Neue Gruppenvergewaltigung gemeldet – aus Nordostbrasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/04/11/brasilien-14-jahrige-schulerin-durch-funf-brasilianer-vergewaltigt-laut-polizei-tatort-im-nordosten-wo-vergewaltigungen-ebenfalls-wie-in-rio-de-janeiro-alltaglich-sind/
André Martins gegenüber der Qualitätszeitung „O Estado de Sao Paulo“: „Wir erleben eine Täuschungspropaganda über die Gewaltsituation. Brasilien durchlebt derzeit eine Art von wildem Entwicklungskapitalismus, der im Grunde kein Geld für Soziales ausgeben will, sich nur für Gewinn um jeden Preis interessiert. Wir haben keinen Sozialpakt in Brasilien. Es gibt keinen Diskurs für einen wirklichen Aufbau eines Landes für alle. Was es gibt, und was noch trauriger ist, sogar akzeptiert wird, sind individuelle Interessen – oder von kleinen geizigen Gruppen. Aber keine Bereitschaft, über das Kollektive nachzudenken. „
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Mentalitätsreflexionen von Austregesilo de Athayde: “Halb Kind, halb Teufel…”
Bundesaußenminister Steinmeier vor seiner Reise 2015 nach Brasilien:”Wir teilen ein Fundament gemeinsamer Werte und kultureller Verbundenheit.”
Möglichkeiten, die sich aus der Fußball-WM und Olympia ergeben, so Martins, würden vertan. „Es gibt den allgemeinen Eindruck, daß alles, was heute in Brasilien getan wird, nur dem Bauen einer Fassade dient. Das ist sehr enttäuschend. Und aus meiner Sicht verstärkt das bei Personen mit geringerer psychischer Struktur die Idee, daß Brasilien ein Niemandsland ist, wo man alles tun kann, inclusive, schwere Verbrechen zu begehen.“
In der UNESCO-Bildungsstatistik liegt Deutschland auf Platz 13, Brasilien nur auf Platz 88. Entsprechend gering ist in Brasilien u.a. das Verständnis für deutsche Kultur – erheblich größer in Ländern Lateinamerikas, die bessere Plätze belegen. http://www.unesco.org/new/fileadmin/MULTIMEDIA/HQ/ED/pdf/gmr2011-efa-development-index.pdf
Martins zum jüngsten schweren Busunglück von Rio, bei dem ein Universitätsstudent einen Busfahrer mehrmals ins Gesicht trat, sodaß dieser ohnmächtig wurde, der Bus von einer Hochstraße herabstürzte – mindestens sieben Tote, viele Schwerverletzte: „Das öffentliche Nahverkehrssystem von Rio und Sao Paulo ist schlecht. Ab einem bestimmten Alter oder einem bestimmten sozialen Standard will hier niemand mehr mit dem Bus fahren – im Gegensatz zu den USA und Europa.“
Martins erinnert an die Disco-Tragödie von Santa Maria, die schlechten Beispiele aus Brasilia in puncto Korruption, zum Beispiel dem Mensalao-Skandal.
Zur sadistischen Gewalt in Brasilien:“Was wahrzunehmen ist, ist fehlendes Identifizieren mit dem anderen. Diese Täter manifestieren Perversität und Indifferenz gegenüber dem anderen…Die Propagierung, aus Markt-oder Finanzinteresse, eines Ideals des perfekten Körpers, der perfekten finanziellen Glückseligkeit, von Sex-Performance, schafft sozialen psychologischen Druck, der bei Menschen, die sich fern von diesem Ideal empfinden, ein negatives Gefühl schafft, das sich in Ressentiments äußern kann. Und, in gravierenden Fällen, in Gewalt, Zerstörung gegenüber dieser Gesellschaft, in die sie sich nicht eingliedern können.“
Martins führt den „gewalttätigen Charakter der brasilianischen Gesellschaft“ vor allem auf die Sklaverei zurück. Damals seien die Sklavinnen auch sexuelle Sklavinnen gewesen. „Dies verbreitete die Auffassung, Wahrnehmung, daß es legitim sei, den anderen sexuell zu unterwerfen bzw. mit Gewalt – daß Sex zwischen Partnern nicht gut und einvernehmlich sei und auch nicht zu sein brauche – also auch nicht gemeinsamer Lustgewinn oder eine geteilte Freude.“
In nahezu allen mitteleuropäischen Medien sind Kultur-und Mentalitätsvergleiche, die solche Faktoren beleuchten, aus Gründen der Berichterstattungsvorschriften politischer Korrektheit untersagt. Um so mehr, da nicht wenige Brasilianer betonen, das Land sei nach wie vor sehr stark von Indianermentalität geprägt, vor allem in jenen Regionen, in denen eine Vermischung von Indianern und Nicht-Indianern stattgefunden habe.
Sklaverei unter Indianerstämmen Brasiliens: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/12/29/sklaverei-unter-indianerstammen-lateinamerikas-vor-der-ankunft-der-portugiesen-war-im-heutigen-brasilien-gemas-historischen-quellen-die-sklaverei-bereits-unter-den-indianern-ublich/
Sklaverei in Afrika und Brasilien: Historiker betonen, daß bedeutende Sklavenhändler Brasiliens Schwarze waren. Und daß schwarze Sklaven, die freikommen konnten, in Brasilien sofort Sklaven kauften, mit ihren eigenen Brüdern handelten. Bei einem großen Sklavenaufstand in Bahia wurden die Revoltierenden durchweg von Sklaven, die feindlichen Stämmen und Völkern angehörten, denunziert.
Nur wenige brasilianische Historiker wagen sich mit der Forderung an die Öffentlichkeit, endlich von unzulässigen Vereinfachungen zu lassen, Tabus zu brechen. Professor Manolo Florentino ist einer davon, lehrt an der Universität von Rio de Janeiro, wies sich durch ein vielbeachtetes Buch als Sklavereiexperte aus. Er wirft vielen Historikern von heute vor, schlichtweg zu unterschlagen, wie die afrikanischen Eliten beim Menschenhandel mitmachten. “Männer, Frauen und Kinder wurden versklavt und exportiert durch Afrikaner – ein Fakt, den auch die brasilianische Geschichtswissenschaft vergessen will.“ Für Florentino bringt es nicht weiter, die aktive Rolle der Afrikaner am Sklavenhandel unerwähnt zu lassen, zu verstecken. Auf beiden Seiten des Atlantik, in Afrika und in Brasilien, existierten archaische Gesellschaften – verbunden durch bestimmte Wertvorstellungen und eben den Handel mit Afrikanern. Jahrzehnte vor der offiziellen Sklaverei-Abschaffung kam es zu einem bezeichnenden Phänomen: Manche humaner gesinnten weißen Sklavenhalter gaben Schwarzen die Freiheit, nicht wenigen Afrikanern gelang es, sich freizukaufen. Kamen diese zu Geld, taten sie etwas Überraschendes – sie, die Ex-Sklaven, kauften sich auf den Menschenmärkten Rio de Janeiros oder Bahias Afrikaner, wurden somit selber Sklavenhalter. Verschleppte Afrikaner beuteten, so absurd es klingt, fern der Heimat ebenfalls verschleppte Leidensgenossen aus. Sklaverei – heute in Brasilien und in Afrika nur noch ein Thema für Historiker, Anthropologen ?Vor allem brasilianische Bischöfe sprechen von einer tiefverwurzelten Sklavenhaltermentalität, weisen auf die extrem kraß ungerechte Einkommensverteilung – und das Fortbestehen von Sklaverei.
Angeli, größte brasilianische Qualitätszeitung “Folha de Sao Paulo” Ende Oktober 2012 politisch unkorrekt zur Gewaltkultur in Lateinamerikas größter Demokratie:”Ja, wir überfallen, vergewaltigen und morden. Das hat einen Superspaß gemacht.”
Ausriß. Lula bei Schmidt in Hamburg.
