen in den Slums eine neue tyrannische Kultur feudalistisch-machistischer Werte fest installiert – hingenommen von den Autoritäten des Staates. Denn die Herrschaft des organisierten Verbrechens über Rios Slums verhindert auf perfide Weise, daß deren BewohnerInnen politisch für ihre Rechte kämpfen. Immer wieder werden engagierte BürgerrechtlerInnen, die Selbsthilfegruppen in den Slums leiten und sich dem Normendiktat der Gangster nicht beugen wollen, zur Einschüchterung aller ermordet. Auch von ehemaligen, vom Trafico rekrutierten Straßenkinder.
So wollte im September eine 83-jährige Frau nicht mehr akzeptieren, daß Gangsterkommandos bei Gefahr stets ihr winziges Slum-Grundstück passierten. Sie diskutierte mit den Banditen. Eines Nachts wurde sie deshalb von einer Gruppe grausam ermordet. Ein brasilianischer Bekannter wohnt unglücklicherweise nur wenige Schritte von einem Kommando-Treffpunkt entfernt. Er muß mitansehen, wie dort Kinder, Jugendliche und Erwachsene gefoltert, gekreuzigt, mit Schüssen durchsiebt werden. Mehrfach feuerten Jugendliche unter Drogeneinfluß in seine Haustür, und hätten die zwei kleinen Söhne treffen können. Die Kids tragen übrigens bevorzugt deutsche G-3 – und schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre. Weil diese eine besonders große Reichweite haben, werden immer mehr Stadtbewohner durch verirrte Kugeln getötet oder verwundet.
In Rio ist die Gewöhnung an diese tägliche Barbarei die Regel – in Deutschland dagegen, so scheint es, haben nur wenige die Entwicklungen der letzten Jahre und deren politische Dimension zur Kenntnis genommen. Andere wollen sie nicht wahrnehmen. Sie müßten sich sonst von ihren liebgewordenen Brasilien-Klischees trennen.
In einem 17stündigen Prozeß wurde der Führer der brasilianischen Landlosenbewegung MST José Rainha zu 26 Jahren und sechs Monaten Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord verurteilt. Mit vier zu drei Stimmen befand die Jury den 36jährigen für schuldig, obwohl der zur Tatzeit 1000 Kilometer vom Tatort entfernt war.
Lange vor dem Prozeß gegen den populärsten, charismatischsten Landlosenführer kündigte amnesty international an, daß es im Verfahren nicht mit rechten Dingen zugehen wird. Aber die bösen Erwartungen wurden noch übertroffen. Der 36jährige José Rainha erhielt im Juni 26 Jahre und sechs Monate Haft wegen angeblicher Beteiligung an einem Doppelmord, der 1989 im Bundesstaat Espírito Santo begangen wurde. Amnesty international protestierte umgehend und erklärte Rainha für unschuldig: Das Urteil erinnere an Diktaturzeiten. Bleibe es auch beim zweiten Verfahren im September bei diesem Strafmaß, werde er zum politischen Gefangenen erklärt und ai rund um den Erdball für seine Freilassung mobilisieren. Nicht einmal die juristischen Mindestregeln seien im Prozeß eingehalten worden, kritisierte ai: Weder durch Beweise noch durch Zeugenaussagen konnte bestätigt werden, daß Rainha am Tatort war. Im Gegenteil gibt es Nachweise, daß er sich tausend Kilometer entfernt aufgehalten hat. Mit dem Gerichtsverfahren sollte viel mehr die Landlosenbewegung MST eingeschüchtert werden, die zur zweitwichtigsten Stimme der Opposition geworden ist.
Auch die katholische Kirche Brasiliens, in der Rainha seine politische Laufbahn begann, steht weiterhin zu ihm und unterstrich, daß den 922 Morden an BauerngewerkschaftlerInnen, kirchlichen MitarbeiterInnen, Landlosen, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen von 1990 bis 1995 nur 47 Gerichtsverfahren und nur fünf verurteilte Täter gegenüberstehen, von denen zwei aus dem Gefängnis flohen.
Im Visier: Das MST
Daß Rainha noch lebt, grenzt fast an ein Wunder: Seit 1987 verfolgt ihn die berüchtigte Todesschwadron Escuderie Le Cocq seines Heimatstaates Espírito Santo, in dem er als Landarbeitersohn aufwuchs. Rainha entging Hinterhalten, überlebte Mordanschläge und konnte nur einmal durch Schüsse verwundet werden. Zwei seiner engen Freunde, Pfarrer Gabriel Maire und Gewerkschaftsführer Edson Ramos, dagegen starben 1988 im Kugelhagel der Pistoleros.
Ein Jahr später kam es zu einem Schußwechsel zwischen einem Großgrundbesitzer, seinem ihn begleitenden Militärpolizisten und einer Gruppe von Landlosen. “In Wahrheit verteidigten sich die Sem Terra, die Landlosen, gegen jenen Fazendero, der ein Blutbad anrichten wollte.” meint Anwalt Osmar Barcellos. Zeugen wollen Rainha bei der Schießerei gesehen haben, beschreiben ihn als ziemlich dick, mit rundem Gesicht und kastanienfarbigen Haaren. Rainha ist jedoch geradezu dürre, hat ein längliches Gesicht und schwarze Haare. Und vor allem wurde er zur Tatzeit nicht nur von zwei Lokalparlamentariern, sondern auch einem Obersten der Militärpolizei des nordöstlichen Bundesstaates Ceará gesehen. Beim Prozeß wurden aber weder Zeugen der Anklage noch der Verteidigung angehört. Die laut Nachrichtenmagazin Veja gravierendste Verurteilung einer brasilianischen Führungspersönlichkeit seit der Rückkehr zur Demokratie wird deshalb von zahlreichen Juristen und Kriminalisten des Landes als schlechter Witz bezeichnet, die Strafe als “absurd”. Auch das Pastoralbüro für Landangelegenheiten der Bischofskonferenz kritisierte, daß mit dem Schauprozeß nicht Rainha, sondern die gesamte Landlosenbewegung getroffen werden sollte. In vielen Medien dagegen wurde das Urteil einseitig dargestellt und sogar begrüßt: das MST also doch die Bande von Mördern, gewalttätigen Gesellen und Gesetzesbrechern, wie die mächtigen Großgrundbesitzer immer behaupten?
Käme Rainha tatsächlich hinter Gitter, wäre das für das MST ein herber Verlust. Niemand sonst hat in Brasilien so viele Besetzungen brachliegender Latifundien mit durchgeführt, hat so große Erfahrungen und kennt Brasilien und die Landlosenbasis so gut. An die zwanzig Prozesse wurden gegen Rainha geführt, etwa 50 Untersuchungsverfahren gegen ihn eingeleitet – ohne Erfolg. Hinter Gittern saß er bereits mehrfach, internationale Proteste führten jedoch stets zu seiner Freilassung.
Ist Rainha nur eine Art MST-Profi-Funktionär? Er besitzt vier Hektar im Hinterland des Bundesstaates Sâo Paulo, pflanzt Paprika, Mais, Tomaten und Melonen, und gehört zu einer Associaçao comunitaria mit 16 Familien. Von der brasilianischen Zeitschrift Imprensa nach seiner Schulbildung gefragt, antwortete er: “Ich war nie in der Schule. Lesen und Schreiben habe ich mir mit fünfzehn zuhause beigebracht. Wir waren eben verdammt arm, meine Brüder arbeiteten auf dem Feld, um zu Überleben. … Ich lese gerne. Von Frei Betto kenne ich fast alle Bücher – der ist mein Freund.”
Unter dem Druck von Gerichtsmedizinern, Kriminalisten und der Öffentlichkeit sieht sich Brasiliens Justiz gezwungen, den Mord an Paulo Cesar Farias, Symbolfigur für Korruption in Politik und Wirtschaft, erneut zu untersuchen. Die bislang verbreitete offizielle Tatversion ist nicht mehr haltbar.
Mit der finanziellen Unterstützung des Multimillionärs Paulo Cesar Farias, im Volksmund PC, gewann Collor de Mello 1989 die Präsidentschaftswahlen. Aber auch nach der Wahl versorgte PC seinen Präsidenten, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch seines Amtes enthoben wurde, mit reichlich Geld (siehe LN 222). “Wegen Mangels an Beweisen” 1994 in einem offensichtlich politisch motivierten Korruptionsprozeß freigesprochen, lebt Collor heute in Miami. PC bekam sieben Jahre, die er größtenteils höchst komfortabel im offenen Strafvollzug von Maceio / Alagoas absaß. Damit könnte die Geschichte ein Ende haben.
PCs Comeback
Als ihn 1996 in seiner Wochenendvilla im Nordoststaat Alagoas der tödliche Schuß traf, hatte PC Farias gerade sein politisches Comeback, die Gründung einer Tageszeitung angekündigt. Der zuständige Polizeichef gab noch am selben Tag bekannt, der fünfzigjährige kahlköpfig-charmante Tangotänzer sei wegen Beziehungsproblemen von seiner Freundin Suzana Marcolino erschossen worden, die anschließend an seiner Seite Selbstmord begangen habe. – Spott und Ironie war der Tenor von Brasiliens Leitartikeln. Als Tatmotiv wurde allgemein Queima de Archivo, die Vernichtung von Archiven angenommen, da PC exzellenter Kenner der brasilianischen Korruptionsmechanismen war und strenggehütete Geheimnisse der jüngeren Politik mit ins Grab nahm. Zur allgemeinen Verblüffung bestätigte zwei Monate später der bis dahin landesweit hochangesehene Gerichtsmediziner Badan Palhares nach vor Ort angestellten Untersuchungen die Version des Polizeichefs. Für die Regierung schien der Fall damit erledigt.
Von Anfang an hatte der alagoanische Gerichtsmediziner und Militärpolizeioberst George Sanguinette mit einem hohen Maß an Zivilcourage öffentlich auf Ungereimtheiten bei dem Mord hingewiesen. Seine ermittelnden Kollegen würden von “oben” gewaltig unter Druck gesetzt, bei dem Verbrechen handele es sich um einen Doppelmord. Sanguinette erhielt daraufhin Morddrohungen und wurde wegen seiner Aufmüpfigeit zeitweise unter Hausarrest gestellt. Der Oberst ließ sich nicht einschüchtern, wies überzeugend grobe Ermittlungsfehler nach, und veröffentlichte darüber sogar ein Buch. Die Untersuchungen wurden schließlich wiederaufgenommen. Die jüngste definitive Expertise vom Mai macht die bisherige offizielle Version zu Makulatur. Suzana Marcolino konnte nicht auf PC geschossen und sich danach in der beschriebenen Weise umgebracht haben — gemäß der zuständigen Staatsanwältin weisen die Indizien nunmehr auf Doppelmord hin. Als PC und dessen Freundin bereits tot waren, wurden nachweislich Telefongespräche mit der Wochenendvilla geführt. Die Leichen “entdeckte” man aber erst rund vier Stunden später.
Zivilcourage eines Gerichtsmediziners
Laut Sanguinetti steht die Mafia von Alagoas hinter der Tat. Mittlerweile wurden auch Verbindungen PCs zur italienischen Mafia nachgewiesen. Ein Partner soll in Geldwäsche, Drogen und Waffenhandel verwickelt sein. Zwei Kinder von PC studierten auf einem Privatgymnasium der Schweiz, wo die italienische Polizei vier Konten des Ermordeten ausmachen konnte. Auf diesen und sechs weiteren Konten in den USA, den Niederlanden und Uruguay hatte PC über sechs Millionen Dollar deponiert: Ein Bruchteil seines Vermögens.
PC Farias eigener Einschätzung nach säßen bei strengeren Gesetzen gegen Korruption im Wahlprozeß – wie zum Beispiel in Italien – die Politiker, die Bauunternehmer und Bankiers des Landes allesamt hinter Gittern. Und er muß es wohl am besten wissen.
KASTEN
Würden Sie Ihr Kind “Hitler” nennen?
Antonio Callade, der auch in Deutschland und Österreich vielverlegte brasilianische Romancier, staunte nicht schlecht, als er bei der Premiere eines seiner Stücke im Teatro Ziembinski von Rio de Janeiro auf den Mosaikfußboden schaute: auf über zehn Metern Länge ein Hakenkreuz nach dem anderen kunstvoll aufgereiht, saubere Handwerksarbeit aus den 30er und 40er Jahren. Seit das alte Haus 1985 von einem Schauspieler erworben und in ein Theater umgewandelt worden war, hatte niemand Anstoß an der auch vom angrenzenden öffentlichen Platz deutlich erkennbaren Hakenkreuzornamentik genommen.
Obwohl in den brasilianischen Zeitungen häufig über Hakenkreuzschmierereien in Deutschland und anderen europäischen Ländern sowie über die entsprechenden Proteste jüdischer Organisationen berichtet wird, verkaufen Straßenhändler in Rio oder Sâo Paulo sogar nachproduzierte Metall-Erinnerungsplaketten an den “Gautag der Bayrischen Ostmark, Pfingsten 1933 in Regensburg”, darauf das Hakenkreuz unter’m Reichsadler. Bis heute tragen nicht wenige Brasilianer den Vornamen Hitler – die Eltern waren eben Bewunderer des Naziführers. Richter Hitler Cantalice läßt einen Parlamentsabgeordneten wegen Autoraubs verhaften – und als die Insassen einer total überfüllten Haftanstalt revoltieren, behält Polizeichef Hitler Mussolini Pacheco kühlen Kopf, führt persönlich die Verhandlungen über Geiselfreilassungen. Weiße Hitler sitzen in Universitätshörsälen, schwarze Hitler hausen in Slums der Sklavennachfahren. “Hitler” steht auch auf Straßenschildern: In der Stadt Barra do Bugres befindet sich das Hospital in der “Avenida Hitler Sansâo”. Auch der Vornahme “Rommel” ist sehr häufig.
Viele Juden flüchteten vor der drohenden Verfolgung und Ermordung auch nach Brasilien – die den Deutschen aus der Nazizeit bekannte üble Verunglimpfung der jüdischen Minderheit ist jedoch bis heute selbst in Wörterbüchern und Lexika beibehalten worden – trotz entsprechender Proteste. Vergangenes Jahr hat erstmals auch die jüdische Weltorganisation B’NAT B’RITH scharf verurteilt, daß sogar im wichtigsten brasilianischen Nachschlagwerk Aureliano der Jude als “schlechter Mensch, Geizhals, Habgieriger, Wucherer” definiert bzw. charakterisiert wird.
Der Präsident will wiedergewählt werden. Die entsprechende Verfassungsänderung kam Ende Januar nur mittels Stimmenkauf und andere Machenschaften durchs Parlament – sagten damals Kirche, Opposition und Medien. Doch niemand konnte es beweisen. Jetzt liegen Gesprächsmitschnitte vor, denen zufolge Cardosos rechte Hand, Kommunikationsminister Sergio Motta, den Stimmenkauf veranlaßte. Eine unbekannte Zahl von Abgeordneten erhielt demnach jeweils umgerechnet an die 300.000 DM in bar. Cardoso war noch nie so in der Bredouille.
Was Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sâo Paulo, Mitte Mai abdruckte, schlug ein wie eine Bombe: Zwei zur Rechtspartei PFL der Regierungsallianz zählende Kongreßabgeordnete erläutern klar und unzweideutig eine großangelegte Stimmenkaufoperation. Cardosos Intimfreund Sergio Motta von der Sozialdemokratischen Partei (PSDB) habe veranlaßt, daß über die PFL-Gouverneure der Teilstaaten Acre und Amazonas umgerechnet rund 300.000 DM in bar – oder sogar noch viel mehr – an Parlamentarier ausgezahlt wurde, damit sie Ende Januar für die Wiederwahl-Novelle votierten. Der Abstimmung war von der Mitte-Rechts-Regierung allergrößte Bedeutung beigemessen worden.
Überraschend hatte eine große Zahl von Abgeordneten, die die Verfassungsänderung stets öffentlich ablehnten, dann doch der Novelle zugestimmt. In den abgedruckten Gesprächsmitschnitten werden fünf bestochene Deputados aus Acre namentlich genannt, doch weit mehr sollen Summen zwischen 200.000 und 300.000 Reais erhalten haben. Diese bezeichen die Darstellungen als falsch und absurd. Die PFL, stärkster Partner Cardosos, schloß indessen sofort jene zwei Acre-Abgeordneten aus der Partei aus, die den Stimmenkauf erläuterten und selber Geld erhielten. Mit anderen Worten: Beide werden als geständig angesehen, die Mitschnitte somit als authentisch betrachtet. Warum nur diese beiden und nicht die anderen Deputados – die zwei Gouverneure und der Minister?, fragt sich alle Welt. Die in Folha-Kommentaren gegebene Antwort: Entläßt Cardoso Minister Motta, wie sogar die PFL-Spitze empfiehlt, gesteht er auch seine eigene Schuld ein – und dann ist alles möglich. Erinnert sei hier an das Collor-Impeachment von 1992.
Kurse der Stimmenbörse
Motta, der mit Cardoso eine Großfarm betreibt, ist in einer heiklen Situation. Vorwürfe, daß er als Hauptorganisator des Stimmenkaufs fungiert, erhob sogar Paulo Maluf, Führer der nicht zur Regierung gehörenden Rechtspartei PPD. Deren Kongreßabgeordneter Jair Bolsonari beschrieb, wie es am Tage der Abstimmung im Januar in den Kongreßkorridoren zuging: Wie bei Geschäftsverhandlungen auf einer Stimmenbörse. Am Morgen wurde ein Votum noch für 200.000 Reais gehandelt, weil die Regierung nicht sicher war, ob die Verfassungsänderung passieren würde. Einige Parlamentarier verlangten sogar 300.000 Reais. Kurz vor der Abstimmung glaubte die Regierung an ihren Sieg und ging deshalb mit dem Kurs herunter, zahlte nur noch 50.000 Reais. “Ich weiß nicht, wer Stimmen an- beziehungsweise verkaufte, doch den Kauf und Verkauf gab es tatsächlich.”
Die Cardoso-Regierung hat seit dem Amtsantritt eine Reihe von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verhindert, die ihr hätten gefährlich werden können. Zwar bekam die Opposition die nötigen Unterschriften der Abgeordneten zusammen, ohne die ein Ausschuß nicht gebildet werden kann. PFL und PSDB entsandten jedoch nicht die vorgeschriebenen Repräsentanten – und damit war die Untersuchung ganz “demokratisch” blockiert.
Nach dem Abdruck der Gesprächsmitschnitte hatte die Opposition die Unterschriftenliste rasch komplett – auf Anweisung Cardosos mußten indessen PFL- und PSDB-Abgeordnete ihre Unterschriften zurückziehen. Es wurde öffentlich spekuliert, wieviel Reais sich die Regierung die Rückzieher wohl habe kosten lassen – wieder 200.000 pro Kopf?
Brasiliens Bischofskonferenz CNBB hat den Megaescândalo nicht kommentiert, sie verwies nur auf ein jüngst veröffentlichtes CNBB-Dokument, in dem die Regierung der aktiven Korruption beschuldigt wird. Im Bezug auf die Wiederwahlnovelle heißt es, die Regierung besorge sich bei für sie interessanten Vorlagen die nötigen Stimmen ohne Skrupel. Cardosos Allianzpartner PFL, der den Vizepräsidenten stellt, ist gemäß Untersuchungen und Zeugenaussagen bereits seit langem in Wahlstimmenkauf verwickelt. Im archaischen Nordosten, so Anwälte gegenüber den Lateinamerika Nachrichten, sei allgemein bekannt, daß der deutschstämmige PFL-Chef Jorge Bornhausen mit prallgefülltem Geldkoffer herumreise, Politiker besteche und den Stimmenkauf organisiere. Bornhausen ist Mitgründer der einstigen Militärdiktatur-Partei Arena. Cardosos Vize Marco Maciel gehörte ebenfalls zur Arena und zählte zu den aktivsten Unterstützern der Foltergeneräle.
Alte Kameraden
Die PFL stand an der Seite Präsident Fernando Collor de Mellos, der 1992 wegen Korruption und Machtmißbrauch abgesetzt wurde.
Jener Senhor X, von dem die Folha de Sâo Paulo die Mitschnitte erhielt, hat inzwischen betont, weitere Tonbänder zu besitzen, auf denen noch mehr Personen belastet werden.
Zwei Mitglieder der PSDB-Spitze erklärten interessanterweise vor der Veröffentlichung der Mitschnitte gegenüber dem Nachrichtenmagazin Veja, sie seien überzeugt davon, daß der PFL-Gouverneur von Amazonas mit der Absicht des Stimmenkaufs nach Brasilia gekommen sei. Mit Koffern voll Geld sei der Gouverneur in den Wiederwahl-Prozeß hineingegangen. Warum stellte die Cardoso-Regierung ihn nicht zur Rede, fragt die Veja.
