Teuerung, Kaufzurückhaltung 2013: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/05/29/brasilien-teuerung-und-kaufzuruckhaltung-2013-die-supermarkte-preiswerteste-einkaufsquelle-des-landes-ua-fur-grundnahrungsmittel-verkauften-im-april-2013-uber-14-weniger-als-im-vormonat-marz-l/
Filmemacher Padilha(45) argumentiert in Brasiliens größter Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, daß die brasilianische Bevölkerung verschiedene Parasiten ernähre, „darunter eine korrupte politische Klasse und eine brutale Polizei. Fast die gesamt Staatsstruktur operiert in parasitärer Weise, raubt den Brasilianern einen bedeutenden Teil ihrer Arbeit und Energie, in Form von Korruption und exzessiver Steuerbelastung.“
Padilha bezieht sich mit seinem Parasiten-Vergleich ausdrücklich auf Regierung und politisch Klasse, der Dilma Rousseff jetzt rate:“ Laßt uns jetzt die Demonstranten loben.“
Joachim Gauck im Mai 2013 in Sao Paulo: ”Und zweitens ist der weitere Erfolg Brasiliens auch deswegen für uns eine Chance, da Brasilien unsere Werte – Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit – teilt und seine wirtschaftliche Potenz in den Dienst auch dieser Werte stellt.”
tags: brasilien-systemkritikerproteste 2013
Brasilien bewegt den Bundespräsidenten: Während seines Besuchs zeigte sich Joachim Gauck beeindruckt von der Aufbruchstimmung im Land. Deutschland könne von dem Mut zu Veränderungen lernen. Regierungssender Deutsche Welle 2013
“Moderne Scheiterhaufen aus Autoreifen”:
Auch Padilha ist derzeit in mitteleuropäischen Propagandamedien chancenlos.
Letzter Padilha-Film: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/10/08/tropa-de-elite-2-noch-dokumentarischer-als-der-berlinale-gewinner-landeskunde-pur-uber-das-heutige-brasilien/
Katholischer Bischof Milton Kenan Junior in Sao Paulo, Organisator zahlreicher Protestaktionen in den letzten Jahren, im Website-Interview:“Die große Plage dieses Landes ist die Korruption – Gelder die ins Gesundheits-und Bildungswesen, in den öffentlichen Transport fließen müßten, werden abgezweigt.“
Die Forderungen der derzeitigen Protestwelle sind aus den landesweiten befreiungstheologisch geprägten Protestaktionen der katholische Kirche in den letzten Jahren bestens bekannt – die allermeisten Demonstranten sind Katholiken. So war just 2012 die landesweite Brüderlichkeitskampagne der Bischofskonferenz dem prekären Gesundheitswesen des Landes gewidmet, forderte tiefgreifende Verbesserungen, stellte zahlreiche konkrete Forderungen. Die Brüderlichkeitskampagne 2011 konzentrierte sich auf Umweltzerstörung, schlechte Lebensbedingungen, darunter das prekäre Verkehrswesen Brasiliens. Bereits 2009 mobilisierte die katholische Kampagne für eine bessere öffentliche Sicherheit – derzeit erneut eine der Hauptforderungen. Der Kampf gegen die starke Staats-und Regierungskorruption war Hauptthema in allen Brüderlichkeitskampagnen der letzten Jahre. Üblich war, daß in-und ausländische Leitmedien über diese landesweiten Protestkampagnen nicht berichteten – die bekannten TV-Teams großer mitteleuropäischer Fernsehanstalten suchte man bei diesen Manifestationen, die nur zu oft Straßen und Autobahnen blockierten, vergebens. Daraus erklärt sich auch, daß dem Mainstream die Vordenker, Führer, Organisatoren der Protestwelle nicht bekannt sind.
Daß dagegen antikatholische systemstabilisierende evangelikale Wunderheilersekten in mitteleuropäischen Leitmedien mit viel Sympathie bedacht werden, wundert nicht.
Die katholische Pastoral „Glaube und Politik“ der Erzdiözese Sao Paulo, die Teil der Protestbewegung ist, stellt in diesen Tagen eine Juni-Erklärung von Papst Franziskus heraus:“Die Christen müssen revolutionär sein“ – derzeit habe man eine grausame Gesellschaft, die keine Hoffnung biete.