“Ich glaube, ihr seid auf einem fabelhaft gutem Wege.” Schmidt zu Lula 2009…
Schmidt:”Ich kenne Oscar Niemeyer – und ich habe einen großen Respekt vor ihm…Ich war einer, der dafür gesorgt hat, daß er den japanischen kaiserlichen Kunstpreis für Architektur bekommen hat. So habe ich Oscar Niemeyer in Tokio kennengelernt.”(Extrem stark beschnittenes Gespräch Schmidt-Lula auf youtube)
Henry Kissinger spricht auf Trauerfeier für Helmut Schmidt in Hamburg:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/11/17/henry-kissinger-haelt-rede-auf-staatsakt-fuer-helmut-schmidtspd-am-23-11-2015-in-hamburg-kissinger-und-schmidt-viele-gemeinsame-wertvorstellungen/
DIE ZEIT und der Tod des Mitherausgebers Helmut Schmidt/SPD 2015 – was alles in den Nachrufen fehlt:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/11/12/die-zeit-und-der-tod-des-mitherausgebers-helmut-schmidtspd-2015-was-alles-in-den-zeit-nachrufen-fehlt/
Kuriose Mythenbildung um Schmidt und Lula:
Kreuz und Gedenkstein am Ort des Massakers: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/16/kreuz-und-gedenkstein-am-ort-des-massakers-an-bauarbeitern-brasilias-oscar-niemeyer-der-die-errichtung-brasilias-leitete-sagt-im-dokumentarfilm-von-dem-blutbad-nie-etwas-gehort-zu-haben/
Wie in deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften die Situation interpretiert wird:
Brasilianer vergewaltigte vierjähriges Mädchen in der Schweiz:
Vor dem Hintergrund des wachsenden Ausmaßes der Gewalt gegen Frauen Brasiliens haben die Landesmedien eine Studie des südafrikanischen Medical Research Council herausgestellt, derzufolge über 27 Prozent aller Südafrikaner angegeben haben, mindestens eine Frau vergewaltigt zu haben, 7,7 Prozent davon über zehn Frauen.
Jeder fünfte Vergewaltiger habe Aids.
74 Prozent jener, die sich zur Vergewaltigung bekannten, sagten, sie hätten mit weniger als 20 Jahren erstmals vergewaltigt, 10 Prozent sogar mit weniger als zehn Jahren. Jeder Zehnte sagte, es gemeinsam mit Vergewaltigerbanden getan zu haben.
Besonders hoch (27,8 Prozent) war die Aidsrate bei jenen Männern, die andere Männer vergewaltigt hatten.
Alice Schwarzer 2003: Ein Kölner Polizist hat mir kürzlich erzählt, siebzig oder achtzig Prozent der Vergewaltigungen in Köln würden von Türken verübt. Ich habe ihn gefragt: Warum sagen Sie das nicht, damit wir an die Wurzeln des Problems gehen können? Er antwortete: Das dürfen wir ja nicht, Frau Schwarzer, das gilt als Rassismus.
Deutschlandjahr 2013, Frankfurter Buchmesse – Gastland Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/10/17/frankfurter-buchmesse-2013-gastland-brasilien-literatur-und-landesrealitaet-keinerlei-veranstalterhinweis-auf-gravierende-menschenrechtslage-auf-daten-und-fakten-von-amnesty-international-und-bras/
Mentalität, soziokulturelle Faktoren: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/04/07/brasilien-das-land-der-selbsttauschung-philosoph-und-psychoanalytiker-andre-martins-analysiert-vor-deutschlandjahr-2013-die-situation-des-tropenlandes-aufgebaute-fassade-hinter-der-unsere-g/
Scheiterhaufen-Kultur – Schweigen deutscher Politiker etc.: http://www.deutschlandradiokultur.de/moderne-scheiterhaufen-aus-autoreifen.1013.de.html?dram:article_id=167263
Fußball-WM und Brasilienklischees (1)
–von Klaus Hart, Sao Paulo–
Im Vorfeld der Fußball-WM feiern in Deutschland dümmliche, meist von Werbung, Industrie und Auslandspropaganda vorgegebene Brasilienklischees wieder Triumphe. Das Tropenland wird nur zu oft auf Karneval, Alegria ohne Ende, Samba, Rio de Janeiro und seine Traumstrände, auf schöne, sinnliche Frauen reduziert. So als wären umgekehrt alle Deutschen absolute Fans des Münchner Oktoberfests und seiner Blasmusik. „O Brasil esta na moda“, Brasilien ist in Mode, konstatieren amüsiert die Kolumnisten der brasilianischen Qualitätszeitungen und machen sich bei jeder Gelegenheit über die realitätsfremde Sicht des Auslands lustig.
Bestsellerautor Joao Ubaldo Ribeiro aus Rio de Janeiro konstatiert bei Deutschlandreisen immer wieder, daß deutsche Medien, aber auch die Normalbürger, von absurdesten Brasilienklischees einfach nicht lassen wollen. Und da Ribeiro nebenbei auch noch ein großer begnadeter Zeitungskolumnist ist, informiert er seine Landsleute regelmäßig mit beißendem Spott über das verquere Brasilienbild nicht nur in Europa: “In der Ersten Welt weiß man nichts über Brasilien. Wenn man die Mehrheit der Deutschen bittet, mal was über Brasilien zu sagen, dann kommt, ach so ja, Pelè, Fußball, Karneval, Nackte. Die Hauptstadt? Äh, Rio de Janeiro. Die wissen nichts!“ Ribeiro liegt so schief nicht.
–Samba oder Sertaneja?–
Vor der WM werden Brasilien und sein Fußball wieder einmal gnadenlos mit Samba zusammengerührt. Samba-Fußball, Samba-Kicker, Samba-Giganten. Und Lothar Matthäus, der gerade im südbrasilianischen, nicht gerade Samba-geprägten Curitiba als Trainer anfing, wird gar zum Samba-Lothar. Man weiß es doch, wird einem eingebleut – in Brasilien ist feuriger Samba am beliebtesten – und im Karneval tanzt zu mitreißenden Sambarhythmen nicht nur ganz Rio Tag und Nacht. Alles falsch, alles frei erfunden, clevere Mediensteuerung machts möglich. Ein Blick in die brasilianischen Hitparaden, auf die Listen der meistgespielten Titel, der meistverkauften CDs genügt. Und auch die Musikexperten, die Leute auf der Straße bestätigen es: Samba war in Brasilien noch nie tonangebend, ist bis heute in vielen Landesteilen überhaupt nicht populär. Benedita Souza aus dem Samba-armen Nordosten lebt heute in der brasilianischen Kultur-und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, auch nicht gerade ein Samba-Pflaster:“Nein, daß alle Brasilianer Samba mögen, gar Samba im Blut haben, stimmt überhaupt nicht. Nur eine Minderheit kann Samba tanzen, ja, nur eine Minderheit. Denn Samba muß man erst mal lernen. Nur ein bißchen mit den Hüften wackeln, das kann ja jeder. Brasiliens populärste Musik ist nicht Samba, sondern Sertaneja, tiefromantisch.“
Brasiliens größte Qualitätszeitung, die Folha de Sao Paulo, hats per Umfrage ermittelt: Die prägende, meistgehörte Musik von Lateinamerikas Kultur-Megacity ist Sertaneja, gefolgt von anderen Genres der Musica Popular Brasileira. Erst an dritter Stelle folgen Samba/Pagode, danach Rock. Wer sind die Megastars Brasiliens? Folgt man den Klischee-Vorgaben deutscher, auch multikultureller Medien, müßte es sich um Gilberto Gil, Marisa Monte, Lenine, Chico Cesar, Maria Bethania oder Caetano Veloso handeln – letzterer wird allen Ernstes gelegentlich als „größter Musikstar Brasiliens“ gepriesen. Ein schlechter Witz. Die beiden Megastars Brasiliens heißen Zezè di Camargo und Luciano, leben in Sao Paulo und komponieren, spielen Sertaneja. Die 2005 in Brasiliens Radios am meisten gespielte Musik, „Fui Eu“, kam von diesem Duo, ermittelt von „Crowley Broadcast Analysis“. Samba folgt stets deutlich abgeschlagen. Nicht zufällig holte sich der rechtssozialdemokratische Staatschef Lula für seine Wahlkampfkundgebungen als Anheizer keine Sambaband, sondern die Grammy-Preisträger Zezè di Camargo und Luciano. Auch andere Sertaneja-Stars, etwa Bruno und Marrone, sind weit populärer als die in Deutschland immer herausgestellten Musiker. Und schauen wir uns die landesweiten CD-Verkäufe der letzten Jahre an, wirds noch kurioser: Pop und Rock, ganz überwiegend brasilianisch, liegen an erster Stelle, gefolgt von Sertaneja und — religiöser Musik von Kirchen und Sekten. Erst danach folgen Samba/Pagode. Die zuständigen Statistiker der Musikbranche verweisen indessen darauf, daß auf eine legal im Laden verkaufte CD bis zu zehn schwarz gepreßte und vertriebene Scheiben kommen. Schwerlich zu übersehen, welche Sparte die Raubpresser bevorzugen – Sertaneja. Überall in den Einkaufsstraßen Brasiliens werden nicht nur die CDs von Zezè di Camargo und Luciano teils zum Stückpreis von umgerechnet siebzig, achtzig Cents geradezu massenhaft angeboten. Brasiliens erste nicht von Indios gespielte Musik war Sertaneja, nicht Samba. Kurios, wenn daher Kulturminister Gilberto Gil jetzt in Deutschland mit der Feststellung zitiert wird, „Samba und Fußball sind unsere wichtigsten Wurzeln“. Samba sei die für Brasilien typischste Musik, wird anderswo behauptet – und natürlich nicht bewiesen. Treten an Rio de Janeiros Stränden große Namen des Samba auf, kommen fünf-bis zehntausend. Anfang Februar spielten an selber Stelle Sänger einer Sektenkirche – laut Polizeiangaben kamen 300000.
