Brasiliens größte Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ ändert aus nicht bekannten Gründen in diesen Tagen ihre Linie, kritisiert den rechtsgerichteten Kandidaten Aecio Neves immer schärfer. In einer Analyse „Die Rückkehr des Herren“ wird Neves als Reicher eingestuft, der nie gearbeitet habe, es sei denn in der Politik – seine Familie zähle zu den Großgrundbesitzern. „Aecio versteckt eine nahezu monarchische Restauration, der Übergabe der Macht an die Herren von jeher. Man verändert, um nichts zu verändern.“
“Aecio Never” – Poster in Sao Paulo.
In einer weiteren Analyse wird vernichtende Kritik am Vorgehen von Aecio Neves als Gouverneur des wirtschaftlich wichtigen Teilstaats Minas Gerais geübt – darunter in den Bereichen Gesundheit, Bildung, öffentliche Sicherheit. Unter Neves sei die Kriminalität deutlich gestiegen. „Doch Aecio Neves lügt niemals“ – heißt es ironisch dazu.
Viele Brasilianer machen sich unterdessen über die wechselnde Haarfarbe von Aecio Neves lustig – einmal bevorzuge er Schwarz, dann wieder viel Grau im dunklen Haar, was wohl Seriosität, Reife symbolisieren solle.
Dilma-Rousseff-Fahne vor neuem Salomon-Tempel in Sao Paulo.
Die politischen Gefangenen der WM 2014: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/10/04/brasilien-die-politischen-gefangenen-der-geldfusball-wm-2014-kein-thema-der-armseligen-kandidatendebatten-vor-der-prasidentschaftswahl-nationale-menschenrechtsbewegung-und-qualitatsmedien-reflekti/
Ausriß, Video über Senator Neves, betrunken am Steuer, mit Freundin unterwegs, von Polizei gestellt.
Hintergrund(aus telegraph, 2000)
telegraph #102/103
MARKT UND MORAL
Nett zum Massaker-Demokraten
Klaus Hart
Auch Rot-Grün hofiert – wie zuvor Kohl – Brasiliens Mitte-Rechts-Staatschef Cardoso. Ist er in Berlin bei Schröder, Fischer, Trittin & Co., unterbleibt Kritik an dessen Verantwortung für Todesschwadrone, Blutbäder an Landlosen, Massenfolterungen sowie Amazonasvernichtung komplett.
Sozialdemokrat Schröder wählte unter den Staatschefs dieser Erde den brasilianischen Präsidenten und „Social-Democrata“ Fernando Henrique Cardoso aus, um mit ihm in Hannover die EXPO zu eröffnen, ihn auf dem festlichen Bankett als einzigen ausländischen Ehrengast eine Rede halten zu lassen. Eine interessante Entscheidung – Cardoso, hieß es offiziell, repräsentiere durch seine Biographie, sein Land, seine Regierung die Hauptthemen der EXPO – Mensch, Natur und Technik. Er sei jene Persönlichkeit mit den besten Voraussetzungen, Lösungsvorschläge für die Probleme des nächsten Jahrhunderts zu machen. Tags darauf war Cardoso in Berlin einer von – laut Eigendarstellung der Teilnehmer – „fünfzehn fortschrittlichen“ Staatschefs, darunter auch Clinton und Blair, die im Kanzleramt auf der Konferenz „Modernes Regieren im 21.Jahrhundert“ ein gewichtiges Wort mitredeten. Präsident Cardoso kann den politischen Eliten der Ersten Welt in der Tat nützliche Ratschläge geben, wie man neoliberale Konzepte brutal durchsetzt und dennoch recht problemlos an der Macht bleibt. Kam der Großgrundbesitzer, Ex-Soziologe und FU-Berlin-Ehrendoktor zu Kanzler Kohl an den Rhein, schlugen ihm ebenfalls Freundlichkeiten und allergrößtes Lob für seine Wirtschaftspolitik entgegen. Brasilien ist schließlich Hauptempfänger deutschen Kapitals in der Dritten Welt, Deutschland zählt zu den vier wichtigsten Investoren in dem Tropenstaat, längst unter den zehn größten Wirtschaftsnationen der Erde. Sein Bruttosozialprodukt übertrifft das von Russland oder China – allein jenes von Rio de Janeiro das von ganz Chile, jenes von Sao Paulo das von ganz Argentinien.
