Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Brasilien, WM 2014, Alltag, verstärkte Landesklischees. Lynchfälle, Massenfestnahmen vor Spiel Brasilien-Kolumbien – herausgeputzte Copacabana läßt viele Ausländer denken, so sei Brasilien.

Brasilianische Zeitungen machen sich weiter lustig über den auch von mitteleuropäischen Medien vermittelten Eindruck, die zur WM aufgepeppten, gut gesicherten Strandzonen Rio de Janeiros, besonders von Copacabana, seien wie Brasilien, gäben einen realistischen Eindruck vom Wesen des Landes. Zahlreiche Fans des Auslands, hieß es, verbringen im Grunde die ganze Zeit nur in Copacabana. Wann immer WM-Touristen in ihren Heimatmedien die WM lobten, priesen – „sensationell, spektakulär, wunderbar etc. – müsse man daher derartigen Angaben entsprechend mißtrauen. 

Brasiliens Regisseur Gerald Thomas über die Stadt am Zuckerhut:  ”Ein Scheiß-Badeörtchen, ein Cancun, ein Acapulco voller Schwätzer, Neider, Kanaillen, oberflächlich, boshaft, eng. Sao Paulo ist dagegen eine echte Metropole, hier ist Leben und Bewegung!”

 http://www.hart-brasilientexte.de/2014/01/11/brasilien-reisewarnungen-vor-der-fusball-wm-2014-von-favela-besuchen-wird-dringend-abgeraten/

Auch zur WM ist der Alltag Brasiliens von üblicher Gewaltkriminalität, darunter Morden,  gezeichnet, auch von Lynchpraxis. Bei Sao Paulo wurde laut Landesmedien am 3. Juli ein 67-jähriger Mann in einem Armenviertel von etwa 50 Personen während etwa 40 Minuten auf grauenhafte Weise gelyncht, Bewohner Sao Paulos berichteten von anderen Fällen. Vor dem Spiel Brasilien-Kolumbien nahm die Polizei in Fortaleza nahe dem Stadion mindestens 30 Demonstranten fest, die gegen die horrenden Kosten der WM protestiert hatten. Spruchbänder, Plakate wurden beschlagnahmt, hieß es. 

Adveniat und WM-Berichterstattung:  http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/26/ds-lateinamerika-hilfswerk-adveniat-kritisiert-die-berichterstattung-der-offentlich-rechtlichen-sender-von-der-fusball-wm-in-brasilien/

In Rio de Janeiro, Sao Paulo und anderen Spielorten läßt sich derzeit gut beobachten, wie in und-ausländische TV-Teams die üblichen WM-Jubel-Aufnahmen arrangieren. Zuständige der Kamerateams sprechen mit als geeignet empfundenen Teilnehmern der Fan-Feste ab, wie sie sich im Falle des Kameraschwenks zu verhalten haben, wie beispielsweise die Nationalfahne zu schwenken sei.  Sind die Proben für die als spontan ausgegebenen TV-Aufnahmen abgeschlossen, warten Kamerateam und Fest-Teilnehmer teilweise fünfzehn Minuten nicht selten mürrisch, bis endlich die Zuschaltung in aktuelle Programme erfolgt, der Reporter euphorisch ins Mikro spricht und neben ihm die ausgewählte Gruppe das eingeübte Programm abzieht, jubelt, springt und singt wie wild. Dann schwenken nicht selten Scheinwerfer und Kamera auf die Masse der anderen, bisher nur herumstehenden, Bier trinkenden Fans, worauf diese, längst auf die TV-Aufzeichnung aufmerksam geworden, dann ebenfalls wie angestochen losjubeln und gestikulieren. Werden die Scheinwerfer abgeschaltet, brechen alle Beteiligten ihre Inszenierung jäh ab. 

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TV-Feierfreude-Inszenierung zur WM 2014 – FanFest in Sao Paulo, Jubel wie gewünscht in die Kamera.