Wie man mit brasilianischem Systemkritiker in Berlin umging – die Sache mit der Wertegemeinschaft: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/12/08/brasiliens-ex-prasident-lula-in-berlin-2012-brasilianer-in-berlin-weisen-auf-fehlende-kritische-fragen-an-lula-ua-angesichts-der-verurteilung-von-engen-lula-mitarbeiternmensalao-skandalheikle/
Heikle Menschenrechtsfragen offenbar bewußt ausgeklammert:
Morde an systemkritischen Journalisten: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/06/19/brasilien-morde-an-systemkritischen-journalisten-2013-prasident-der-nationalen-pressevereinigung-fordert-von-polizei-strenge-untersuchung-des-mordes-an-rio-journalist-jose-lemos-hohe-einschuchteru/
Folter unter der Rousseff-Regierung: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/07/26/brasilien-folter-unter-der-rousseff-regierung-folter-ist-routine-in-gefangnissen-allgemein-verbreitet-und-institutionalisiert-seit-der-militardiktatur-rechnet-die-gewaltpraxis-in-den-brasiliani/
Polizei-Spezialeinheiten feuern in Sao Paulo am 13. Juni 2013 teils aus sehr geringem Abstand, wie das TV-Foto deutlich zeigt, auf Demonstranten. http://oglobo.globo.com/pais/a-pm-comecou-batalha-na-maria-antonia-8684284
Obdachlose Frau vor der Kathedrale von Sao Paulo, April 2013. “Brasilien verabschiedet sich von der Armut” – Die Welt: http://www.welt.de/wirtschaft/article112414503/Brasilien-verabschiedet-sich-von-der-Armut.html
Sklavenarbeit in Brasilien unter Dilma Rousseff: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/08/27/brasilien-sklavenarbeit-unter-dilma-rousseff-neue-verbreitungskarte-veroffentlicht-wer-denkt-das-es-in-brasilien-keine-sklaverei-mehr-gibt-wird-uberrascht-sein/
Leonardo Boff im Brasilien-Agitprop:
Bundespräsident Joachim Gauck 2013 in Brasilien, “Wertegemeinschaft”: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/05/17/brasilien-historischer-besuch-des-deutschen-bundesprasidenten-joachim-gauck-im-tropenland-trotz-gravierender-menschenrechtslage-folter-todesschwadronen-gefangnis-horror-sklavenarbeit-etc-b/
Gravierende Lage wie bei Gauck-Besuch. Marianne Birthler im Website-Interview:” Ich wäre ganz schlecht beraten, wenn ich mir nach so kurzer Zeit hier bereits ein Urteil oder eine Meinung anmaßen würde.”
Morde an systemkritischen Journalisten: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/06/19/brasilien-morde-an-systemkritischen-journalisten-2013-prasident-der-nationalen-pressevereinigung-fordert-von-polizei-strenge-untersuchung-des-mordes-an-rio-journalist-jose-lemos-hohe-einschuchteru/
Ausriß. Scheiterhaufenopfer(Microondas), Januar 2013, Rio de Janeiro. Die systemkritische Zeitung schwieg nie zur gängigen Scheiterhaufenpraxis von Rio de Janeiro – auch nicht vor den großen internationalen Sportevents. http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/fazit/668242/
Revolte in Millionenstadt Belo Horizonte- brennende Autorhäuser.
“Gegen den Staatsterrorismus”.
Rafael Lusvarghi – Teilnehmer der Demonstration: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/10/29/ostukraine-2014-brasilianer-fabio-lusvarghi-in-internationalen-brigaden-interviews-auch-fur-russische-medien-solidaritatsorganisation-%E2%80%9Cfrente-brasileira-de-solidariedade-com-a-ucrania/
Bemerkenswert ist, wieviel Lob daher ein Gewalt-Gesellschaftsmodell diesen Zuschnitts von hochrangigen mitteleuropäischen Politikern, darunter aus Deutschland, seit Jahren erhält.
Die deutsch-brasilianischen Beziehungen sind politisch, wirtschaftlich, kulturell und gesellschaftlich breit verankert. Sie basieren auf gemeinsamen Werten und übereinstimmenden Auffassungen zur globalen Ordnung. Brasilien ist das einzige Land in Lateinamerika, mit dem Deutschland durch eine „strategische Partnerschaft“ verbunden ist. (Auswärtiges Amt, Berlin)
Wem nützt die Banditendiktatur?
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/15/wem-nutzen-banditendiktatur-und-immer-mehr-no-go-areas/
Demonstrantin versucht vergeblich, mit den Militärpolizisten zu sprechen.
Erstmals bei einer Anti-WM-Demonstration – Militärpolizist sogar mit Mpi bewaffnet.
“Die Repression bringt uns nicht zum Schweigen.”