Ebenso herzlich werden in Deutschland stets Cardosos Vize, der zwielichtige Diktaturaktivist Marco Maciel, und Kongresspräsident Antonio Carlos Magalhaes empfangen – niemand störte sich daran, dass beide die tonangebenden Leute in der Arena-Partei des Militärregimes waren und damals schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit deckten. Heute sind sie mit Cardoso politisch hauptverantwortlich für Massaker an Landlosen, die Verfolgung und Ermordung ihrer Führer. Todesschwadrone wüten schlimmer als zur Diktaturzeit. Vize Maciel ist bis heute Mitglied der archaischen Elite des von Massenarmut und mafiosen Strukturen gezeichneten, Rauschgift auch für Europa produzierenden, Nordost-Teilstaates Pernambuco. Maciel ließ sich in den Neunzigern mindestens einen Wahlkampf laut Experten nachweislich vom organisierten Verbrechen mitfinanzieren. Die deutschen Handelskammern in Rio und Sao Paulo, effiziente Polit-Instrukteure deutscher Auslandskorrespondenten, machen stets gute Vorarbeit – in den Medien erscheint keine Zeile über Maciels Vergangenheit, nur Lob und Hudel, Großfotos zeigen den Gast beim Händedruck mit Ex-Geheimdienstchef Klaus Kinkel.
Selbst im Menschenrechtsbericht des US-State Department für 1998 wird betont, dass Folter, außergerichtliche Exekutionen und Polizeigewalt unter Cardoso weiter zunahmen. Beamte der berüchtigten Militärpolizei betätigen sich laut Report, in der Freizeit als Berufskiller und Entführer.
Ungesühnte Massaker
Unvergessen ist, dass ein Internationales Tribunal, dem Persönlichkeiten der UNO und des Weltkirchenrates sowie Literaturnobelpreisträger Josè Saramago angehörten, Cardoso und dessen Mitte-Rechts-Regierung 1996 zu den Hauptverant-wortlichen zweier barbarischer Blutbäder an Landlosenfamilien erklärten: Im Amazonas-Teilstaat Parà befahl der Gouverneur Almir Gabriel, Intimus von Cardoso, mit dessen Wissen, den Militärpolizei-Einsatz von Eldorado de Carajas, bei dem laut offiziellen Angaben neunzehn, nach kirchlichen aber über dreißig Menschen getötet wurden. Ein anderes Massaker ereignete sich im Amazonas-Teilstaat Rondonia – beide Verbrechen sind weiterhin ungesühnt. Auch bei Massenvertreibungen ist Cardoso Spezialist: Seine neoliberale Politik, so der Landlosen-Führer Joao Pedro Stedile, zwang weit über 400 000 Kleinbauern und Landarbeiter, aus den Agrarregionen in die entsetzlichen Slums der Millionenstädte wie Sao Paulo und Rio de Janeiro zu migrieren. Das Drama der Indianerstämme ist hinreichend bekannt: Das offizielle Brasilien feierte im April mit viel Pomp in Bahia die „Entdeckung“ durch portugiesische Seefahrer und Eroberer vor fünfhundert Jahren – unweit der Tribüne Cardosos knüppelte die Militärpolizei demonstrierende Indianer und Menschenrechtsaktivisten äußerst brutal zusammen. Die nationale Bischofskonferenz schloss sich den Protesten an, verurteilte so heftig wie nie zuvor auch Cardosos Menschenrechtskurs.