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Auffällig schwach geschmückte Fassaden zur WM in der Megacity Sao Paulo, was selbst Schriftsteller Luiz Ruffato als bezeichnend herausstellt – Feierfreude  im Vergleich zu früheren WM eher gedämpft, spürbar weniger Indentifikation mit dem Event.

 http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/04/brasilien-lynchpraxis-heute-tage-der-intoleranz-immer-wieder-unschuldige-gelyncht/

WM-Proteste und Medienecho: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/03/brasilien-geldfusball-wm-2014-deutschsprachiger-mainstream-kurios-je-mehr-wm-und-systemkritische-strasenproteste-kundgebungen-mahnwachen-in-lateinamerikas-wirtschaftlich-und-kulturell-wichtigst/

Rio de Janeiros Waffen-Rap, zur Fußball-WM von 2010 Hit in den Diskotheken Südafrikas, wird derzeit vielgespielt in den Discos von Miami, laut brasilianischen Landesmedien:

Neoliberaler Zeitgeist am Zuckerhut – der Waffen-Rap, anklicken(2013):http://www.youtube.com/watch?v=ZthNYozVwNM

  http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/01/brasiliens-gewaltkultur-der-populare-waffenrap-zur-fusball-wm-in-sudafrika-der-diskotheken-hit/

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Clip-Ausriß.

Trailer des brasilianischen Spielfilms „Tropa de Elite 2″, gezeigt auf der Berlinale 2011:

http://www.youtube.com/watch?v=SK8Mvd0u7YU

“Der Irak ist hier”:  http://www.hart-brasilientexte.de/2012/09/13/der-irak-ist-hier-menschenrechts-samba-von-jorge-aragao-aus-rio-de-janeiro-seit-jahren-hochaktuell-das-blutbad-vom-september-2012/

Folter: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/10/03/jeden-tag-gibt-es-folter-in-brasilien-bischofliche-gefangnispastoral-bekraftigt-einschatzung-des-anti-folter-experten-aldo-zaidanmenschenrechtsministerium-wahrend-carandiru-gedenkgottesdienst/

Angela Merkel äußerte sich beim WM-Besuch zum Folterproblem nicht: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/16/deutsche-bundeskanzlerin-angela-merkel-reist-zur-wm-2014-nach-brasilien-trotz-gravierender-menschenrechtslage-bei-treffen-mit-staatschefin-dilma-rousseff-in-brasilia-waren-schwere-menschenrechtsve/

Hintergrund:

Kein prima Klima – die Musikszene vor der Geldfußball-Weltmeisterschaft 2014

2006, vor der WM in Deutschland, steht Brasilien schon Monate vorher nahezu Kopf – Vorfreude, karnevaleske Euphorie, Spannung, Menschentrauben an den Straßenbars und nur ein Thema.  Viele Klischees – etwa die von typisch brasilianischer Musik-und Tanzbegeisterung, scheinen  wieder zu stimmen. Fußball-Sound, Fußball-Hymnen wummern durch die Straßenschluchten der Millionenstädte – keine Musikshow, ob Samba, Forró oder Rock, ohne die mitreißenden Klassiker, Gassenhauer des „Futebol“.

2014 ist von all dem sogar Wochen vor dem WM-Anpfiff  nichts zu spüren. Stattdessen verwirrendes Desinteresse und Pessimismus bei einem Teil der Brasilianer – Wut, Empörung bei den restlichen.  Zwar werden einige neue Fußball-Songs mit WM-Bezug auf den Markt geworfen – doch nicht einmal das offizielle FIFA-Lied „We Are One (Ole Ola)“( http://letras.mus.br/pitbull/we-are-one-ole-ola-fifa-world-cup-song/), mit bekannten Namen der brasilianischen Popmusik,  animiert, ist zudem selbst in den Radios kaum zu hören.

 Bereits im April, so seriöse Umfragen, finden nur noch 48 % gut, daß die WM in ihrem Land veranstaltet wird – Tendenz sinkend. Die Mehrheit weist auf immer gravierendere soziale Probleme, auf Staatskorruption, Mittelverschwendung, gebrochene Regierungsversprechen, auf das grauenhafte öffentliche Gesundheits-und Bildungswesen.