Brasiliens Menschenrechtspriester Julio Lancelotti(zweiter von links), Leiter des Obdachlosenvikariats der vom deutschstämmigen Kardinal Odilo Scherer geführten Erzdiözese Sao Paulo, mit Spruchband:”Die obdachlosen Straßenbewohner – als erste von der WM eliminiert.”
Julio Lancelotti aus der Erzdiözese Sao Paulo – bei nahezu allen Anti-WM-Straßenprotesten dabei. “Der Staat will mit aller Macht Proteste verhindern, ein falsches Image erzeugen – doch das gelingt nicht. Die Repression fällt jedermann auf. Nicht einmal während der Militärdiktatur wurde die Repressionsmacht des Staates so massiv betont, so gut sichtbar herausgestellt. Ich stimme mit Bischof Erwin Kräutler von Altamira überein – wir haben eine Zivildiktatur . Es handelt sich um eine kapitalistische, wirtschaftliche Diktatur.” Auf Website-Anfrage kritisierte Padre Lancelotti zudem sehr scharf die großen tonangebenden brasilianischen Medien und deren Berichterstattung über Systemkritikerproteste:”Diese Medien sind ehrlos, sie verstecken Fakten, minimieren, kriminalisieren.” Laut Lancelotti sind auch Menschenrechtsaktivisten der katholischen Kirche derzeit von der Repression während der WM betroffen. “Man setzt generell auf starke Einschüchterung.” Besonders betroffen seien davon die Obdachlosen in Megastädten wie Sao Paulo:”Man vertreibt die Straßenbewohner vor allem durch Drohungen:Besser für dich, du verschwindest von hier. Doch man geht auch per Militärpolizei mit Tränengasbomben und Blendgranaten gegen Obdachlose vor, um sie von bestimmten Schlafplätzen, darunter Brücken, zu vertreiben. Gegen diese Repression hat das Obdachlosen-Vikariat der Erzdiözese Sao Paulos beim brasilianischen Innenministerium Anzeige erstattet. Wir sind jetzt zur WM rund um die Uhr im Einsatz, beobachten die Situation der Obdachlosen auf den Straßen, nehmen Anzeigen entgegen, betreiben Nachforschungen.”
Bemerkenswert – die Voraussagen der katholischen Kirche in Bezug auf WM und Menschenrechte haben sich bestätigt.
Macht und Ohnmacht(?).
WM-Texte:
Angela Merkel – WM-Besuch 2014 in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/16/deutsche-bundeskanzlerin-angela-merkel-reist-zur-wm-2014-nach-brasilien-trotz-gravierender-menschenrechtslage-bei-treffen-mit-staatschefin-dilma-rousseff-in-brasilia-waren-schwere-menschenrechtsve/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/20/merkels-wm-besuch-kommt-bei-den-deutschen-schlecht-an/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/17/brasilien-geldfusball-wm-2014-spielort-fortaleza/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/18/die-dunkle-seite-der-wm-bild-zeitung/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/18/brasilien-geldfusball-wm-sao-paulo/
Fußball-WM und Berichterstattungsvorschriften: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/05/19/fusball-wm-2014-und-strenge-berichterstattungsvorschriften-deutscher-medien-selbst-in-kommentaren-halt-sich-der-deutsche-mainstream-bisher-offenbar-strikt-an-das-vorschriftendiktat/
“Heute haben wir eine Zivildiktatur”.
Bischof Erwin Kräutler im Interview mit dem brasilianischen Nachrichtenmagazin “Epoca”, Juni 2012:
“Lula und Dilma Rousseff werden als Zerstörer Amazoniens in die Geschichte eingehen…Ich habe Lula zweimal getroffen…Jene Leute, die früher mit uns kämpften, auf unserer Seite waren, die selbe Sache verteidigten, verteidigen jetzt das Gegenteil…2009 war ein sehr freundschaftliches Treffen mit Lula – ich hoffte noch, er ließe sich überzeugen. Und schrieb sogar: Gottseidank, Lula hat verstanden…Doch es war Theater, politisches Spiel. Er hielt damals meinen Arm und sagte: Dom Erwin, wir werden dieses Projekt niemandem aufzwingen. Du kannst auf mich zählen…Ich dachte, gut – der Präsident würde nicht so reden, wenn es nicht die Wahrheit wäre… Nein, Lula würde mir nicht ins Gesicht lügen…In diesem Moment glaubte ich wirklich an den Dialog…”
Epoca-Frage: “Sie hatten tatsächlich an Lulas Dialog-Versprechen geglaubt?”