Gemäß einer neuen Meinungsumfrage führt die Popularitätskurve des Staatschefs nach langer Stabilität erstmals deutlich nach unten. Brasiliens Börsen reagierten auf die Veröffentlichung der ersten, brisanten Mitschnitte in der Folha am 13. Mai sofort mit Kursabfall. Die Echtheit der Mitschnitte wurde am 20. Mai bestätigt. Jene zwei Abgeordnete, die den Wortlaut des Abdrucks bestritten, stehen bös’ da. Ganz zu schweigen von den anderen Verwickelten.
Sie hatten angenommen es sei nur ein Bettler, verteidigten sich die fünf jungen Täter, die in Brasilia das schlafende Oberhaupt der Pataxó-Indianer Galdino Jesus dos Santos anzündeten. Der Fall erregte gerade deshalb Aufmerksamkeit, weil es sich um einen Indigena handelte, reiht sich jedoch ein in die zunehmende Gewalt gegen Wohnungslose. Die Täter kommen meist aus der Mittel- und Oberschicht.
Die Avenida Rio Branco, einstige Prachtstraße Rio de Janeiros, bietet nachts ein deprimierendes Bild. Weil seit 1995 infolge von neoliberalen Regierungsprogrammen die Arbeitslosigkeit steil anstieg und Sozialeinrichtungen schlossen, liegen so viele Obdachlose, Bettler, psychisch Kranke und Straßenkinder wie selten zuvor aufgereiht nebeneinander auf dem Bürgersteig; nicht wenige nutzen als Unterlage oder zum Zudecken lediglich Zeitungspapier oder Pappe. Neuerdings hat ein Großteil von ihnen Angst, Opfer jener Brandattacken zu werden, die sich auch in Sâo Paulo und selbst in der Hauptstadt Brasilia häufen: Nur Schritte von der Avenida Rio Branco entfernt, übergoß vormittags eine gutgekleidete Frau einen sitzenden Bettler mit reichlich Alkohol, warf zynisch lachend ein brennendes Streichholz auf ihn. Und verschwand im Menschengewühl, während der Mann die Flammen zu ersticken suchte. Dreißig Prozent der Haut verbrannten, derzeit liegt er in einem öffentlichen Hospital der Sieben-Millionen-Stadt, das pro Monat mindestens zwei wohnungslose Brandopfer behandelt. Oft kommt indessen jede Hilfe zu spät, wie die fast täglich veröffentlichten Fotos von verkohlten Leichen beweisen.
Ivan Bertanha, Leiter einer Hospitalabteilung für Verbrennungen in Sâo Paulo, betont, daß die Eingelieferten fast nie gerichtsverwertbare Angaben liefern können: “Sie sagen, daß sie in Flammen stehend aufgewacht sind und keine Verdächtigen gesehen haben.” Pataxó-Häuptling Jesus dos Santos verbrannte in Brasilia lebendig, nachdem nicht weniger als zwei Liter Alkohol über ihn ausgegossen worden waren. Die inzwischen gefaßten fünf Täter aus Elitefamilien verteidigten mit dem Argument, sie hätten ihn “nur” für einen Bettler gehalten. Für regierungskritische Menschenrechtler und Soziologen spricht dieser Satz Bände. Herbert de Souza Betinho, Führer der nationalen Kampagne gegen Hunger und für Bürgerrechte, nennt das Handeln der jungen Männer einen Hinweis “auf den Grad der Degenerierung in bestimmten höheren Schichten der brasilianischen Gesellschaft.” Helio Bicudo, enger Mitarbeiter des Kardinals von Sâo Paulo und Kongreßabgeordneter der Arbeiterpartei PT, konstatiert, die brasilianische Gesellschaft entwürdige die Armen und banalisiere das Leben. Der angesehene Sozialwissenschaftler und Therapeut Jurandir Freire Costa bringt sogar die Globalisierung mit ins Spiel: Junge Männer, wie jene fünf von Brasilia, kennen die reiche “Erste Welt” sehr gut und glauben, eher per Zufall in Brasilien zu leben. Widerwillig sind sie dort mit einer Mehrheit von “Häßlichen, Armen, Zahnlosen und Nicht-Weißen” konfrontiert, analysiert Costa weiter. Eine Art von Umgang mit dieser Realität sei, sie nicht wahrzunehmen, eine andere, diese sogar physisch zu eliminieren. “Wir reden viel über die Modernisierung Brasiliens, doch wenig über die Befriedung der Gesellschaft”, sagt Oscar Vieira, Generalsekretär des UN-Lateinamerika-Instituts und weist auf die Straffreiheit hin, von der besonders die High Society profitiert. Gemäß neuesten UNO-Angaben werden in Brasilien mehr Menschen durch Feuerwaffen getötet als in jedem anderen nicht durch Krieg gezeichneten Land. In Sâo Paulo kann die Polizei bestenfalls in zwanzig Prozent der Fälle die Täter identifizieren, was nicht bedeutet, daß diese auch verhaftet werden.
Der neue Sport der Besserbetuchten
Inzwischen wurden sehr unvollständige Angaben über die Anzahl wohnungsloser Brandopfer veröffentlicht. Allein in der Hauptstadt Brasilia sind seit 1988 mindestens 29 Bettler angezündet worden. In Sâo Paulo und Rio sind mehrere Wohnungslose pro Monat betroffen. Brandattacken sind jedoch nicht alles: So gehört es in den genannten drei Städten zum makabren Sport Besserbetuchter, etwa nach der Disco vom Wagen aus auf schlafende Wohnungslose zu schießen. Auch ein Polizeioffizier Rios pflegte, gerichtlichen Zeugenaussagen von 1994 zufolge, seine Waffen nachts an Bettlern zu testen.
Schließlich wurden 1990 in der Stadt Matupá drei arbeitslose Landarbeiter, die versucht hatten, eine Fazenda zu überfallen, in Anwesenheit von Polizisten und einem Politiker auf offener Straße lebendig verbrannt: das von einem Amateur gedrehte Video der Untat übergab die katholische Kirche internationalen Menschenrechtsorganisationen. 22 Personen wurden zwar angeklagt – zu einer Bestrafung ist es aber bis heute nicht gekommen.
Wegen des spektakulären Brandanschlags auf Galdino Jesus dos Santos interessiert sich die brasilianische Öffentlichkeit auf einmal für das Leben der Pataxó. Nach Angaben der Kirche wurden in den letzten Jahren in Südbahia 24 Pataxó-Indios von Pistoleros der Großgrundbesitzer oder diesen selbst erschossen, 47 überlebten Mordversuche, 48 Indios starben wegen unterlassener Hilfeleistung.
Ein Großteil Südbahias war ursprünglich Pataxó-Land. Doch vor und während der Militärdiktatur legten Latifundistas im Stammesgebiet Kakaofarmen an, von denen auch große internationale Schokoladenmarken ihren Rohstoff beziehen. Vor Gericht streiten die Pataxó seit 15 Jahren um die Rückgabe von etwa 36.000 Hektar – 788 Hektar waren ihnen zwar von der Justiz zugesprochen, de facto aber nie übergeben worden. Der Stamm nutzt jetzt die Gunst der Stunde: Zur Beerdigung von Häuptling Jesus dos Santos kamen TV-Teams, Presse und sogar der Chef der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI, Julio Geiger. Nach der Beisetzung durften weder er noch die Journalisten das Reservat verlassen, vielmehr wurden sie gezwungen, die Pataxó beim Besetzen von vier benachbarten Kakaofarmen zu begleiten. Umringt von Indios mit Feder-Kokarden, Wurfspiessen, Pfeil und Bogen, mußte Geiger grimmigen Blickes als erster das aufgebrochene Farmtor jenes Großgrundbesitzers durchschreiten, der die Pataxó am meisten terrorisiert – während diese aufpaßten, daß die Szene für die TV-Abendnachrichten auch ordentlich gefilmt wurde. Erst nachdem das Gebiet ohne Gewalt und Zwischenfälle besetzt worden war, ließen sie den FUNAI-Chef und den Medientroß von dannen ziehen.
Die Aufnahmen gehen um die Welt: Polizisten errichten eine Straßensperre und terrorisieren vorbeikommende PassantInnen. Niemand wehrt sich: aus Angst, erschossen zu werden. Der Präsident ist international entrüstet und die heimischen Intellektuellen schweigen.
Zehn Militärpolizisten Sâo Paulos machen sich einen sadistischen Spaß daraus, in einem Slum alle paar Tage eine Strassensperre zu errichten und zufällig vorbeikommende BewohnerInnen auf brutalste Art zu foltern, mit Hartholzstücken blutig zu schlagen und auszurauben. Ein völlig unschuldiger Mann wird vor aller Augen erschossen, ein anderer schwer verwundet.
Wer in brasilianischen Elendsvierteln lebt oder dort Sozial- und Menschenrechtsarbeit betreibt, weiß, daß Derartiges seit Diktaturzeiten absolut normal und alltäglich ist. Der jüngste Fall von Polizeiterror erregt indessen enormes Aufsehen, weil jemand gut versteckt tagelang alles filmt, das Video schließlich nicht nur im brasilianischen, sondern auch im nordamerikanischen, europäischen und asiatischen Fernsehen gezeigt wird.
Sâo Paulos Kardinal Evaristo Arns und seine Bischöfe und Padres protestieren vehement, stellen nicht anders als amnesty international (ai) und Human Rights Watch klar, daß die Greueltaten nicht überraschen. In ganz Brasilien würden die Menschenrechte von der Militärpolizei gravierend verletzt, Opfer seien stets Angehörige der unterprivilegierten Schichten, Anzeigen fruchteten gewöhnlich nichts.
Der neue Fall zeigt dies exemplarisch. Zwei der zehn Militärpolizisten gelten als Mitglieder einer Todesschwadron, die in jüngster Zeit mindestens dreizehn Menschen ermordet hat. Fünf Beamte standen bereits wegen acht Morden sowie Mordversuchen und schwerer Körperverletzung unter Anklage, die Verfahren wurden, wie fast durchweg üblich, eingestellt. Ganz offenkundig unter dem Druck der Medien und der Entrüstung im Ausland wurden inzwischen alle zehn Tatbeteiligten verhaftet – die Mitte-Rechts-Regierung instruierte in Windeseile auch die Botschaften in Bonn, Bern und Wien, wie zu reagieren ist.
Scheinheiligkeit und fragwürdige Aufregung
Ricardo Ballestreri, Präsident der brasilianischen ai-Sektion, mag ebensowenig wie die Kirche in den jetzt von den Medien geschürten Chor der Entrüstung einstimmen, wirft der Gesellschaft Scheinheiligkeit vor. Bei jenen, die sich über Polizeibrutalität aufregen, handelt es sich ihm zufolge um dieselben, die mehr Gewalt bei der Verbrechensbekämpfung und auch die Todesstrafe verlangen. ai hatte wie die Erzdiözese Sâo Paulos bereits vielfach angeprangert, daß die “High Society” und auch die Mittelschicht in Lateinamerikas erstem Wirtschaftsstandort Greueltaten gegen SlumbewohnerInnen schlichtweg ignorierten. In Brasilien, so ai auf Anfrage, gebe es ein Kontingent von Personen, deren Folterung absurderweise als sozial gerechtfertigt angesehen werde. Unter der Folter hatten erst kürzlich neun Männer der Unterschicht gestanden, ein Nobellokal überfallen und dabei zwei Gäste erschossen zu haben. Glücklicherweise fand man eher durch Zufall die wahren Täter mit der Beute, die Neun bleiben dennoch für ihr Leben gezeichnet.
“Beifall” für Todesschwadrone
Cecilia Coimbra, couragierte Präsidentin der brasilianischen Menschenrechtsorganisation “Nie mehr Folter”, erinnert jetzt daran, daß die sich in Sâo Paulo häufenden chacinas, Blutbäder, sowie andere Aktionen der Todesschwadronen von sehr vielen BrasilianerInnen mit “Beifall” aufgenommen werden. Nach der Ausstrahlung des Amateurvideos sei zu hoffen, daß es nie mehr zu derartigem Applaus komme. Jurandir Freire Costa, Therapeut und Direktor des Instituts für Sozialmedizin an der Universität von Rio, teilt diesen Optimismus nicht. Die Mittel- und Oberschicht, so Costa, spreche SlumbewohnerInnen den Gleichheitsgrundsatz ab, definiere sie quasi als “Nicht-Menschen” und reagiere daher mit extremer Indifferenz und Akzeptanz auf jede Art von Gewalt gegen diesen Teil der Bevölkerung.
Befreiungstheologe Frei Betto, enger Mitarbeiter von Kardinal Arns, teilt den Standpunkt von Costa, zählt den Sozialwissenschaftler außerdem zu den ganz wenigen Mitgliedern der geistig-künstlerischen Elite Brasiliens, die auf Massaker an Landlosen, Polizeiterror gegen Arme und von Todesschwadronen begangene Morde nicht mit Schweigen reagieren. Im Gespräch sagt Frei Betto, Hunderte von führenden Intellektuellen Frankreichs oder Italiens protestierten in Manifesten an die Mitte-Rechts-Regierung von Präsident Fernando Henrique Cardoso gegen all diese Greueltaten und verlangten energische Maßnahmen. Deren brasilianische KollegInnen duldeten indessen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gravierende Verletzung der Menschenrechte in der größten Demokratie Lateinamerikas, seien daher mitschuldig.
Das Schweigen, so Frei Betto, sei Resultat der Unterstützung jener Intellektuellen für die Cardoso-Regierung und deren neoliberale Politik. Viele aus der geistigen Elite, die besonders hohes Prestige in der öffentlichen Meinung genössen, würden von Brasilia mit Posten, Positionen und Geldern begünstigt. Oder klarer ausgedrückt: korrumpiert. Der Theologe erinnerte auch daran, daß viele Intellektuelle, aber auch in Deutschland sehr bekannte Schriftsteller wie Jorge Amado oder Sänger wie Gilberto Gil, Caetano Veloso, Elba Ramalho und Joâo Bosco, Filmemacher wie Héctor Babenco sich 1994 in einem Manifest für die Wahl Cardosos ausgesprochen hatten. Positive Ausnahme: Chico Buarque. “Daß all diese Personen sich heute passiv verhalten”, so Frei Betto weiter, “wird von den Intellektuellen Europas natürlich bemerkt. Warum protestieren wir, fragt man dort, doch die Kollegen in Brasilien nicht – wie steht es daher um deren Seriosität?” Sie sei nicht vorhanden, fügt der Theologe hinzu.
Der schwarze Intellektuelle Milton Santos: “Brasiliens Geisteswissenschaftler kapitulieren vor der Situation ihres Landes, nähern sich dem Establishment an.”
Frei Betto wurde während der Diktatur im berüchtigten Carandiru-Gefängnis Sâo Paulos eingekerkert und gefoltert. 1992 wurde er vom Gouverneur des Bundesstaats vor Gericht gestellt, weil er Gewalttaten der Militärpolizei öffentlich angeprangert hatte. Im selben Jahr erschossen Spezialeinheiten jener policia militar in Carandiru mindestens 111 Häftlinge.
Zum Lärm um das Amateurvideo meint Frei Betto, das brasilianische Medienecho werde wie in vorangegangenen Fällen rasch verhallen.
Für Präsident Cardoso kommt der Vorfall doppelt ungelegen. Denn Sâo Paulo mit seinen weit über eintausend deutschen Firmenfilialen wird von einem Gouverneur und engem Vertrauten aus des Staatschefs Sozialdemokratischer Partei PSDB regiert. Gleiches trifft auf den politisch Hauptverantwortlichen des Landlosenmassakers von 1996 im Amazonasbundesstaat Pará zu – und auch auf den Gouverneur Rio de Janeiros, wo ein Blutbad an Minderjährigen dem anderen folgt.
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
KASTEN
Männer des Gesetzes
Vorsicht, Leute aus Sâo Paulo, Osasco und ABC,
Die Polizei von Sâo Paulo ist zum Beschützen da.
Ist ein Polizist ein Verbrecher?
Es gilt das Gesetz des Hundes.
Die Polizei tötet das Volk,
Aber ins Gefängnis kommt sie nicht.
Immer mehr Leute, deren Wege sich verlieren
Aber sagen können wir nichts,
Denn wir sind nicht auf der Seite des Gesetzes.
Oh mein Gott, wann werden sie bemerken,
Daß Sicherheit zu geben nicht bedeutet
Angst einzujagen?
Song von Thaíde und DJ HUM
In der größten Demokratie Lateinamerikas gehören die berüchtigten “Esquadrôes da Morte” auch über zehn Jahre nach Diktaturende zum Alltag. Sie ermorden Kinder, Jugendliche, Menschenrechtsaktivisten und politische Gegner. Unter der Mitte-Rechts-Regierung von Staatschef Fernando Henrique Cardoso hat laut ai die Gewalt stark zugenommen.
An einem Februarnachmittag geschieht in Rio de Janeiros Slumgürtel Baixada Fluminense erneut, was viele in der Ersten Welt für unvorstellbar, unmöglich halten: Sechs aufgeweckte Jugendliche zwischen fünfzehn und siebzehn springen auf einen Linienbus auf und machen sich zweier “Vergehen” schuldig: Um nicht bezahlen zu müssen, passieren sie nicht das Drehkreuz des Buskassierers sondern bleiben, wie es täglich unzählige Schüler und Arbeitslose tun, auf den hintersten Bänken, lärmen, trommeln Disco-Rhythmen. Dem Kassierer wird es zu bunt. Er fordert zwei bewaffnete Sicherheitsleute der Busgesellschaft auf, die Jungen zum Schweigen zu bringen. Der Fahrer hält an, die sechs werden mit vorgehaltener Pistole zum Aussteigen gezwungen, müssen sich in einer Reihe auf die Erde knien. Dann werden sie kaltblütig mit Kopfschüssen außergerichtlich exekutiert, wie es ai und andere Menschenrechtsorganisationen stets in Untersuchungsberichten nennen. Die Mörder unterziehen sich, wie üblich, nicht der Mühe, die Toten zu verstecken oder zu verscharren. Ein Jugendlicher überlebte die Schüsse noch eine halbe Stunde, hätte gerettet werden können. Doch niemand der vielen herbeigelaufenen Neugierigen rührte aus Angst vor Rache eine Hand: Die Killer hatten es verboten, keiner der Gruppe sollte davonkommen.
Schlag für Rios Olympia-Bewerbung
Bereits in den 80er Jahren war die Baixeda Fluminense von den Vereinten Nationen als gefährlichste Stadtzone der Welt eingestuft worden – bis heute werden hier Morde selten aufgeklärt. Gemäß einer neuen Untersuchung sahen über dreißig Prozent der minderjährigen Slumbewohner schon einen Mord.
Auch diese Bluttat wäre gemäß jüngster Praxis von Öffentlichkeit und Medien übergangen worden, wenn nicht das Internationale Olympische Komitee gerade über die Kandidatur der Sieben-Millionen-Metropole am Zuckerhut für die Spiele 2004 entscheiden würde. In weltweit verbreiteten Imagekampagnen hatten Brasiliens Autoritäten für Rio getrommelt und stets argumentiert, daß sich Gewalttaten doch schließlich heute in allen großen Städten ereigneten. Die Nervosität der Politiker war nach dem Massaker groß. Anders als bei vorangegangenen Verbrechen dieser Art mußten Rios beste Kriminalisten Tag und Nacht nach den Tätern fahnden. Zeugen hatten sie laut Presseangaben zweifelsfrei erkannt. Einer gehört zu Rios Munizipalgarde und wird gemäß der engagierten Staatsanwältin und Killerkommando-Expertin Tania Salles Moreira stets dann als Mittäter genannt, wenn es in Bussen zu “Exekutionen” gekommen sei. Der andere leitet eine der zahlreichen regionalen Todesschwadronen.
Morddrohungen gegen holländischen Menschenrechtsaktivisten
Immer mehr brasilianische Pfarrer, Bischöfe, Sozialarbeiter, Künstler und Menschenrechtsaktivisten, die gegen das Wüten der Killerkommandos protestieren, werden durch Morddrohungen unter Druck gesetzt, müssen aus Sicherheitsgründen ihren Aktionsradius stark einschränken. Dies gilt auch für das neueste Blutbad. Zwei der Ermordeten stammten aus Slums, in denen das auch mit Geldern der deutschen Bundesregierung arbeitende Sozialinstitut IBISS seit Jahren Projekte realisiert. Der holländische Direktor Nanko van Buuren hatte als Arzt im zuständigen gerichtsmedizinischen Institut die beiden ihm bekannten Jugendlichen identifiziert – an der Ausgangspforte wurde er derweil von zwei Bewaffneten erwartet. Sie zeigten sich über alle Details der IBISS-Projekte gut informiert und drohten, den 48-jährigen umzubringen, falls er sich in die Ermittlungen einmische und juristisch gegen jene Busgesellschaft vorgehe, zu deren Sicherheitspersonal die Todesschützen nach bisherigen Ermittlungen gehören. Van Buuren hatte 1996 Bundespräsident Herzog während dessen Rio-Aufenthalts mit den IBISS-Projekten vertraut gemacht, hält zu ihm ständig Kontakt. “In Europa”, so der Experte, “schenkt man wahrheitsgemäßen Berichten über die Realitäten Rios gewöhnlich keine Beachtung. Das Ausmaß der Greueltaten gegen Arme und Verelendete wird für unwahrscheinlich gehalten.”