Deutschland liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklungs auf Platz 5, der strategische Partner der Berliner Regierung indessen nur auf Platz 85 – Kuba, nebenbei bemerkt, auf Platz 59. Die Mordrate Rios – laut Studien etwa dreißigfach höher als die Deutschlands.

“O Iraque é aqui”, Der Irak ist hier, singt  Jorge Aragao in einem sozialkritischen Rio-Samba, „das Volk lebt in Angst.“

Sein Kollege Marcelo Yuka, 2000 von neun Banditenkugeln getroffen, seitdem im Rollstuhl, analysiert 2014:“In Brasilien gewinnen heute Grausamkeit, Faschismus und Dummheit die Oberhand.“

 

Und kann sich das jemand in Deutschland vorstellen? Selbst in der Megacity Sao Paulo, reichste Stadt Lateinamerikas mit über 2600 Slums, brechen Kranke in der Warteschlange vor Hospitälern tot zusammen, sterben andere auf dem harten Boden von Klinikkorridoren, weil Ärzte und Pfleger, Medikamente und Betten fehlen.  Dazu gravierende Menschenrechtsverletzungen: Systematische Folter, Todesschwadronen, Diktatur des hochbewaffneten organisierten Verbrechens vor allem über die Slumperipherien, Scheiterhaufen-und Lynchpraxis, Sklavenarbeit, weltweit höchste Zahl von Morden an Homosexuellen, von den kontinuierlichen Morden an systemkritischen Journalisten, Bürgerrechtlern und Umweltaktivisten ganz zu schweigen.

Statt Fußballmusik drängte sich in der lateinamerikanischen Kulturhauptstadt Sao Paulo ein ganz anderer Sound in den Vordergrund: Permanentes Knattern von Hubschraubern der Militärpolizei, Sirenen der Militärpolizei, Sprechchöre von Demonstranten, Explosionen von Tränengas-und Blendgranaten. Wieso Militärpolizei und keine zivile? Selbst Lula und seine Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff behielten dieses berüchtigte Relikt der Folterdiktatur bei – Lula stand sich bereits unter dem Militärregime bestens mit der extremen Rechten.

WM-Anpfiff ist am 12. Juni im Itaquerao-Stadion von Sao Paulo – kurz zuvor zeigt das jährlich größte städtische Kulturfestival „Virada Cultural“  die Stimmungslage. Nur noch etwa halb soviel Publikum wie 2013, auffällige Desorganisation, Dutzende von „Arrastao“, Fischzug, genannten Überfällen, bei denen Gruppen von bis zu hundert bewaffneten Kriminellen über Festivalbesucher herfallen, diese berauben. Dazu Plünderungen aller Art – Bands müssen wegen Banditenattacken ihre Auftritte abbrechen bzw. absagen. Fußball-Songs, WM-Stimmung – Fehlanzeige. Wer als europäischer Besucher dachte, die ganze Vielfalt brasilianischer Populärmusik anzutreffen, wird bitter enttäuscht. Auf den meisten Festivalbühnen zweit-bis drittklassiger Rock in-und ausländischer Bands, Samba-Stars an den Rand gedrückt wie noch nie. „Der Samba liegt im Sterben“, singt Altmeister Nelson Sargento bitter-ironisch auf einer abgelegenen Bühne vor höchstens zweihundert Leuten – einige Jahre zuvor steht  er indes vor mehreren tausend auf der Hauptbühne. Doch inzwischen haben Sao Paulos Kulturverwalter gewechselt, der neue Bürgermeister Eduardo Haddad, Ex-Bildungsminister, ist aus der Arbeiterpartei von Lula. Seit dessen Amtsantritt 2003 gerät auch Brasiliens genuine Musikkultur immer mehr ins Abseits, bekommen nordamerikanische Wegwerf-Rhythmen staatlichen Rückenwind wie nie zuvor. Die Kultur des Tropenlandes, so renommierte Kulturkritiker und Musiker, wird zunehmend „entbrasilianisiert“,  Markt und staatliche Kulturpolitik favorisieren die kommerziellen Megatrends der internationalen Musikkonzerne, darunter Primitiv-Rap, auch extrem sadistischen Gangsta-Rap, Hiphop und Reggae. Darfs ein bißchen plastisch-anschaulich sein?