Kräutler:”Ich glaubte daran…Aber es gab nie einen Dialog…Was Lula da machte, war nur Show, um dem Bischof gefällig zu sein…Nach meinen Informationen sind 61 Wasserkraftwerke in Brasilien geplant, die meisten in Amazonien…Hier hat sich der Widerstand gegen Belo Monte mit der Arbeiterpartei identifiziert…Bis dann Lula sein Präsidentenamt antrat. Als wir entdeckten, daß Lula seine Position geändert hatte, sind wir aus allen Wolken gefallen. Mein Gott, wie ist das möglich? Und die Leute der Arbeiterpartei hier wechselten auch die Seite…Das alles war Verrat, ein gewaltiger Schlag. Es ist sehr hart, von Leuten verraten zu werden, denen du die Hand gereicht hattest. Man hatte mich gefragt, Bischof, wen werden sie wählen? Ich sagte, ich stimme für Lula…Später sagte dann das Volk: Jetzt schluckt der Bischof…Jetzt sagen sie: Der Bischof war sogar für diese Leute von der Arbeiterpartei. Und jetzt muß ich Kröten schlucken…Lula hat Amazonien nie verstanden…Und am Ende seiner Amtszeit fiel er ins Delirium, berauschte sich an Ziffern, Statistiken…Heute haben wir eine Zivildiktatur…Wenn die Regierung sich verfassungswidrig verhält, leben wir erneut in einer Diktatur…Ich mag eine Frau als Präsidentin, aber ich dachte, als Frau wäre sie sensibler gegenüber unserer Lage…Man kann soviel protestieren wie man will. Sie verhindert jeglichen Dialog schon im Ansatz. Belo Monte ist kein Thema für eine Diskussion. Sie ist sehr hart, unnachgiebig, akzeptiert keine abweichende Meinung…Die Geschichte Amazoniens, Brasiliens und der Erde wird bald Lula und Dilma sehr genau als skrupellose Zerstörerverurteilen – als Verursacher von Einwirkungen, die unumkehrbar das Klima des Planeten veränderten…”
Brasilien – Daten, Statistiken: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
“Fußball-WM ist ein Unglück für Brasilien.” – auflagenstärkste Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo
Anpfiff ist am 12. Juni in der Megacity São Paulo, drittgrößte Erzdiözese der Welt. Von prima Klima, gar Vorfreude keine Spur – stattdessen tagtäglich Straßenproteste. Menschenrechtspriester Julio Lancelotti ist stets dabei. Militärpolizei feuert eine Tränengas-Blendgranate genau in seine Richtung – die Explosion reißt ihm das Bein auf, Blut fließt auf den Asphalt, doch er schleppt sich weiter, solange es geht. Den Menschen, die trotz der Polizeiübermacht, darunter Kavallerie mit schweren Säbeln, immer wieder zu Anti-WM-Demonstrationen gehen, ist der geistliche Beistand durch Lancelotti, die Hilfe von Aktivisten der Sozialpastoralen enorm wichtig.
In der Hauptstadt Brasilia gehen sogar protestierende Indianer mit Pfeil und Bogen auf berittene Polizei los.
Weniger als die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer, so seriöse Umfragen, sind noch einverstanden, daß die „Copa“, wie man hier sagt, in ihrem Land stattfindet. Eine wachsende Mehrheit lehnt das FIFA-Spektakel vehement ab, weist auf gravierende soziale Probleme.
Deutschland, Ausrichter von 2006, liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung auf Platz 5 – Brasilien jedoch nur weit abgeschlagen auf Platz 85. Padre Lancelotti, Bischöfe, ungezählte katholische Menschenrechtsaktivisten, doch auch professionelle Fußballexperten halten 2006 daher bereits die WM-Bewerbung durch Brasilia für absurd, sozial unvertretbar, für Idiotie und einen schlechten Witz – und haben Recht behalten. Bis letztes Jahr werden sie oft ausgelacht. Selbst in Deutschland heißt es, die WM werde dem Tropenland mehr Wohlstand, wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg bescheren. Doch nun sind die Fakten nicht mehr zu übersehen – Stagnation statt Konjunktur und Wachstum, dazu Hochinflation und Entlassungen .
Die eigens für die WM auch mit Hilfe deutscher Firmen, deutscher Sponsoren errichteten Stadien sind inzwischen dreimal teurer als geplant – während oft ganz in deren Nähe neue Elendsviertel entstehen. Selbst in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas mit weit über 2600 Slums, hat die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter(MTST) nur zwei Kilometer vom nagelneuen Itaquerao-Stadion auf besetztem Gelände mehrere Tausend Hütten und Baracken errichtet, wird beim WM-Eröffnungsspiel für Protest-Überraschungen sorgen.