Auch Grüne schweigen völlig
Wie zu Kohl-Zeiten bleibt der Berliner Ehrendoktor auch bei jüngsten Deutschland-Visiten völlig ungeschoren. Kurioserweise vermeiden die deutschen Journalisten jegliche kritische Anmerkung, während auf denselben Pressekonferenzen die mitgereisten brasilianischen Kollegen den hohen Staatsgast mit direkten Fragen zu Landlosen und Bischofskonferenz regelrecht in Rage bringen. Um so auffälliger das Schweigen der zuständigen deutschen Instanzen, darunter die menschenrechtspolitische Sprecherin der Grünen, Claudia Roth und der grüne Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, Gerd Poppe, die bei Cardoso-Visiten stets passiv blieben. Poppe äußert sich gerne weitschweifig zur Lage in China, beklagte auch schwere Menschenrechtsverletzungen an Kosovo-Albanern durch die Serben. So seien, laut Berichten von Vertriebenen, wehrlosen Albanern die Kehle durchgeschnitten, die Augen ausgestochen, Nasen, Finger und Hände abgehackt worden. Frauen habe man die Brüste abgeschnitten, es gebe Massaker und systematische Vergewaltigungen. Poppe wurde aktiv, ging an die Öffentlichkeit, ohne Beweise in den Händen zu haben. Anders verfährt er im Falle Brasiliens. Da gibt es zahllose Beweise und Fotos von weit schlimmeren Greueltaten, ohne dass die Bundesregierung bis heute reagiert. Poppe selbst hat sich bereits 1996 mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Brasilien kundig gemacht. Auf telegraph-Anfrage drückt sich die Delegation vor klaren Positionen zu den immer krasseren Menschenrechtsverletzungen: “Wir kommen nicht, um uns einzumischen, um zu kritisieren, sondern um die helfende Hand zu reichen. “Cardosos Mitte-Rechts-Regierung werden guter Wille und Fortschritte bei den Menschenrechten bescheinigt. Mit der Delegation sitzt Poppe in der Luxusresidenz des Generalkonsuls von Rio de Janeiro an festlich gedeckter Abendtafel, verliert kein Wort über Greuel, die sich seinerzeit nur ein, zwei Kilometer entfernt ereigneten: Menschen im Slum „Morro de Coroa“ lebendig verbrannt, zerstückelt wurden. Die Delegation lobt Cardosos Politik, während danach an der Tafel ein in Rio tätiger, belgischer Menschenrechtler über die von den Regierenden täglich verantworteten, zugelassenen, tolerierten Menschenrechtsverletzungen berichtet, über Terror und Korruption. Man hört nur höflich zu, schweigt aber zu allem, wie auch der Generalkonsul. Bundespräsident Roman Herzog hält es an gleicher Stelle bei einem offiziellen Besuch Brasiliens genauso, vermeidet jegliche Position zur Menschenrechtssituation. „Ich weiß, dass sie hier gewisse Probleme mit der Kriminalität haben“, ist sein einziger Kommentar zu folgendem: In den Slums der brasilianischen Großstädte haben die Gewaltexzesse gegen schutzlose Bewohner die letzten Jahre für Europäer nahezu unvorstellbare Ausmaße angenommen – täglich werden ungezählte Opfer gefoltert, verstümmelt, geköpft, in Stücke gehackt, angezündet. Zeitungen zeigen die Verbrechen in Großaufnahme, telegraph hat zahlreiche Fotos vorliegen. Täter sind vor allem Banditengangs und Todesschwadrone, doch auch die Polizei agiert brutal. Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums, so betonen auch kirchliche Menschenrechtler, verhindert auf perfide Weise, dass deren Bewohner politisch für ihre Rechte kämpfen. Denn immer wieder werden engagierte Bürgerrechtler, die Slumassoziationen leiten und sich dem Normendiktat des, mit der Politik verzahnten, organisierten Verbrechens nicht beugen wollen, zur Einschüchterung ermordet. Ein katholischer Pfarrer sagte zum telegraph: “Die fortgesetzten Gefechte, Morde und anderen nahezu unbeschreiblichen Greueltaten, halten Kinder wie Alte in extremer Spannung und Angst – wer an den Hängen der Tijuca-Slums von Rio lebt, kann sich weder frei bewegen, noch frei sprechen. Um am Leben zu bleiben, müssen die Slumbewohner ihre wahre Meinung verstecken, den neofeudalen Banditenmilizen nach dem Munde reden. Niemand vertraut in den Staat – weil er die Rechte und Interessen der Slumbewohner nicht verteidigt, glauben diese, dass die Autoritäten mit den Verbrechersyndikaten auf irgendeine Weise liiert sind.“
Slumbewohner ohne Basis-Menschenrechte
Amnesty International betonte dazu, de facto befinde man sich in einigen Teilen Brasiliens noch im Mittelalter, Slumregionen Rios gehörten dazu. Die rund zwei Millionen Armen in den Favelas des, nach Sao Paulo, zweitwichtigsten wirtschaftlichen Ballungszentrums seien im Grunde Geiseln des organisierten Verbrechens und sämtlicher Basis-Menschenrechte beraubt. Für AI ist besonders schwerwiegend, dass die skandalöse Untätigkeit der Cardoso-Regierung vor allem in den unteren Bevölkerungsschichten das Gefühl des Ausgeliefertseins noch verstärke. Der Präsident habe im Ausland versichert, sich für die Menschenrechte der Unterprivilegierten einzusetzen – der Widerspruch zur tatsächlichen Lage sei eklatant. Anwalt James Cavallaro, Leiter des brasilianischen Human-Rights-Watch-Büros, sprach gegenüber der Zeitschrift ila wiederholt von „niederschmetternder Indifferenz“ der Cardoso-Regierung. Die Freiwilligenorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ agiert nicht nur in Afrika oder auf dem Balkan, sondern auch in Brasilien – ihr zufolge handelt es sich in Rio de Janeiro um „Guerra urbana“, Stadtkrieg.
