Zu den grotesken Auswirkungen der sich zuspitzenden logistischen Probleme Brasiliens gehört derzeit, daß LKW-Transportunternehmen nicht bereit sind, in den in den seit etwa zwei Jahren von einer verheerenden Dürrekatastrophe heimgesuchten Nordosten das dringend benötigte Futtermittel Mais zu transportieren – während gleichzeitig Brasilien zu einem der führenden Maisexporteure der Welt wird, die Hauptanbaugebiete indessen südlich liegen, die gleichen sind wie bei Soja. Große Viehbestände im Nordosten gehen mangels Futter ein bzw. werden notgeschlachtet – besonders wegen schlechter Straßen in den Nordosten lehnen es die LKW-Fahrer laut aktuellen Analysen der Wirtschaftsmedien ab, unlukrative Mais-Fahrten zu machen. Alternativen wie Bahn und Küstenschiffahrt, gar Binnenschiffssverkehr, existieren nicht – Brasilien besitzt nicht einmal eine Nord-Süd-Eisenbahnverbindung. Die Nordost-Landwirtschaft verlangt, wieder wie früher Mais aus Argentinien per Frachter zu importieren – was indessen die brasilianische Regierung aus Imagegründen nicht will: Mais für den Nordosten ist schließlich reichlich vorhanden.
Sojaexporte: http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/13/amazonia-an-ecocide-foreseen/
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Wie es hieß, erlitt die lokale lokale Wirtschaft der Dürreregionen einen wahren Kollaps. Die jüngste Dürrekatastrophe sei die verheerendste der letzten Jahrzehnte. Enormer Schaden von umgerechnet über 300 Millionen Euro sei laut Regierungsangaben allein für 22 Zuckerrohrbetriebe des Teilstaates Alagoas entstanden.
Dürrekatastrophe 2013: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/02/25/brasilien-hausgemacht-durrekatastrophe-bewirkt-im-nordosten-groses-viehsterben-sogar-die-bienen-verlassen-die-region/
Ausriß 2012.
Hintergrund
„Prophetische Aktion“ in Brasilien: Mutiger Bischof will mit zweitem Hungerstreik gigantische Flußumleitung stoppen – Staatschef direkt herausgefordert
„Notfalls gebe ich mein Leben für das Volk und den Fluß“
Welle der Solidarität auch aus Europa, von Misereor und Adveniat
Mitten in der Vorweihnachtszeit rüttelt der katholische Bischof Luiz Flavio Cappio das Tropenland auf, stört mit seinem Protest sogar den künstlich angeheizten Konsumrummel der Megacities Rio de Janeiro und Sao Paulo. Gleich neben riesigen Shopping Centern und vor Kathedralen tun es inzwischen Hunderte dem mutigen Bischof nach – treten ebenfalls in den Hungerstreik. So wurde die Regierung von Staatschef Lula noch nie herausgefordert. Cappio verlangt mit seinem zweiten „Greve de Fome“ den sofortigen Stopp eines gigantischen, milliardenteuren Flußumleitungsprojekts, das von der Armee begonnen worden ist. „Ich werde meinen Protest notfalls bis zum Tode fortsetzen!“
Cappio ist Franziskaner – der Katholik Francisco Anselmo de Barros, einer der wichtigsten, bekanntesten Umweltaktivisten Brasiliens, hat ebenfalls den Heiligen Franziskus zum Vorbild, nach dem ein großer Nordost-Strom benannt ist. 2005, als Bischof Cappio zum ersten Mal in den Hungerstreik tritt, verbrennt sich Barros selbst, um ein Zeichen gegen die immer brutalere Umwelt-und Naturvernichtung in Brasilien zu setzen. „Der Rio Sao Francisco wird umgeleitet, statt ihn zu revitalisieren“, klagte Barros ebenso wie Bischof Cappio an. Dieser hat inzwischen durch seinen Hungerstreik im nordostbrasilianischen Sobradinho über vier Kilo Gewicht verloren. Die Capela des Heiligen Franziskus, in der Cappio seine Aktion führt, wurde innerhalb weniger Tage zum neuen nationalen Wallfahrtsort. Kardinal