Auch in Sao Paulo brechen Kranke in der Warteschlange vor öffentlichen Hospitälern tot zusammen, sterben andere auf dem harten Boden von Klinikkorridoren, weil Ärzte und Pfleger, Medikamente und Krankenbetten fehlen. Bei jedem Gottesdienst in Sao Paulos Kathedrale werden solche skandalösen Kontraste angeprangert: „Diese milliardenteuren Stadien sind eine Beleidigung der Menschenwürde, da es den einfachen Brasilianern an Wohnung fehlt, unser Gesundheits-und Bildungswesen unzumutbar schlecht ist wie der öffentliche Nahverkehr“, Padre Tarcisio Mesquita. „Laßt uns beten für alle, die auf den WM-Baustellen umkamen, Opfer gefährlicher und armselig bezahlter Arbeit wurden.“
Und dann nennt er einen weiteren Skandal: Jene WM-Trikots, die jetzt überall im Lande zu teils gepfefferten Preisen auch an ausländische Touristen verkauft werden, fertigen häufig Sklavenarbeiter aus Bolivien in dunklen, stickigen Hinterhoffabriken Sao Paulos. „Das ist eine Schande!“
Ob dem deutschen Team auffällt, daß sich ihr luxuriöses WM-Quartier just im nordöstlichen Teilstaat Bahia befindet, der für systematische Folter, Todesschwadronen, Gefängnis-Horror und Lynchjustiz berüchtigt ist?
Vor der „Copa“ hat Brasiliens Bischofskonferenz erneut die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Lande verurteilt, darunter das „Klima des Terrors“ in ganzen Regionen. Die Gesellschaft werde als Resultat des wirtschaftlich-sozialen Modells immer gewalttätiger, was zu mehr extremer Ausbeutung, darunter sexueller, sowie Selbstzerstörung durch Drogen führe.
Auch Padre Lancelotti widmet in der Kathedrale von Sao Paulo ein Gebet all jenen, „die Opfer von Repression und Folter sind.“ Soetwas im Land der Fußball-Weltmeisterschaft? Die bischöfliche Gefangenenseelsorge, doch auch Soziologen und Historiker haben vor der WM betont, daß die während des Militärregimes angewandte Folter weiterhin allgemeine Praxis ist. Brasilien sei sogar das einzige Land Lateinamerikas, in dem die Folter nach der Militärdiktatur zugenommen habe.
Lancelotti:”Während der Fußball-WM wird die Repression zunehmen.”
Auch ein ganz Prominenter, der in Deutschland vielgelesene brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho, erhebt seine Stimme: „Die derzeitige Regierung ist ein Desaster – die Proteste sind absolut gerechtfertigt. Ich kriege alle WM-Eintrittskarten gratis – doch ich nutze sie nicht, gehe zu keinem einzigen Spiel. Ich kann doch nicht in einem Stadion sitzen und wissen, was draußen in den Krankenhäusern passiert, mit der Schulbildung – all das, was die Vetternwirtschaft der Arbeiterpartei von Lula bewirkt hat!“
Rodrigo Bueno aus Sao Paulo zählt zu den führenden brasilianischen Fußballexperten, hat während der WM in Deutschland für die auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ sowie für einen TV-Sportkanal die Spiele kommentiert. Nach der Rückkehr trifft ihn wie üblich der Kulturschock – Bueno sieht die Slums, das Massenelend, Desorganisation und Gewalt, die ganze geballte Häßlichkeit des abgasvergifteten Betonmeers von Sao Paulo. Der Entwicklungsabstand zu Europa wird ständig und deutlich spürbar größer. “Wie die Brasilianer leiden, was sie tagtäglich ertragen müssen, macht mich traurig und unzufrieden.”
Ein landesweit zu hörender Protest-Sprechchor – an Staatschefin Dilma Rousseff gerichtet: „Dilma, escuta, na Copa vai ter luta!“ („Dilma, hör zu, während der WM wird es Kampf geben!“)
Priester Luis Antonio Lopes, Leiter der bischöflichen Slum-Seelsorge in Rio de Janeiro:
“Wie kann man denn eine Fußballweltmeisterschaft und olympische Sommerspiele in einem Land veranstalten, das solche enormen sozialen Kontraste aufweist?”
„Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung leben. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben“, sagt Priester Luis Antonio Lopes, der die Slum-Seelsorge der Erzdiözese von Rio leitet und zudem Gemeindepfarrer in einer Peripherie-Region ist. „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten der Polizei gibt, also in den allermeisten Favelas. Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“
Brasilien ist die siebtgrößte Wirtschaftsnation, rund 24-mal größer als Deutschland, geprägt von teils unglaublichen soziokulturellen Kontrasten. Gut möglich, daß jemand nach einigen Tagen Rio sagt, nie zuvor so ein fröhliches, lebenslustiges, feier-und tanzfreudiges Volk gesehen zu haben, von Brasiliens Schokoladenseiten, ob Gastronomie oder Naturstrände, entzückt ist. „As aparencias enganam“, der Schein trügt, hört man hier häufig. Denn je nach persönlichen Wertvorstellungen und Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich nahezu alles ganz anders dar, wenn man Jahre, Jahrzehnte den Alltag intensiv erlebt. Wohl kein anderes Land ist so absurd mit Klischees behaftet, kultivieren zudem die Bewohner über den Nationalcharakter mancherlei Mythen. Sich davon verabschieden zu müssen, kann schmerzhaft sein. Rio – auch eine Stadt der Scheiterhaufen, systematischer Folter und Todesschwadronen? Die berühmte Karnevalsparade ist gar kein Karneval, der dort getrommelte Rhythmus kein Samba? Und weiterhin überall Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur.
Deutschland belegt auf dem aktuellen UNO-Index für menschliche Entwicklung den fünften Rang – doch Brasilien, gelegentlich als kommende Großmacht, Global Player bezeichnet, folgt weit abgeschlagen erst auf Platz 85, hinter Peru, der Ukraine, gar Albanien und Kasachstan, Libyen und Kuba. Im Supermarkt kosten viele Basisartikel mehr als in Mitteleuropa, doch in Rio de Janeiro und sogar in Lateinamerikas reichster Großstadt Sao Paulo liegt das Durchschnittseinkommen selbst laut amtlichen Zahlen nur bei umgerechnet rund 500 Euro, Billigstlöhne allerorten. Nach wie vor sind die Einkommensunterschiede immens, genießen nur wenige Prozent einen europäischen Sozialstandard, sieht man täglich Brasilianer in extremer Misere, todkrank, auf den Straßen. Die Regierung rühmt sich, viele Millionen aus Armut und Elend befreit, in die Mittelschicht katapultiert zu haben, zu der inzwischen über die Hälfte der Brasilianer gehöre. Doch amtliche Daten sind gewöhnlich arg geschönt, frisiert – wer monatlich um die 20, 25 Euro verdient, gilt offiziell allen Ernstes nicht mehr als arm. Mit einem Pro-Kopf-Familieneinkommen von etwa 100 Euro ist man gemäß den Bemessungsgrenzen gar schon Mittelschicht. Da wundert nicht, daß gemäß solcher verqueren Logik ein beträchtlicher Teil der „Classe media“ in den rasch wachsenden Slums haust, viele jener neuen “Mittelschichtler” gar Analphabeten sind, über die Hälfte nur wenige Jahre in der Grundschule war, mit dem bekannt niedrigen Niveau. Brasiliens Intellektuelle, darunter nicht wenige Architekten, analysieren solche Regierungspropaganda täglich in den Qualitätsmedien mit Hohn und Spott, haben eine viel kritischere Sicht des Tropenlandes als ihre mitteleuropäischen Kollegen.
Brasilien erlebte die letzten Jahre keineswegs einen Wirtschaftsboom, leidet unter Deindustrialisierung, absackender internationaler Wettbewerbsfähigkeit, geringer Effizienz. In der Schlange vor der Schnellkasse des Supermarkts verbringt man leicht 30, 40 Minuten, an den Nahverkehrshaltestellen fehlen Abfahrtszeiten. Die Kultur der Langsamkeit und Unpünktlichkeit hat dramatische Konsequenzen. Brasiliens Produktivität ist niedrig, erreicht nur etwa ein Drittel der entwickelten Länder – ein US-Arbeiter stellt soviel her wie fünf brasilianische. Inseln, Enklaven sind da hochmoderne multinationale Unternehmen aus den USA und Europa, die von hier aus für die Welt produzieren.