„Steck ihn mir hinten rein, steck ihn mir vorne rein – fick mich durch, fick mich durch“, schallt von einer Freiluft-Massendisco namens „Baile Funk“ tausende Male wiederholt in Hardrock-Lautstärke über ganze Stadtviertel von Rio de Janeiro oder Sao Paulo. Das ist ein noch harmloser Text, gängigere wären schwerlich hier abdruckbar. Gibt es Scheiterhaufen-HipHop zum Tanzen, mit Texten, die sich über Verkohlende lustig machen? Aber natürlich – daß Menschen, zumeist mißliebige Slumbewohner, etwa Bürgerrechtler, von Banditenkommandos lebendig verbrannt werden, weiß jeder in Brasilien, ungezählte Slumkinder haben bereits zugesehen.

Ein Glück, daß es dann wenigstens noch alljährlich den Samba-Karneval gibt, mögen manche in Deutschland einwenden. Deutsche Medien verbreiten Jahr für Jahr, ganz Brasilien sei im Sambataumel. Schön wärs, zumal Samba noch nie die populärste Musik des Tropenlandes war, Sertaneja-Rhythmen seit jeher vorn liegen.

Noch in den 80er, 90er Jahren kannte vor allem in Rio de Janeiro fast jedermann die neuesten Karnevalssambas, sang sie bei den berühmten Paraden mit, tanzte dazu. Vorbei. Heute wird die Parade von den allermeisten konsumiert wie ein Konzert mit Folklore vergangener Zeiten. In den Diskotheken an der Paradestrecke wird Rap und HipHop aufgelegt.

Brasiliens wichtigster Sänger und Komponist Chico Buarque: “In den Karnevalssambaschulen wird schon lange kein Samba mehr gelehrt, tanzt doch keiner mehr echten Samba no Pé. Was man dort komponiert, interessiert mich längst nicht mehr, hat mit Sambakultur nichts zu tun. Das sind Märsche, man merkt es an Struktur und Melodie.”

Kollege Ney Lopes, Komponist und Sambamusiker, zudem Schriftsteller: “Der heutige Karneval macht mir regelrecht Angst, ich lasse mich dort schon lange nicht mehr blicken. Den Sambaschulen gehts zuallererst um Kohle.“

Er kritisiert ebenfalls die von den großen Musikkonzernen betriebene kulturelle Gleichschaltung. Unter dem Primat der Globalisierung, so Lopes, erreichten diese “Internationalierungsanstrengungen” ihren Höhepunkt. “Die transnationalen Konglomerate attackieren in allen Formen und an allen Fronten, um Brasiliens Musik gleichzuschalten. Gerade der Samba werde wegen seiner starken symbolisch-ästhetischen Inhalte immer wieder strategisch angegriffen. Samba sei eines der Hauptziele des von den internationalen Musikkonzernen angerichteteten Massakers. An diesem “Massaker” beteiligen sich auch in Deutschland nicht wenige pseudoprogressive Figuren der Musikmedien, die nicht zufällig schon seit Jahren guten brasilianischen Samba beiseiteschieben und stattdessen ganz im Sinne der Auftraggeber die bekannten “Megatrends” entsprechend mitteleuropäischen “Hörgewohnheiten” favorisieren.

 Übertreibt  Ney Lopes? Keineswegs – andere Große der Musica Popular Brasileira analysieren ähnlich.

Zeca Pagodinho:“Im Grunde gibt es keinen Karneval mehr, sie haben alles geraubt, zerstört, was unsere Kultur war. Der Karneval ist tot”.  

Martinho da Vila, Samba-und Karnevalskomponist:“Der Karneval hat sich völlig von seinen Ursprüngen entfernt, wurde Industrie – alles dreht sich um Profit.”