Brasiliens Kindersoldaten
Yvonne Bezerra de Mello, eine der angesehensten Bürgerrechtlerinnen Brasiliens, prangert seit Jahren an, wie das organisierte Verbrechen mit Duldung der Politiker Straßenkinder rekrutiert, sie zu Kindersoldaten macht, die auch deutsche G-3 oder schweizerische Sig-Sauer-Sturmgewehre benutzen. Wer nicht mehr mitzieht, wird kurzerhand eliminiert, die Leichen lässt man meist verschwinden. In den Slums, so die, auch in Europa durch Buchveröffentlichungen bekannte, Expertin, gebe es Ställe mit Schweinen, die Überreste von Kindern auffräßen. Oder: “Ein Junge, oft nur dreizehn Jahre oder jünger, muss dem an einen Baum gebundenen Opfer, mit einer Rasierklinge solange ins Fleisch schneiden, bis es stirbt – sogar das Herz wird herausgetrennt, alles zur Einschüchterung auch der Slumbewohner.“ Nicht nur im deutschen Außenministerium dürfte bekannt sein, wie Yvonne Bezerra de Mello auch die Waffenexportgesetze der Ersten Welt scharf kritisiert: “Wenn mir in Rio ein Schweizer etwas über Neutralität erzählt, lache ich laut auf – Sig-Sauer-Sturmgewehre werden von den Gangstern jetzt am meisten importiert.“ Der linke Abgeordnete Carlos Minc aus Rio de Janeiro, Träger des Umweltpreises der Vereinten Nationen, nimmt jenen den Wind aus den Segeln, die das Kriminalitätsproblem in Drittwelt-Metropolen wie Rio oder Sao Paulo immer vorschnell-oberflächlich auf Armut, Elend zurückführen. Minc argumentiert: “In Rio de Janeiro sind Straftäter und Autoritäten Komplizen, das organisierte Verbrechen, das Drogenkartell herrscht in den Slums, pflegt enge Beziehungen zur Geschäftswelt, zur Stadtregierung, zu Polizei und Justiz, die daher Straffreiheit walten lassen, die Gesetze nicht anwenden, die Menschrechte der Bewohner missachten. Es reicht nicht, nur gegen die Ermordung von Straßenkindern zu protestieren – es muss verhindert werden, dass diese Kinder und Jugendlichen weiterhin perverserweise vom organisierten Verbrechen ausgenutzt, gegen die wehrlosen Stadtbewohner eingesetzt werden.“ Minc erinnert an die Ermordung von achtundvierzig Bürgerrechtlern, die zum Terror des Drogenkartells nicht schwiegen: “Die physische Eliminierung, wie seinerzeit durch die faschistischen Brigaden Mussolinis, darf nicht hingenommen werden.“ In Rio de Janeiro – weit über zwölftausend Morde pro Jahr – wird nur in acht Prozent der Fälle überhaupt ermittelt. Auch der grausam gefolterte, frühere militante Diktaturgegner Reinaldo Guarany, der in Deutschland Exiljahre verbrachte, in Bochum Betriebswirtschaft studierte, spart nicht mit Kritik an Brasiliens „Zivildiktatur“. Gegenüber dem telegraph spricht er von einer „Komplizenschaft des Staates mit dem organisierten Verbrechen“. FU-Berlin-Ehrendoktor Cardoso hat die Existenz rechtsfreier, de facto staatlicher Oberhoheit entzogener Slumviertel Rio de Janeiros, offensichtlich akzeptiert – bezeichnenderweise sagt er einen angekündigten Besuch im Elendsviertel Vigario Geral, wo 1993 Militärpolizisten einundzwanzig völlig unschuldige Bewohner erschießen, kurzfristig ab. Der im Slum aufgewachsene Soziologe und Men-schenrechtsaktivist Caio Ferraz wird zu Cardosos Amtszeit von Polizei und organisiertem Verbrechen so massiv mit Ermordung bedroht, dass er in einer schwierigen Operation von Amnesty International außer Landes gebracht wird. Ferraz ist damit einer von jenen Menschenrechtlern, die ebenso wie verfolgte Homosexuelle, politisches Asyl in den USA, Kanada oder Australien erhielten – und das fünfzehn Jahre nach der Militärdiktatur.