Zum Bild vom Global Player paßt zudem schwerlich, daß Brasilien zu den bürokratischsten Staaten zählt, auch deshalb der Anteil am Welthandel nur bei etwa einem Prozent liegt, am Welt-Kulturexport gar nur bei 0,2 Prozent. Gravierendes Entwicklungshindernis ist zudem die Infrastruktur, schlechter als in manchen afrikanischen Staaten. 2013 wurde in Sao Paulo ein Rekord-Stau von 763 Kilometern registriert, in Rio von über 455 Kilometern. Dies bedeutet, daß auch Vertreter hochqualifizierter Berufsgruppen, darunter Ärzte, etwa in Sao Paulo spätestens sechs Uhr ins Auto steigen müssen, um noch vor den grauenhaften, unberechenbaren Morgen-Staus in Praxis oder Klinik zu sein, viel zu früh. Metro und S-Bahn sind nur rudimentär, zwischen den beiden Wirtschaftsmetropolen existiert nicht einmal Zugverkehr. Den hat man abgeschafft, wie anderswo im Lande auch, und auf viel langsamere, dazu stauabhängige Busse umgestellt. Radwegenetze wie in Europa gibt es nicht.
Das heutige Brasilien wird 1500 von den Portugiesen entdeckt. Sie treffen auf Indianerstämme, die sich heftig bekriegen, gegenseitig versklaven, in Jagd und Handel von Menschen geübt sind. Das Kolonialreich importiert an die vier Millionen Sklaven aus Afrika, das Geschäft ist für für die dortigen Könige extrem lukrativ. Bedeutende, schwerreiche brasilianische Händler der Menschenware sind ebenfalls Schwarze. Jahrzehnte vor der offiziellen Sklaverei-Abschaffung von 1888 – die Unabhängigkeit wurde bereits 1822 erklärt – kommt es zu einem bezeichnenden Phänomen: Manche humaner gesinnten weißen Sklavenhalter geben Schwarzen die Freiheit, nicht wenigen Afrikanern gelingt es, sich freizukaufen. Kamen diese zu Geld, erwerben sie damit auf den Menschenmärkten Rio de Janeiros oder Bahias Afrikaner, werden selber Sklavenhalter, handeln mit ihren eigenen Brüdern. Archaische Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantik sind durch bestimmte Wertvorstellungen verbunden, die längst nicht ausstarben. Indianerstämme sind heute meist akkulturiert, doch weiter verfeindet – Sklaverei, die verbreitete Sklavenarbeit ist in Brasilien nach wie vor ein Dauerthema. Im größten katholischen Land spricht auch die Kirche von tiefverwurzelter kolonialistischer Sklavenhaltermentalität, weist auf die kraß ungerechte Einkommensverteilung, verdeckte Apartheid, die soziale Zusammensetzung der Slums. Dort hausen meist Sklavennachfahren, die Indianer-oder Schwarzenmischlinge, leichte Beute für Wunderheilersekten. In Rios gänzlich untouristischer Rua Camerino nahe dem Hafen erinnert keine Tafel, kein Denkmal daran, daß sich hier Brasiliens größter, entsetzlichster Menschenmarkt befand, in einer der bedeutendsten Sklavenhalterstädte der Weltgeschichte.
Selbst in den besseren Vierteln am Zuckerhut, in mehrere tausend Kilometer entfernten Städten und Dörfern sind Straßen von übermannshohen Stahlgitterzäunen gesäumt, von auffällig viel NATO-Stacheldraht vor Häusern und Appartementblocks. Will man jemanden besuchen, ähnelt das Procedere dem europäischer Militärobjekte, wird man von Wachleuten überprüft. Die Krone sind Privilegiertenghettos, große geschlossene Wohnanlagen, mit denen sich inzwischen auch weniger Betuchte immer perfekter gegen Misere und ausufernde Kriminalität abschotten. Bei gepanzerten PKW ist Brasilien Weltspitze. In keinem Land der Erde wird mehr gemordet, trifft es über 50000 jährlich. Schon in Sichtweite glitzernder Hightech-Geschäftshäuser sind neofeudale Banditenmilizen, die Maschinenpistolen der NATO-Armeen tragen, häufig unumschränkte Herrscher der Favelas, terrorisieren Bewohner, verhängen Ausgangssperren, paralysieren Protestpotential – manche minderjährige Kindersoldaten killten bis zu vierzig Menschen. Man lebt in Brasilien unter permanenter physischer Bedrohung, in einem Klima des Mißtrauens. Das hat negative Konsequenzen für die Sozialbeziehungen, auch für Liebe, Sex und Erotik. Streß und Depression sind Massenleiden, Psychopharmaka werden mehr konsumiert als in Mitteleuropa, man bemerkt auffällig viel Pflicht-und Scheinfröhlichkeit. Auch die Feierlaune leidet – am Karneval beteiligt sich nur eine Minderheit. Denn wegen fehlender öffentlicher Sicherheit ist nicht nur der größte Teil der Städte, sondern des gesamten Landes No-Go-Area. Einfach mal so, wie von zuhause gewohnt, im Wald spazieren zu gehen, ist unmöglich. Von Favela-Besuchen wird dringend abgeraten, lautet die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes – ein beträchtlicher Teil sehr komplexer brasilianischer Realität bleibt den allermeisten Ausländern daher verborgen.