Ein deutscher Kultur-Fernsehsender schreibt indessen gar in einer Vorankündigung:“In Brasilien regiert der Funk die Musikszene…Samba und der Karneval gelten als soziale Beruhigungsmittel, die den Ausbruch einer starken Bewegung zur Bekämpfung der akuten Ungerechtigkeit verhindern.“ Und über das Strandviertel Copacabana erfahren wir aus derselben Quelle:“Warum ist dieser älteste Teil Rio de Janeiros mit seinen 600000 Einwohnern so berühmt geworden?“ Die Bewohner Rios halten die Altstadt, und nicht das vergleichsweise junge Copacabana, für den ältesten Teil der Stadt, und sind der Meinung, in Copacabana wohnen nur an die 200000 Menschen. Wer hat wohl Recht?
–Karneval—
Alle Brasilianer karnevalsverrückt? Feiert alles wirklich bis zur Ekstase?Von wegen. Seit in den achtziger Jahren die Gewalt in den Städten geradezu sprunghaft zunahm, blieben immer mehr Brasilianer dem Carnaval lieber ferne. Sich köstlich amüsieren und gleichzeitig vor Überfällen mit Messer und Revolver auf der Hut sein – das geht nicht zusammen. In Karnevalshochburgen des Nordostens begeben sich nach dreiundzwanzig Uhr vielerorts die meisten Narren schleunigst nach Hause, weil dann Schüsse zu hören sind, Überfälle drohen. Nach seriösen Erhebungen mag gerade mal ein Drittel der Brasilianer das Volksfest, beteiligt sich mehr oder weniger intensiv – der Rest bleibt demonstrativ ferne, hat für Karneval ähnlich viel übrig wie der Durchschnittsdeutsche. Beeindruckend, wieviele Bewohner Rio de Janeiros die Stadt kurz vorm Karneval verlassen, wie ausgestorben daher viele Viertel wirken. Deutsche Medien berichtens anders. „Wild und enthemmt“ gehe es besonders im Rio-Karneval zu, melden deutsche Gazetten. Zum Beweis werden Fotos von der großen, weltweit einzigartigen Parade der besten Sambaschulen gedruckt. Barbusige Frauen in Mini-Tangas wirklich überall, wird suggeriert. Natürlich frei erfunden. Jene Vorzeige-Models der Sambaschulen, auf die sich die Kommerz-Fotografen stürzen, kommen wohlbedeckt und wohlbewacht zu den Aufstellungsräumen der Sambaschulen. Erst dort, zum Paradestart, legen sie auf Allegorienwagen oder vor den Blocks der Perkussionisten ihre Hüllen ab – und ist die Paradestrecke abgetanzt, bedeckt man sich schnellstens wieder. So wies von den allgegenwärtigen heftig machistischen Partnern befohlen wird. Standardregel im Karneval: Jene am wenigsten bekleideten Karnevalstänzerinnen werden am meisten machistisch bewacht – ob von Freund, Ehemann, Bruder, Vater etc. Nur zu oft hört man gerade in Rio von einstmals karnevalsbesessenen Frauen resigniert:“Mein Mann hat mich zwar im Karnevalsgetümmel kennengelernt, mir aber danach den Karneval verboten.“
–Fußball—
Und die Fußballbegeisterung? Wird wirklich überall an den Stränden, in jeder Straße, in jeder Gasse gekickt? Gemäß Umfragen tritt die große Mehrheit der Brasilianer nie oder nur höchst selten gegen einen Ball. Achtzig Prozent leben in Städten wie dem Betonmeer Sao Paulo. Benedita Souza aus Sao Paulo beobachtet: “Fußball geht eigentlich nur in den Clubs. Es ist doch alles zugebaut. Den Jugendlichen fehlt Platz zum Spielen. Deshalb sitzen die meistens vor dem Fernseher.“ Stimmt. Auch weils vielen auf der Straße zu gefährlich ist. Brasiliens Heranwachsende hocken mehr als doppelt solange wie ihre deutschen Altersgenossen vor der Glotze – durchschnittlich dreieinhalb Stunden pro Tag, liegen damit weltweit an der Spitze.
–Strand—
Aber geht denn bei diesem herrlichen Tropenwetter nicht wenigstens in Rio alles an den Strand, planscht nach Herzenslust in den Copacabanawellen? Ist der Brasilianer nicht ein absoluter Strandfan?
Noch so ein Klischee. Selbst in Rio ist es nur eine Minderheit – Fernsehen oder durch Einkaufszentren schlendern, ziehen in der Freizeit die meisten laut Umfragen vor. Nicht wenige Europäer gehen an Rios Traumstrände, etwa den von Ipanema, und meinen danach, alle brasilianischen Frauen und Männer hätten diese Gardemaße wie das dort größtenteils aus Mittel-und Oberschicht stammende, wohlernährte und wohlgepflegte, hochprivilegierte Publikum. Doch weit mehr „Cariocas“ hausen in den rasch wachsenden Slums, müssen die neufeudale Diktatur der hochbewaffneten, sadistischen Milizen des organisierten Verbrechens ertragen, erlebten Morde, Massaker aus nächster Nähe. Armut, Elend, schlechte Ernährung sieht man ihnen nur zu oft an, die von Soziologen, Anthropologen betonte „soziale Apartheid“ Brasiliens hinterläßt natürlich Spuren. Brasilianer, so besagen Weltumfragen, sind am eitelsten, legen am meisten Wert darauf, körperlich attraktiv zu sein. Am Strand wird der Körperkult auf die Spitze getrieben. Nur zu viele aus der Unterschicht fühlen sich in diesem Ambiente von Model-Schönheitskonkurrenz höchst unwohl. Benedita Souza formuliert es drastisch so: “Wer zur Unterschicht gehört, wie die große Mehrheit, und kein Geld hat, wird am Strand schief angeguckt, fühlt sich zurückgewiesen, ausgeschlossen, fühlt sich deshalb schlecht. Und bleibt daher lieber zuhause. Die meisten Armen haben schon deshalb keine Zeit für den Strand, weil sie arbeiten müssen, auch am Wochenende. Die Strände liegen meistens weit von den Slums – und wer am nächsten Tag arbeiten muß, überlegt es sich, ob er wegen ein paar Stunden am Meer so weit fährt. “
„Das Leben in Brasilien ist leicht und unbeschwert. Probieren Sie es selbst“, lautet ein Brasilienklischee-Werbespruch in Deutschland. Wo bitte in Brasilien? In den Strandvierteln der privilegierten Minderheit oder in unüberschaubaren Slums, in denen regelmäßig Menschen zerstückelt, lebendig verbrannt werden?