Geraldo Majella, Primas von Brasilien, erklärt ihm dort ebenso seine Solidarität wie dutzende Bischöfe, hunderte Padres, zehntausende Gläubige aus allen Ecken des Riesenlandes. Die gegen Sklavenarbeit und ungerechte Landverteilung kämpfende Bodenpastoral sowie der Indianermissionsrat der Bischofskonferenz sprechen von einer „prophetischen Aktion“ – denn Katholik Francisco Anselmo de Barros, der sich selbst verbrannte, und Bischof Cappio beweisen frappierende Weitsicht: Der Sohn italienischer Einwanderer wächst im Teilstaate Sao Paulo auf, kämpft gegen die Diktatur, schließt sich der Arbeiterseelsorge an, macht sich später als Geistlicher, typisch franziskanisch, mit unbekanntem Ziel zu Fuß in den archaischen, an biblische Problemlagen erinnernden Nordosten auf, findet in der Diözese Barra am Ufer des Sao Francisco seine Wirkungsstätte, wird deren Bischof. Den Strom, immerhin über 2700 Kilometer lang, wandert er ab, kennt ihn heute so genau wie kaum ein anderer. Cappio beobachtet, wie immer mehr giftige Industrieabwässer ebenso wie die Kloake von Millionenstädten eingeleitet, hochgefährliche Pestizide von Riesenplantagen hineingespült werden. Fischsterben ist die Folge. Cappio berät sich immer wieder mit Experten und vielen Betroffenen, darunter Fischern, Indianern, Kleinbauern, Landlosen. Die Uferwälder werden bis auf Restbestände abgeholzt, was zu Versandung und stark absinkendem Wasserstand führt. Einen so geschädigten Fluß will die Regierung für viele Milliarden Steuergelder auch noch umleiten? Selbst die Weltbank spricht sich dagegen aus – in hunderte Kilometer langen Kanälen würde zudem ein Großteil des Wassers bei Tropenhitze unnütz verdunsten.
Der neuerliche Hungerstreik ist für Staatschef Lula eine unangenehme Überraschung, trifft ihn mitten in verschiedenen Korruptionsaffären.
Noch im Präsidentschaftswahlkampf von 2003 ist Lula populistisch gegen die Flußumleitung. Doch dann geschieht Bezeichnendes: Lula wählt sich ausgerechnet Josè Alencar, einen Milliardär, Großunternehmer und früheren Dikaturaktivisten zum Vize – und läßt sich, wie verlautet, „umstimmen“. Vize Alencar gehört zur Republikanischen Partei, die von einer Wunderheilersekte, der Universalkirche vom Reich Gottes, dominiert wird. Lulas Umweltministerin Marina Silva, die für Brasiliens desaströse Umweltsituation direkt politisch mitverantwortlich ist, zählt ebenfalls zu einer großen Wunderheilersekte, der Assembleia de Deus. Just im Sekten-TV Brasiliens, das die katholische Kirche permanent attackiert, kritisiert Lula den Hungerstreik des mutigen Bischofs: „Er
bringt mich in eine komplizierte Situation. Doch zwölf Millionen Brasilianer brauchen das Wasser zum Überleben. Daher werde ich mich auf die Seite dieser Armen und nicht dieses Bischofs stellen. Die Bauarbeiten werden fortgesetzt.“
Cappio reagiert sofort:“Hätte der Präsident die Wahrheit gesagt, würde ich ihn sofort unterstützen – denn wir kämpfen ebenfalls für die Trinkwasserversorgung der Armen in den Dürrezonen. Doch Lula sagt nicht die Wahrheit – das Umleitungsprojekt dient lediglich wirtschaftlichen Interessengruppen, darunter Baukonzernen, Großgrundbesitzern. Ich führe hier meinen Protest, weil Lula seine Versprechen gebrochen, mich und die gesamte Gesellschaft getäuscht hat.“ Denn beim ersten Hungerstreik von 2005 sichert Lula nach elf Tagen den Stopp des Projekts und einen landesweiten Dialog über die nachhaltige Entwicklung des Nordostens zu, aus dem der Ex-Gewerkschaftsführer Lula stammt. Doch dann rückt das Militär aus, beginnt mit den Bauarbeiten.