Politiker verwickelt
Duque de Caxias, Satellitenstadt Rios in der Baixada Fluminense, ist seit langem wegen der Todesschwadronen berüchtigt. Gegen Bürgermeister Zito dos Santos läuft ein Prozeß, weil er den Mord an einem seiner politischen Gegner befohlen haben soll. Mehrere seiner Kritiker, aber auch Menschenrechtler beschuldigen ihn, in Killerkommando-Aktivitäten verwickelt zu sein. Zito dos Santos gehört zur Sozialdemokratischen Partei von Staatschef Fernando Henrique Cardoso, dem Rios Pfarrer Caio Fabio vorwirft, zwar die monetäre Inflation, nicht aber die Abwertung des Lebens gestoppt zu haben. Todesschwadronen sind in ganz Amazonien und in Millionenstädten wie Manaus, Sâo Paulo, Salvador de Bahia, Recife, Fortaleza und Natal aktiv. In letzterer Provinzhauptstadt hatte der angesehene Menschenrechtler und Anwalt Francisco Negueira gegen die größtenteils aus Polizisten bestehenden Kommandos ermittelt: Vergangenen Oktober wurde er auf offener Straße durch MPi-Salven ermordet. Daraufhin forderte die Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) Brasilia auf, weiteren zehn von Kommandos in Natal Verfolgten Personenschutz zu gewähren.
KASTEN
Was ist das für ein Land?
In den Favelas, im Senat
Überall Dreck.
Die Verfassung achtet niemand,
Aber alle glauben an die Zukunft der Nation.
Was ist das für ein Land?
In Amazonas, in Arraguaia, in der Baixada Fluminense,
Mato Grosso, den Geraes und im Nordosten alles ruhig.
Im Tod finde ich Frieden, aber das Blut fließt weiter,
Befleckt die Papiere, die wahren Dokumente,
Auf denen der Patron sich ausruht.
Was ist das für ein Land?
Song von Renato Russo (Legiâo Urbana)
Schweine in Uniform
Die Männer des Gesetzes sind alle Verbrecher
Sie töten unschuldige Leute und machen in Ruhe weiter.
Unausgebildet, inkompetent handeln sie wider die Vernunft,
Anstatt für Sicherheit zu sorgen
Verängstigen sie die Bevölkerung.
Sie sind darauf trainiert, eine reiche Minderheit zu beschützen
Vor der armen Mehrheit, die mit ihrem Leben bezahlt.
Und wenn Du ein Arbeiter bist,
Dann hast Du die idealen Voraussetzungen,
Um in das Netz zu stürzen
Der offiziellen Todesschwadronen,
Schweine in Uniform.
Sie halten sich für Männer
Aber in Wirklichkeit ehren sie
Nicht einmal ihren Namen.
Bulle, mit Verlaub,
Ich werde die Dinge beim Namen nennen:
“Mit der Pistole in der Hand bist Du ein grimmiges Tier, ohne sie schwänzelst Du rum und Deine Stimme kiekst wie im Stimmbruch.”
Song von Marcelo D2 und Rafael (Planet Hemp)
Brasilianische Rapper- und Hip-Hop-Gruppen verarbeiten die brutale Realität in ihren Songs.
Übersetzung: Alina González / Elisabeth Schumann
Von 1964 bis 1985 unterdrückte Brasiliens Militärregime Andersdenkende und militante Oppositionelle auf grausamste Weise: Todesschwadronen ermordeten unzählige Gegner der Diktatur, politische Gefangene wurden Haien lebendig zum Fraß vorgeworfen oder aus Helikoptern gestoßen, in Stücke gehackt, verscharrt an Stränden Rio de Janeiros – Brutalität war alltäglich. Daß der US-Geheimdienst CIA den Repressionsapparat der Generäle auf vielfältige Weise unterstützte, wußten Menschenrechtsgruppen aus dem In- und Ausland schon damals. Jetzt sorgen Dokumente über die damaligen CIA-Aktivitäten in Brasilien für Schlagzeilen.
Wie die angesehene Zeitung O Estado de Sâo Paulo berichtet, konnte die nordamerikanische Soziologin Martha Huggins bislang geheimgehaltene Kongreßdokumente einsehen, die die Komplizenschaft des CIA mit dem Unterdrückungsapparat von damals bestätigen. Das Fazit der 53-jährigen Wissenschaftlerin: “Die Teilnahme der CIA am Alltag der politischen Repression ist bewiesen – die Dokumente sprechen sogar von gemeinsamen Operationen – die amerikanische Demokratie partizipierte an der Schaffung eines unterdrückerischen Staates.”
Besonders gravierend ist für Martha Huggins, daß die CIA Spezialkommandos für die brasilianische Polizei ausbildete. In Rio de Janeiro wurde eine “Elite” von vierzig Beamten zum Grundstock der berüchtigten Todesschwadrone: “CIA-Agenten nahmen an Operationen in den Slums teil, aber auch an der politischen Unterdrückung – und berichteten alles, was sie sahen, nach Washington.” Bis heute sei in den USA wenig bekannt, daß die CIA bei der Ausbildung von Polizisten in anderen Ländern mitmacht: “Unsere Demokratie benutzte die Polizeibeamten, um in anderen Ländern eine ideologische Kontrolle auszuüben.”
CIA läßt Dokumente verschwinden
Ein anderes interessantes Detail der Recherchen von Martha Huggins: Die CIA half beim Aufbau des Diktaturgeheimdienstes SNI mit, “lieferte sogar eine Liste mit den Namen geeigneter, vertrauenswürdiger Mitarbeiter.” Auf einer anderen Liste waren alle Personen verzeichnet, die gemäß CIA-Einschätzung nach dem Militärputsch von 1964 verhaftet werden sollten.
Ärgerlich für die Soziologin, die bereits drei Bücher über Brasilien veröffentlichte, ist, daß laut Gesetz zwar jeder US-Bürger offizielle Dokumente über Regierungsaktivitäten einsehen darf, wenn diese länger als 25 Jahre zurückliegen – jene Seiten jedoch der Kongreßpapiere mit CIA-Berichten über Folterungen der politischen Polizei Brasiliens sind unleserlich gemacht; manchmal fehlen sogar ganze Blätter.
In mühseliger Kleinstarbeit gelang es der Expertin, 26 Folterer von politischen Gefangenen ausfindig zu machen und unter Wahrung der Anonymität zu interviewen. Einer davon, Militärpolizist, mochte nicht, wie seine Kollegen, bei einem Einsatz gefangengenommene “Subversive” mit Schlägen traktieren und die Frauen vergewaltigen. “Ich forderte, daß es doch besser sei, alle zu töten, anstatt sie zu foltern”, sagte der Militärpolizist zu Martha Huggins und berichtete auch über den Abschluß der Operation: Alle Gefangenen wurden hoch über der Wildnis lebendig aus einem Helikopter gestoßen.
Folterer heute in führenden Positionen
Helio Bicudo, während der Diktatur Präsident einer kirchlichen Kommission für Gerechtigkeit und Frieden, hat die Aussagen der Soziologin bestätigt. Bicudo untersuchte damals die CIA-Aktivitäten ebenso wie das Wüten der Todesschwadronen. Polizisten und Armeeoffiziere Brasiliens seien in den USA ausgebildet worden – manche, die damals zum Repressionsapparat gehörten, machten und machen Karriere. Romeu Tuma, nach der Diktatur Chef der Bundespolizei, ist heute Kongreßsenator der starken Rechtspartei PPB. Regimeaktivist Marco Maciel wurde gar Vize des jetzigen Staatspräsidenten Fernando Henrique Cardoso – für Bicude auch Beleg dafür, daß von echter Vergangenheitsbewältigung keine Rede sein kann: “Hier in Brasilien haben die Leute ein kurzes Gedächtnis.”
Wie die Jahresberichte von amnesty international und Human Rights Watch zeigen, gehören Folter und Todesschwadronen auch zwölf Jahre nach dem offiziellen Ende der Diktatur weiterhin zum Alltag Brasiliens, es “verschwinden” sogar mehr Menschen als damals nach der polizeilichen Festnahme. Die katholische Kirche beklagt, daß immer mehr nichtidentifizierte Gewaltopfer beerdigt werden, ein Großteil auf den überall im Lande anzutreffenden “geheimen Friedhöfen”.
Durch die neoliberale Wirtschaftspolitik der jetzigen Mitte-Rechts-Regierung ist in ganz Brasilien die Arbeitslosigkeit deutlich angestiegen; im Hinterland von Maranhao wurde deshalb laut Experteneinschätzung die Prostitution von Kindern und Jugendlichen erschreckenderweise zur wichtigsten und manchmal einzigen Einkommensquelle armer Familien. Nicht zuletzt die Kirche hat sich dem Problem angenommen.
Zu Dutzenden stehen zwölf- und dreizehnjährige Mädchen bereits in der Nachmittagsschwüle an der Brücke über dem von Hütten gesäumten Rio Mearim und bieten sich den Passanten für nur fünf Realen an,- das sind nicht einmal acht Mark. Andere warten in den von madames oder früheren Amazonas-Goldgräbern geführten Billigbordellen der neuen Rua do Campo auf Kunden. Doch auch dort sind sie keineswegs geschützt vor der Brutalität, die das Milieu prägt: Messerstechereien, Schußwechsel mit tödlichem Ausgang sind keine Seltenheit, wobei häufig Drogenkonsum die Hemmschwelle herabsetzt. Ausländische Sextouristen spielen hier nur eine geringe Rolle, da das im Nordosten Brasiliens gelegene Pedreiras zu weit von Touristengebieten entfernt liegt. Geradezu gierig auf möglichst junge Mädchen sind sexbesessene Machos aller sozialen Schichten aus der Stadt selbst: Nachbarn, Familienväter der Rua do Campo, Polizisten, Politiker. “Viele Mädchen prostituieren sich, weil die eigenen Eltern sie dazu anregen oder zwingen”, sagt die 52jährige Franziskanerin Maria Oliveira von der lokalen Frauenpastorale gegenüber. Sie verweist auf die Gründe der Misere: Von den rund 50 000 BewohnerInnen hat nicht einmal ein Viertel Arbeit, von denen wiederum verdienen 40 Prozent höchstens den Mindestlohn von umgerechnet 160 Mark.
Versteigerung von Jungfrauen
Pedreiras hat auch deshalb traurige Berühmtheit erlangt, weil dort in Bordellen makabere Auktionen abgehalten werden, wo Großgrundbesitzer, Politiker und Unternehmer Jungfrauen zwischen neun und vierzehn Jahren ersteigern, für eine einzige Nacht in einem besseren Stundenhotel. Anschließend werden die Mädchen gewöhnlich gezwungen, als Prostituierte zu arbeiten; manche enden in den Goldgräbercamps Amazoniens.
Die Kirchengemeinde von Pedreiras fand sich mit der Situation nie ab. Pfarrer Luiz Mario Luís gründete bereits 1963 ein Rehabilitationszentrum, in dem Prostituierte lesen und schreiben sowie einen Beruf erlernen konnten.
Da die Zahl der Lernwilligen rasch zunahm, mußte das Zentrum vergrößert werden, und die Bezirksverwaltung stieg als finanzielle Trägerin mit ein. Schulunterricht erhalten inzwischen auch die Kinder der Frauen, derzeit sind es über 160 Mädchen und Jungen. Mehrere Dutzend jugendliche oder erwachsene Prostituierte sitzen auf den Bänken des Zentrums, das eher einer einfachen Lagerhalle ähnelt, und lernen Nähen sowie andere Handarbeiten. Inzwischen haben sie zum Teil Kolleginnen als Lehrkräfte. Die Direktorin und Mitbegründerin Benedita Leite versucht, sie davon abzubringen, weiter auf den Strich zu gehen, jedoch ohne Erfolg. Denn wie in tausenden anderen Städten und Gemeinden der zehntgrößten Wirtschaftsnation der Welt erhalten LehrerInnen und andere öffentliche Bedienstete auch in Pedreiras nicht einmal den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von umgerechnet etwa 160 Mark. Schlimmer noch: Die Bezirksverwaltung, der wichtigste lokale Arbeitgeber, zahlt das Hungersalär um bis zu elf Monate verspätet aus. “Ich gebe gerne Unterricht”, sagt eine Prostituierte, “doch das letzte Mal habe ich im August Geld gekriegt”. Viel ist es ohnehin nicht, nur an die neunzig Mark. Und Brasilien hat derzeit ein ähnliches Preisniveau wie Europa.
Erfolge – Rückschläge
Daß krasse Armut brutalisieren, verrohen und abstumpfen kann und die Betroffenen häufig dazu bringt, sich aufzugeben, beobachten Benedite Leite und die Franziskanerin Maria Oliveira täglich. In den Bretterhütten am Rio Mearim dominiert in den vielköpfigen Familien Promiskuität; Die Mädchen lernen nur die Gesetze ihres Milieus kennen und sehen die Prostitution als einzige – und attraktive – Möglichkeit, im Leben voranzukommen. Ihnen Unterricht zu geben, ist extrem schwierig, denn die Mädchen sind nicht daran gewöhnt, sich zu konzentrieren und lange Zeit zuzuhören. “Wir dürfen sie nicht verurteilen, sie uns zu Feinden machen” betont Maria Oliveira, “sondern müssen immer wieder auf sie zugehen, ihnen helfen, den Raum der Kirche als Alternative anbieten.” Erfolge beim Schwimmen gegen den Strom gibt es. In der Straße am Fluß treffen sich Kinder und Erwachsene im neuen Gemeindesaal zu kirchlichen Aktivitäten, eine Jugendgruppe stabilisiert sich. Maria Oliveira lehrt Katechismus, feiert Weihnachten und Ostern in den Familien, bringt diesen die Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz nahe, und hält Kontakt zu denjenigen Frauen, die mit ihrer Hilfe aus dem Bordell in einen Beruf wechselten.
Doch die madames besorgen sich immer wieder Mädchennachschub. Dabei rekrutieren sie jetzt schon im Hinterland, ködern mit der Aussicht auf “ehrliche Arbeit” und locken damit Jugendliche in den Schuldenkreislauf. Versucht Maria Oliveira, solche Minderjährigen zur Rückkehr zu bewegen, hört sie immer wieder ein Argument: “Ich kann nicht weg, weil ich von der madame neue, schicke Kleider angenommen habe, die ich erst abbezahlen muß!” Die Franziskanerin stellt deshalb eine Bordellbesitzerin zur Rede und bekommt wie stets eine drastisch-grobe Antwort: “Meine Schuld ist das nicht. Diese Hündinnen kommen doch angelaufen und bitten mich um Arbeit!” Weil die madames den Neuankömmlingen weder den Besuch des Zentrums noch der Kirche gewähren, geht die Franziskanerin selbst zu ihnen an den Brückenstrich und setzt sich notfalls an die Bordelltischchen: “Einmal spreche ich mit den Mädchen über Gott, ein anderes Mal über Geschlechtskrankheiten und Aids. An der Brücke kommen viele schon auf mich zugerannt und umarmen mich!”
Kinderprostitution ist typisch für Brasiliens Norden und Nordosten. UNICEF, Kirche und NGOs haben in Maranhao bereits eine Kampagne gegen die praktisch straffreie sexuelle Ausbeutung Minderjähriger gestartet, denn laut Menschenrechtsaktivistin Sandra Torres gehört es bereits zur Gesellschaftskultur, abnorme Situationen als normal zu betrachten und hinzunehmen.
Während in Pedreiras Kinder aus Hunger und Not ihren Körper verkaufen, zeichnet der Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso im nur 277 Kilometer entfernt Sao Luis, der Hauptstadt Maranhaos, vor Mikrophonen ein positives Bild der Lage im Lande. Der Soziologe weist auch die Kritik der Bischöfe an seiner neoliberalen Politik zurück, erwähnt weder Kindersklaverei noch Kinderprostitution oder Jungfrauenversteigerungen. Neben Cardoso steht der jetzige Kongreßpräsident und Ex-Staatschef José Sarney – seit Diktaturzeiten reichster und mächtigster Mann in Maranhao. Daß hier alles beim alten bleibt, liegt nach Aussagen von Menschenrechtlern vor allem an ihm und seinen politischen Freunden.
Der 47-jährige Schwarze Volmer do Nacimento wagte als einer der ersten Brasilianer, auf Straßenkinder spezialisierte Todesschwadronen und deren Drahtzieher öffentlich anzuzeigen. 1993 wurde er wegen vorgetäuschter Entführung und “Verleumdung von Richtern” zu vier Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, die er im halboffenen Strafvollzug verbringt (siehe LN 261). Die brasilianische Menschenrechtsorganisation Projeto Legal in Rio de Janeiro kämpft für seine Freilassung.
Am schlimmsten sind die Sonn- und Feiertage. Dann muß Volmer den ganzen Tag in einer engen Gefängniszelle verbringen, im fünf Autostunden nördlich von Rio gelegenen Provinzstädtchen Natividada. Seine Frau und seine Kinder sitzen derweil traurig nur rund 300 Meter von Nacimento entfernt. Der Bürgerrechtler liest dann stapelweise Bücher und Zeitungen, schmiedet Pläne für die Zeit nach der Haft, und erinnert sich auch an die Gespräche mit dem Präsidenten des Europaparlaments. Wütend macht Nacimento, daß er die nach wie vor aus Straßburg hereinflatternden Einladungen nicht annehmen darf. “Ich bin ein Gefangener, weil ich es selbst will, denn mit meinem Wagen könnte ich fast jederzeit fliehen – und niemand würde mich finden.” Der langjährige Koordinator der nationalen Straßenkinderbewegung tut es nicht. Schließlich trägt Nacimento die Verantwortung für mehrere von ihm selbst gegründete Projekte, die er selbst leitet. Zu einem der wichtigsten, einer auch mit deutschen Geldern finanzierten Landwirtschaftsschule für Jugendliche, eilt er an Arbeitstagen jeden Morgen. Der gelernte Buchhalter, dessen sozialpolitisches Engagement in Basisgemeinden und Pastoralen der katholischen Kirche begann, empfängt die bislang neunzig SchülerInnen, berät sich mit AgronomInnen, ZootechnikerInnen und LehrerInnen, verteilt Aufträge: “Die Eltern der meisten Jugendlichen hier sind verelendete Wanderarbeiter der Region, mit ihnen ziehen sie herum, schuften auf Plantagen der Großgrundbesitzer, gehen so gut wie nie in die Schule, flüchten aus Perspektivlosigkkeit in die Slums von Rio. Die Schule wurde gegründet, damit die Kinder hier bleiben, die Landflucht gestoppt wird.”
Die Landflucht stoppen
Jeder Schüler bekommt monatlich umgerechnet rund neunzig Mark und damit weit mehr als für Plantagenarbeit. Das Geld stammt von zwei holländischen Unternehmern. Der deutsche Children Mission Fund in Überlingen zahlt die Löhne der LehrerInnen und beteiligte sich am Bau des Schulhauses am Rande von Natividade in tropischer Idylle. Es ist nur halbfertig, ein Provisorium – in Deutschland würde niemand darin lernen und lehren wollen. Und auch die vom deutschen Konsulat in Rio finanzierten Ausrüstungen für ein Laboratorium zur einfachen Heilmittelherstellung können nicht installiert, rund 300 Kursanwärter nicht aufgenommen werden. Die Schuld trägt laut Volmer do Nacimento die Mitte-Rechts-Regierung von Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso und dessen Freund aus der Sozialdemokratischen Partei PSDP, Rio-Gouverneur Marcello Alencar. Während eines Belgienbesuches 1995 traf Cardoso überraschenderweise auf eine Gruppe von MenschenrechtlerInnen, die ein Poster von Nacimento trugen und dessen Freilassung forderten. Wie stets in solchen eigentlich brenzligen Fällen stimmte Cardoso taktisch geschickt mit den KritikerInnen überein: “Ihr habt recht – wir werden damit aufhören.” Das Versprechen blieb folgenlos und auch die zum Jahresbeginn 1996 vertraglich zugesicherten rund 90.000 DM von Comunidade Solidaria, dem von der Präsidentengattin geleiteten Wohlfahrtsprogramm, trafen bisher nicht ein. Ebensowenig, trotz mehrfacher Mahnung, die etwa 100.000 DM des Rio-Gouverneurs. “Wir werden immer nur mit Ausflüchten abgespeist”, kommentiert Nacimento, “aber viele andere NGOs bekommen versprochene Mittel ebenfalls nicht – wofür ist die Comunidade Solidaria dann eigentlich da? Wir können nicht immer nur mit Geld aus dem Ausland arbeiten – wo bleibt da die eigene Verantwortung Brasiliens?” Den britischen Konsul in Rio, der dem Schulprojekt einen Traktor spendierte, verblüfft ebenfalls, daß die Regierung nichts überweist. Dagegen wird laut Presseangaben ein existierender “Sozialer Dringlichkeitsfonds” fast täglich vom Mitte-Rechts-Kabinett angezapft, um Diplomatenempfänge, Bankette oder üppige Geschenke für ausländische Gäste zu finanzieren.