–Brasilienklischees sind Diktaturprodukt—
Brasiliens Kommentatoren erinnern derzeit auch daran: Jenes Klischeebild Brasiliens als Land von Samba, Karneval, Fußball, unbändiger Lebensfreude und Rassendemokratie wurde kurioserweise von Diktator Getulio Vargas, einem Hitlerverehrer und Judenhasser, in den dreißiger und vierziger Jahren produziert, wurde Teil der Auslandspropaganda. Diogo Mainardi, provokanter Kolumnist des führenden Nachrichtenmagazins „Veja“, formuliert es so:“D e r Brasilianer existiert gar nicht, ist eine Täuschung, eine Lüge. Wer den Typus des Brasilianers erfunden hat, war die Getulio-Diktatur. Die erfand eine Rasse, glorifizierte die Mischung zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern – Frucht einer kollektiven Vergewaltigung. Erfunden wurden Mythen, der Fußball, der Karneval, die Populärmusik. Die Getulio-Diktatur erfand d e n Brasilianer, um ihn besser beherrschen zu können.“ Mussolinis Italien, aber auch Hitlers Deutschland seien hier vorbeigekommen, es habe ein „ambiente goebbeliano“ gegeben. „Der Unterschied ist, daß sich Italien und Deutschland von jenem sechzig Jahre zurückliegenden totalitären Diskurs befreit haben. In Brasilien wird er gleich fortgesetzt, werden Ideen von 1930 wiedergekäut. Die großen Namen unserer Intelligentsia und unserer Kultur sind jene alten Kollaborateure der Getulio-Diktatur, die mitgeholfen haben, jenes Image vom Brasilianer zu schmieden.“ Diogo Mainardi nennt Namen wie Architekt Oscar Niemeyer, Lucio Costa, Gilberto Freyre und Vinicius de Morais. „Getulio Vargas wußte, daß man am besten mit Künstlern und Intellektuellen fertig wurde, wenn man ihnen einen Job verschaffte.“
Viele Europäer empfinden die Brasilianer, überhaupt die Lateinamerikaner, als bewunderns-und beneidenswert glücklich. Eine neuere brasilianische Meinungsumfrage bekräftigt diesen Eindruck. Nimmt man für bare Münze, heißt es in der Studie, was die Brasilianer über sich selbst sagen, dann leben sie in einem Land der Glücklichen, hat dort die „Felicidade” die letzten zehn Jahre gar um elf Prozent zugenommen.
Nicht wenige brasilianische Fachleute, darunter Psychologen und Therapeuten, halten indessen diese und ähnliche Umfragen zum Thema Glück angesichts der gravierenden sozialen Probleme für unglaubwürdig, sprechen zudem von einem sehr verengten, widersprüchlichen und fatalistischen Glücksbegriff in dem Tropenland. Das renommierte Meinungsforschungsinstitut Datafolha in Sao Paulo scheint mit der Studie zahlreiche Brasilienklischees vollauf zu bestätigen. Denn immerhin 76 Prozent der rund 185 Millionen Brasilianer bezeichnen sich als glücklich, weitere 22 Prozent als mehr oder weniger glücklich und nur zwei Prozent als unglücklich. Bei den Anhängern der rasch wachsenden evangelikalen Wunderheilerkirchen ist die Glückseligkeit offenbar am allergrößten – nannten sich gar 83 Prozent „feliz”. Stutzig und skeptisch macht indessen, daß nur 28 Prozent der Befragten die anderen Landsleute, also Nachbarn, Bekannte, Freunde, ganz allgemein den Brasilianer, als glücklich einschätzten. Der 35-jährige Luiz Alves beispielsweise haust provisorisch in einer extrem gewaltgeprägten Slumregion der Megacity Sao Paulo, macht schwere, schlechtbezahlte Gelegenheitsarbeit, mußte Frau und Kinder mehrere tausend Kilometer entfernt in einem Elendsviertel des Nordostens zurücklassen und kann sie höchstens ein bis zweimal im Jahr besuchen. Wie fühlt er sich? ”Ich bin mit Sicherheit sehr glücklich. Zwar zähle ich zu denen mit wenig Einkommen, doch ich bin gesund, daher gegenüber anderen direkt privilegiert und deshalb sehr glücklich. Dafür danke ich jeden Tag meinem guten Gott.”Sonia Ramos, vierzig, lebt ebenfalls an der Slumperipherie, hat einen kleinen Sohn. Sie und ihr Mann gingen nur wenige Jahre zur Schule, haben keinerlei Berufsausbildung, machen Gelegenheitsarbeit und gehören ebenso wie Luiz Alves zur armen Bevölkerungsmehrheit. Nennt sich die strenggläubige Sonia Ramos deshalb unglücklich? ”Ich lebe in Frieden, habe die Familie, Gesundheit, und ich habe Gott. In Brasilien ist die Lage schlecht, doch trotz aller Probleme, trotz Gewalt und Arbeitslosigkeit bin ich glücklich.”Psychologen bezweifeln, daß solche Aussagen ehrlich sind, manche empfehlen gar, den Zahlen der Glücksumfrage keinen Glauben zu schenken. Denn Brasilien zählt jährlich über fünfzigtausend Gewalttote, das Hungerproblem ist längst nicht ausgetilgt. Auch die Kirche beklagt fehlende Solidarität in der Gesellschaft. Die renommierte Therapeutin und Buchautorin Anna Veronika Mautner aus Sao Paulo weist auf einen verengten Glücksbegriff im soziokulturellen Kontext Brasiliens. Ihr Urteil über die jüngste Umfrage ist vernichtend. ”Das ist dummes Zeug, das sind Dummheiten. Glück hat zu tun mit Genuß und Zukunftsaussichten. Wenn ich meine Zukunft nicht kenne, fühle ich Unsicherheit. Doch wir in Brasilien wissen nie, wie sich die Organisation der Gesellschaft gestaltet, man hat hier als Person keine Autonomie. Heute ist heute, morgen ist morgen. So gesehen, sind wir nicht verantwortlich für die eigene Zukunft – und können deshalb glücklich sein, falls uns nicht gerade körperliche Schmerzen plagen. Das Potential zum Glücklichsein haben wohl alle hier. Aber diese Fähigkeit auch wirklich auszuleben, ist natürlich etwas ganz anderes. Und fragt mich jemand, ob ich glücklich bin – wieso muß ich dem die Wahrheit sagen?”
Studenten an der Bundesuniversität von Sao Paulo halten die neue Glücksumfrage ebenfalls für unglaubwürdig. Zudem herrsche in Brasilien ein regelrechter sozialer Druck, glücklich zu wirken, persönliche Probleme nicht zu zeigen. Philosophiestudent Danilo Mendes Frei: ”Die Leute sagen tatsächlich, sie seien glücklich, werden selbst in Unglück und Elend immer antworten “ alles okay. Doch echtes, wahres Glück ist natürlich etwas ganz anderes. Bei diesen sozialen Kontrasten trifft man sehr häufig unglückliche Menschen. Will man wissen, wie es den Brasilianern wirklich geht, muß man deren Lebensverhältnisse konkret studieren. Brasilianische Fröhlichkeit verkaufen wir ja sogar im Ausland als nationalen Charakterzug “ das gehört zur Tourismuswerbung, obwohl es eine Lüge ist.”