Einmal wird Cappio in den Präsidentenpalast vorgelassen, sagt Lula klare Franziskaner-Worte:“Senhor, ich habe mitgekämpft, damit sie Presidente werden. Doch sie haben ihre Wurzeln und jenes Volk vergessen, das sie gewählt hat. Senhor – heute sind sie Geisel des Kapitals, großer in-und ausländischer Wirtschaftsgruppen.“ Wie reagierte Lula? „Als ich das sagte, senkte er den Kopf. Ich kann einfach nicht hinnehmen, daß jemand, der zum Präsidenten der Armen gewählt wurde, dann zugunsten der Reichen Brasiliens und der ganzen Welt regiert.“
Bischof Cappio weist auf die zahlreichen, weit kostengünstigeren Alternativprojekte für eine effiziente Wasserversorgung der Trockenregionen. “Den Alternativen gibt man deshalb keinen Wert, weil für sie keine Riesensummen nötig sind. Die Flußumleitung dagegen kostet sehr viel Geld, das man weit sinnvoller verwenden könnte.“
„Wir sind stolz auf diese Frauen und Männer“
Brasilien: Verfolgung kirchlicher Menschenrechtsaktivisten nimmt dramatisch zu
Killer sogar auf Bischöfe und Priester angesetzt
Scheiterhaufen für Bürgerrechtler in Rio de Janeiro, sadistische Folter nach KZ-Manier in den Gefängnissen, totgequälte Sklavenarbeiter, ungehemmte Amazonas-Zerstörung – niemand in Lateinamerikas größter Demokratie prangert diese Zustände präziser, heftiger und kontinuierlicher an als die Menschenrechtsaktivisten der katholischen Kirche. Jene, die ihre Stimme am mutigsten erheben, sich nie und nimmer einschüchtern lassen, sollen deshalb liquidiert, für immer zum Schweigen gebracht werden. Der Verlust für Kirche und Gesellschaft des größten katholischen Landes wäre immens, schmerzhafte Rückschritte beim Kampf für Bürgerrechte wären vorhersehbar. Brasiliens Bischofskonferenz hat deshalb jetzt die Weltöffentlichkeit auf den Ernst der Lage hingewiesen, den Verfolgten in einmaliger Deutlichkeit den Rücken gestärkt. „Wir sind stolz auf diese Männer und Frauen – was sie erleiden, zeigt die ganze Perversität der Gesellschaft. Wir rufen die Christen und alle anderen, die für Gerechtigkeit und Frieden kämpfen, dazu auf, sich nicht an diese Zustände zu gewöhnen.“ In Brasilien, so die Bischofskonferenz, würden die Menschenrechte mit Füßen getreten, jene Persönlichkeiten aus den Reihen der Kirche setzten sich für die Ideale des Lebens ein – und würden just deshalb verfolgt. „Wir leben wie in einem Gefängnis“, sagt der in Europa wohl bekannteste Menschenrechtsverteidiger – Bischof Erwin Kräutler aus Österreich, der das Amazonas-Bistum Altamira leitet. Kräutlers Todfeinde aus Politik und Wirtschaft haben das Kopfgeld auf umgerechnet 400000 Euro erhöht – Brasiliens Regierung hat deshalb angewiesen, Kräutler rund um die Uhr durch zwei Militärpolizisten zu bewachen. Ein neuerlicher Anschlag auf den Bischof – mehrere hat er überlebt – würde dadurch schwerlich verhindert, die ständige Präsenz der Beamten schränkt indessen seine Seelsorgearbeit, sein Alltagsleben deutlich ein, erschreckt und verunsichert die Gläubigen. Die Bischofskonferenz hat deshalb Brasiliens Regierung aufgefordert, endlich den wirksamen Schutz aller Verfolgten, mit Mord Bedrohten zu garantieren, weil Polizeibewachung eben keine Lösung ist. Gegen die auf Kräutler und alle anderen angesetzten Killer und deren Hintermänner müßten ernsthafte Ermittlungen geführt werden. 