Pinochet-Hofierer Cardoso
Wenn die rot-grüne Bundesregierung wegen solcher Zustände keinen Grund sah, Cardoso weniger freundlich zu behandeln, hätte natürlich dessen Position zum Fall Pinochet Anlässe geboten. Der chilenische Diktator beging Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht alleine, sondern hatte Kumpane und Helfershelfer auch in Ländern wie Argentinien und Brasilien, von der intensiven CIA-Kooperation ganz zu schweigen. Präsident Carlos Menem wetterte von Anfang an gegen die Verhaftung Pinochets, Schröders Staatsgast Cardoso verlangte ebenfalls die Freilassung. Der brasilianische Präsident ist gleichzeitig Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er könnte die Öffnung der geheimen Militärarchive anweisen, in denen die Zusammenarbeit mit Pinochet und auch das Schicksal der Verschwundenen Brasiliens dokumentiert ist. Wie in Argentinien kollaborierten deutsche Multis – alleine in Sao Paulo gibt es über tausend deutsche Niederlassungen – eng mit dem Repressionsapparat der Diktatur, bespitzelten Arbeiter; in den Archiven dürften darüber Dokumente liegen. Doch Cardoso lässt die Finger davon, nimmt Rücksicht auf die Generalität, die nach wie vor den Militärputsch von 1964 würdigt und regelmäßig den hochverehrten Kollegen Pinochet einlud. Als Juso-Vorsitzender protestierte Gerhard Schröder 1978 vehement gegen den Deutschlandbesuch des berüchtigten brasilianischen Diktators Ernesto Geisel, der damals von Kanzler Helmut Schmidt, Willy Brandt und Leuten wie Filbinger empfangen wurde. In jenem Jahre wurden vom brasilianischen Militärregime Verbrechen wie im Chile Pinochets begangen, auf Protestdemonstrationen nannten die Jusos General Geisel einen skrupellosen Folterknecht und Mörder. Jetzt traf Gerhard Schröder als Bundeskanzler mit Cardoso jenen Mann, der Geisel zum Freund hatte, stets dessen „Leistungen für die Redemokratisierung“ lobte und auch noch eine achttägige Staatstrauer anwies, als er 1996 verstarb. Präsident Cardoso fördert geradezu Folterknechte von einst, in seiner „Sozialdemokratischen Partei“/PSDB wimmelt es von schwerbelasteten Diktaturaktivisten ebenso wie in der rechtsgerichteten Regierungspartei PPB. Dessen Flügelmann Jair Bolsonaro, ein Offizier der Militärpolizei, rechtfertigt ungestraft Massaker an Landlosen und Gefangenen: “Ich hätte ebenfalls geschossen“, betont Bolsonaro zum Blutbad an Landlosen von Eldorado de Carajas. Noch schockierender äußert sich der PPB-Politiker zum nach wie vor ungesühntem Massaker von Carandirù, bei dem Sao Paulos „Policia Militar“ 1992 mindestens 111 Gefangene ermordete. Über 5000 Schuss werden aus Mpis auf die Häftlinge abgefeuert, viele lässt man durch Bluthunde zerreißen. “Man hätte noch einige hundert töten müssen“, argumentierte Bol-sonaro allen Ernstes, “um Platz für andere Gefangene zu schaffen.“ Folter befürwortet er ebenfalls öffentlich. Cardoso & Co sahen nie einen Grund, auf solche Erklärungen zu reagieren. Der befehlshabende Massaker-Oberst wird Abgeordneter, gehört zum Parteienbündnis Cardosos, trommelte für dessen Wiederwahl.