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Wie funktioniert sozialpsychologisch Karneval in einer Scheiterhaufenstadt, die von täglichen Schießereien, Feuergefechten, zahlreichen Morden und No-Go-Areas geprägt ist? Auf der Berlinale wird im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag „Tropa de Elite” erstmals auch eine u.a. zur Einschüchterung der Slumbewohner übliche barbarische Tötungsart, der Scheiterhaufen aus aufgestapelten Autoreifen, genannt „Microondas”, Mikrowelle, gezeigt.
Beim Drehen der Szene in der Favela ”Morro dos Prazeres” waren laut Presseberichten Dutzende von Banditen, die Mpis, Pistolen und Handgranaten trugen, in der Nähe und schauten zu, gaben aus eigener Scheiterhaufen-Praxis Tips. “Po, der Typ stirbt nicht so, der schreit viel mehr”, sagte einer von ihnen zu den Schauspielern. Die hielten sich, wie es hieß, an die Anweisungen der Banditen, produzierten die Microondas-Szene exakt so. Scheiterhaufen dieser Art loderten bereits häufig in der Amtszeit von Rio de Janeiros Gouverneur Leonel Brizola, der Vizepräsident einer großen weltweiten Parteienassoziation war. Die Favela „Morro dos Prazeres” befindet sich unweit der weltberühmten Paradestraße des Karnevals, dem Sambodrome.
Mancher Zuschauer in Berlin dürfte sich fragen, wie mittelalterliche Scheiterhaufen und ein weltberühmter Karneval in derselben Stadt möglich sind. In Sao Paulo berichteten Augenzeugen, daß in den achtziger und neunziger Jahren bei einer der berühmtesten Sambaschulen der Megacity auf beinahe jeder öffentlichen Vor-Karnevals-Probe im Getümmel Menschen erschossen wurden. Wie es hieß, wurden die Leichen weggeschleift – und das Sambafest ging weiter, ohne Unterbrechung.
Der aus Rio de Janeiro stammende renommierte Therapeut und Kolumnist Jorge Forbes erläuterte entsprechende soziokulturellen Besonderheiten des Tropenlandes im Website-Exklusivinterview und kritisierte dabei auch den Rio-Karneval. „In unserem Land geschehen viele Tragödien, viele schockierende soziale, wirtschaftliche Desaster. Die Brasilianer müßten jedesmal innehalten, und sich einfach sagen: Schluß mit dem Lachen. Doch damit haben Brasilianer im allgemeinen große Probleme – sie sind Selbstbesinnung, Selbstbeobachtung und eben dieses Innehalten nicht gewöhnt. Als ob sie fürchten, an Kreativität, an Lebenslust zu verlieren. Oder gar in eine ausweglose Depression zu verfallen.”
–Flugzeugunglück und Lachen–
Therapeut Forbes bezog sich u.a. auf das letzte große Flugzeugunglück von Sao Paulo, bei dem rund zweihundert Menschen größtenteils in den Flammen eines Airbus umgekommen waren. Von solchen Geschehnissen wolle sich der Brasilianer so rasch wie möglich entfernen, tue dies indessen auf krankhafte Art. Daß direkt am Schauplatz der Flugzeugkatastrophe lachende Menschen waren, Regierungsfunktionäre minutenlang lachten, zudem obszöne Gesten machten, nennt Therapeut Jorge Forbes ebenfalls manisch, krankhaft. Brasiliens Nachrichtenmagazin „Veja” veröffentlichte Fotos von hohen Funktionären der staatlichen Luftaufsichtsbehörde Infraero, die am Unglücksort auf den brennenden Airbus zeigen, irgendeine Bemerkung machen und dann etwa fünf Minuten lang lachen. Auch über die Scheiterhaufen von Rio werden immer wieder Witze gerissen.
”Ich wünschte mir, die Brasilianer würden anders reagieren. Denn daß wir nicht mit Schmerz, mit Schwäche und eigener Zerbrechlichkeit umgehen können, kommt uns teuer zu stehen. Wer die nötige Trauerarbeit nicht leistet, wird nur zu häufig krank, psychisch gestört oder eben gefühlskalt. Hier zeigen sich auch Entsolidarisierung und Individualismus in einer immer egoistischeren Welt. Man schaue sich nur den Karneval von Rio an – er ist nicht mehr Ausdruck der Fröhlichkeit unseres Volkes, sondern eher ein Festival kollektiver Entfremdung, von Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit. Auf Regierungen können wir nicht mehr hoffen, die Zivilgesellschaft muß sich organisieren, jeder von uns muß Verantwortung übernehmen. Die brasilianischen Eliten schotten sich in ihren Privilegiertenghettos, ihren Privatstraßen ab, hinter Stacheldrahtverhauen unter Strom. Wenn man den anderen nicht mehr als potentiellen Freund, sondern potentiellen Feind ansieht, führt dies zu paranoiden Sozialbeziehungen, führt in die Katastrophe.”
Brasilianische Sozialwissenschaftler sowie bekannte Kommentaristen betonen seit Jahren, daß die Auslandspropaganda nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen das Karnevalsklischee weiterhin fördert. Das Klischeebild Brasiliens als Land von Samba, Karneval, Fußball, unbändiger Lebensfreude und Rassendemokratie sei kurioserweise von Diktator Getulio Vargas, einem Hitlerverehrer und Judenhasser, in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts produziert worden. Diogo Mainardo, provokanter Kolumnist des führenden Nachrichtenmagazins „Veja”, formuliert es so:”D e r Brasilianer existiert gar nicht, ist eine Täuschung, eine Lüge. Wer den Typus des Brasilianers erfunden hat, war die Getulio-Dikatur. Die erfand eine Rasse, glorifizierte die Mischung zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern “ Frucht einer kollektiven Vergewaltigung. Erfunden wurden Mythen, der Fußball, der Karneval, die Populärmusik. Die Getulio-Diktatur erfand d e n Brasilianer, um ihn besser beherrschen zu können.” Mussolinis Italien, aber auch Hitlers Deutschland seien hier vorbeigekommen, es habe ein „ambiente goebbeliano” gegeben. „Der Unterschied ist, daß sich Italien und Deutschland von jenem sechzig Jahre zurückliegenden totalitären Diskurs befreit haben. In Brasilien wird er gleich fortgesetzt, werden Ideen von 1930 wiedergekäut. Die großen Namen unserer Intelligentsia und unserer Kultur sind jene alten Kollaborateure der Getulio-Diktatur, die mitgeholfen haben, jenes Image vom Brasilianer zu schmieden.” Diogo Mainardo von „Veja” nennt den in Europa mit Lob und Hudel bedachten Architekten Oscar Niemeyer, aber auch Namen wie den Brasilia-Entwerfer Lucio Costa, ferner Gilberto Freyre und Vinicius de Morais.