1996 feuert in Kräutlers Teilstaat Pará eine Sondereinheit der Militärpolizei auf Landlosenfamilien, die eine Straße besetzt hatten. Nach amtlichen Angaben wurden dabei neunzehn Männer getötet und über fünfzig teils schwer verletzt. Gemäß Zeugenaussagen starben bei dem Blutbad indessen über einhundert Menschen, von denen die meisten in einer verdeckten Aktion abtransportiert worden seien. Das Massaker ist bis heute ungesühnt. Dessen „perverse Logik“, so die große brasilianische Tageszeitung „O Estado de Sao Paulo“ gelte bis heute. „Ich muß meine Stimme für eine gerechte Landverteilung, gegen die Zerstörung der Amazonasnatur erheben, grauenhafte Verbrechen anprangern“, so Bischof Kräutler, „weil der brasilianische Staat seine Funktionen nicht erfüllt, meist gar nicht präsent ist.“ Zwar existiert seit den neunziger Jahren ein sogenanntes Pilotprojekt der G-8-Staaten zum Schutze der Amazonas-Regenwälder, ist Deutschland, sprich, der deutsche Steuerzahler sogar Hauptfinanzier. Doch vor Ort geht die Urwaldzerstörung in Rekordtempo weiter. Und besonders bizarr – Bischöfe wie Kräutler, sehr viele Padres, die eigentlich ganz im Sinne jenes G-8-Pilotprojekts gegen Naturvernichtung protestieren, riskieren damit sogar ihr Leben. Warum wird das in Deutschland kaum bemerkt, schweigt die Regierung, dessen Umweltminister dazu? „Geldgier und das Streben nach raschem Profit“, sagt Kräutler, sind für die Amazonaszerstörung verantwortlich, was stark zum Klimawandel beitrage. Wirtschaftliche Entwicklung sei „gleichbedeutend mit Kahlschlag, Brandrodungen und Mord“.
Bischof Kräutler kämpfte 1996 für die Freilassung einer unschuldigen, mit Schwerkriminellen zusammengesperrten Frau, die sieben Monate lang in einer völlig überfüllten Zelle immer wieder vergewaltigt, attackiert, mit Geschlechtskrankheiten infiziert worden war. Derzeit erhält sein aus Italien stammender Bischofs-Kollege Flavio Giovenale der Nachbar-Diözese Abaetetuba Morddrohungen, weil er sich für eine junge Frau einsetzte, der genau das Gleiche geschah, wie so vielen anderen Geschlechtsgenossinnen im heutigen Brasilien. Sogar auf offener Straße sagen Unbekannte Bischof Giovenale dieser Tage ins Gesicht: „Du wirst umgelegt!“ Bischof Geraldo Verdier aus Frankreich leitet im Amazonas-Teilstaat Rondonia die Diözese Guajará-Mirim, protestierte wiederholt gegen Folter, wird deshalb verfolgt, bedroht. „Einmal haben sie mich gerufen, weil ein Mann von Polizisten gefoltert wurde. Als ich hinkam, lag der Mann mitten in einer tiefen Blutlache.“ Priester Günther Zgubic aus Österreich leitet Brasiliens Gefangenenseelsorge – niemand im Tropenland enthüllte so viele Folterfälle, erarbeitete so viele detaillierte Statistiken für die UNO und andere internationale Menschenrechtsorganisationen wie er. Und zählt deshalb zu jenen in höchster Lebensgefahr, wegen Morddrohungen. Viele andere Verfolgte sind in Europa überhaupt nicht bekannt, darunter die Ordensschwester Leonora Brunetto in der Stadt Alta Floresta. Wie die 2005 in Kräutlers Bistum erschossene nordamerikanische Ordensschwester Dorothy Stang setzt sich auch „Freira“ Brunetto, 62, für die Landlosen ein, arbeitet in der katholischen Bodenpastoral. Als ihr der Staat wegen der Morddrohungen Polizeischutz anbietet, stellt sie eine Bedingung: „Nur, wenn alle genauso bedrohten Landlosenführer, mit denen ich zusammenarbeite, ebenfalls unter staatlichen Schutz gestellt werden.“ Was nicht geschah. „Vor Gott wäre es nicht gerecht, daß diese Menschen in der Gefahr bleiben, während ich eine Sonderstellung genösse.“ Auch für Leonardo Brunetto und ihre Mitstreiter macht sich jetzt die Bischofskonferenz stark. „Wir alle sind verantwortlich für den Aufbau eines gerechten Landes, in dem die Gesetze respektiert werden und das Recht aller auf ein Leben in Menschenwürde garantiert ist.“