Brasilien ist laut UNO ein Folterstaat
Als die UNO-Menschenrechtskommission Brasilien als Folterstaat einstufte, wies die Mitte-Rechts-Regierung dies auf der Stelle als ungerecht zurück. Josè Gregori, Cardosos PR-Agent für Menschen-rechtsfragen, lamentierte in Genf, der Norden richte über den Süden, Regierungen der reichen Länder sowie mächtige Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch urteilten parteiisch über Brasilien. Davon kann keine Rede sein – die Genfer Konferenz stützt sich auf verlässliche Studien, die auch Claudia Roth, Gerd Poppe und Joseph Fischer vorliegen. Eine hat der österreichische Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic miterarbeitet: “Sogar Kranke werden gefoltert, Wärter schlagen solange mit Eisenknüppeln auf Häftlinge ein, bis der Schädel aufsplittert und Gehirnmasse heraustritt“, beklagt Zgubic. “Für mich sind solche Gefängnisse Konzentrationslager.“
Trittin und Brasiliens Siemens-AKWs
Natürlich erkundigte sich telegraph auch im Umweltministerium nach Reaktionen auf Cardoso-Visiten. Als Juso-Chef hatte Gerhard Schröder seinerzeit heftig gegen den von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1975 mit den brasilianischen Diktatoren geschlossenen Atomvertrag protestiert – damals wurden immerhin unweit geplanter AKW-Standorte politische Gefangene gefoltert und lebendig Haien zum Fraß vorgeworfen. Mit deutschen Krediten, Hermes-Bürgschaften, realisiert Siemens-KWU den brasilianischen Atomeinstieg – 2000 ging südlich von Rio de Janeiro in einer erdrutsch- und erdbebengefährdeten Bucht der Atommeiler „Angra II“ des Biblis-Typs ans Netz. Mit Rekord-Baukosten von rund zehn Milliarden Dollar ist es der teuerste der Welt, bei 25-jähriger Bauzeit. Gleich daneben errichtet Siemens-KWU das AKW „Angra III“, Greenpeace, die brasilianischen Grünen und die Umweltverbände protestieren wiederum vehement – doch Präsident Cardoso will den Meiler unbedingt. Bundesumweltminister Jürgen Trittin nennt das Anfahren des tschechischen Atomkraftwerks Temelin ganz offiziell sicherheitstechnisch bedenklich und energiepolitisch verfehlt – im Oktober, als Cardoso wieder einmal bei Schröder und Fischer weilt, sein Umweltminister Sarney Filho ebenfalls nach Berlin kommt, erklärt er dagegen zu Angra II und III auf telegraph-Anfrage lediglich knapp: “Die Entscheidung, wie Dinge in anderen Ländern gestaltet werden, müssen Sie anderen Ländern überlassen – wir würden uns von anderen auch nicht reinreden lassen, wie wirs machen“. Anlässlich der Cardoso-Besuche wäre eine Distanzierung möglich gewesen. Sie unterblieb ebenso, wie sonstige Kritik an Brasilias Umweltpolitik. Dass die Cardoso-Regierung als absoluter Rekordhalter bei der Amazonasvernichtung in die Geschichte eingeht, steht laut Greenpeace Brasilien bereits fest. Nicht einmal während des Militärregimes wurden solche Zerstörungsraten erreicht. Die Bundesregierung ist Hauptgeldgeber des Pilotprojekts der G-7-Staaten zum Schutz der brasilianischen Regenwälder, über Zweihundertfünfzig Millionen Dollar gingen bereits an Brasilia – doch Cardoso gibt jährlich viel mehr Mittel allein für Personenkult und Propaganda aus. Einst warb SPD-Kanzler Schmidt kräftig für deutsche AKW in dem Tropenland – jetzt tut Minister Trittin selbiges für Windkraftwerke deutscher Unternehmen an der brasilianischen Atlantikküste. Ein sehr starker Partner ist dabei erneut Siemens-KWU, der die Innenausstattung, darunter das Herzstück, die Generatoren, für anderen Firmen liefert, aber auch komplette Windparks errichtet. Und da spätestens wird verständlich, warum sich der grüne Minister ebenso wie führende SPD-Umweltpolitiker mit Kritik an den Konzernprojekten Angra II und III so zurückhalten.