Hintergrundtext von 2003:
Fliegende Brandbomben überm Airport
Brasiliens Feuerballon-Freaks riskieren mit ihrem Irrsinnsleidenschaft bewußt-fahrlässig sogar Flugzeugabstürze
Wilson Costa sitzt auf seinem Copacabana-Balkon, säuft ein Zuckerrohrschnäpschen, genießt die erfrischende Abendbrise – da kracht vor ihm ein zwanzig Meter hoher Feuerballon in den völlig ausgetrockneten Hangwald. Silvesterraketen, Böller aller Art explodieren, in Minuten lodern Flammen. Er rennt zum Telefon, alarmiert die Feuerwehr. Weil die sich wie üblich sehr viel Zeit nimmt, greifen solange Costa und die anderen Nachbarn der Rua Santa Clara zu Schlauch und Eimer, richten jedoch kaum etwas aus. Vorne an der Strandavenida ruft alles Ah und Oh, die Touristenmeile hat eine Zusatzattraktion, wenigstens sind es keine Banditenschießereien der Hangslums. Doch was da brennt, ist Naturschutzgebiet mit seltenen, vom Aussterben bedrohten Löwenäffchen, Stinktieren, Fledermäusen, richtigen Vampiren und einer Unzahl brütender Vögel. Tags darauf sind Costa und die Nachbarn verärgert, bedrückt. Das Feuer machte den meisten Tieren den Garaus, die putzigen Äffchen kommen nicht mehr an die Garagen, um sich mit Bananen füttern zu lassen; Jungtiere, Jungvögel verkohlten, zerfielen zu Asche. ”Alles wegen dieser beknackten, verantwortungslosen Ballonfreaks, an denen alle Aufklärungskampagnen abprallen!, schimpft Anwalt Andrè Amorim. Es hätte schlimmer kommen können – mit Mühe und Not gelingt den Feuerwehrleuten, die Flammenwand vor einem nahen Slum zu stoppen; Tausende hätten ihre armseligen Behausungen verloren. Ein wunderschöner Juliabend, Vollmond – ich gehe wie viele Cariocas auf der Promenade direkt unterm Zuckerhut spazieren, schaue auf die Baia da Guanabara. Gelächter, lautes Stimmengewirr aus der offenen Bar ”Garota da Urca, Fußballfans debattieren davor mit dem Bierbecher in der Hand, Angler schauen konzentriert ins Dunkel, wild knutschende Pärchen auf der Mauer vorm Penthaus von Superstar Roberto Carlos. Gegenüber düst eine vollbesetzte Boeing auf Rios Santos-Dumont-Airport zu, das passiert alle paar Minuten. Doch von links aus Richtung Zuckerhut taucht plötzlich fliegender Feuerzauber auf, droht dem Jet in die Quere zu kommen. Von meinem Standort aus scheint eine Kollision fast unabänderlich. Doch der Pilot drückt die Boeing zügig nach unten, landet sicher, nur Sekunden später schlägt der ”Balao de Fogo” neben der Startbahn auf, verglüht, Feuer lodern noch mindestens eine Viertelstunde. Ob die Airportfeuerwehr eingriff, kann ich nicht erkennen. Bei stärkerem Wind wäre in dieser Nacht ein Zusammenstoß dringewesen – seit Jahren Horrorvision in den Cockpits. Denn so ein bis zu sechzig Meter hoher Feuerballon wiegt eine halbe Tonne und schießt, wenn er Rio überfliegt, nicht selten an die einhundertünfzig Kilo Feuerwerksraketen ab. Toll sieht das aus, ein Meisterstück – anfangs bin ich ebenfalls begeistert, klatsche Beifall, finde das Schauspiel klasse, rufe mit den anderen ”Olhai!, mache Passanten auf das Himmelsspektakel aufmerksam. Doch dann attackieren mich Berufspiloten:Was meinst Du denn, was passiert, wenn ein vollbesetzter Lufthansa-Langstrecken-Airbus beim Landeanflug auf so einen Ballon trifft? Ein Wunder, daß noch keine Katastrophe geschah! Denn wegen der niedrigen Anfluggeschwindigkeit sind abrupte Ausweichmanöver nicht mehr drin. Da wird mir mulmig, schließlich sitze ich regelmäßig in solchen Fliegern. Der Experte von der Luftraumüberwachung des Internationalen Airports auf der Ilha do Governador ist genauso schwer beunruhigt und empört wie die Piloten, erklärts mir genau:Das Aufschlagsgewicht eines mittleren Ballons läge bei mindestens dreißig Tonnen. Wenn so ein oft in den Wolken versteckter Balao de Fogo mit seinen Feuerwerkskörpern und Gasbehältern die Maschine streift, gar in eine Turbine gerät – was dann geschieht, kann sich jeder leicht ausmalen. Das Dumme – die Ballons sind mit Radar nicht zu orten. Schon 1996 stürzen über zwanzig dieser ”fliegenden Brandbomben direkt aufs Airport-Gelände, im Jahr darauf bereits über hundert. An Feiertagen starten die Ballonfreaks besonders gerne ihre gefährlichen Dinger. So gehen allein am Muttertag 1998 gleich zwanzig Ballons zwischen Düsenjets aller Größen herunter, es brennt überall, die Feuerwehr hat voll zu tun, Schläuchegewirr auf den Pisten, überall Löschwasserströme. Ein ausländischer Pilot bricht den Start ab, tritt hart auf die Bremsen, als vor ihm so ein Riesending auftaucht, ruft den Tower an:Was ist denn hier los, sowas habe ich noch nie gesehen! Den Passagieren hinter ihm ist ebenfalls überhaupt nicht wohl. Mitte der Neunziger fordern Swissair, Lufthansa und andere Linien Brasiliens Behördern erstmals auf, zwecks Vermeidung von Flugzeugkatastrophen endlich wie vorgeschrieben, gegen die Ballonstarter vorzugehen. Die IATA weist alle angeschlossenen Airlines auf die auch über Sao Paulo und Belo Horizonte genauso drohende Gefahr hin. Denn die ist real – 1995 wird ein argentinischer Jet über Sao Paulo von einem Ballon gestreift, gottseidank geht das glimpflich aus. Einige Gesellschaften wollen daraufhin ihre Flüge in die Zuckerhutmetropole sogar stoppen, lassen sich jedoch von den brasilianischen Autoritäten beschwatzen, davon abbringen. Wie üblich, siehe Menschenrechte oder Amazonasvernichtung, wird nicht Wort gehalten. 1998 etwa schweben mehr Feuerballons als je zuvor im Luftraum, zwingen Piloten zu jähen Kursänderungen. Ich höre es von Nachbarn, Freunden, kriege es mit eigenen Augen mit – selbst Volksfeste, Einweihungen und natürlich die Fußballweltmeisterschaft sind willkommene Anlässe, um die farbenprächtigen Kunstwerke aufsteigen zu lassen. Brigadegeneral Mauro Gandra, Präsident des Syndikats der nationalen Fluggesellschaften spielt erneut den Rufer in der Wüste, warnt vor ”bisher unbekannten Katastrophen der Zivilluftfahrt über den Großstädten, erläutert die Wirkung aufprallender Ballon-Gasbehälter. Auf dem Airport kann man jene dreiunddreißig speziell ausgebildeten Feuerwehrleute beobachten, wie sie rund um die Uhr damit beschäftigt sind, anfliegende Ballons per Fernglas zu erkennen, mühselig mittels Stangen und Hochdruck-Wasserstrahlen möglichst von Pisten und Treibstofftanks fernzuhalten – was offensichtlich selten gelingt – wie am Muttertag. Unweit des Airports stehen Großraffinerien – deren Ballon-Warntrupps konnten bisher eine Katastrophe verhindern, Feuer aber nicht. Allein in Brasiliens Festmonat Juni stürzen schließlich pro Tag drei fliegende Brandbomben aufs Werksgelände. Garnicht weit von der Airport-Insel Ilha do Governador liegt das kleine idyllische Eiland Paqueta – wäre ich an einem wunderschönen Sonntag erst mit dem letzten Dampfer in die Stadt zurückgefahren, hätte mich wohl eine besonders fulminante Explosion halbwegs erwischt. Denn offenbar ist es ein Balao de Fogo, der in der Baia da Guanabara aufs größte Munitionslager der Kriegsmarine fällt, eine Kettenreaktion auslöst, die mehrere Tage andauert. Ein Depot nach dem