Chico Whitaker
Alternativer Nobelpreis für katholischen Rebell aus Brasilien
Preisverleihung am 8. Dezember in Stockholm
Auf seinem Konzertflügel im Arbeitszimmer stapeln sich Bücher, Aktenberge, Zeitungen – vom Balkon blickt der praktizierende Katholik auf das häßliche Betonmeer der Megacity Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt. „Früher habe ich gerne Chopin und Liszt gespielt, Bilder gemalt, war viel in der Natur – heute komme ich kaum noch dazu, die Arbeit frißt mich auf!“ Der sympathisch, bescheiden wirkende 75-Jährige zählt seit jeher zu Brasiliens „Subversiven“ und wird dafür jetzt auch noch hoch geehrt. „Der Premio Nobel Alternativo stärkt uns katholischen Menschenrechtlern Brasiliens den Rücken, gibt mir viel Kraft zum Weitermachen!“ Whitaker lehnte sich gegen die Militärdiktatur auf, mußte deshalb mit seiner Frau und den vier Kindern für fünfzehn Jahre ins Exil. 1985 treten die Generäle ab, doch auch die Regierungen der nachfolgenden „Fassaden-Demokratie“, wie Whitaker sie nennt, haben an ihm keine Freude. Bis heute prangert er Folter, Sklavenarbeit, die rasch wachsenden Slums, die politische Macht des organisierten Verbrechens an. Und hat mit einem engen Mitstreiter die Idee zum Weltsozialforum. 2001 findet es erstmals in der Katholischen Universität des südbrasilianischen Porto Alegre statt. „Ich kann schlecht Nein sagen, wenn man mich ständig bittet, Texte zu schreiben oder irgendwo auf der Erde Vorträge zu halten. Denn da öffnen sich Türen, um Ideen zirkulieren zu lassen, von denen so viele noch nichts wissen! Es gibt jene, die die Welt besser, sozialer, humaner gestalten wollen – und jene, die noch nicht wissen, daß sie es können. Da müssen wir mit konkreten Aktionen ein Beispiel geben – damit die Leute begreifen, es ist möglich!“ In der Bewegung der Globalisierungskritiker, so meint er, haben viele immer noch Illusionen. „Alles Volk auf die Straße, um auf revolutionärem Wege die Dinge zu ändern, ein vorgefertigtes Gesellschaftsmodell einzupflanzen – das klappt nicht mehr. Man muß Stück für Stück jene Strukturen verändern, durch die Menschen isoliert und individualistisch leben müssen. Ein anderes Produktionssystem, andere Konsumgewohnheiten sind nötig – oder unsere Erde geht zugrunde.“Von den Parteien hat Whitaker die Nase voll – war selber Mitglied der Arbeiterpartei von Staatschef Lula, sogar Abgeordneter. Bis er Anfang des Jahres wegen der zahlreichen Regierungsskandale um Stimmen-und Parteienkauf austrat. Ihn freut, daß man selbst in Deutschland den Parteien und eigensüchtigen Politikern immer weniger vertraut, die Zivilgesellschaft aufbegehrt: „Sie muß das Monopol der Parteien auf politische Aktion brechen – das Weltsozialforum dient dafür als wichtige Erfahrung. Hier in Sao Paulo kursiert folgende Idee – bei den nächsten Gemeindewahlen kandidieren nicht mehr Personen, sondern Programme zur Stadtverbesserung!“ Sao Paulo stinkt nach krebserregenden Autoabgasen. Sogar ein Netz von Fahrradwegen, das gerade den Armen der 2000 Slums am meisten nützte, wird von der Präfektur verhindert.