Die achtzehnmonatigen Kurse der Escola Fasenda laufen dennoch weiter. “Fast alle, die mit amtlichem Zertifikat abschließen werden, haben bereits eine Arbeitsstelle sicher,” freut sich Nacimento, “nach der Präfektur sind wir hier der zweitgrößte Arbeitgeber!” Abends muß der nicht nur in Europa bekannteste Häftling Brasiliens wieder in die Zelle. Der Polizeichef von Natividade bekam bereits aus aller Welt über tausend Protest- und Solidaritätsbriefe, mindestens ebensoviele landeten beim Gouverneur von Rio und im Justizministerium.
Nacimento leidet indessen sichtlich unter der Situation, wollte 1996 durch einen Hungerstreik die Wiederaufnahme seines Verfahrens und Ermittlungen gegen Todesschwadronen und deren Hintermänner erreichen – was nicht gelang. Eine der wichtigsten moralischen vor allem aber juristischen Stützen ist die Menschenrechtsorganisation Projeto Lagal in Rio de Janeiro. Sie erreichte bisher, daß Nacimento seine Haft nicht unter ständiger Lebensgefahr in einer völlig überfüllten Zelle Rios, sondern im halboffenen Vollzug in Natividade verbringt. Für Anwalt Carlos Nicodemos, Leiter des ebenfalls vom deutschen Children Mission Fund unterstützten Projeto Legal, ist der Prozeß gegen Nacimento kafkaesk: “In Untersuchungsberichten des Bundesparlaments und selbst der Abgeordnetenkammer des Bundesstaates Rio über die Ermordung von Kindern und Jugendlichen, ebenso in der Presse, werden dieselben Richter wegen ihrer Verwicklung in Aktivitäten von Todesschwadronen aufgeführt, die auch Volmer do Nacimento nannte.”
Anwalt Nicodemos eilt mindestens einmal im Monat mit dem Wagen nach Natividade, spricht seinem Mandanten Mut zu. Dessen Geburtstag im vergangenen November fiel ausgerechnet auf einen Sonntag. Daß er ihn dank Nicodemos nicht durchweg in der Zelle verbringen mußte, sondern mit seiner schwangeren Frau und den Kinder zusammensein konnte, war wieder ein kleiner Sieg.
Letzte Meldung: Seit Anfang Januar hat Volmer rund um die Uhr Freigang, d.h. er muß sich jetzt lediglich regelmäßig bei der Polizei melden. Und die schlechte Nachricht: Nach heftigen Regenfällen versank das Gelände der Landwirtschaftsschule unter einer vierzig Zentimeter dicken Schlammschicht. Die Gebäude stehen zwar noch, aber die Ernte ist völlig zerstört.
Der Ehemann ist weiß, die Ehefrau ist schwarz. Am Hoteleingang verwehrt ein Wächter der Ehefrau den Zutritt: Prostituierte dürfen nicht mit aufs Zimmer. Wer glaubt, dieser Vorfall wäre die Ausnahme, irrt. Unter der Oberfläche scheinbarer Integration zeigt sich das Bild einer verdeckten Apartheid.
Die Schwarzen müssen wissen wo ihr Platz ist, lautet eine uralte, immer noch hochaktuelle Redewendung in Brasilien. Gemeint ist damit: Sklavennachfahren haben nichts in der Mittel- und Oberschicht, deren Kreisen und Ambiente zu suchen. Sie werden entsprechend stigmatisiert und behandelt. Wie dies in der Praxis funktioniert, bekam jetzt der Züricher Fritz Müller, Fachdirektor der Credite-Suisse-Bank, in Rio de Janeiro zu spüren. Als er mit seiner schwarzen, aus Rio stammenden Ehefrau Adriana nach einem Restaurantbesuch ins First-Class-Hotel Intercontinental zurückkehrte, wurde Adriana von einem muskulösen Wachmann grob gestoppt: Eine Garota de Programa, so heißen Prostituierte im Rio-Slang, dürfe nicht mit aufs Zimmer. Direktor Müller ließ sich von seiner Frau übersetzen worum es ging und schlug gehörigen Krach, stellte den Wachmann zur Rede, verlangte von der Hotelleitung eine formelle Entschuldigung. Denn ohne entsprechende Vorschrift hätte der Wächter kaum so gehandelt.
Rassismus – Machismus
Die Zeitung O Globo beschrieb den Fall unter der treffenden Überschrift “Fünf-Sterne-Rassismus”. Kaum ein mit einer dunkelhäutigen Brasilianerin befreundeter oder verheirateter Europäer, der in Rio, Sâo Paulo, Salvador de Bahia oder Fortaleza nicht ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Wer brasilianisches Portugiesisch nicht versteht, bekommt kaum mit, daß der Gang über die Strandpromenade für seine Partnerin gelegentlich einem Spießrutenlauf gleicht. Weiße Mittelschichtsmachos der übelsten Sorte, in Brasilien alles andere als dünn gesät, lassen eine Bösartigkeit oder Obszönität nach der anderen fallen, gehen davon aus, daß der tumbe Gringo sicher nichts versteht und wohl immer noch glaubt, was die meisten Reiseführer kolportieren: Brasilien, ein wundervoller Schmelztiegel der Rassen, ein Beispiel gelungener Integration verschiedener Hautfarben, von Diskriminierung keine Spur.
Wer aber die Oberfläche, die schillernde Erscheinungsebene verläßt, stößt auf Brasiliens hocheffiziente verdeckte Apartheid. Die ist von den schwachen, wenig respektierten Schwarzenorganisationen weit schwerer zu packen und zu attackieren als die aus Südafrika bekannte offene Rassentrennung. Schwarze, MulattInnen gehören in die Slums, in die Unterschicht, in die drekkigsten, schlechtbezahltesten Berufe. Schwarze Frauen sind gemäß diesem Denk- und Verhaltensmuster Hausdienerinnen, Reinemachefrauen, bestenfalls Supermarktkassiererinnen. Oder aber: Schwarze Frauen sind bis zum Beweis des Gegenteils Prostituierte, Touristenhuren, die man entsprechend behandeln kann.
Untersuchungen belegen, daß informelle Mechanismen gewöhnlich den Aufstieg Dunkelhäutiger in gutbezahlte qualifizierte Mittelschichtsberufe verhindern. Privatbanken bilden da keine Ausnahme. Bei mehreren spricht das gängige System der zwei Kundenschlangen Bände. Wer besser verdient und umgerechnet mindestens einige tausend Mark auf seinem Konto hat, steht in der kürzeren Fila, wird bevorzugt behandelt und ist gewöhnlich weiß. Wer zu den Schlechtbezahlten gehört, aber glücklich ist, dennoch ein Konto besitzen zu dürfen, muß in der längeren Schlange gelegentlich Stunden warten, schaut neidisch, frustriert oder mit Groll auf die Bevorzugten mit dem dickeren Geldbeutel. Welche Hautfarbe in der langen Fila dominiert, läßt sich in Rio gut beobachten.
Wer mit dunkler Haut dennoch den sozialen Aufstieg schafft, hat im Alltag fast pausenlos Ärger. In Sâo Paulo wird eine erfolgreiche schwarze Schauspielerin von weißen Madames immer wieder auf der Straße gefragt, ob sie nicht als Hausdienerin anfangen wolle, sie sehe so gut und gesund aus. Der schwarze Sänger und Komponist Dicró wird in Rio de Janeiro von Sicherheitsleuten zu seiner eigenen Show nicht auf die Bühne gelassen. Ironisch erklärt er: “Mehrmals haben sie mich auch schon geschnappt, als ich meinen eigenen Wagen klauen wollte.” Wie überführte Autodiebe werden ebenfalls immer wieder gutverdienende schwarze Fußballspieler traktiert, die teure Importwagen fahren. Oleude Ribeiro vom Verein Portuguesa von Sâo Paulo wurde mit Blaulicht in seinem Ford-Jeep gestoppt und mit dem Revolver am Kopf gründlich durchsucht: “Mein tiefentsetzter kleiner Sohn wollte danach wissen, ob diese Männer Banditen waren. Schwierig, ihm zu erklären, daß alles nur geschah, weil wir Schwarze sind.”
Der auch in Europa bekannte schwarze brasilianische Musiker Djavan erläutert: “Wenn du berühmt wirst, verlierst du sozusagen deine Hautfarbe. Das heißt nicht, daß dich die Leute auf einmal mögen. Sie beginnen nur, dich zuzulassen.”
Unter der Regierung von Präsident Cardoso verschlechtert sich die Lage in den total überfüllten Gefängnissen weiter. “Niemand ist an einer Resozialisierung der Häftlinge interessiert,” so Padre Mauzeroll von der Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche.
Eine mittelalterlich anmutende Gefängniszelle in Rios Stadtteil Realengo. Gesetzlich hat jeder der mehreren Dutzend Insassen Anspruch auf mindestens acht Quadratmeter, hier dagegen hat er nicht einmal einen einzigen. Geschlafen wird deshalb in Schichten. Während ein Teil auf dem feuchten Beton liegt, hängt der andere in Stoffschlaufen darüber, die an den Gitterstäben befestigt sind. In einer Zelle im Stadtteil Bangu bietet sich ein ähnliches Bild: 35 fast nackte, schwitzende Männer auf nur sechzehn Quadratmetern, beißender Fäkaliengeruch, nachts Ratten, die psychische Spannung fast mit Händen greifbar. Neun von zehn haben Krätze und Furunkel. In der heißesten Jahreszeit herrschen bis zu sechzig Grad in den Zellen, täglich fallen dann an die zwanzig Insassen ohnmächtig um, werden von den Wärtern herausgezerrt und durch andere ersetzt. Um aus dieser Hölle herauszukommen, in eine weniger überfüllte Zelle verlegt zu werden, bestechen Häftlinge ihre Aufseher mit umgerechnet bis zu 5.000 DM. Es gibt auch Gefängnisse, in denen die Insassen das nötige Geld zusammenlegen und dann den Begünstigten wie in einer Lotterie per Los bestimmen. In Bangu kommen die notwendigen Reais von der Familie oder von Verbrechersyndikaten. Je größer, je unerträglicher die Hitze, umso höher steigen die Preise auf diesem Schwarzmarkt. Nur einmal am Tag gibt es Essen von haarsträubender Qualität, Lebensmittelpakete der Angehörigen werden gewöhnlich nicht ausgehändigt. Folterungen sind die Regel, nicht nur in Rios Gefängnissen. Ein Anwalt beschreibt einen Fall aus dem Jahr 1996: “Polizisten mit Kapuzen mißhandelten 116 Gefangene mit Elektroschocks, alle wiesen Blutergüsse auf und wurden darüberhinaus zu sexuellen Handlungen gezwungen.”
Fast täglich werden Fälle totgefolterter, erschlagener Häftlinge bekannt. Doch die politisch Verantwortlichen rühren sich kaum, nur wenige Intellektuelle protestieren und die Gesellschaft scheint sich an die grauenvollen Zustände gewöhnt zu haben.
Nach dem letzten offiziellen Zensus bieten die 511 Gefängnisse Brasiliens Platz für höchstens 60.000 Personen. Mit über 148.000 Gefangenen sind sie damit mehr als doppelt belegt. Notwendig, so heißt es, seien 145 neue Gefängnisse. Rund 95 Prozent der Häftlinge sind Arme, 96 Prozent Männer, etwa drei Viertel Voll- und Halbanalphabeten. Der typische Gefangene, so eine Studie, ist dunkelhäutig und jünger als 25 Jahre. Jeden Monat kommt es laut Statistik zu mindestens drei großen Häftlingsrevolten; die meisten von ihnen werden allerdings der Öffentlichkeit verheimlicht.
Pervertieren statt resozialisieren
Amnesty international und Human Rights Watch/Americas prangern die Zustände in den brasilianischen Haftanstalten als “puren Horror” an. Aber auch die Gefangenenseelsorge der katholischen Kirche läßt nicht locker. Padre Geraldo Mauzeroll von der Pastoral Carçeraria im Bundesstaat Sâo Paulo: “Wer ins Gefängnis kommt, wird pervertiert, wird angesehen und behandelt wie ein Tier. Niemand ist an einer Besserung oder Resozialisierung der Insassen interessiert. Die Gesellschaft rächt sich an ihnen. Sie läßt sie intellektuell, seelisch, moralisch, kulturell und nicht selten sogar physisch sterben.” Padre Mauzeroll hört auf Polizeiwachen und in Gefängnissen sehr häufig den Spruch: “Nur ein toter Häftling ist ein guter Häftling!” Der Padre geht seit 1973 in die Gefängnisse und leitete die letzten sechs Jahren die Seelsorge. Was er täglich zu sehen bekommt, scheint kommerziellen Horrorfilmen entlehnt: Häftlinge verfaulen buchstäblich in ihren Zellen. Die Gefängnisärzte sind selbst Kriminelle, weil sie Kranke bewußt nicht behandeln, sie sterben lassen, dafür aber nie zur Rechenschaft gezogen werden. Tuberkulose grassiert, über die Gesichter Todkranker laufen Ameisen. Kriminell handeln auch Richter und Staatsanwälte, die sehr wohl über Folter und alle anderen Menschenrechtsverletzungen detailliert informiert sind und dennoch nicht eingreifen.
Gefängnisleitungen und Wärter ermöglichen den Drogenhandel und -konsum hinter den Gitterstäben. Ein Direktor zu Padre Mauzeroll: “Drogen müssen dort drin sein, damit die Gefangenen ruhig bleiben.”
Ein besonders finsteres Kapitel ist darüber hinaus die sexuelle Gewalt, die von perversen Aufsehern sogar gefördert wird. Padre Mauzeroll: “Wird ein wegen Vergewaltigung Verurteilter eingeliefert, stecken ihn die Wärter extra in bestimmte Massenzellen, damit er dort von fünfzehn, zwanzig Häftlingen vergewaltigt wird. Das ist Gesetz in den Kerkern, und so verbreitet sich Aids sehr schnell.” Selbst nach amtlichen Angaben haben sich bereits über zwanzig Prozent der Insassen mit dem Aids-Virus infiziert. Ein Großteil der rund 150.000 brasilianischen Gefangenen hat homosexuellen Verkehr, gewöhnlich ungeschützt, Promiskuität ist normal.
Vitor Carreiro teilte in Rio eine Zelle jahrelang mit 47 anderen Häftlingen, hat jetzt sichtbar Aids und sagt es deutlich: “Alle Welt weiß, daß die Frau des Gefangenen der andere Gefangene ist.” José Ferreira da Silva, ebenfalls HIV-positiv, berichtet von vier festen und acht gelegentlichen Partnern. Keiner hatte Präservative benutzen wollen.
“Wenn die Lage in den Gefängnissen in Sâo Paulo und Rio de Janeiro bereits so schlimm ist”, gibt Padre Mauzeroll zu bedenken, “wie muß sie dann erst in den stark unterentwickelten Gebieten des Nordens und Nordostens sein?” Padre Mauzeroll drückt sich im Gegensatz zu so vielen Landsleuten um solche unbequemen Wahrheiten nicht. Er hat keine Probleme damit, die von den Autoritäten gerne versteckten und verdrängten Probleme offen anzusprechen. “Doch wer über die Zustände redet und informiert, stirbt”, lautet eine andere Regel – Pistoleiros, Berufskiller, erledigen dies. Padre Mauzeroll weiß, daß auch sein Leben in Gefahr ist. Dennoch klagt er offen die soziale Ordnung Brasiliens an: “Sie ist schuld an der grauenhaften Situation!”
Wärter und Spezialeinheiten gehen gewöhnlich äußerst brutal gegen meuternde Häftlinge vor. 1992 wurden im Gefängnis Carandiru von Sâo Paulo mindestens 111 Insassen von Militärpolizisten massakriert. Politisch Verantwortliche und direkt Beteiligte blieben bisher straffrei. Die letzte Revolte in Carandiru ereignete sich Ende Oktober. 670 Gefangene nahmen dort 27 Wärter als Geiseln und forderten die Verlegung in eine andere Haftanstalt. Fünf Gefangene versuchten mit einem Müllfahrzeug zu fliehen, vier von ihnen wurden von Militärpolizisten erschossen.
Die Rechtanwältin Zoraide Fernandez weist noch auf eine besondere Absurdität hin. Tausende von Häftlingen werden nach verbüßter Strafe oft noch jahrelang festgehalten, allein in Rio waren es 1995 mindestens 560. Hinzu kommen jene, die unrechtmäßig in die Zellen von Polizeiwachen gepfercht und dort mitunter regelrecht vergessen werden.
Staatspräsident Cardoso präsentierte in Brasilia mit großem Pomp einen “Nationalen Plan für Menschenrechte” – doch die Show stahl ihm Luiz Mott, intellektueller Führer der brasilianischen Schwulenbewegung. Weil die Homosexuellen in dem Dokument nicht einmal erwähnt werden, entrollte Mott ein Transparent “Gays querem Justiça”- (Schwule wollen Gerechtigkeit) und nannte Fakten zur systematischen Verfolgung der Homosexuellen in Brasilien.
Laercio, 22, und Mariquinhos, 30, wohnten in Rios armseliger Nordzone in einem simplen Häuschen, waren beliebt und galten als hilfsbereit, fröhlich. In einer Novembernacht werden sie von einem der berüchtigten “Kommandos zur Jagd auf Gays” überwältigt – fünf Kapuzenmänner stoßen die beiden bis zur nahen Bahnlinie, dann krachen Pistolenschüsse. Anwohner finden Laercio und Mariquinhos in ihrem Blut, stellen erschüttert Kerzen auf.
Luiz Mott erläutert: “In Brasilien sind mindestens vierzehn Todesschwadronen hinter Homosexuellen her. Seit 1980 wurden über 1300 Schwule ermordet, 1996 waren es bisher 85, aber unsere Statistik ist sehr unvollständig.” Das stimmt, denn von den Serienmorden der letzten Wochen in Rio wußte Mott zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Hinzu kommt, daß Angehörige wegen der bestehenden Vorurteile gegen die Schwulen oftmals die Natur des Verbrechens verschweigen.
Universitätsprofessor Mott, 50 Jahre alt, Präsident der Grupo Gay do Bahia (GGB) und Sekretär für Menschenrechte der Brasilianischen Vereinigung für Gays, Lesben und Transvestiten (ABGLT), lehrt in der nordostbrasilianischen Küstenmetropole Salvador da Bahia – auch dort werden Schwule diskriminiert, verfolgt und ermordet. Mott spricht von “Opfern des Machismus”, die Täter gingen gewöhnlich straffrei aus. So seien bei über vierzig Prozent der Schwulenmorde die Täter ermittelt worden, nur zehn Prozent kamen jedoch letztlich vor Gericht und wurden dann fast immer freigesprochen.
Archiv über Homosexualität
Ein schönes Kolonialhaus in Salvador da Bahia beherbergt im ersten Stock den kleinen Sitz der Grupo Gay do Brasil mit dem immerhin größten lateinamerikanischen Archiv über Homosexualität. Die GGB ist die älteste und aktivste Homosexuellenvereinigung in Lateinamerika. Nach dem Klingeln schaut der Leiter zunächst prüfend auf den Besucher und wirft danach den Schlüssel hinunter. Oben kann man sich eine Ausstellung über homosexuelle Männer und Frauen ansehen, von Platon, Leonardo da Vinci, Shakespeare, Cleopatra und James Dean bis hin zu der berühmten Sängerin der Musica Popular Brasileiro, Maria Bethânia. Man wird höflich zu den zwei wöchentlichen Versammlungen eingeladen, an denen auch Bi- und Heterosexuelle teilnehmen. Vor dem Abstieg über die steile Holztreppe teilt der GGB-Leiter Präservative, “Camisinhas”, aus – schließlich ist die Gruppe besonders aktives Mitglied in der vom Gesundheitsministerium geführten Nationalen Kommission zur AIDS-Bekämpfung.
In der Stadt selbst machen die Homosexuellen drastisch auf sich, ihre Freuden und Probleme aufmerksam. “Liebe mit Vorsicht – suche Deine amantes besser aus”, steht groß auf Schautafeln, und “Laß Dich nicht von AIDS ins Jenseits befördern, aber laß Dich auch nicht ermorden!” Die Warnung ist nicht unbegründet, druckte doch gar eine große lokale Zeitung regelmäßig folgende Anzeige: “Halte Salvador sauber – töte jeden Tag einen Homo!”