“Der Karneval war keine Aktivität für Profit – dies war nicht das Ziel; doch wie früher wird es nicht mehr. Alles ist kommerziell und muß Geld bringen, niemand tut noch etwas nur aus Lust und Vergnügen…Ich mag nicht, daß es so geworden ist. Ich ziehe das Vergangene vor, als alle sich als Eigentümer der Sambaschule fühlten und sich einsetzten, damit die Dinge funktionierten. Heute ist das nicht mehr so. Sogar im Karneval hat der Kapitalismus gesiegt…Die Sambaschulen sind fast so wie die Fußballklubs.” Was derzeit an sogenannten Sambas in den Radios gespielt wird, findet Martinho da Vila grauenhaft, musikalisch armselig: „Von solchen Sambas könnte ich zehn am Tag produzieren.“

Auffällig, daß auf vielen Straßenumzügen selbst des Rio-Karneval keinerlei oder kaum noch Samba gespielt wird – stattdessen Pop, Rock, Rap, Tecno, Rio-Funk – wie auf Festen außerhalb des  Karnevals. Deutlich weniger Brasilianer hören, spielen Samba – und schlimmer noch – viel weniger können ihn überhaupt tanzen. Sambaschwoofs waren noch in den siebziger, achtziger Jahren ein kulturelles Massenphänomen des Nachtlebens der Großstädte und des Hinterlands. Heute sind die Chancen, irgendwo Samba, Bolero oder Forrò tanzen zu können, in Brasilien stark geschrumpft, nur eine ständig geringer werdende Minderheit kann überhaupt noch die Schritte.

Stop – aber dieser Rhythmus bei der berühmten Rio-Karnevalsparade – das ist doch Samba? Schon lange nicht mehr, wie Kultur-und Politikkolumnist Janio de Freitas betont: „Diese Parade ist gar kein Karneval. Von Schulen, wie man die Samba-Organisationen nennt, haben sie nichts an sich – vom Samba ebensowenig.” Was im Sambodromo von den Sambaschulen gezeigt werde, könne man auch an jedem anderen beliebigen Tag des Jahres aufführen. Defiliert eine Sambaschule, singt sie über 80 Minuten immer dasselbe Lied. (Testen Sies mal im Selbstversuch mit einem deutschen Karnevalsschlager…)

In der Tat handelt es sich um eine Aufführung mit Musik, das Karnevaleske ist gestellt und nicht spontan wie früher, alles verlangt den Teilnehmern wegen des Wettbewerbsprinzips viel Konzentration ab, wie von Schauspielern auf der Bühne. Entsprechend gespannt wirken die Defilierer bereits vorm Start, nur zu oft total kaputt, fertig am Ende der Parade.Das Publikum macht nicht mit, sondern schaut, von Ausnahmen abgesehen, nur zu, konsumiert.

Früher indessen, so Freitas, war der Rio-Karneval eine außerordentliche Ansammlung bezaubernder Originalität, freier Kreativität, spontan, glückselig, im wahrsten Sinne des Wortes volkstümlich. 

Brasiliens populärster Kommentator, der Cineast Arnaldo Jabor:”Karneval wird nicht mehr erlebt, sondern man schaut ihm zu.”  Laut Umfragen nehmen  nur etwa 25  Prozent der Brasilianer tatsächlich teil.

Brasilianerinnen konstatieren:  “Unser Karneval ist nicht mehr sexy, selbst im Karneval von Rio spielt Sex immer weniger eine Rolle.”

Außerhalb des Kommerz-Exhibitionismus von Parade und Shows passiert heute auf Rios Straßen kaum noch Aufregendes, gar Frivoles – die allermeisten trinken ihr Bier und gehen dann brav nach Hause. Der Karneval hat sich auf ganz erstaunliche Weise enterotisiert, ist auf den früher so frivolen Bällen direkt asexuell geworden – das Klima von Flirt und Verführung ist nahezu verschwunden, eine soziokulturell anders gepolte junge Generation, die Sex und Erotik kaum noch viel abgewinnen kann, drückt auch dem Karneval zunehmend ihren Stempel auf.