anderen fliegt in die Luft, sogar mit Napalm, mit Exocet-Raketen, nahebei auf den Ausflugsdampfern geraten die Leute nicht nur wegen des enormen Feuerscheins, des unaufhörlichen Krachens, sondern auch wegen der Druckwellen in Panik, die jedes Schiff hin-und herwedeln. Ich sitze schon im Stadtteil Lapa auf dem Balkon, wundere mich, wo urplötzlich diese starken Böen herkommen, Bananenstauden, Baumäste abbrechen. Hinter mir, in der City, immerhin zwölf Kilometer vom Munitionsdepot entfernt, zersplittern in Geschäftshäusern die Scheiben, fallen auf die belebte Avenida Rio Branco am Opernhaus. Doch die Ballonfans ficht all dies nicht an – ihre landesweit rund achthundert Clubs mit etwa siebzigtausend Mitgliedern halten sogar Jahreskongresse ab, lassen dabei hunderte Ballons aufsteigen, getreu dem Motto, daß erst richtig scharf macht, was verboten ist. Runter kommen die Dinger immer, jedes Jahr gibts deshalb auch mehr Waldbrände.1997 sind es allein im Teilstaat Rio de Janeiro fast fünftausend; die schlecht bezahlten und noch schlechter ausgerüsteten Bombeiros riskieren deshalb immer öfter ihr Leben. Ballons fallen in entlegene Täler, Wasser kann dorthin nicht mitgenommen werden, Löschflugzeuge gibts nicht. Die Lösung: Feuer gegen Feuer – von den Bombeiros selber wird Urwald abgefackelt, um einen Isolationsgürtel zu schaffen, an dem sich der eigentliche große Waldbrand totläuft. Gerne lassen die Freaks ihre Werke um den Zuckerhut herum schweben – da war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Ballon in das kleine Naturschutzgebiet am Granitkegel fällt, auch dort Flora und Fauna vernichtet. Läßt sich dieser Irrsinn nicht durch Polizei und Umweltbehörden verhindern, fragten sich viele. Zumal die letzten Jahre kein geringerer als Brasiliens Grünen-Präsident Alfredo Sirkis auf dem Chefsessel von Rios Umweltsekretariat saß. Der bekleckert sich überhaupt nicht mit Ruhm, wendet auch das Gesetz gegen Ballonstarter nur äußerst lahm an. Zwar werden jährlich hunderte Baloes de Fogo beschlagnahmt, doch ist das nur ein Bruchteil der gestarteten. Theoretisch muß ein ”Baloeiro für drei Jahre hinter Gitter – nur ist das noch niemandem passiert. 1999 appelliert Oberstleutnant Josè Luis Knoller, Kommandant des Bataillons der schwerbewaffneten Forstpolizei inständig an die Bewohner Rios, doch Ballonverstecke mitzuteilen. Es gibt sogar eine spezielle Telefonnummer dafür. Nur sind die allermeisten Anrufe von Ballonfreaks, die sich einen Spaß daraus machen, falsche Adressen zu nennen, damit das Bataillon auf Trab zu halten, unnütz in Rios enormem Stadtgebiet herumzuscheuchen. Was Comandante Knoller besonders beunruhigt: Immer mehr junge Leute zwischen dreizehn und fünfundzwanzig Jahren werden Baloeiros, fahren zu den entferntesten Festivals in dem Riesenland. 1999 wird in Rio wieder eine Anti-Ballon-Kampagne ausgerufen, zwei Tage später brennt das erste Naturschutzgebiet, haben sechzig Feuerwehrleute die ganze Nacht voll zu tun, die Flammen von menschlichen Siedlungen fernzuhalten. Denn der Ballon geht wieder mal direkt neben Häusern runter, und wieder fliegen zuerst zentnerweise Böller und Raketen in die Luft, versetzen Leute in Angst und Schrecken. Auch kultursoziologisch durchaus hochinteressant, solche Ballonstarts. Bei den ”Festivals der Ignoranz machen immerhin selbst Reiche, hohe Militärs, Richter und sogar die Verbrechersyndikate mit, lassen sich die Herstellung eines einzigen Riesenballons bis zu umgerechnet fünfzehntausend Euro kosten. Einmal geht so ein immenses Ding im Andarai-Slum hoch, der vom Comando Vermelho beherrscht wird. Darunter hängen in kilometerweit lesbarer Leuchtschrift die Namen der zwei Gangsterbosse Danielle und Feijao, welche grade Geburtstag haben, sowie von dreien ihrer vielen Geliebten. Alles wunderschön, in wochenlanger Kleinarbeit von den Slumbewohnern entworfen, komponiert, zusammengebastelt – wers dann schließlich an Rios Nachthimmel sah, zusammen mit dem Ballon-Feuerwerk, vergißt es so bald nicht wieder. Beim Streit um Ballons schießen sich regelmäßig Freaks über den Haufen, Unfälle sind sehr häufig: 1996 sieht in Rio beim Ballonstart ein Vater den neben ihm stehenden kleinen Sohn in Flammen aufgehen und sterben, der einen offenen Eimer mit Benzin trug. 1997 fällt ein Ballon mitten in Rios Zentrum auf eine Hochschwangere, die ganz knapp überlebt. Eine Matratzenfabrik wird komplett zerstört, auch ein großes Möbellager – in einem Autodepot brennen einhundertfünfzig Neuwagen aus, ein von Ballons verursachter Kurzschluß legt die ganze Innenstadt mit ihren zahllosen Banken, Firmensitzen, Kaufhäusern lahm. Manchmal kommen die Ballons gar nicht hoch, explodieren gleich unten, im Gewühl zwischen Garküchen und Schnapsbaracken der traditionellen Juni-und Juli-Feste, Eltern werfen sich über ihre Kinder, Menschen mit Brandwunden schreien vor Schmerz. ”Das ist unsere Kultur der bewußten Fahrlässigkeit, sagt mir ein Carioca, ”schließlich erschießt sich auch alle paar Tage jemand beim Russisch Roulette. Daß wie im niederländischen Enschede ganze Lager mit Feuerwerkskörpern in die Luft fliegen, jeweils zwanzig und mehr Menschen sterben, kommt nicht nur in Rio regelmäßig vor. Auch in Sao Paulo ist ebensowenig Verlaß auf die Ordnungshüter: Militärpolizisten beschlagnahmen immer mal wieder mit finsterer Amtsmiene die schönsten Ballons, starten sie dann mit den Kumpels im Garten als Höhepunkt der Grillfete. Skurril-Bizarres gehört zu Brasiliens Alltag, fehlt Deutschland in diesen Dimensionen fast völlig. Deshalb mußte es in Rio de Janeiro irgendwann zu diesem Zwischenfall kommen: Wegen der zunehmenden Umweltschäden durch Feuerballons trifft sich die staatliche Naturschutzbehörde zu einer Dringlichkeitssitzung, um über Gegenmaßnahmen zu beraten. Die Tagung wird ein Desaster, alle Fachleute müssen fluchtartig das Weite suchen – ein Balao de Fogo ist auf das Gebäude gestürzt, das Dach brennt lichterloh. Seit über zwei Jahren ist die sozialdemokratische Arbeiterpartei PT des gewählten Präsidenten Luis Inacio ”Lula da Silva im Teilstaat Rio de Janeiro mit an der Regierung, seit Jahresanfang ist die Sektenanhängerin Benedita da Silva sogar Gouverneurin. Hatte unter ”progressiver PT-Oberhoheit der Feuerballonspuk endlich ein Ende? Ganz im Gegenteil – da die Gouverneurin nicht gewillt ist, die Macht der hochgerüsteten Verbrechersyndikate über die riesigen Slums zu brechen, starten von dort aus weiterhin Ballons jeder Größe in Rios Nachthimmel. In Sao Paulo, von der PT-Präfektin Marta Suplicy regiert, zeigt das Fernsehen Mitte November 2002 einen riesigen Feuerballon, der abends stundenlang vom Wind getrieben in den Einflugschneisen der Stadtflughäfen schwebt, erst nach Stunden irgendwo ins Häusermeer der Megametropole kracht. Kommentar des TV-Moderators: ”Wieso wird dieser Irrsinn nicht verhindert – dieser Ballon kann bei dem extrem dichten Flugverkehr über Sao Paulo jederzeit einen Absturz mit vielen Toten verursachen – was denken sich diese Ballonstarter eigentlich!”