Stimmenkauf und abgewürgte Untersuchungsausschüsse
Bundeskanzler Schröder betont, dass Präsident Cardoso Vertrauen verdiene. Und weiß natürlich, wie clever sein stockneoliberaler sozialdemokratischer Kollege vom Zuckerhut beispielsweise kreuzgefährliche Untersuchungsausschüsse des Parlaments abwürgt, verhindert: Die wichtigsten Bestecher der Nation, darunter Multis, werden nicht ermittelt, Cardosos Verwicklung in einen Bankskandal bleibt im Dunkeln. 1997 erhalten Kongressabgeordnete umgerechnet jeweils um die die 300 000 Mark, damit eine die Wiederwahl Cardosos ermöglichende Verfassungsänderung durchkommt – jegliche Aufklärung wird unterdrückt. Stimmenkaufenthüller Fernando Rodrigues von der Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, für seine Recherche sogar mit dem „Premio Esso“, sozusagen Brasiliens Pulitzerpreis, geehrt, sagt frustriert zum telegraph: “Das ist hier eben wie in Afrika, wir sind ein unterentwickeltes Land.“ Sao Paulos Erzbischofsblatt wird noch drastischer: “Wir kommen zu dem Punkt, an dem man fast nicht mehr unterscheiden kann, wer Mensch und wer Schwein ist.“ Auch unter Cardoso werden Wahlen durch Stimmenkauf und andere Tricks massiv manipuliert, was selbst von der katholischen Kirche sehr heftig verurteilt wird – internationale Beobachterkommissionen ließen sich jedoch noch nie am Zuckerhut blicken. Brasiliens Neonazis ermorden Schwule
„Hitler“ als registrierter Vorname
Bundeskanzler Schröder sondert zumindest Lippenbekenntnisse gegen den Rechtsradikalismus ab, Cardoso verzichtet selbst darauf – obwohl Brasiliens gutorganisierte Neonazis inzwischen sogar Anschläge auf Aktivisten und Büros von Amnesty International verüben, immer wieder Schwule erschlagen. In jenem Brasilien, das so vielen NS-Kriegsverbrechern Unterschlupf und Aufstiegschancen bot, werden auch andere Minoritäten ihr Stigma nicht los. Besonders die vor Hitlers Gaskammern geflohenen Juden schmerzt, dass die brasilianische Gesellschaft überhaupt nichts gegen den Vornamen Hitler hat, der einen sogar in Zeitungsüberschriften anspringt. Selbst in den besten brasilianischen Wörterbüchern steht unter „Juden“ immer noch: “Schlechter Mensch, habgieriger Geizhals“. Der jüdische Abgeordnete und Therapeut Gerson Bergher, Mitglied von Cardosos Sozialdemokratischer Partei/PSDB, forderte diesen brieflich auf, etwas gegen die widerliche nazistische Charakterisierung zu unternehmen, sie austilgen zu lassen. In seinem Abgeordnetenkabinett in Rios City sagt mir Bergher: “Ich habe nicht mal eine Antwort bekommen.“ Ganz offensichtlich befand sich Schröder somit bei der EXPO-Eröffnung in „allerbester“ Gesellschaft – dennoch lehnten es Amnesty International und die Gesellschaft für bedrohte Völker ab, Cardosos Ausladung zu fordern, beließen es bei kaum wahrgenommener Kritik. Die deutschen Medien übersahen geflissentlich die Korruptionsaffäre um den brasilianischen Pavillon, den kein geringerer als der Präsidentensohn koordinierte. Als Staatschef Cardoso im Oktober erneut während eines viertägigen Staatsbesuches in Berlin bei Schröder aufkreuzte, alle Ehren erhielt, schwiegen Poppe, Roth & Co. wiederum im Kollektiv, ebenso natürlich die angepasste PDS, während einzig die Grüne Liga, Ostdeutschlands größter Umweltverband, mit dem Appell “Kein Staatsempfang für Regenwaldzerstörer!“ deutlich Flagge zeigte. Cardoso wurde – bisher einmalig in Deutschland – als „Regenwaldzerstörer und Menschenrechtsverletzer“ definiert. „Wir fordern als Umweltverband die Bundesregierung auf, alle diplomatischen Beziehungen zur brasilianischen Regierung einzufrieren, solange die Menschen-rechtslage nicht verbessert und die Regenwaldabholzung toleriert wird.“ Deutschland, so Cardoso im Oktober in Berlin, gehöre zu den Ländern, mit denen Brasilien die besten Beziehungen überhaupt unterhalte. Jetzt wolle man die Präsenz in Europa weiter verstärken. Da ist es ganz offensichtlich sehr nützlich, verständnisvolle rot-grüne Partner zu haben.
Nachrichten
Brasilien/Deutschland
Keine Schelte für Präsident Cardoso
Menschenrechtler hatten sich vor dem Deutschland-Besuch des brasilianischen Präsidenten Fernando Henrique Cardoso gefragt, was diesmal wohl anders sein würde. Kam Cardoso zu Bundeskanzler Kohl an den Rhein, schlugen ihm Freundlichkeiten und allergrößtes Lob für sein – inzwischen gescheitertes – Stabilisierungsprogramm entgegen. Weil Brasilien ein Hauptempfänger deutscher Entwicklungshilfe ist, erörterten Kohl und seine Minister mit Cardoso offenbar vorrangig ökonomische Themen; die Menschenrechte blieben als Störfaktor außen vor. Ebenso herzlich wurden stets Cardosos Stellvertreter Marco Maciel und Kongreßpräsident Antonio Carlos Magalhaes empfangen. Niemand störte sich daran, daß beide tonangebend in der Arena-Partei des Militärregimes waren und damals schlimmste Verbrechen gegen die Menschlichkeit deckten. Heute sind sie mit Cardoso politisch hauptverantwortlich für Massaker an Landlosen und die Verfolgung und Ermordung von deren Führern. Todesschwadronen wüten schlimmer als während der Diktatur. Selbst im gerade veröffentlichten Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums für 1998 wird betont, daß Folter, außergerichtliche Tötungen und Polizeigewalt unter Cardoso zugenommen haben. Angehörige der berüchtigten Militärpolizei betätigen sich laut Washington in der Freizeit als Berufskiller und Entführer. Cardosos neoliberale Politik vertrieb weit über 400 000 Kleinbauern und Landarbeiter aus den Agrarregionen in die Slums der Millionenstädte. Das Drama der nicht nur von Vertreibungen betroffenen indianischen Gemeinschaften ist hinreichend bekannt.