Längst spricht man in den USA und Europa von Brasilianisierung, wenn es um gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin zu mehr Ungleichheit, prekären Lebensverhältnissen, sozialer Unübersichtlichkeit geht. Brasiliens Eliten mochten ihr Land noch nie, fühlten sich in Paris, New York, London oder Zürich stets viel mehr zuhause, gehen daher mit diesem Riesenstaat und seinen rund 200 Millionen Bewohnern nicht eben pfleglich um, agieren wie Fremde im eigenen Land, schaffen nichts Solides, das überdauern soll. Unfertiges, groteske Provisorien, Naturvernichtung allerorten. Beim Vergleichen mit lateinamerikanischen Nachbarn wie Argentinien, Uruguay oder Chile, die auf Weltrankings viel besser abschneiden, fällt dies sofort auf. Allein die Hauptstadt Brasilia – unfunktional, unpraktisch, fehlkonstruiert – in wenigen Jahren unter Aufsicht von Oscar Niemeyer hochgezogen. Das Massaker an Bauarbeitern, die damaligen inhumanen Arbeitsbedingungen bleiben gewöhnlich auch in Mitteleuropa unerwähnt. Für die meisten Brasilianer sind der Regierungssitz, der Nationalkongreß mit seinen vielen Millionären heute Symbole für Korruption und Nepotismus, die Skandalserie um gigantische Mittelabzweigungen und Machtmißbrauch reißt nicht ab. Weil auch deshalb selbst die Qualität des Bildungs-und Gesundheitswesens für ein Land dieser wirtschaftlichen Möglichkeiten so absurd niedrig ist, protestieren immer mehr Staatsbürger auf den Straßen, lassen aufgestaute Wut ab. Brasilien hat die weltweit größte Lepra-Dichte, die Aids-Epidemie ist längst nicht unter Kontrolle, die Behindertenrate etwa zwanzigmal höher als in Deutschland.
Die kosmopolitische Einwanderernation hat 26 Teilstaaten, frappierend unterschiedlich. Beliebteste nationale Tourismusdestination ist just der relativ kleine südliche Teilstaat Santa Catarina, mit der höchsten Lebensqualität, den niedrigsten Kriminalitätsraten, unübersehbar geprägt durch deutsche Einwanderer, weit überdurchschnittlich stark in Industrie und Landwirtschaft. Das Oktoberfest der Catarinenser wurde nach dem Karneval zum zweitpopulärsten Volksfest des Landes, selbst Amazonas-Indios vergnügen sich dort. Zwei weitere Einwanderergruppen, Japaner und Juden, haben trotz relativ geringer Kopfzahl im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes eine erstaunliche Position erreicht, müssen indessen viele Vorurteile ertragen. 1985 endete nach 21 Jahren das nazistisch-antisemitisch orientierte Militärregime, doch von Vergangenheitsbewältigung, gar Bestrafung der Diktaturverbrecher kann keine Rede sein. So ist Brasilien heute nur formell eine Demokratie, ein Rechtsstaat – wann er funktionieren wird wie in der Verfassung skizziert, ist völlig offen.
« „Boomland“ Brasilien – Schwellenland mit höchster Auslandsverschuldung, laut Weltwährungsfonds. Unter Lula und Rousseff Auslandsverschuldung kräftig vorangetrieben. „68,5 % des BIP“. OECD sieht Brasiliens Wirtschaft an kritischem Punkt. Petrobras und Vale mit enormen Wertverlusten – 100 Milliarden Real in 12 Monaten. – Brasilien-Systemkritikerproteste 2013: „Alle Mittel recht, um das Volk wieder von der Straße wegzukriegen.“ Tageszeitung in Sao Paulo zur Lage. Präsidentin Dilma Rousseff trifft sich taktisch geschickt mit dem Präsidenten des Obersten Gerichts, dem Schwarzen Joaquim Barbosa, sehr populär unter den Demonstranten. »
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