Die stark angeknackste Carioca-Identität/Mehr Schein als Sein
Jahrzehnte ertragen die Cariocas die Konkurrenz mit Sao Paulo problemlos – das Selbstwertgefühl, die Rio-Identität der einstigen Hauptstädter – nicht ein bißchen angekratzt. Bom, okay, entgegnen viele den Paulistanos – ihr seid reicher, verdient mehr, fahrt die größeren Autos, speist in tolleren Restaurants, habt Lateinamerikas größte Industrien, seid die Wirtschaftslokomotive. Das sieht man euch an – ihr müßt härter arbeiten, seid gestreßt, habt viel weniger Spaß als wir am Leben, müßt aus eurem abgasvergifteten Betonmeer nach Rio kommen, um euch zu erholen, zu amüsieren, um euer vieles Geld ordentlich ausgeben zu können, frei zu atmen. Wir Cariocas dagegen haben unsere wundervollen Strände, den Zuckerhut, Samba und Karneval, wunderschöne erotische, sinnliche Frauen – um all das beneidet uns die Welt – kommt nicht zu euch, sondern zu uns an die Copacabana, weil wir so herzlich, locker, fröhlich, lustbetont, liberal, offen, gastfreundlich sind, in der Kulturhauptstadt Brasiliens leben. Doch das stimmte schon immer nur in Bruchteilen. Rio de Janeiro war eine der größten Sklavenhaltermetropolen. Die Schwarzen – immer weit mehr diskriminiert als in Südafrika, sind bis heute die typischen Bewohner der Slums. 1950 gibt es davon keine sechzig, heute rund achthundert, mit zwei Millionen Bewohnern. Wer in ein bis zwei Ferienwochen an der Oberfläche bleibt, und wie die meisten nur die buntschillernde Erscheinungsebene genießt, kann von Rio, von den Cariocas durchaus begeistert sein. Wer ein wenig an der Oberfläche kratzt, sich reichlich auf portugiesisch mit den Leuten unterhält, stößt zwangsläufig auf Rios tiefe Identitätskrise. Schon 1996 schreibt Rios famoser Gesellschaftskolumnist Millor Fernandes mit Ironie und Galgenhumor, kein anderer Ort der Welt habe so ein perfektes Gleichgewicht zwischen Schönheit und Ekel, natürlicher Pracht und verfaulten Ratten. Ein anderer Illustrer sagt – Rio ist wie eine unglaublich attraktive, schöne Frau – in schmutziger Unterwäsche und mit Aids. Ich habe in Rio Freunde durch die Immunschwächekrankheit verloren – kein Carioca, der nicht gleiches erlebte, gewöhnlich sogar in der Familie, unter den Verwandten. Ausgerechnet Copacabana, in so vielen Sambas und Bossa Novas gerühmt, wird bereits 1991 von den Cariocas selber zum schlimmsten, schlechtesten Stadtviertel gekürt; und Studien weisen auch noch nach, daß der typische Carioca, lebenslustig, liberal, ein reines Phantasieprodukt ist. Nur eine Minderheit geht an den Strand, mag Fußball und Samba. Ganz Rio im Karnevalstaumel? Von wegen – gerade mal ein Viertel der Cariocas macht tatsächlich aktiv mit, der Rest bleibt ferne, flieht vor den drei, vier tollen Tagen aus der Stadt. Nur eine Minderheit nennt sich optimistisch, die große Mehrheit fühlt sich gestreßt, unter Spannung, desillusioniert. Und auch das noch: der Durchschnittscarioca – in Wahrheit sehr konservativ, individualistisch, egozentrisch, überdreht narzißtisch und autoritär, für Lynchjustiz und die Todesstrafe, das Töten von Straßenkindern, überhaupt nicht solidarisch.“Viele Ausländer“, konstatiert Uni-Professor Jaime Pinsky, begeistert unsere scheinbare Leichtigkeit des Seins, sie sehen aber nicht die Schattenseite: Mindestregeln des gegenseitigen, menschlichen Respekts werden nicht eingehalten, etwa im Straßenverkehr, man hält sich permanent nicht an Kompromisse, Zusagen, ob beruflich oder privat. Aber was hat den Carioca so verändert, schlug ihm so auf die Psyche? Die wirtschaftlichen Dauerkrisen, Gewalt und Kriminalität, heißt es fast einhellig. Man stelle sich das in Österreich vor: Über die Hälfte der Wiener mindestens einmal von Bewaffneten überfallen und beraubt, etwa jede Stunde ein Mord, alle paar Tage ein Blutbad. Und über ein Drittel der Heranwachsenden sah schon einen Mord aus der Nähe. So ist das in Rio mit seinen jährlich weit über zehntausend Morden – da vergeht einem natürlich die Gemütlich-und die Leichtigkeit, die Liebe zur Stadt, wird man furchtbar mißtrauisch gegenüber dem nächsten.. Da muß man gut verdrängen, wegstecken können, um trotzdem noch zu lachen. Die Cariocas gehen tatsächlich anders mit Unglück, Tragödien, persönlichen Enttäuschungen um, lächeln, lachen oft trotzdem, und sei es gekünstelt – man soll ja immer zeigen, daß man gut drauf ist. Unechte Fröhlichkeit gibt es es sogar reichlich im Karneval. Tapfer sagen nur zu viele unkritischen Meinungsforschern wie aus der Pistole geschossen, daß sie unheimlich glücklich und optimistisch sind. Auf der Welt-Glücksrangliste steht deshalb ja auch Brasilien schon an vierzehnter Stelle, Österreich erst an 39. Aber wäre soetwas in Wien denkbar? Bürgermeister und Tourismusbehörde wenden sich mit superteuren PR-Kampagnen an die Wiener selber, bitten sie inständig, die Stadt wieder zu mögen, sympathisch zu finden, nicht zu hassen. In Rio habe ich mehrere solcher Werbekampagnen erlebt, die jüngste läuft noch, will den Cariocas Mut machen, sie ein bißchen aus ihrer Identitätskrise holen, das schwer angeknackste Selbstwertgefühl aufpäppeln, Probleme übertünchen. Mit dem Slogan:Dein Glück, in einer Stadt zu wohnen, in der du am liebsten Ferien machen würdest, eigentlich immer im Urlaub bist. Reiner Zynismus, wenn man an die zwei Millionen in den Slums denkt, terrorisiert von den neofeudalen hochbewaffneten Milizen des organisierten Verbrechens. Von denen sich allerdings die Eliten, Mittel-und Oberschicht ihre Drogen holen, monatlich tonnenweise vor allem Kokain konsumieren, dadurch korrumpierenden Kontakt zu den Gangstern haben. Der weltbekannte Filmemacher Caca Diegues aus Rio nennt sowas unerträglich scheinheilig – einerseits massenhaft Drogen verbrauchen, sich andererseits über die zunehmende Gewalt und Kriminalität erregen, Produkt der Verzahnung von organisiertem Verbrechen und der Geld-und Politikerelite. Selbst der Rio-Karneval wird ja von der Unterwelt gesteuert, dominiert. Joao Ubaldo Ribeiro wohnt in Ipanema, seine Romane verkaufen sich auch in Österreich gut. Die Identitätskrise ist auch sein Thema, Auswege, Besserung sieht er nicht, da die sozialen Strukturen unangetastet bleiben. Ribeiro nennt die Mittelschicht, der er angehört, reaktionär, scheinheilig. Die denke: Halt Pech für den, der im Slum haust, wir änderns nicht, niemand will daran was ändern, nicht mal ein bißchen mithelfen.
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