Auf den Sambaschwoofs nahm niemand Drogen, kam es nie zu brutalen Schlägereien. Jetzt erlebt Brasilien einen Boom von Raves, auf denen auch deutsche DJs auflegen. Drogen aller Art werden dort massenhaft konsumiert, die Raves schufen einen neuen, zusätzlichen Rauschgiftmarkt – oder wurden extra dafür geschaffen. Massenschlägereien mit Toten, Schwerverletzten machen regelmäßig Schlagzeilen. Von den „Bailes Funk“ mit sexistischen, sadistischen Raps ganz zu schweigen.

–Kein Musikunterricht an Brasiliens Schulen—fatale Folgen für Musikszene-
Während der Diktaturzeit wurde in Brasilien auch der Musikunterricht an den Schulen abgeschafft. 1985 endete das Militärregime, doch bis heute wurde das vergleichsweise gute Vor-Diktatur-Niveau an den öffentlichen Schulen nicht wieder erreicht, wurde auch der Musikunterricht nicht wieder eingeführt – trotz permanenter Forderungen von Musikexperten, Psychologen, Soziologen, die natürlich auf das Vorbild mitteleuropäischer Länder verweisen.
Die Folgen solcher Starrköpfigkeit und Verantwortungslosigkeit Brasilias sind zunehmend fataler: Kinder, Jugendliche ohne Stimmschulung durch Musiklehrer singen entsetzlich falsch und merken es nicht. Keineswegs ungewöhnlich, Heranwachsende zu treffen, die auf total verstimmten Gitarren spielen und dazu auch noch völlig schräge singen.

Ohne guten Musikunterricht keine Grundkenntnisse über klassische Musik, kein von klein an gefördertes Interesse daran, keine musikalische Sensibilität, kein Sinn für Echtes, für Qualität. Und dadurch mehr Anfälligkeit für billigste Wegwerfmusik, wie vom Musikbusiness gewollt. Das gilt auch für Deutschland.

Wird Brasiliens Populärmusik, werden Samba und Forrò schon in absehbarer Zeit im Museum landen, weil die global agierenden Musikkonzerne in dem Tropenland zunehmend nordamerikanische Rhythmen und Stile wie Rap und Hiphop durchdrücken und heimisch machen, den Musikgeschmack, die Hörgewohnheiten der Brasilianer verändern? Dori Caymmi, aus einer hochkarätigen Musikerfamilie Brasiliens, steht auf diesem Standpunkt.
„Was sich derzeit abspielt, ist sehr dekadent, unsere Musikkultur wird regelrecht demoliert. Als Resultat der Globalisierung sehe ich überall kulturelle Infiltration, unsere Musik verliert diesen typisch brasilianischen Charakter, man imitiert kulturell Minderwertiges. Hier in Brasilien wird doch alles aus den USA kopiert, unser Modell ist nordamerikanisch – die Fernsehprogramme, die Ideen, die Kleidung. Alles Neue kommt von dort – und zwar sofort!” Gewaltvideos und Killerspiele geradezu in Massen.
“Unsere Kultur ist heute eine nordamerikanische – aber eben leider die armselige von dort, die des ungebildeten Nordamerikaners. Was die Musikkonzerne jetzt in Brasilien durchdrücken, auch über Bestechung, große Korruption, das berüchtigte Jabaculè, ist entsetzlich kommerziell, selbst die Kultur unserer Schwarzen wurde bereits ausgetauscht – der Samba, die Sambaschulen kamen aus dem Takt. Ich denke, es gibt keine Zukunft mehr für unsere Musik. Echte brasilianische Musik wird bald im Museum landen. Die brasilianische Kultur verarmt generell.“

Auffällig ist, daß Dori Caymmi beinahe wie ein Rufer in der Wüste wirkt, niemand sonst auf die Barrikaden geht. “Ja, ich prangere diese Dinge offen an, all das, was hier hereinkommt – und dadurch verliere ich Sponsoren. Die sagen sich, den engagieren wir nicht, der ist unser Gegner. Meine Musikerkollegen verkneifen sich Kritik. Die großen Künstler Brasiliens, in ihrer Mehrheit, wollen keine Einkünfte verlieren, passen sich lieber an, loben diese Trends, die ich scharf verurteile.