Erscheinungsebene – Wirklichkeit
Brasiliens Schwulenszene präsentiert sich anders als zum Beispiel jene in San Francisco oder gar in Deutschland. Gays fallen viel mehr auf, haben ihre Kneipen, Discos, Strände, Zeitschriften. Der Terror gegen Schwule existiert indessen weiter, scheint sogar stark zuzunehmen. Motts Grupo Gay do Bahia hat deshalb ein “Überlebenshandbuch” publiziert, das zahlreiche praktische Tips zur Selbstverteidigung gibt. Mott hat das Handbuch in Brasilia, Belo Horizonte, Curitiba und Recife vorgestellt. In jeder Stadt gab er die Namen der dort in den letzten Jahren ermordeten Schwulen bekannt. Die meisten Verbrechen ereigneten sich aber in Rio de Janeiro, Sâo Paulo und Salvador da Bahia.
Umfragen und Machismus
Daß Schwule diskriminiert werden, zeigen neue repräsentative Umfragen: So würden 36 Prozent der BrasilianerInnen einem Homosexuellen selbst dann nicht eine Arbeit geben, wenn er der bestqualifizierte Bewerber wäre. JedeR Fünfte würde sich von einem homosexuellen Kollegen bewußt fernhalten, 56 Prozent würden zumindest ihr Verhalten ändern. 79 Prozent, im Nordosten sogar 87 Prozent, akzeptierten auf gar keinen Fall, daß ihr Sohn mit einem Homosexuellen ausginge. Und 62 Prozent meinen, daß Eltern die Änderung der homosexuellen Orientierung ihrer Söhne erzwingen müßten.
Politisches Asyl für Schwule
Gay-Menschenrechtsgruppen in San Francisco prangern seit Jahren die Zustände in Brasilen an. 1993 gewährten die USA erstmals einem brasilianischen Schwulen politisches Asyl. Der Begünstigte heißt Marcelo Tenorio, Luiz Mott trat in dem Asylverfahren als Zeuge auf und wurde dafür zuhause in den Medien niedergemacht. Das Asyl, hieß es, basiere auf einer Lüge über Brasilien; Schwule würden nicht systematisch getötet. In den letzten Wochen erhielten zwei weitere Homosexuelle Asylstatus, wollen aber anonym bleiben, aus Angst, daß Familienangehörige in Brasilien Repressalien erleiden könnten. Eine unbekannte Zahl brasilianischer Homosexueller lebt illegal in den USA. Möglicherweise werden jetzt weitere einen Asylantrag stellen.
KASTEN
Staatstrauer für Ex-Diktator
Nach dem Tod des Ex-Generalpräsidenten Ernesto Geisel im September 1996 ordnete Fernando Henrique Cardoso per Dekret acht Tage Staatstrauer an. Geisel war von 1974 bis 1979 der dritte Generalpräsident der brasilianischen Militärdiktatur (1964-1985). Geisel war bereits zur Amtseinführung von Cardoso geladen worden. 1995 traf sich der Präsident mit dem EX-Diktator und wollte dies ausdrücklich als “Würdigung” verstanden wissen.
Die Homenagem weckte in der Tat Aufmerksamkeit. Denn bei Geisel und seinem ebenfalls im Regimeapparat dienenden Bruder Orlando handelte es sich um Vertreter der “harten Linie”, die keineswegs nur militante Diktaturgegner rücksichtslos verfolgen, foltern und ermorden ließen. Dies hat gerade ein wichtiger Zeitzeuge bestätigt: Reserveoberst Jarbas Passarinho, Mitautor der berüchtigten Ausnahmegesetze von 1968 und Minister unter drei Diktaturgenerälen, sagte im brasilianischen Fersehen, daß ein Großteil der Greueltaten an Linken in Geisels Regierungszeit begangen worden seien. Die Medien pflegten dagegen stets dessen Amtsvorgänger Emilio Garrastazzu Medici die Verantwortung für die größten Schlechtigkeiten des Militärregimes aufzubürden.
Hintergrund von 2001:
„Unerklärter Bürgerkrieg“ in Brasilien
Über 40000 Morde jährlich/Zunahme von Attentaten
Im Kontext der jüngsten internationalen Konflikte weisen brasillianische Experten immer nachdrücklicher darauf hin, welche hohen Menschenopfer der sogenannte „unerklärte Bürgerkrieg“ in Brasilien kostet. Wie die Universitätsprofessor und Politik-Berater Gaudencio Torquato jetzt in einer Analyse mit dem Titel „Wir und Afghanistan“ betonte, werden aus politischen und kriminellen Motiven selbst laut den geschönten offiziellen Angaben jährlich rund 40000 Menschen ermordet.
Hätte Deutschland, mit einer etwa halb so großen Bevölkerung, diese Rate, wären es pro Jahr etwa 20000 Getötete. Tatsächlich waren es im Jahr 2000 laut BKA-Angaben nur 1015.
Torquato zählte zu den Gründen der hohen Opferzahlen, daß die zehntgrößte Wirtschaftsnation anders als Afghanistan zwar sämtliche Hochtechnologie der letzten Generation nutze, die soziale Polarisierung zwischen den Privilegierten und den armen Schichten sich jedoch weiter verschärft habe. Die hohe Gewaltrate habe dazu geführt, daß nachbarschaftliches Zusammenleben immer weniger gepflegt werde, die brasilianische Gesellschaft sich von der menschlichen Solidarität verabschiede. Gängige Reaktion angesichts der täglichen Morde sei leider nur:“Gut, daß es mir nicht passiert ist.“
Derartige Verfallsprozesse resultieren laut Torquato aus einer „politisch-institutionellen Kultur“, die sich mit den alltäglichen Skandalen um hohe Volksvertreter und den Fällen von Regierungskorruption weiter degradiere.
Brasilianischer Menschenrechtsaktivist
“Generation eiskalter Killer“ wächst heran
Brasilien züchtet nach den Worten des angesehenen Menschenrechtsaktivisten Eduardo Capobianco „eine Generation eiskalter Killer“heran.“Sie töten einen Menschen mit der selben Leichtigkeit, mit der sie eine Coca-Cola trinken“, sagte er im Dezember während der Auszeichnung mit einem Bürgerrechtler-Preis in Sao Paulo. Capobianco, Präsident von zwei regierungsunabhängigen Institutionen, die das organisierte Verbrechen sowie die tiefverwurzelte Korruption in Politik und Wirtschaft bekämpfen, hatte erst Anfang Dezember in der City der 17-Millionen-Stadt ein Attentat überlebt. „Brasilien hat gravierende soziale Ungleichheiten und eine kapitalistische Kultur, die auf dem Konsum basiert, Städte des Konsumismus wie Sao Paulo. Das stimuliert letztlich Gewalt – Armut allein ist dafür nicht verantwortlich zu machen.“ In entwickelten Ländern wie Japan entfalle statistisch pro Jahr ein Mord auf hunderttausend Einwohner – in einer Stadt wie Sao Paulo seien es dagegen gemäß offiziellen Zahlen immerhin fünfzig. Indessen gebe es bereits leichte Fortschritte bei der Verbrechensbekämpfung, die Arbeit seiner beiden Institutionen mißfalle der Gegenseite sehr und habe das Attentat bewirkt.
Capobianco überlebte den Anschlag nur, weil er eine Mappe mit Büchern vor die Herzgegend hielt, Kugeln darin steckenblieben bzw. nur seine Beine trafen. Weder die Polizei noch er selbst haben einen Hinweis auf die Täter und deren Hintermänner.
In den letzten drei Monaten kam es in Brasilien zu einer Attentatsserie, bei der mehrere Gewerkschaftsführer, ein progressiver Großstadtbürgermeister sowie Umweltaktivisten getötet wurden, Bombenanschläge forderten glücklicherweise keine Opfer. Eine bislang unbekannte rechtsextreme Organisation schickte Morddrohungen an 37 Bürgermeister der linkssozialdemokratischen Arbeiterpartei PT im Industrie- Teilstaat Sao Paulo, dessen Bruttosozialprodukt das von ganz Argentinien übertrifft.
Systematische Folterungen weiter alltäglich – trotz Anti-Folter-Gesetz
Menschenrechtler skeptisch über offizielle PR-Kampagne
Der Dreißig-Sekunden-TV-Spot ist gut gemacht, drastisch-realistisch: Ein Mann, halbnackt, blutend, gefesselt, wird von einem Sadisten gequält, mit dem Kopf immer wieder in einen Wassertank getaucht, soll Informationen preisgeben, ein Geständnis ablegen. Ein Dritter sieht die Szene, rennt zum Telefon, wählt die neue Gratis-Nummer von „SOS Tortura“, erstattet anonym Anzeige. Jeder sollte ab sofort genauso handeln, lautet der Appell an die Fernsehzuschauer – „denn Folter ist ein Verbrechen!“ Daß Brasiliens Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Ehrendoktor der FU Berlin, jetzt auch in Rundfunk und Presse eine solche Medienkampagne starten ließ, einmalig in der Geschichte Brasilien, könnte die Menschenrechtler des In-und Auslands optimistisch stimmen. Doch Skepsis überwiegt. Befürchtet wird, daß Brasilia damit lediglich auf Imageverbesserung bei den Vereinten Nationen zielt. Deren Experte für Folterfälle, Nigel Rodley, hatte letztes Jahr nach einer Reise durch mehrere Teilstaaten die Zustände als erschreckend und eigentlich unbeschreiblich angeprangert. Nicht anders sieht es Amnesty International, stellte deshalb in der 17-Millionen-Stadt São Paulo, Lateinamerikas führendem Wirtschaftszentrum, im Oktober kurz vor Kampagnebeginn der brasilianischen Öffentlichkeit den neuesten Bericht über Folter und Mißhandlungen vor. Tatverdächtige, Festgenommene, Untersuchungshäftlinge und Strafgefangene systematisch Torturen zu unterwerfen, auch von völlig Unschuldigen Geständnisse unter Folter zu erpressen, gehört danach weiterhin zur Alltagsroutine im Apparat der Militär-und Zivilpolizei. Laut Patrick Kopischke, Brasilien-Experte von Amnesty International, hat der starke politische Druck, die überbordende Kriminalität zu bekämpfen, dazu geführt, daß Folter andere Ermittlungsmethoden ersetzt. Allein in São Paulo, wo über eintausend deutsche Unternehmen, von VW bis Daimler-Benz, ansässig sind, werden laut offiziellen Angaben monatlich über 440 Menschen ermordet. Zum üblichen Nachrichtenangebot der Radio-und TV-Stationen gehören die unaufhörlichen Gefangenenrevolten in den mit fast 100000 Insassen völlig überfüllten Polizeiwachen, Haftanstalten und provisorischen Gefängnissen der Metropole. Pro Monat werden rund eintausend weitere mutmaßliche oder tatsächliche Straftäter in teils fensterlose Zellen gepreßt, wo bereits bis zu 168 Männer auf einem Raum zusammenhocken müssen, der eigentlich nur für höchstens dreißig gedacht war. Wegen der schlechten Luft, der unhygienischen Zustände, des ständigen Fäkaliengeruchs und des damit verbundenen psychischen Drucks sind Aufstände die logische Folge – niedergeschlagen werden sie mit äußerster Brutalität, gibt es fast immer Tote. „Man greift auf Folter und Mißhandlungen zurück, um ein katastrophales Gefängnissystem unter Kontrolle zu halten“, betont deshalb Kopischke, grundlegende Reformen seien nötig, nicht nur kosmetische Verschönerungen. Aktivisten von Amnesty und anderen Menschenrechtsgruppen Brasiliens empört zudem besonders, daß das auf ihren Druck hin erlassene Anti-Folter-Gesetz von 1997 an den Zuständen kaum etwas änderte, Täter gewöhnlich straffrei ausgehen, selbst aus der Diktaturzeit berüchtigte Folterer weiter im Dienst sind. Gemäß neuen UNO-Angaben verzeichnet der Teilstaat Minas Gerais die meisten bekanntgewordenen Folterfälle, ist die Polizeibrutalität traditionell besonders hoch. Dies gilt als Erbe des Militärregimes(1964-1985), als Fachleute der CIA gemäß Angaben von Zeitzeugen den Militär-und Zivilpolizisten in Kursen auch Foltertechniken beibrachten. „Heute noch sind es die gleichen“, so der renommierte Menschenrechtsanwalt Antonio Aurelio, „vor allem Elektroschocks, Aufhängen kopfunter an einer Stange, Eintauchen in Wassertanks, Schläge auf beide Ohren, Erstickungsanfälle mittels über den Kopf gestülpten Plastiksäcken“. Im Juni letzten Jahres wurden in einer Polizeiwache São Paulos etwa zweihundert Gefangene, einer nach dem anderen, völlig unbekleidet, mit Elektroschocks gepeinigt. Bei weiteren Mißhandlungen starb ein Insasse, dreißig weitere erlitten teils schwere Verletzungen. Die beteiligten Polizeikommissare sind weiterhin im Dienst. Beim Interview mit dem Polizeichef einer nordostbrasilianischen Stadt fand dieser nichts dabei, den an den landesüblichen Elektroschock-Apparaturen verwendeten Regler sichtbar auf seinem Schreibtisch liegen zu lassen.
Über 40000 brasilianische Kinder arbeiten auf stinkenden Müllbergen
Unicef und NGO entwickeln Alternativprojekte
Im Kriechgang, fast mit Vollgas, arbeitet sich der Müll-LKW in Serpentinen fast bis zur Haldenspitze vor, kippt dort, an der Peripherie der 17-Millionen-Stadt São Paulo, bei 35, 40 Grad Tropenhitze stinkende Abfälle aller Art ab. Auf diesen Moment haben Schwärme von Schmeißfliegen, aber auch Dutzende von Kindern und Jugendlichen nur gewartet. Mit Säcken über der Schulter stürzen sie sich auf die Ladung, sinken bis zu den Knien ein, wühlen neben schwarzen Aasgeiern nach Essensresten, Glas-und Plastikflaschen, Papier und Getränkebüchsen aus Aluminium. Alles wird getrennt, sortiert, ein Stück entfernt bei anderen Familienmitgliedern angehäuft, Alu-Büchsen tritt man mit dem Fuß platt. Metallfirmen oder Papier-und Textilfabriken nehmen alles für lächerlich geringe Preise ab – jedes dreckverschmierte, oft von Hautkrankheiten gezeichnete Müll-Kind kommt pro Tag höchstens auf umgerechnet vier, fünf Mark – überlebenswichtig für die Familien an der Slum-Peripherie von Lateinamerikas reichster Stadt und Wirtschaftslokomotive, aber auch von Rio de Janeiro, Salvador da Bahia oder Recife. In ganz Brasilien sind es über vierzigtausend „Crianças do Lixo“, Müll-Kinder – die nie zur Schule gehen, oder es aufgaben, weil man sie lächerlich machte, diskriminierte. Vor ein, zwei Jahren waren es indessen noch über dreizehntausend mehr – bevor das UN-Kinderhilfswerk Unicef und die regierungsunabhängige Organisation „Agua e Vida“(Wasser und Leben) Projekte starteten, Druck auf den Staat, lokale Behörden ausübten, um diese schändliche Form der Kinderarbeit zu bekämpfen.
Hautkrankheiten, Cholera
Daß Minderjährige in einem Land, das zu den zehn größten Wirtschaftsnationen gehört, den ganzen Tag im Müll waten müssen, anstatt zu spielen und zu lernen, nennt Afonso Lima, Unicef-Mitarbeiter in São Paulo, einfach entsetzlich, unmenschlich. Die Regierung hat zudem internationale Konventionen, darunter gegen Kinderarbeit unterzeichnet, die derartiges eigentlich verbieten. „Weil die meisten Kliniken ihre sämtlichen Abfälle unsortiert und unbehandelt ebenfalls auf die Halde kippen, können sich die Kinder sogar gefährliche Krankheiten holen, finden Spritzennadeln, Chemikalien aller Art.“ Für seine Kollegin Paula Claycomb aus den USA fehlt es auch an politischem Willen. „Die brasilianische Gesellschaft muß endlich verstehen, daß stinkende Abfallhalden nicht der richtige Ort für Kinder sind.“ Dabei wurde bereits eine Menge erreicht: Unicef und die NGO „Agua e Vida“ brachten in geduldiger Überzeugungsarbeit Gouverneure und viele Gemeinden dazu, Mittel für die Gründung von Müll-Recycling-Kooperativen freizugeben, sogar Gebäude bereitzustellen. Der Vorteil: Wiederverwertbares wird bereits an Wohngebäuden, Supermärkten, Bürohäusern aussortiert – und nicht erst, mit organischen Abfällen verschmutzt, auf der Halde. Resultat: Das Familieneinkommen steigt, die Kinder brauchen nicht mehr mitzuarbeiten, gehen stattdessen zur Schule. Eine geringe staatliche Hilfe von monatlich umgerechnet über zehn Mark pro Kind wird auch an viele andere verelendete Familien nur gezahlt, wenn sie ihre Kinder kontinuierlich in die Schule schicken. „Und das funktioniert“, bekräftigt die NGO-Koordinatorin Teia Magalhaes in São Paulo. „Nur ist es leider oft so: Wir holen eine Familie aus dem Müll, doch andere treten sofort an deren Stelle – Folge der Misere in Brasilien.“ Da die Cholera im Lande längst nicht ausgerottet ist, man sich gerade auf den riesigen Abfallbergen leicht anstecken kann, verbreitet Teia Magalhaes auch ein entsprechendes Aufklärungs-Video, organisiert zusammen mit Präfekturen Musik-und Tanzkurse, um frühere „Crianças do Lixo“ in der Schule zu halten, an Kultur heranzuführen.
Banker und Müllsammler
Auch über Lateinamerikas Wallstreet, die Banken-Avenida Paulista, zerren täglich ungezählte schwitzende, zerlumpte Catadores do Lixo, Müllsammler, ihre hölzernen Karren, hochbeladen mit Verpackungen und anderem Material. Eigentlich sollten die Catadores allen Respekt verdienen: Nur ihnen ist es zu verdanken, daß immerhin achtzig Prozent der Aluminium-Getränkebüchsen, siebzig Prozent der Pappe und dreißig Prozent der Flaschen recycelt werden. Nur hier und da trifft man bereits auf jene Hausmüll-Container wie in Deutschland – ausgerechnet in einem Drittweltland wie Brasilien ist Ressourcenverschwendung weiterhin die Regel. Was vergeudet wird, ob Nahrungsmittel, Strom oder Wasser, hat laut neuesten Studien immerhin einen Wert von jährlich umgerechnet über einhundert Milliarden Mark. Besonders provozierend in einem Land mit ernsten Hungerproblemen: Was São Paulos Supermärkte an Lebensmitteln wegwerfen, reichte wertmäßig bequem aus, um monatlich 600000 Slum-Familien mit Grundnahrungsmitteln zu versorgen.
Padre Julio Lancelotti kämpft gegen Folter an Kindern und Jugendlichen
Hohes Lebensrisiko, Morddrohungen, tätliche Angriffe
Auch von Unicef wegen Engagements für Kinderrechte ausgezeichnet
„Erstmals konnten wir jetzt achtzehn Aufseher, sogar drei Direktoren, wegen Folter vor Gericht bringen“, sagt Padre Julio Lancelotti im Büro des von ihm geleiteten „Zentrums zur Verteidigung von Kindern und Jugendlichen“ der Millionenstadt São Paulo. Aber Freude, Zufriedenheit über diesen kleinen Sieg ist ihm nicht anzumerken. Denn auf einen Schlag hat er damit noch mehr erbitterte Feinde unter den Mitarbeitern der gefängnisähnlichen Anstalten für straffällig gewordene Minderjährige(Febem). Von den letzten Attacken hat er sich noch nicht erholt: Als in einer Febem-Einheit wiederum Jugendliche gegen Mißhandlungen, Überfüllung rebellierten, fuhr er sofort hin – eine Gruppe von Febem-Angestellten schlug ihm Zähne aus, trat auf ihn ein, zerbrach die Brille. Militärpolizisten schauten bewußt eine ganze Weile zu, griffen erst spät ein. „Sogar das Kreuz, das ich um den Hals trug, ein Geschenk aus Osnabrück, wurde mir abgerissen – hier ist die Situation eben längst außer Kontrolle.“ Lancelotti, der auch ein Heim für Aids-infizierte Kinder führt, erhält regelmäßig Morddrohungen – andere Pfarrer São Paulos haben ihr Engagement für Menschenrechte bereits mit dem Leben bezahlt – in Brasilien kommt es täglich zu politischen Morden, Attentaten. Theoretisch können er und seine Anwälte sich auf das Anti-Folter-Gesetz, das Statut zum Schutze der Heranwachsenden berufen. „In Brasilien dominiert aber leider Straflosigkeit, Folterer bleiben gewöhnlich ungeschoren, werden nicht einmal entlassen, sind durch die Autoritäten geschützt.“
„Kultur der Folter“
Daß die Gesetze nicht funktionieren, erklärt Lancelotti mit für manchen Europäer sicher überraschenden Gründen:“In diesem Land existiert die Sklavenhalterkultur, auch eine Kultur der Folter weiter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Im Teilstaate São Paulo, dem reichsten ganz Brasiliens, mit weit über eintausend deutschen Unternehmen, sind in den Febem-Anstalten derzeit mehr als viertausend Heranwachsende konzentriert, täglich kommen etwa dreißig hinzu. Wo eigentlich gemäß den Vorschriften nur Platz für sechzig Minderjährige ist, werden in Zellen bis zu vierhundert zusammengepfercht, sind gewöhnlich völlig sich selbst überlassen. „Als letztes Jahr der UNO-Sonderberichterstatter für Folter, Nigel Rodley, hier war, erklärte man ihm allen Ernstes, Jugendliche hätten sich Verletzungen selber beigebracht, im Streit miteinander.“ Der Padre, die eng mit ihm kooperierende Anwältin Francisca de Assis Soares, wissen von solchen Fällen, auch von sexueller Gewalt unter den Jugendlichen. Doch das sind Ausnahmen. Die Struktur dieser Anstalten ziele auf Unterdrückung, Entwürdigung, Verrohung – „über viele besonders sadistische Folterungen“, so Lancelotti“, reden wir öffentlich gar nicht mehr, weil es uns ja doch keiner glaubt.“ In einer Febem-Anstalt hatte man allen Ernstes Skinheads angestellt, wegen ihrer Aggressivität von den Minderjährigen nur „Pitbulls“ genannt.