Letzten Oktober wurde der populistische Staatschef Lula wiedergewählt. Auch in Deutschland loben viele sein Anti-Hunger-Programm. „Das sind Almosen, die dazu dienen sollen, das Volk unterwürfig und abhängig zu halten“, kontert der unbequeme Whitaker. „Damit nicht alles bleibt, wie es ist, dürfen wir Lula jetzt nicht mehr ruhig schlafen lassen, muß die Zivilgesellschaft Druck machen.“ In der zehntgrößten Wirtschaftsnation, die Exportweltmeister bei Soja, Fleisch, Zucker und Biosprit ist, kämpft laut Whitaker die Mehrheit der 185 Millionen Brasilianer ums Überleben. „Andererseits soviel Luxus hier für die Reichen – das ist doch eine Tragödie!“ Anders als stets behauptet, habe unter Lula die gesellschaftliche Ungleichheit spürbar zugenommen. Typisch Whitaker: „Ich plane deshalb jetzt im Nationalrat der christlichen Kirchen Brasiliens eine Kampagne für konkrete Schritte gegen die Sozialkontraste mit.“ Zuvor führt er Proteste der Bischofskonferenz gegen den Stimmenkauf bei Wahlen, formuliert sogar ein Verbotsgesetz: „Der Nationalkongreß hat es angenommen, über vierhundert Politiker wurden bereits gefeuert!“ Lulas Amtsvorgänger ließ wichtige Staatsbetriebe wie das Bergbauunternehmen „Vale do Rio Doce“ privatisieren – heute ist es der zweitgrößte Minenkonzern der Erde. Die Kirche kritisiert den Verkauf nach wie vor. “Ich denke, Vale do Rio Doce sollte wieder ein Staatsunternehmen werden, die Gewinne könnten dann sozialen Zwecken dienen.“
Nächsten Mai kommt der Papst ins größte katholische Land – doch der unruhige katholische Rebell sieht Brasiliens Kirche derzeit nicht in ihrer besten Phase. „Sie ist mir manchmal viel zu langsam, eher im Rückzug. Doch immer wieder gibt es unter uns auf einmal Propheten, die Mut machen und mit neuem Schwung die anderen mitreißen.“
Brasilien diskutiert über Pädophilie-Vorwürfe gegen Menschenrechtspriester
Sekten-TV mobilisiert gegen den Geistlichen – Kirche steht fest zu ihm
Als die „Enthüllungen“ losbrechen, wird Padre Julio Lancelotti auf den Straßen der Megacity Sao Paulo regelrecht gekreuzigt, sogar von ungezählten christlichen Gläubigen hemmungslos vorverurteilt. „Ausgerechnet Lancelotti – wem kann man in der Kirche noch trauen?“, ist vielerorts zu hören.
Denn der Priester ist im größten katholischen Land nicht irgendwer, sondern wegen seines Engagements für die Menschenrechte der Armen und Verelendeten geradezu eine Symbolfigur der Kirche, extrem populär. Und nun das – Anderson Batista, 25, sagt Medien und Justiz, Lancelotti habe mit ihm als Minderjährigem ganz frech gleich in einer Kirche Sao Paulos, nach dem Gottesdienst hinter dem Altar, in der Sakristei, jahrelang homosexuell verkehrt, ihn dafür bezahlt. Die Aufregung in der Öffentlichkeit ist riesig und für Brasiliens zweitgrößten TV-Sender „Rede Record“, der einer antikatholischen Wunderheilersekte gehört, natürlich das gefundene Fressen. Daß Brasiliens Bischofskonferenz sich mit Lancelotti solidarisch erklärt, die Anschuldigungen völlig unbegründet nennt, geht im Mediengetöse beinahe unter. Ebenso, daß Sao Paulos deutschstämmiger, gerade vom Vatikan als Kardinal nominierter Erzbischof Odilo Scherer deutlich erklärt:“Ich bin überzeugt, daß Lancelottis Unschuld bewiesen wird.“ Es sei Mode geworden, katholische Priester der Pädophilie zu bezichtigen – in anderen Ländern winkten dafür fabelhafte Entschädigungssummen. „Heute ist Lancelotti betroffen – morgen können es andere Geistliche sein.“
Wochen später hat sich die Diskussion um Lancelotti enorm versachlicht: Daß dieser keinerlei sexuellen Mißbrauch getrieben habe, sei erwiesen, erklärt ein zuständiger Kriminalkomissar. Und in der Öffentlichkeit erinnert man sich zahlreicher Fälle im In-und Ausland, wo völlig Unschuldige durch erlogene Zeugenaussagen dieser Art fertiggemacht, psychisch zerstört, ihrer Existenzbasis beraubt worden waren.