Sprechgesang, Hiphop, Techno, überhaupt primitiv-monotone elektronische Musik hält Dori Caymmi für entsprechend armselig: “Die Leute hören heute Musik nicht mehr mit den Ohren, sondern mit dem Arsch. Die neue Musikergeneration hat keine Seele, singt simpel, mit wenig Emotion. Dieser neue Stil ist nicht mehr brasilianisch, wie der meiner Generation, ob Maria Bethania, Elis Regina oder Gal Costa.

Schriftstellerin Heloisa Seixas nach einer Deutschlandreise. ”Bei der Rückkehr in Brasilien packte mich das Gefühl, daß wir ein Land der billigen Trends und Moden sind. Ein nichtiges, belangloses Volk. Brasilien – dieses Land, das keine Bücher liest, aber wo fast alle ein Handy haben. Wir sind eitel. Wir wollen Botox im Gesicht und Silikon in den Brüsten. Auf den Straßen in Europa sieht man nicht diese Quantität an künstlichen Brüsten wie hier.”

Was brasilianische Kulturkritiker beunruhigt: Alle führenden Musiker und Komponisten der Musica Popular Brasilieira sind 70, 80 – doch niemand knüpfte  ansie an, entwickelte deren Stile weiter. Als ob alle Kreativität in den Sechzigern, Siebzigern, Achtzigern geendet habe, fragen sich viele.

Auf die Fußball-Lieder trifft genau dies zu. Just „Pra frente Brasil“, Vorwärts Brasilien, komponiert von Miguel Gustavo für die WM von 1970, mitten in der Diktaturzeit,  ist nach wie vor d i e Fußball-Hymne Brasiliens.

„Neunzig Millionen in Aktion“, heißt es da, denn damals hatte das Land soviele Einwohner – heute sind es rund 200 Millionen, die Bevölkerungsexplosion brachte Brasilien gravierende Sozialprobleme.

 



Noventa milhões em ação
Pra frente Brasil, no meu coração
Todos juntos, vamos pra frente Brasil
Salve a seleção!!!
De repente é aquela corrente pra frente, parece que todo o Brasil deu a mão!
Todos ligados na mesma emoção, tudo é um só coração!
Todos juntos vamos pra frente Brasil!
Salve a seleção!
Todos juntos vamos pra frente Brasil!
Salve a seleção!
Gol!

Nachfolge-Songs sind häufig heftig politisch unkorrekt. Immer wieder wird die „brasilianische Rasse“ besungen, gerühmt und gepriesen, ist von „Kraft der Rasse“ die Rede, wird mit „Rasse“ gestürmt, mit „Rasse“ gekämpft, gesiegt. Brasiliens Bestsellerautor Verissimo, im Nebenberuf Fußballexperte, erklärt solche Texte aus einer Zeit, in der man in Brasilien „ die Überlegenheit unseres Fußballs mit unserer Rassenmischung begründete, mit der natürlichen Elastizität der Schwarzen, ererbt vom früheren Zusammenleben mit Tieren Afrikas – all diese Dummheiten! Der Rest der Welt verlor, weil er eben diese unbeweglichen Hüften hatte. Und falls mal Brasilien gegen ein Team der harten Hüften unterlag, hatte man eben nicht brasilianisch gespielt, nicht auf Rhythmus und Beweglichkeit gesetzt. Solche Klischees überleben bis heute.“

Wenn demnächst die brasilianische Auswahl spielt, können sich deutsche Zuschauer bereits auf einen kurzen, prägnanten melodischen Schlachtruf der einheimischen Fans gefaßt machen:“Eu sou brasileiro, com muito orgulho e muito amor!(Ich bin Brasilianer, mit viel Stolz und viel Liebe!“)

Dieser Beitrag wurde am Samstag, 05. Juli 2014 um 20:44 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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