Sadismus der Aufseher
Bekommen Lancelotti und sein Team Wind von Mißhandlungen, fahren alle sofort los, um gerichtsverwertbare Beweise zu sammeln, Torturen zu unterbrechen. „In einer Anstalt trafen wir auf über vierzig gefolterte Jugendliche – mit schweren Verletzungen, gebrochenen Armen und Beinen!“ Rebellieren Insassen einer Febem-Einheit, toben sich bei der Niederschlagung Aufseher, herbeigerufene Polizisten sadistisch aus.“Jugendliche mußten tagelang nackt hintereinander aufgereiht und aneinandergepreßt auf dem Boden hocken, das Geschlechtsteil am Gesäß des Vordermanns, durften nur in Plastikflaschen urinieren, die man dann über ihnen ausschüttete. Scharfe Hunde wurden rudelweise zwischen die Insassen gehetzt – wer deshalb aufstand, erhielt sofort Schläge. Und selbst das – Wärter zwingen Jugendliche, auf andere Insassen zu urinieren. Alles Folterpraktiken, tief entwürdigend!“
Aber könnte die Mitte-Rechts-Regierung unter Staatspräsident Fernando Henrique Cardoso, Bewohner São Paulos, Ehrendoktor der Freien Universität Berlin, diese Zustände nicht ändern? „Brasilien ist nur eine formale Demokratie“, analysiert Lancelotti, „die Politiker in Brasilia leben wie auf einem anderen Planeten, fern der Realität, wollen von diesen Dingen nichts wissen – Zugang zu Präsident Cardoso haben wir nicht.“ Bestenfalls mit Galgenhumor registriert der Padre, welches Prestige Cardoso gerade in Europa, auch in Deutschland genießt:“Der Präsident führt sich wie ein Prinz auf, erhält überall Doktortitel. Aber wenn man in europäischen Zeitungen oder in der Genfer UN-Menschenrechtskommission über diese Zustände hier spricht – das mag er, seine Regierung, garnicht.“
Lancelotti räumt ein, daß ihn die Menschenrechtsarbeit zugunsten der Minderjährigen Brasiliens streßt, psychisch ermüdet. „Der Haß auf uns ist groß, wir werden verfolgt, lächerlich gemacht, sind nur wenige – und die Folter nimmt zu!“ Mit seiner Wochenkolumne in einer Tageszeitung São Paulos erreicht er wenigstens einen Teil der Öffentlichkeit. Und ein bißchen Mut macht, daß ihn das UN-Kinderhilfswerk Unicef im neuesten Jahresbericht ausdrücklich als Anwalt der Heranwachsenden Brasiliens hervorhebt.
Manche Medien berichten über Brasiliens gravierende Menschenrechtslage – andere nicht.
The best of non-profit advertising and marketing for social causes
Posted by Marc | 12-05-2008 23:21 | Category: Human rights, Media
Two ads from Associação Brasileira de imprensa, the Brazilian press organisation.
Copy: “A censura nunca desiste. Ela sempre volta disfarçada. 3 de Maio Dia Mundial da Liberdade de Imprensa.”
“The censorship never gives up. It always return disguised. 3th of May, world day for the freedom of press.”
I have seen more censorship ads from Brazil in the past. What going on? Is censorship a big problem in Brazil?
”Leider sind es nicht mehr so viele, die die ganze Wahrheit wissen wollen. Man biegt sehr schnell ab, um bei seiner Meinung bleiben zu können – und bei den als angenehm empfundenen Lösungen. Ich habe mir angewöhnt, Leute danach zu beurteilen: Wieviel Wahrheit erträgt jemand?” Deutscher Menschenrechtsbeauftragter Günter Nooke im Website-Interview 2009.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/07/eu-lateinamerika-karibik-stiftung-startet-in-hamburg/
Samstag, 10. Dezember 2011 von Klaus Hart **
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
http://brueckenbauer.blogspot.com/2011_05_01_archive.html
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/11/20/afro-missa-im-franziskanerkloster-von-sao-paulo/
Sklavenarbeit in der Demokratie unter Lula-Rousseff: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/06/brasiliens-spezialdemokratiefirmen-behandeln-arbeiter-wie-sklaven-frankfurter-rundschau-deutsch-brasilianisches-jahr-20132014-gemeinsame-werte-politik-von-lula-rousseff/
“Stolz, ein Brasilianer zu sein”: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/25/stolz-ein-brasilianer-zu-sein-aufschrift-auf-der-arbeitskleidung-der-strasenkehrer-in-der-megacity-sao-paulo-anregung-fur-deutsche-stadtreinigungen/
Ausriß.
In Ländern wie Deutschland betreibt eine bestimmte Gutmenschen-Szene um den einst interessanten brasilianischen Befreiungstheologen einen regelrechten Kult. Sie bewahrt ihn vor öffentlicher Kritik, die als politisch unkorrekt gälte. Im Tropenland dagegen wird Boff seit den neunziger Jahren zunehmend heftig kritisiert. Selbst frühere Anhänger werfen ihm Fehleinschätzungen über die katholische Kirche, intellektuelle Unehrlichkeit und Opportunismus vor. Boff sei eitel auf Medienpräsenz aus – was mit Verbalattacken auf Papst und Vatikan natürlich am leichtesten gelinge.
In der Tat wirkt Boffs Eindreschen auf den Papst infantil und lächerlich. Nationale Religionsexperten bescheinigen ihm eine unbestreitbare Rolle in der Reflexionsgeschichte Brasiliens, nennen ihn sehr intelligent und intuitiv. Boff spüre sehr gut bestimmte gesellschaftliche Probleme und Tendenzen, sei ein brillanter Professor. Doch seine Äußerungen müssten kritisch analysiert werden – andernfalls akzeptiere man häufig Dinge, die nicht der Wahrheit entsprächen.
In Deutschland sind evangelikale Wunderheiler-Sekten unbeliebt – Boff begrüßte indessen bereits im Jahr 2000 öffentlich die Expansion der Evangelikalen vorbehaltlos als Bereicherung. In Brasilien fasste man sich an den Kopf. Denn die evangelikalen Sektenkirchen propagieren massiv die „Theologie der Prosperität“, wonach materieller Wohlstand eine Gabe Gottes sei und durch die Macht des Glaubens erreicht werden könne. An Misere, persönlichem Misserfolg sei der Teufel schuld, den man auf speziellen Tempelsitzungen austreibe – wobei natürlich jeder Gläubige soviel Geld wie möglich an die Kirche spenden müsse. Mit dieser Theologie, analysieren Sozialwissenschaftler, verbreiten die Evangelikalen Illusionen, beuten die Leute aus, schaffen Leiden. Und fördern sogar Rassismus und Diskriminierung, da die schwarze Bevölkerung nunmehr nur deshalb arm sei, weil sie sündige. Gemäß aus Afrika ererbten Schlechtigkeiten werde sie als eine verfluchte Rasse angesehen, die sich von allen Vorfahren und Wurzeln lösen müsse.
Wenn Boff diese wie Wirtschaftsunternehmen funktionierenden Kirchen als Bereicherung auffasse, müsse man seine Bewertungen relativieren, zeige sich zunehmende Oberflächlichkeit. Im akademischen Umfeld, bei den Studenten sei Boffs frühere Attraktivität weg.
Boff müsste wissen, dass evangelikale Kirchen im Christlich-Ethischen mancherlei Sonderwege fahren. So wurde ein Bischof der politisch einflussreichen „Universalkirche vom Reich Gottes“, der Brasiliens zweitgrößter TV-Sender gehört, wegen Mordes eingesperrt. In Salvador da Bahia hatte er laut Polizei im Tempel gemeinsam mit zwei Pastoren einen 14-jährigen Jungen sexuell missbraucht und danach lebendig verbrannt.
Manche mögen Boff zustimmen, wenn er die Evangelikalen-Ausbreitung begrüßt, weil ihm „jede Art von Vielfalt“ so gefällt. Denn nun ist in rappelvollen „Gotteshäusern“ endlich mal echt was los, ziehen Ex-Killer und Ex-Frauenaufreißer wie Pastor Salles vom Leder:„Ich war reich, hatte Villen und tausende Frauen – in Rio hörten tausende schwerbewaffnete Banditen auf mein Kommando. Ich war Bankräuber, Berufskiller, Monster, Psychopath – so viele Opfer flehten vergeblich um Barmherzigkeit! Wie von den Dämonen gefordert, habe ich mit meiner Frau unseren sechs Monate alten Sohn getötet, in der Pfanne gebraten, sein Fleisch gegessen – ich war schon in der Hölle!“
Frei Betto, wichtigster Befreiungstheologe Brasiliens, hochangesehen bei Kardinälen, Bischöfen und Padres der Kirche des Riesenlandes, analysiert solche evangelikalen Sekten tiefgründig, fühlt sich durch ihre nervende Präsenz im Alltag nicht eben bereichert. Leonardo Boff indessen wirft kurioserweise dieser Kirche „feudale Mentalität“, „totalitäre Ideologie“ und „mittelalterliche Strukturen“ vor, gar die Ablehnung von Kritik und Alternativen. Damit hat er schlichtweg die Dynamik, Entwicklung und Komplexität der katholischen Kirche nicht begriffen. Als anschauliches Beispiel gilt, dass Rom zwar Kondome kritisiert, deren massive Verteilung in der pastoralen Aids-Prävention indessen zulässt – und fördert, gemäß katholischer Moraltheologie.
Der Soziologe Claudio Monteiro leitet in Sao Paulo die bischöfliche Aids-Pastoral – direkt neben seiner Bürotür kann sich jedermann aus einem stets gut gefüllten Plastikbehälter gratis und überreichlich mit Kondomen eindecken. Monteiro lacht über Boffs Vorwurf, dass die katholische Kirche in der Kondomfrage lebensfeindlich, verantwortungslos und intolerant handele. „Leonardo Boff gehörte zum Franziskanerorden, der in Brasilien eines der ersten Aids-Präventionsprojekte startete und natürlich Kondome verteilt – seit über 16 Jahren. Unsere nationale Aids-Pastoral, von einem Bischof geführt, verfährt genauso. Völlig unmöglich, daß Boff davon nicht weiß. Wenn er die Ausbreitung der Evangelikalen, die Expansion des religiösen Fundamentalismus positiv bewertet, ist dies fragwürdig und anfechtbar.“
Boff greift immer wieder auch in die Politik ein. Im letzten Präsidentschaftswahlkampf unterstützte er zuerst die evangelikale Predigerin Marina Silva. Die Ex-Umweltministerin zählte zur Revolutionären Kommunistischen Partei Brasiliens, wuchs im befreiungstheologischen Spektrum der Katholiken auf und ging dann zur „Assembleia de Deus“. Richtig, die von Pastor Salles, dem Ex-Killer und Ex-Frauenaufreißer, die zudem laut Eigendarstellung Homos zu Heteros umdreht und Strich-Transvestiten zu Geistlichen macht.
Zuletzt wechselte Marina Silva von Lulas Arbeiterpartei zu den brasilianischen Grünen. Die verkaufen sie als lupenreine Umweltschützerin – obwohl zahlreiche verhinderbare Umweltverbrechen in ihre Amtszeit fallen. Amazonas- und Savannenwälder werden vernichtet, Brasilien avanciert zum weltgrößten Agrargiftverbraucher, das Geschäft mit Gen-Pflanzen boomt. Umweltschützer laufen Sturm gegen das gigantische Umleitungsprojekt am Rio Sao Francisco – Marina Silva verteidigt es als „ökologisch nachhaltig, wirtschaftlich machbar und sozial gerecht“. Was sie von massenhafter Folter durch Staatsangestellte oder von den landesweit operierenden Todesschwadronen hält, erfährt man bis heute nicht.
2002 nahm Leonardo Boff begeistert an der Wahlkampfkarawane von Lula teil, verglich ihn mit Mahatma Gandhi, lobte sogar dessen Vize, den Milliardär und Diktaturaktivisten José Alencar. Angesichts der Korruptionsskandale schwenkte er später um, verurteilte Lulas Politik als niederträchtig neoliberal.
2010 aber, als Marina Silva die Stichwahl nicht erreichte, wechselte Boff flugs zu Lulas Wunschkandidatin und bisheriger Chefministerin Dilma Roussef – und wieder zu Lob über den grünen Klee: „Lula machte die größte Revolution der sozialen Ökologie des Planeten, eine Revolution für die Bildung, ethische Politik.“ Die gravierenden Menschenrechtsverletzungen, den strikt antiökologischen Kurs von Lula-Rousseff kritisiert er nicht, die von ihm so heftig gescholtene, stark systemkritische katholische Kirche Brasiliens tut das umso kräftiger: Fehlende soziale Besorgnis bei Lula und Rousseff trotz Hunger, Misere und rasch wachsenden Slums, Zementierung der grauenhaft ungerechten Einkommensverteilung, Begünstigen der ohnehin Privilegierten. Boff faselt von sozialer Ökologie-Revolution, dabei ist längst klar, dass Dilma Rousseff das umweltvernichtende Mega-Wasserkraftwerk „Belo Monte“ in Amazonien unbedingt realisieren will. Nach ihrem Wahlsieg erneut ein Schwenk: Boff geißelt das Belo-Monte-Projekt.
Mancher hat vielleicht den desillusionierenden ARD-Weltspiegel-Beitrag „Brasilien: Kindsmord am Amazonas“ über das Töten von Kindern bei Indianerstämmen gesehen – rund 600 Babies werden danach jährlich allein in Amazonien umgebracht. Viele Indianer sitzen wegen Sex mit Kindern im Gefängnis, auch Indios sind als Naturzerstörer bekannt. Yanomami pflegen gar das Verprügeln der eigenen Ehefrau mit Freunden, bei Fremdgeh-Verdacht – von Schamanen als Hexen beschuldigte Indiofrauen wurden ermordet – das Blättchen hatte über diese Praktiken berichtet. Boff indessen ignoriert diese Fakten: „Und ich habe sie immer bewundert, sie sind unsere großen Meister im Hinblick auf die Haltung gegenüber der Natur. Die sind technologisch gesehen rückständig, aber zivilisatorisch, sie sind vorwärts, sie sind reicher als wir. Wenn wir lernen wollen, was wir für eine Beziehung mit der Natur eingehen sollen, die Beziehung zwischen dem Alter und den Kindern, den Erwachsenen und alten Leuten, die Beziehung zwischen Arbeit und Freizeit, die Beziehung zwischen Leben und Tod, dann müssen wir die Indianer hören. Die haben eine große Weisheit und vieles haben sie uns zu sagen.“ Kommentar überflüssig.
Deutsche Missionarin Marianne Diemer: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/02/03/elend-in-brasilien-unter-lula-rousseff-die-deutsche-missionarin-marianne-diener/
Tags: , , Menschenrechtspriester Julio Lancelotti, Wohnungsnot in Brasilien unter Lula-Rousseff
Die Existenz von weit über 2600 Slums, das Heer der Obdachlosen in Lateinamerikas reichster Stadt Sao Paulo weisen auf den bemerkenswerten Umgang der Regierung mit dem Problem der Wohnungsnot in der achtgrößten Wirtschaftsnation hin. Unweit jenes Elite-Hospitals, in dem Lula derzeit wegen Krebs behandelt wird, kampieren jetzt vertriebene Hausbesetzer auf offener Straße, bei Hitze über 35 Grad, ohne jegliche staatliche Unterstützung. Wie der Sprecher der Vertriebenen im Website-Interview erläuterte, ließen sich bisher beispielsweise Vertreter von Lulas Arbeiterpartei PT oder anderer Parteien nicht blicken – Unterstützung komme lediglich von dem katholischen Menschenrechtspriester Julio Lancelotti. Militärpolizei sei nach der Räumung mit Tränengas gegen die kampierenden Hausbesetzer vorgegangen. Allein in der City von Sao Paulo gebe es zahlreiche seit Jahren leerstehende Gebäude mit Wohnungen für weit über 10000 Menschen. Der Sprecher erinnerte daran, daß seine Bewegung der Wohnungslosen vor Jahren auch von “Brot für die Welt” unterstützt worden sei.
http://pt.wikipedia.org/wiki/Frente_de_Luta_por_Moradia
Attacke auf die kampierenden Wohnungslosen: http://www.portalflm.com.br/noticias/inspetor-queiros-da-gcm-prometeu-violencia-e-cumpriu-mas-a-ocupacao-continua-feridos-foram-levados-para-santa-casa/2035
http://www.portalflm.com.br/categoria/noticias
Menschenrechtspriester Julio Lancelotti: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/26/julio-lancelotti-brasiliens-ausergewohnlicher-hochst-unbequemer-menschenrechtspriester-ziel-von-morddrohungen-prozessen-verleumdungen-psycho-terror-medienkampagnen/
Eines der zahlreichen, seit Jahren leerstehenden City-Gebäude Sao Paulos – angesichts von gravierender Wohnungsnot.
Tags: Brasilien, Sao Paulo, Sklavennachfahrin
Tags: Slummädchen in Sao Paulo
http://www.hart-brasilientexte.de/2012/02/29/empfang-in-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe Frei Betto über die Präsenz hochbewaffneter Banditen in Slums von Sao Paulo:
“Ao percorrer a favela, por becos e vielas, avistei a barreira humana formada pelo pessoal do narcotráfico, que em plena tarde de uma sexta-feira exibia armas.” (2012)
Ausriß.
Hintergrund:
Banditendiktatur über Brasiliens Slumbewohner nützt Regierung und Eliten, verhindert Kampf für Menschenrechte
Historiker bestätigt Kirchenposition
Unten, an den Stränden der schicken Viertel Ipanema und Copacabana, tummeln sich die ausländischen Touristen, wohnen in feinen Hotels – oben an den Steilhängen kleben die Elendsviertel, Favelas der Zuckerhutmetropole, hausen über anderthalb Millionen Menschen dichtgedrängt wie Ameisen. Viele Besucher fragen sich angesichts extremer Sozialkontraste, warum die Favelados eigentlich nicht von den Hügeln in die Mittel-und Oberschichtsviertel heruntersteigen, protestieren und rebellieren, ihre Menschenrechte einfordern. Schließlich ist Brasilien die dreizehnte Wirtschaftsnation der Erde, dazu größte Demokratie Lateinamerikas. Etwa fünfzig Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, die hohen Einkommen mehr als das dreißigfache über den niedrigen. „Warum gibt es einfach keine soziale Explosion?“, fragt auch der angesehene Historiker Josè Murilo de Carvalho, „warum organisieren sich die Massen der Slums nicht nach dem Vorbild der Landlosenbewegung?“ Er weist auf die Banditendiktatur über die Slumbewohner, hat eine brisante Erklärung parat:“Die Herrschaft des organisierten Verbrechens blockiert die Politisierung der Favelados, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion. Die hochbewaffneten Gangsterkommandos dienen somit der Aufrechterhaltung politischer Stabilität – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Natürlich würde man das nie eingestehen.“ Professor Carvalho, 65, von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, wirft auch der Regierung von Staatschef Luis Inacio da Silva, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer, vor, am grauenhaften Status Quo der Favelas nichts ändern zu wollen. „Zum strategischen Kalkül Brasilias gehört, daß es wegen der so hilfreichen Verbrechersyndikate keine sozialen Unruhen geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben so viele Gewalttote wie in Bürgerkriegen. Die Slumbewohner besitzen nicht einmal die elementarsten Bürgerrechte, können sich nicht frei bewegen, haben nicht einmal das Recht auf das eigene Leben, von den sozialen Rechten ganz zu schweigen.“ Historiker Carvalho erregte mit seiner Analyse jetzt auf einer nationalen Wissenschaftlertagung großes Aufsehen.