Im November zelebrieren Führer der buddhistischen und jüdischen Gemeinden Brasiliens gemeinsam mit methodistischen und anglikanischen Priestern in Sao Paulo einen interreligiösen Gottesdienst für Lancelotti, wo dieser noch einmal die Pädophilie-Vorwürfe von Anderson Batista als Lüge zurückweist.
Über Batista, der inzwischen mit mehreren Komplizen verhaftet wurde, weiß die Öffentlichkeit jetzt eine ganze Menge mehr: Wegen Gewalttaten war er jahrelang in einer Jugendstrafanstalt, erschoß nach der Freilassung einen Mann in einer Bar, fuhr gar mit dem Auto den eigenen, dreijährigen Sohn tot, gilt generell als extrem brutal. Die Polizei verdächtigt Batista, der berüchtigten Verbrecherorganisation PCC anzugehören, die 2006 in Sao Paulo eine ganze Serie von Terroranschlägen verübt hatte. Batista soll zudem Boß des Rauschgifthandels in Sao Paulos Stadtviertel Mooca sein. Dort befindet sich die von Lancelotti geführte Kirchengemeinde „Sao Miguel Arcanjo“. Batista bildete mit Kumpanen zudem eine Erpresserbande, zu dessen Opfern jahrelang auch Lancelotti gehörte. In dieser Zeit wurden auf den Geistlichen mehrere Anschläge verübt, erhielt er Morddrohungen. Zweimal überfiel eine Gruppe Bewaffneter die Wohnung Lancelottis, mißhandelte dort dessen 84-jährige Mutter und eine Nichte.
Lancelotti hat nach wie vor allen Grund, um sein Leben zu fürchten: In Brasilien werden jährlich über 55000 Menschen, darunter auch Geistliche und kirchliche Menschenrechtsaktivisten ermordet. Doch nicht einmal fünf Prozent der Fälle werden aufgeklärt.
Während des interreligiösen Gottesdienstes von Sao Paulo wendet sich Lancelotti energisch gegen „religiösen Krieg“: „Keine Kirche sollte meinen Fall benutzen, um eine andere Kirche zu zerstören.“ Dies zielt klar auf Brasiliens größte neupfingstlerische Wunderheilersekte „Universalkirche vom Reich Gottes“ und deren TV-Sender „Rede Record“.
Denn zum bizarren Kontext gehört: Diese Sekte führt Brasiliens „Republikanische Partei“ (PRB), der Staatspräsident Lulas Vize, der Milliardär Jose Alencar angehört.
Die nationale Menschenrechtsbewegung betont, Lancelotti habe wegen seines Engagements sehr viele Feinde. Die Anschuldigungen gegen den regierungskritischen Priester hätten bereits den Kampf für Bürgerrechte geschwächt. Für Lancelotti sei es psychologisch sehr schwierig gewesen, ausgerechnet jenen Anderson Batista als Erpresser anzuzeigen, den er früher stets verteidigt und unterstützt habe. Batista hatte er nach dessen Entlassung aus der Jugendhaft sowohl Wohnung als auch Arbeit beschafft.
Der Geistliche leitet verschiedene kirchliche Projekte für jugendliche Straftäter, ferner für Aids-infizierte Kinder sowie Obdachlose. Wegen des Falles sanken die Spenden an diese Projekte stark, mindestens drei Unternehmen kündigten ihre Hilfe auf.
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