Doch auch Rios deutschstämmiger Kardinal und Erzbischof Eusebio Scheid prangert seit Jahren den Banditenterror gegen die Favelados, die Ausgangssperren, das neofeudale Normendiktat an, die Verantwortung der Eliten. „Wenn in der Favela einer den Mund aufmacht“ so Scheid, „werden ihm von den Gangstern die Ohren abgeschnitten, wird er völlig verstümmelt. Die Verbrechersyndikate sind eine Parallelmacht, ein Staat im Staate, gestützt auf die Feuerkraft ihres großen Waffenarsenals.“ Zu den drakonischen Strafen gehört auch Handabhacken, lebendig Verbrennen. Viele Slumpfarrer und selbst der Dominikaner Frei Betto, heute Staatschef Lulas Sonderberater für Hungerfragen, argumentieren genauso. „Die Deutschen haben offenbar keine Vorstellung von der gravierenden Situation hier.“
Die von den deutschen Kirchen stark unterstützte Landlosenbewegung MST, so Historiker Carvalho, vertritt zwar nur die Minderheit der Brasilianer des Hinterlands, ist aber politisch sehr erfolgreich, hervorragend organisiert und effizient, zwingt die Regierung, den Boden gerechter zu verteilen. Doch über achtzig Prozent der mehr als 175 Millionen Brasilianer, das Gros der sozial Ausgeschlossenen, leben in großen Städten. Dort, so der Historiker, hätte eine Bewegung der Slumbewohner, der Arbeitslosen, die beispielsweise leerstehende Gebäude und Wohnungen besetzen, natürlich ganz andere Wirkungen. „Nicht zufällig sind in den Großstädten enorme Truppenkontingente konzentriert, falls die Lage doch einmal außer Kontrolle gerät. Jetzt organisiert der MST wieder viele Bodenbesetzungen – derartige Aktionen in den Städten, mit Millionen von Favelados, wären ein Schlag gegen die Stabilität des Systems. Man müßte Truppen einsetzen, um die Ruhe wiederherzustellen.“ Für Kardinal Scheid und Historiker Carvalho ist keine Lösung der Favelaprobleme in Sicht. Mit ironischem Galgenhumor fragt der Wissenschaftler:“Warum wohl werden aber weder Brasiliens Grenzen noch die Drogenmafia in der Bucht von Rio streng überwacht, greifen die Streitkräfte nicht ein, um den Gangstersyndikaten das Rückgrat zu brechen?“
Im mitteleuropäischen Mainstream wird auffälligerweise beim Thema Brasilien die gravierende Menschenrechtslage – ob alltägliche Folter, Todesschwadronen, Scheiterhaufen, Slum-Diktatur, Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, Morde an Systemkritikern oder Sklavenarbeit, durchweg u.a. von der Kirche und Amnesty International mit Fakten belegt – fast ausnahmslos gezielt ausgeklammert – was Bände spricht, zahlreiche interessante Rückschlüsse zuläßt.
Banditen-Okay für Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil
„In Deutschland würde deshalb die Regierung gestürzt“
Völlig ohne Begleitschutz, nicht einmal Body-Guards, fahren Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini scheinbar tollkühn und todesmutig mit der schwarzen Regierungslimousine in Rios riesigen Slum „Complexo da Marè“ ein. Denn der wird von berüchtigten, mit Mpis und Granaten bewaffneten Banditenmilizen beherrscht, die beide Minister rasch in ihre Gewalt bringen könnten. Doch die Gangsterkommandos lassen den ganzen Troß völlig in Ruhe – Gil und Berzoini belustigen sich bei Breakdance und Rap, stellen Qualifizierungsprogramme für Jugendliche vor. Laut Landespresse hatte man zuvor die lokalen Verbrecherbosse um eine Besuchserlaubnis gebeten und diese auch bekommen. Zum Banditen-Okay gehörte natürlich, auf Polizeischutz zu verzichten. „Ein Skandal erster Ordnung“, erregt sich Anfang Januar Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo. „Geschähe derartiges in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, würde das im Parlament heiß debattiert, würde die Regierung gestürzt!“ Doch in Brasilien passiere gar nichts, als wären Ministervisiten mit Banditenerlaubnis das Normalste von der Welt. Für Pinheiro und zahlreiche andere Sozialwissenschaftler wurde damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannt. „Die Gangsterkommandos verbreiten in ihrem Territorium des Terrors Angst, foltern und morden, beherrschen das gesamte Leben der Slumbewohner – alles toleriert vom Staat, von den Autoritäten.“ Durch Gil und Berzoini sei bestätigt worden, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliere. Im „Complexo da Marè“, unweit des internationalen Flughafens, hausen immerhin mehr als 135000 Menschen. Vor der Ministervisite sagten Bewohner:“Wir sind Geiseln der Banditen, die im Gassenlabyrinth mit ihren chromblitzenden Maschinenpistolen patrouillieren, sich fast jede Nacht Gefechte mit rivalisierenden Kommandos liefern. Es ist die Hölle!“ Viele Hütten und Katen haben Einschüsse, immer wieder werden Unbeteiligte, sogar Kinder, durch verirrte Kugeln getötet.
Rio de Janeiros deutschstämmiger Kardinal und Erzbischof Eusebio Scheid, die gesamte Bischofskonferenz prangern ebenso wie die nationale Slum-Seelsorge seit Jahren die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in den Elendsvierteln Brasiliens an, fordern energische Maßnahmen. Wenn Staatsminister mit Verbrechersyndikaten verhandeln, diese als Parallelmacht akzeptieren und legitimieren, gilt dies auch für Menschenrechtler als bedrückendes Signal an die Slumbewohner, daß man sie im Stich läßt, der Banditenwillkür ausliefert. „Ein Eingeständnis der Schwäche, der Niederlage durch die Regierung, ein schwerwiegender politischer Fehler – doch kein Einzelfall“, betont Historiker Josè Murilo de Carvalho, Mitglied der nationalen Dichterakademie. „Die lokalen und regionalen Autoritäten schließen mit den Gangsterbossen häufig Abkommen – das zeigt die Probleme unserer Demokratie, ich bin tief pessimistisch, sehe keinerlei Lösung.“
Heiligabend und zum Jahreswechsel feuerten die Banditenmilizen der über sechshundert Rio-Slums wie üblich aus zehntausenden Maschinenpistolen stundenlang Salut zur Machtdemonstration. Kulturminister Gilberto Gil konnte es von seinem luxuriösen Strandappartement aus hören. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist er auch als Star der Weltmusik sehr bekannt – singt in einem seiner größten Hits:“In den Hütten der Stadt hat niemand mehr Illusionen über die Macht der Autoritäten, Maßnahmen zu ergreifen, sich den Haien entgegenzustellen – so viele stupide, scheinheilige Leute…“ Nach Minister Gils Slumvisite wirkt der Text auf manche wie böse Ironie.
Des Kulturministers Tochter, die bekannte Schauspielerin und Sängerin Preta Gil, spricht indessen anders als der Vater die Zustände offen an:“Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, nicht nur die Slums werden von der gutorganisierten Drogenmafia beherrscht. Alle sind doch verwickelt! Das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt.“
Brasiliens Medien stellen Rolle der Deutschen in der Landeskirche heraus
„Deutsche gewinnen an Kraft in der brasilianischen Kirche“(titelt größte nationale Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo)
Angesichts der Ernennung von Odilo Scherer zum Erzbischof der Diözese Sao Paulo im März haben Brasiliens Qualitätsmedien in ausführlichen Analysen auf die wachsende Bedeutung von Deutschstämmigen in der Kirche des größten katholischen Landes verwiesen. Danach wird mit Scherer, der zudem Generalsekretär der Bischofskonferenz(CNBB) ist, zum drittenmal hintereinander das Amt des Erzbischofs der Megametropole von einem Geistlichen bekleidet, der in einer deutschen Familie von Südbrasilien aufwuchs. Diese von Deutschstämmigen geprägte Region ist die mit großem Abstand am meisten entwickelte des Riesenlandes von der 24-fachen Größe Deutschlands. Vor Scherer, 57, wirkten dort Claudio Hummes und Evaristo Arns. Bei Lateinamerikas Wirtschaftslokomotive Sao Paulo, so heißt es, handele es sich immerhin um die größte und wichtigste Erzdiözese Brasiliens sowie die drittgrößte der Erde. Durch die Ernennung Scherers habe sich bestätigt, daß keine andere Einwanderergruppe so viele Vertreter in hohe Ämter der Kirche entsende wie die deutsche. Von den acht lebenden brasilianischen Kardinälen seien immerhin vier deutschstämmig: Evaristo Arns, Aloisio Lorscheiter, Claudio Hummes und Eusebio Scheid. Nur zwei Kardinäle Brasiliens seien italienischer Abstammung, obwohl weit mehr Italiener als Deutsche in das Tropenland auswanderten. Von den 41 Erzdiözesen werden sechs von Deutschstämmigen geleitet – mit Sao Paulo, Rio de Janeiro und Porto Alegre indessen die wichtigsten.
Die Qualitätsmedien sehen sehr viel Affinität zwischen dem deutschen Papst und dem deutschstämmigen Scherer. Benedikt XVI. wolle eine kämpferische, entscheidungsfreudige Kirche, die ihre Prinzipien klar und deutlich vertrete, in der Gesellschaft Einfluß habe. Diesem Profil entspreche Scherer viel mehr als sein Amtsvorgänger Hummes. Häufig zitiert wird daher der renommierte Theologieprofessor Fernando Altemeyer von der Katholischen Universität Sao Paulos, dem zufolge Hummes in seinem Auftreten eher schüchtern und scheu gewesen sei – Scherer dagegen den Ruf des konsequenten, durchsetzungsfreudigen Administrators habe. Nicht erst in seiner Funktion als CNBB-Generalsekretär war Scherer dagegen meist sofort zu Stellungnahmen und langen Interviews bereit. Während sich Hummes stets als Freund des jetzigen Staatschefs Luis Inacio Lula da Silva bezeichnete und dessen zahlreiche Skandale und Verfehlungen selten und dazu vorsichtig ansprach, äußerte der sehr dynamisch wirkende Scherer gegenüber den In-und Auslandsmedien stets deutliche, ausführliche und wohlfundierte, an den Fakten orientierte Regierungskritik. Wenn Benedikt XVI. , so die Analysen der Qualitätsmedien weiter, einen solchen Erzbischof für Sao Paulo ernenne, sei dies eine Form, auf das ganze Land Einfluß auszuüben. „Und auf den ganzen lateinamerikanischen Kontinent.“ Mit fast sechs Millionen Katholiken sei die Erzdiözese größer als manche Länder. Welche Probleme man in Sao Paulo aufgreife, welche Lösungen man dort durchsetze, beeinflusse in der Tat das ganze Land. Wie der Papst, sei auch Scherer der Auffassung, daß die moderne Welt keineswegs Antworten auf drängende aktuelle Fragen biete. „Die Kirche darf nicht der Logik des Marktes folgen“, wird Scherer ebenso zitiert wie mit seiner permanenten Forderung an die brasilianischen Katholiken, sich politisch zu engagieren. Unter Berufung auf Vatikanexperten heißt es ferner, Scherer habe bei seiner Ernennung zum Erzbischof bezeichnenderweise Etappen überspringen können und werde in spätestens zwei Jahren, also mit 59, schon Kardinal sein.
Tags: , Favela do Moinho, Prinz Harry in Sao Paulo und Rio, Sao Paulo
Könnten Sie so hausen – bei jedem Wetter, in den Tropen? Verschlag mit Matratze an einer Mauer – bei heftigen Tropenregen läuft alles voll, auch bei den Nachbarn. Direkt hinter der Mauer donnern Güterzüge vorbei. Theoretisch existieren auch in dem als “Wirtschaftswunderland” gepriesenen Brasilien für solche Fälle die Sozialbehörden und andere Dienste…Sao Paulo ist Lateinamerikas reichste Stadt.
Angesichts der realen Situation des Tropenlandes nimmt die Kritik der Politikexperten an der Regierung von Dilma Rousseff auch unter Hinweis auf das im Vergleich mit Nachbarländern sowie anderen BRIC-Staaten schwache Bruttoinlandsprodukt 2011(offiziell 2,7 % Wachstum, Deutschland 3 %) deutlich zu.
“die tiefe Unkenntnis der Gringos über uns”: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/12/06/arnaldo-jabor-popularster-kommentator-brasiliens-analysiert-lula-die-tiefe-unkenntnis-der-gringos-uber-uns-warum-lula-die-auslandsmedien-lobt-uber-brasiliens-medien-verargert-ist/
Kein einziger Sektor der Regierung funktioniere gut – im Führungsstil dominierten Improvisation und fehlende Planung. Der Politiker der Arbeiterpartei Lulas, Luiz Sergio de Oliveira, sei innerhalb von nur acht Monaten von zwei verschiedenen, von ihm bekleideten Ministerposten, entfernt worden.
“Die Wirtschaftskrise hat Brasilien kaum gespürt.”(WAZ) http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/15/staatschef-lula-erklart-rezession-und-krise-in-brasilien-fur-beendet-offizielle-daten-als-begrundung-grund-zum-feiern/
“…das Land die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise unbeschadet überstanden hat.” BDI 2011
Laut der Getulio-Vargas-Stiftung vom Oktober 2009 hatte die Krise indessen von den sechs wichtigsten Wirtschaftszentren Brasiliens die Megacity Sao Paulo am stärksten getroffen – das Elend habe deutlich zugenommen, hieß es gemäß Landesmedien.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Propaganda und Realität:
“Hilfe kriegen wir nur von der Kirche.”
Lage in den Slums: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/
Die Frau und ihr Nachbar, vor dessen Verschlag. Prinz Harry ist am selben Tag in Sao Paulo: http://g1.globo.com/sp/campinas-regiao/noticia/2012/03/principe-harry-vence-jogo-de-polo-e-ganha-beijo-de-modelo-em-monte-mor.html
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Morde an Journalisten Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/03/06/morde-an-journalisten-in-brasilien-unter-der-rousseff-regierung-brasilianische-menschenrechtsorganisation-conectas-vor-dem-uno-menschenrechtsrat-in-genf-2012/
Tags: Obdachlose in Brasilien, Sozial-und Menschenrechtsprobleme in Brasilien
Leben mit dem Einkaufswagen 2012 – einziger “Besitz”. Wegen Minimalernährung, schlechtem Gesundheitszustand brechen viele Obdachlose in Städten – wie hier in Sao Paulo – regelrecht erschöpft zusammen, schlafen direkt an sehr lauten Straßen.
“Die Wirtschaftskrise hat Brasilien kaum gespürt.”(WAZ) http://www.hart-brasilientexte.de/2009/09/15/staatschef-lula-erklart-rezession-und-krise-in-brasilien-fur-beendet-offizielle-daten-als-begrundung-grund-zum-feiern/
“…das Land die globale Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 vergleichsweise unbeschadet überstanden hat.” BDI 2011
Laut der Getulio-Vargas-Stiftung vom Oktober 2009 hatte die Krise indessen von den sechs wichtigsten Wirtschaftszentren Brasiliens die Megacity Sao Paulo am stärksten getroffen – das Elend habe deutlich zugenommen, hieß es gemäß Landesmedien.
“die tiefe Unkenntnis der Gringos über uns”: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/12/06/arnaldo-jabor-popularster-kommentator-brasiliens-analysiert-lula-die-tiefe-unkenntnis-der-gringos-uber-uns-warum-lula-die-auslandsmedien-lobt-uber-brasiliens-medien-verargert-ist/
Was Prinz Harry in Sao Paulo und Rio nicht zu sehen bekommt: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/03/11/prinz-harry-in-rio-de-janeiro-kurioser-medien-und-propagandazirkus-vor-allem-wegen-besuch-in-slumregion-complexo-do-alemao-wegen-bewaffneten-banditenkommandos-wurden-sogar-panzer-zur-harry-visit/
Obdachlose Frauen und Männer 2012 direkt unter einer Hochstraße der City Sao Paulos, an einer Straßenkreuzung voller giftiger Abgase – solche Stellen werden oft als Schlafplätze bevorzugt, weil es im Falle von Mordanschlägen und anderen Gewalttaten mit großer Sicherheit Zeugen gäbe, die möglicherweise die Polizei benachrichtigen könnten.
Angesichts der realen Situation des Tropenlandes nimmt die Kritik der Politikexperten an der Regierung von Dilma Rousseff auch unter Hinweis auf das im Vergleich mit Nachbarländern sowie anderen BRIC-Staaten schwache Bruttoinlandsprodukt 2011(offiziell 2,7 % Wachstum, Deutschland 3 %) deutlich zu.
Kein einziger Sektor der Regierung funktioniere gut – im Führungsstil dominierten Improvisation und fehlende Planung. Der Politiker der Arbeiterpartei Lulas, Luiz Sergio de Oliveira, sei innerhalb von nur acht Monaten gar von zwei verschiedenen, von ihm bekleideten Ministerposten, entfernt worden.
Foto von 2012. Durch das ständige Einatmen von Autoabgasen wird das Immunsystem der Frauen und Männer noch rascher geschwächt – die Folgen sind gerade den zuständigen Autoritäten bestens bekannt, entsprechende medizinische Studien liegen vor.
Morde an Journalisten Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/03/06/morde-an-journalisten-in-brasilien-unter-der-rousseff-regierung-brasilianische-menschenrechtsorganisation-conectas-vor-dem-uno-menschenrechtsrat-in-genf-2012/
Lage in den Slums: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
1997 war in Brasilia der Indianerhäuptling Galdino von fünf jungen Männern der Mittelschicht verbrannt worden.
Christian Wulff – und die während seines Brasilienbesuchs 2011 verbrannten Obdachlosen:
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Wulff und Menschenrechtspriester Julio Lancelotti.
Deutscher Bundespräsident Christian Wulff und die Obdachlosen Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/05/05/erneut-obdachloser-sao-paulos-verbrannt-polizei-ermittelt-wegen-verbrechenshintergrund-deutscher-bundesprasident-wulff-besucht-obdachlosengemeinde-der-megacity/
Überreste des Mannes und des Müllkarrens, Zeitungsausriß.
Hintergrund:
Brasilien: Die Milliardäre und die Hungernden(2011)
Kirche empört über starke Zunahme der Superreichen angesichts von Massenelend
Die Zahl der Milliardäre des Tropenlands ist laut neuester Forbes-Statistik auf 30 angestiegen – 2010 waren es noch 18. Platz acht der Weltrangliste belegt Unternehmer Eike Batista aus Rio, mit 30 Milliarden US-Dollar. Der Reichtum der brasilianischen Milliardäre sei dreimal so groß wie das Bruttosozialprodukt des entwickelten Nachbarlands Uruguay. Bankiers und Börsianer feiern den Zuwachs bei Brasiliens Superreichen als Beweis wirtschaftlichen Aufwärtstrends – die Kirche des größten katholischen Landes äußert dagegen Empörung, weist auf Hunger, Misere und rasch wachsende Elendsviertel. „Die Milliardärsstatistik zeigt, daß sich unter der Regierung von Präsident Lula an der grauenhaft ungerechten Einkommensverteilung, dem Begünstigen der ohnehin Privilegierten nichts geändert hat“, sagt Frei José Francisco, Leiter des Franziskaner-Sozialwerks von Sao Paulo. „Die neue Präsidentin Dilma Rousseff fährt diesen Kurs weiter, tut nichts gegen Einkommenskonzentration in den Händen weniger – trotz soviel Hunger und Massenelend. Nur bei sozialer Ungleichheit ist Brasilien Weltspitze.“ Der Franziskaner hat Riesenprobleme, Spender und Förderer für die zahlreichen Sozialprojekte der Megacity zu finden, ob für Straßenkinder oder obdachlose Familien. „Mit einem Quentchen des Gelds der Milliardäre könnte ich einen Großteil meiner Finanzierungsnöte beheben, müßte nicht sogar deutsche Hilfswerke wie Misereor und Adveniat um Mittel bitten. Denn Brasiliens Reiche geben nur, wenn es ihnen Profit, Status und Steuererleichterungen bringt. Wer aber wie wir mit echter Sozialarbeit jene Strukturen in Frage stellt, die Elend und Hunger schaffen, kriegt keinen Centavo.“
Hedwig Knist aus der Diözese Mainz leitet in Lateinamerikas reichster Stadt Sao Paulo die Obdachlosengemeinde und ist über die Milliardärsstatistik ebenfalls aufgebracht, kennt die unpatriotische Knickrigkeit der brasilianischen Superreichen nur zu gut. „Gäben die was ab, müßte ich derzeit nicht das deutsche Generalkonsulat um Gelder für ein Projekt anbetteln, das ausschließlich Brasilianern zugute kommt, könnte ich dem Heer der Straßenbewohner viel besser helfen. Das Anti-Hunger-Programm der Regierung holt die Menschen nicht aus dem Elend, Brasiliens Sozialkontraste werden nicht geringer – die Reichen indessen immer reicher. Die Milliardärsstatistik beweist es drastisch-provozierend.“
Priester Aecio Cordeiro da Silva betreut in Sao Paulo 13 der über 2000 Slums und erinnert daran, daß Brasiliens Parlamentsmitglieder ein Durchschnittsvermögen von umgerechnet einer Million Euro besitzen und sich erst kürzlich eine 60-prozentige Diätenerhöhung genehmigten. „Dennoch votierten sie jetzt für eine Mindestlohn-Anhebung auf rund 248 Euro brutto, deutlich unterhalb der Teuerungsrate – sowas ist doch skandalös, wie die Milliardärsstatistik! Es gibt weiter Hunger – das Gesundheitswesen ist so grauenhaft, daß Menschen in den Warteschlangen der Hospitäler sterben. Gerade ersuche ich einen Italiener um Geld für ein Projekt, das Jugendliche vor dem Abrutschen in die Drogenkriminalität bewahren soll – denn wir können nicht mal die Stromrechnung aufbringen.“
Hintergrundtext von 2003:
„Guerra urbana” in der Megametropole Sao Paulo(2003) Lulas PT-Bürgermeisterin Marta Suplicy überläßt
Slumbewohner dem Terror der Banditenmilizen
Afghanin aus Deutschland: „Das ist hier wie Bürgerkrieg”
Maryam Alekozai, zwanzig, größtenteils in Aachen aufgewachsen, wollte ihr soziales Jahr eigentlich in der Heimat, in Afghanistan machen – doch dann kam der Konflikt dazwischen, entschied sie sich für ein Slumprojekt in Sao Paulo, betreut voller Idealismus Slumkinder, gerät immer wieder in Lebensgefahr: „Es herrscht hier eine Art Bürgerkrieg – gar nicht mal so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder wird jemand umgebracht, Kinder verlieren ihre Väter. Von den Müttern, deren Kinder ich betreue, sind nicht wenige deshalb alleinstehend. Das ist hier einer der gewalttätigsten Gebiete ganz Sao Paulos.” Seit über zwei Jahren regiert Präfektin Marta Suplicy aus Staatschef Lulas Arbeiterpartei PT die Megametropole, hätte die Machtmittel, um die neofeudalen Strukturen in den Slums, den Favelas, zu brechen. Könnte zumindest Druck auf den für die öffentliche Sicherheit des gesamten Teilstaates Sao Paulo zuständigen Gouverneur ausüben. Doch es ändert sich nichts, die extrem krassen Menschenrechtsverletzungen sind nicht einmal Hauptthema der PT-Führung – wie während der Amtszeit von PT-Gouverneurin Benedita da Silva in Rio de Janeiro: Neofeudale Banditenmilizen sind weiterhin unumschränkte Herrscher, terrorisieren die Bewohner, verhängen Ausgangssperren – manche minderjährigen Kindersoldaten, bekannt und gefürchtet, killten bereits bis zu vierzig Menschen. Angst dominiert, jedermann spricht nur von „Guerra”. Auch unter Präfektin Marta Suplicy werden Kinder, Jugendliche von den Drogenkartellen, ihren Milizen rekrutiert, erleben nur zu oft das Erwachsenenalter nicht, sterben bei Gefechten mit rivalisierenden Banden, Schießereien mit der Polizei. Wer nicht mitmachen will, kriegt die Kugel. José Grigorio de Jesus, 66, Präsident einer Bewohnerinitiative des Slums Capao Redondo, schildert, wie es seinem Sohn erging:”Er wollte endlich aussteigen, hatte schon eine feste Arbeitsstelle – doch am ersten Arbeitstag haben sie ihn erschossen.” Jedermann muß sich an das „Lei do Silencio”, das Gesetz des Schweigens, halten – zu niemandem ein Wort über Vorgänge im Slum. „Wer als Informant der Polizei gilt, stirbt.”
„Genozid im Gange” – Ausgangssperre an der „Copacabana”
Monatlich werden an der Slumperipherie Sao Paulos über achthundert Menschen umgebracht – fast so viele wie in Deutschland im ganzen Jahr, weit mehr als in den aktuellen Konfliktgebieten der Erde. „Die Statistiken zeigen, daß hier ein Genozid im Gange ist”, betont Padre Jaime Crowe in Jardim Angela, einem der gewaltgeprägtesten Favelas. Der dichtbevölkerte Slum „Copacabana”, unweit von Maryam Alekozais Arbeitsplatz, wirkt häufig sogar mitten am Tage wie eine Geisterstadt. Katen, Barracken verriegelt, kein Mensch, nicht mal spielende Kinder auf der Straße, im Gassenlabyrinth – sämtliche Kramläden geschlossen, eigenartige Stille. „Toque de recolher”, Ausgangssperre, lautet die Erklärung, erneut verhängt von den Milizen des global vernetzten organisierten Verbrechens. Einige Jungen lassen aber Drachen steigen – wie paßt das zusammen? Sie tuns im Auftrage der hiesigen Warlords – mit den Drachen werden Signale gegeben, falls Gefahr im Verzuge ist, sich hochbewaffnete gegnerische Milizen nähern. Auch in „Copacabana” stellt man sich besser mit den „Soldados” gut, heuchelt Unterwürfigkeit und Sympathie, bietet ihnen Getränke, Selbstgebrutzeltes an. Wer will schon zerstückelt, gar lebendig verbrannt enden? Täglich liegen irgendwo Leichen, abgetrennte Körperteile. Mittel-und Oberschicht blenden diese Realität zynisch aus. Ein grotesker Kriminalfall vom Februar 2003 zeigt es exemplarisch: In Sao Paulo zerstückelt ein angesehener Chirurg seine Geliebte, Frau des Hausmeisters, fein säuberlich mit Seziermessern, wird indessen ertappt, der Fall macht Schlagzeilen, ist auch in den seriösen TV-Nachrichten. Just jene Fotografien aus der Gerichtsmedizin, die die aneinandergereihten Körperteile der Ermordeten in Großaufnahme zeigen – auch Brüste, Arme, Vagina, alles – stellt jemand ins Internet, halb Brasilien schaut sie derzeit immer wieder an. Professorinnen, Anwältinnen, Schickeria-Damen sind entsetzt, sahen sowas noch nie, können deshalb nachts nicht schlafen, reden von nichts anderem. Daß die in den Slums tagtäglich weit Schlimmeres sehen müssen, sogar miterleben, wie Menschen lebendig verbrannt werden, aufgedunsene unbekleidete Leichen von Männern, Frauen, Mädchen, oft mit abgeschlagenem Kopf, bei vierzig Grad auf Geheiß der Banditen tagelang zur Abschreckung mitten im Gassengewirr liegen, macht in Brasilien nie Schlagzeilen, ist für die „oben” kein Thema. Maryam Alekozai blieben solche grauenhaften Szenen erspart – nicht aber die Schießereien. „Ich habe den Eindruck, das alles ist bereits Teil des Lebens der Kinder hier”, sagt Maryam Alekozai, „ganz normal für sie, daß jemand erschossen wird – die wachsen damit auf. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so unglaublich groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut! Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Die Gewalt, die Ungerechtigkeit, die in diesem Land herrscht, spiegelt sich in den Augen der Kinder – unübersehbar.” Doch gleichzeitig weist sie auf einen scheinbaren Widerspruch:”Ein Bewußtsein über soziale Ungleichheiten existiert hier nicht – weder bei den Armen noch bei den Reichen. Aufklärung, kritisches Denken, das einem in Deutschland beigebracht wird, fehlt hier.” Doch auch in den Slums täuscht die Erscheinungsebene, der oberflächliche Eindruck nur zu oft. „Viele sagen – ihr kommt aus Deutschland, seht uns fröhlich und gut drauf, könnt euch aber nicht vorstellen, wie es uns wirklich geht, wie es zuhause hinter unseren vier Wänden aussieht.”
Eine Frau kommentiert:”Brasilianer sind in der Lage, über ihr eigenes Unglück zu lachen, darüber groteske Witze zu reißen; schwarzer Humor, schwärzer gehts nicht – eine Art Ventil, um damit fertigzuwerden – wahrscheinlich ist das in Europa anders.”
Sozialprojekte senken Gewaltrate nicht
Jahrzehntelang hielt sich bei Gutmenschen Brasiliens und Drittweltbewegten Europas die These, man müßte die Slums, nur mit einem Netz von Sozialprojekten überziehen, um die entsetzlich hohe Mordrate drastisch zu senken, die Herrschaft des hochgerüsteten organisierten Verbrechens, der brasilianischen Warlords zu schwächen. Kinder und Jugendliche würden sich dann nicht länger von den Milizen anwerben lassen, den Drogen entsagen, einer glücklicheren Zukunft entgegengehen. Auch europäische Hilfsorganisationen starteten deshalb solche Projekte, investierten hohe Spendersummen. Indessen – selbst laut Unesco-Angaben wurden weder die Gewaltrate noch der Banditenterror gegen die Bewohner gebremst. Nur zuviele Sozialprojekte werden von den Banditenmilizen kontrolliert – was Spender in Europa nicht erfahren sollen.Auch Staatschef Lula und dessen zuständige Minister sprechen beschönigend von einem Sicherheitsproblem, um das sich die Polizei zu kümmern habe. Doch die erwarteten Sofortmaßnahmen bleiben aus. Menschenrechtsexperten und selbst der schweizerische UNO-Sonderberichterstatter Jean Ziegler weisen auf unumstößliche Tatsachen:”Für die Vereinten Nationen sind 15000 Gewalt-Tote jährlich in einem Land ein Hinweis auf Krieg – doch in Brasilien werden sogar gemäß offiziellen Statistiken rund vierzigtausend umgebracht!” Tatsächlich sind es weit mehr, getötet aus politischen oder kriminellen Motiven, oft vermischt – doch auch in Deutschland verbinden viele mit dem Tropenstaat sozialromantische Vorstellungen, verdrängen gewöhnlich, daß gerade in Millionenstädten wie Rio de Janeiro nur unweit der Touristenstrände tagtäglich heftige Gefechte im Gange sind – ausgetragen auch mit NATO-Waffen, darunter Granatwerfern.
In Deutschland werden jährlich laut BKA rund eintausend Menschen umgebracht, bei einer Gewaltrate wie in Brasilien wären es indessen weit über zwanzigtausend.
Zudem befänden sich dann mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat-bzw. Gangsterhand. Jeder kann erahnen, wie Deutschland dann aussähe. Die größte brasilianische Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo” macht 2003 folgende Rechnung auf:”In den letzten zwanzig Jahren wurden 1,9 Millionen Brasilianer getötet – 1,5 Millionen davon waren junge Menschen. Hätte Brasilien in diesen Jahren an einem Krieg teilgenommen, wären garantiert nicht so viele Opfer zu beklagen.”Bereits 1992 hatte der PT- Abgeordnete Carlos Minc betont:”In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen – das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschenrechte der Rio-Bewohner mißachten.” Mincs Analyse wurde unlängst von einer parlamentarischen Untersuchungskommission für große Teile Brasiliens, zahlreiche andere Millionenstädte bestätigt. Heute sehen Soziologen und Menschenrechtler viele Parallelen zur Lage in Kolumbien, in Afrika. Fernando Olinto, der als Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen” bereits in Ruanda und Bosnien im Einsatz war, konstatiert, daß in Brasilien ebenso wie in Afrika bewaffnete Jugendliche, Kindersoldaten Terror ausüben, sich die Bilder gleichen. Rio de Janeiros Stadtautobahnen zum internationalen Flughafen müssen regelmäßig wegen Banditengefechten, bewaffneten Raubüberfällen auf LKW, Busse, PKW gesperrt werden. Es reicht, sich ein solches Szenario für touristische Städte Deutschlands vorzustellen – und die entsprechenden Wirkungen auf die Fremdenverkehrsbranche. Um so erstaunlicher, daß von Brasiliens Autoritäten die enormen Einnahme- und Arbeitsplatzverluste etwa im Tourismus hingenommen werden – während die global vernetzten neofeudalen Verbrechermilizen ihre Profite ständig steigern. Immerhin werden alleine in Rio de Janeiro laut Polizeiangaben von Comando Vermelho(Rotes Kommando) und Terceiro Comando(Drittes Kommando), den beiden wichtigsten Gangsterkartellen Brasiliens, monatlich sechs Tonnen Kokain verkauft – in Lateinamerikas Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, mit über tausend deutschen Firmen, etwa ebensoviel. Gleich nach den USA ist Brasilien zweitgrößter Kokainverbraucher. Die rivalisierenden Milizen sind zudem auf illegalen Waffenhandel, Serienentführungen, Frachtraub und Banküberfälle spezialisiert. Selbst zur Machtdemonstration feuern sie täglich Mpi-Salven ab – erhöhen damit den psychischen Druck besonders auf die Slumbewohner. Würde, wie viele erwarteten, Staatschef Lula sofort nach seinem Amtsantritt die Armee einsetzen, um den Stadtkrieg zu stoppen, Millionen von Slumbewohnern zu ihren Basis-Menschenrechten zu verhelfen? Immerhin hatte dies der neue Staatssekretär für öffentliche Sicherheit, Josias Quintal, gleich im Januar öffentlich vorgeschlagen. Doch die Lula-Regierung lehnte ab – ein Einsatz der Streitkräfte komme nicht in Frage. Auch Sozialexperten ist deshalb ein Rätsel, wie Staatschef Lula sein groß angekündigtes Anti-Hunger-Programm und andere Maßnahmen zur Elendsbekämpfung durchsetzen will. Schließlich lassen die Verbrechersyndikate bislang staatliche Präsenz in den riesigen Slums kaum zu, verbieten häufig sogar kirchlichen Sozialwerken und Nicht-Regierungs-Organisationen den Zutritt. Nach wie vor ist in Brasilien, ebenso wie in Argentinien, das Schicksal der zur Diktaturzeit „Verschwundenen” ein heißdiskutiertes Thema – jene Ungezählten, die man im „Guerra urbana” tötete, auf geheimen Friedhöfen verscharrte, oder gar verbrannte, wird dagegen so gut wie völlig ignoriert.
Tags: Angeli, Brasiliens Vergangenheitsbewältigung., Folha de Sao Paulo
Ausriß März 2012.
“Boaventura hat Sehnsucht nach der Diktatur. Felinto betont, daß die Folter nötig war. Olinto meint, daß Einkerkerungen und Tötungen gerechtfertigt waren. Frota sagte, daß man in dieser Zeit gut lebte.”
Übereinstimmungen mit Einschätzungen von damals und heute in Brasilien lebenden Mitteleuropäern sind sicher reiner Zufall. http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/19/gestapo-folter-unter-brasiliens-diktator-getulio-vargas-trager-des-bundesverdienstkreuzes-der-fall-des-deutschen-harry-berger/
http://www.bundestag.de/dasparlament/2010/12/Beilage/006.html
Diktaturopfer – getötete Regimegegnerin, Foto von kirchlichen Menschenrechtsaktivisten.
Die 21 Jahre währende Diktatur begann mit dem Militärputsch von 1964 – 1969 schloß Bonn mit dem Militärregime laut Jahreschronik ein Kulturabkommen.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/tagfuertag/1698492/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
Pressefreiheit in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/01/26/brasiliens-medien-berichten-in-groser-aufmachung-uber-den-absturz-auf-dem-pressefreiheit-ranking-von-reporter-ohne-grenzen-warum-brasilien-aus-mitteleuropa-soviel-lob-erhalt/
Montag, 24. Oktober 2011 von Klaus Hart **
Laut “Veja” hätte das abgezweigte Geld u.a. ausgereicht, das Elend in Brasilien auszutilgen. Lula selbst ist laut Medienangaben unterdessen zum Dollar-Millionär aufgestiegen – hat wegen seiner Politik, vor dem Hintergrund der Korruptionsfakten, der sozialen Kosten, aus Mitteleuropa enormes Lob erhalten, dazu Doktorhüte und Preise.
Laut Befreiungstheologe Frei Betto, Ex-Lula-Berater beim Anti-Hungerprogramm, liegt die Zahl der in extremer Armut, also in Hunger und Misere, lebenden Brasilianer, nicht wie offiziell angegeben, heute bei 16 Millionen, sondern ist doppelt so hoch. Nach derzeit geltendem mitteleuropäischen Werteverständnis hat damit die internationale Wirtschafts-und Finanzkrise, wie die Lula-Rousseff-Regierung verbreiten ließ, auf Brasilien nur geringe Auswirkungen gehabt.
Brasiliens investigative Journalisten wiesen indessen auf Rekordentlassungen, den Stopp vieler Industrieprojekte, auf Exportprobleme und Deindustrialisierung, geschönte offizielle Statistiken.
“Krise – was denn für eine Krise?” – Kloake-Slum in Sao Paulo.
Tags: Brasiliens Arme, Brasiliens Unterbeschäftigung
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/01/18/sao-paulo-fotoserie-uber-brasiliens-megacity/
Ausriß O Globo.
Tags: Brasiliens Sondergerichte des organisierten Verbrechens, Folter
In Rio de Janeiros Slum-Region “Complexo da Maré” ist die Polizei bei einem Einsatz den Angaben zufolge zufällig auf ein Sondergericht gestoßen, das bereits einen Mann gefoltert und erschossen hatte, während ein weiterer zur Exekution vorgesehen war und gerade sadistische Folterungen erlitt. Die Banditen des Sondergerichts hatten ihm bereits einen Teil des Fußes abgetrennt, er schwebt in Lebensgefahr. Sondergerichte dieser Art sorgen in den brasilianischen Slums unter Millionen von Menschen für ein Klima von Angst und Terror – in in neoliberalen Ländern Europas stoßen derartige Fakten seit Jahren fast durchweg lediglich auf Desinteresse und extreme Herzenskälte.
“As cenas de terror eram feitas próximo ao corpo de um outro homem com sinais de espancamentos. O homem torturado de 34 anos, foi levado para o Hospital Souza Aguiar, no Centro, com ferimentos feitos com machado, um tiro na barriga, outro na perna direita, e o braço quebrado.” (O Dia)
Opfer der Banditen-Diktatur in Rio, Ausriß. In Lula-Amtszeit lebendig verbrannt – laut Presseberichte. “julgada, queimada e morta”. Den Angaben zufolge wurde die Frau von einem Banditen-Sondergericht vor der grausamen Hinrichtung auch sadistisch gefoltert, wie entsprechende Wunden am Körper zeigten. Die Frau befand sich mit ihren fünf kleinen Enkeln in der Kate, als sie von den Banditen herausgezerrt und zur “microondas”-Stelle gestoßen wurde. Der Fall erregte bei sogenannten Dritt-Welt-NGO keinerlei Aufmerksamkeit – die Fortexistenz der Slum-Sondergerichte war natürlich auch auf den Weltsozialforen in Brasilien nie ein Thema. Entsprechende brasilianische Presseberichte waren keineswegs selten, erschienen teilweise als Aufmacher mit Schlagzeilen in Qualitätsmedien – just während der Lula-Rousseff-Amtszeit:”O Tribunal do trafico em acao.” Auch der gefolterte und lebendig verbrannte TV-Reporter Tim Lopes wurde Opfer eines Slum-Sondergerichts. In Sao Paulo berichteten die Medien u.a. 2010 über derartige Sondergerichte in der Megacity, die Menschen lebendig verbrennen. Ein Foto zeigt Polizisten mit Überresten einer Leiche – die Bildunterschrift lautet:”Leiche des Opfers eines Tribunals des Verbrechens wird abtransportiert.”
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/ewelten/1651902/
Der katholische Favela-Priester Luis Antonio Pereira Silva in Rio de Janeiro im Website-Interview:”Die Polizei kommt in die Favelas und ist morgen wieder weg – doch die Banditenkommandos bleiben.”
„Kindsmord am Amazonas“: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/18/brasilien-kindsmord-am-amazonas-ard-weltspiegel-berichtet-erstmals-uber-infantizid-bei-brasilianischen-indianerstammen/
Infantizid in Brasilien – die Sicht der katholischen Kirche: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/26/movement-against-indigenous-infanticide-open-letter/
« „Wieviel Portugal steckt in Brasilien?“ Hintergrund – Brasiliens Arbeiter-Unruhen auf staatlichen Baustellen für Amazonas-Wasserkraftwerke Jirau und Santo Antonio – Rousseff-Regierung schickt Truppen. »
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