Die jetzige Bundesregierung hat eine Wende in der Menschenrechtspolitik versprochen. Doch wie zu Kohl-Zeiten blieb Cardoso unbehelligt. Auf Anfrage im Büro der Vorsitzenden des Menschenrechtsausschusses des Deutschen Bundestags, Claudia Roth, hieß es, man habe während des Besuchs aus Brasilien nichts unternommen. Ebenso passiv blieb Gerd Poppe, der Menschenrechtsbeauftragte im Auswärtigen Amt. Dabei hatte sich Poppe bereits 1996 mit einer Delegation des Auswärtigen Ausschusses des Bundestages in Brasilien kundig gemacht. Mit der Delegation saß er in der Luxusresidenz des Generalkonsuls von Rio de Janeiro, verlor kein Wort über Greuel, die sich seinerzeit nur ein, zwei Kilometer entfernt ereigneten und von einem anwesenden belgischen Menschenrechtler direkt angesprochen wurden.
Allein Cardosos Position zum Fall Pinochet wäre Grund genug gewesen, den brasilianischen Präsidenten weniger freundlich zu behandeln. Der chilenische Ex-Diktator beging Verbrechen gegen die Menschlichkeit nicht alleine, sondern hatte Helfershelfer auch in Ländern wie Argentinien und Brasilien – von der Zusammenarbeit mit dem US-Geheimdienst CIA ganz zu schweigen. Schröders Staatsgast hat die Freilassung Pinochets verlangt. Präsident Cardoso ist gleichzeitig Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Er könnte die Öffnung der geheimen Militärarchive anweisen, in denen die Zusammenarbeit mit Pinochet dokumentiert ist. Doch Cardoso nimmt Rücksicht auf die Generalität.
Aecio Neves war Gouverneur des Teilstaats Minas Gerais – Hauptstadt Belo Horizonte. WM-Stadion dort nach Teilnehmer des Militärputsches von 1964 benannt: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/28/wm-spiel-brasilien-chile-2014-im-stadion-von-belo-horizonte-was-hat-das-mit-willy-brandt-deutschland-zu-tun-eine-menge-wm-stadion-in-belo-horizonte-nach-militarputsch-teilnehmer-magalhaes-pinto-be/
tags: brasilien-geldfußball-wm 2014
Ausriß, Angeli, größte brasilianische Qualitätszeitung “Folha de Sao Paulo”.
Fotoserie, Rio de Janeiro: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/05/brasiliens-zeitungen-eine-fundgrube-fur-medieninteressierte-kommunikations-und-kulturenforscher/
Während der WM 2014 werden allein in Rio de Janeiro u.a. ein dreijähriger und ein achtjähriger Junge bei Slum-Gefechten erschossen – anders als im Falle von ermordeten Heranwachsenden in Israel findet dies in in-und ausländischen Medien keinerlei Interesse. Gleiches gilt für die Ermordung ostukrainischer Kinder durch Terrorattacken Kiews.
Brasilien-Daten: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
tags: brasilien-geldfußball-wm 2014
Entgegen erwartungsgemäß realitätsfremden WM-Berichten des deutschen Mainstreams hält sich in Brasilien das Mitgefühl für den per Foul-Verletzung ausgeschiedenen Multimillionär Neymar in Grenzen, ist zudem die Identifikation mit der brasilianischen Mannschaft nicht groß. Bereits vor Beginn der WM bekundeten zahlreiche Brasilianer gegenüber zugereisten bzw. im Lande wohnenden Deutschen, daß sie für einen Sieg der deutschen Mannschaft sind, sogar entsprechende Wetten abschlossen. Gerade Top-Spieler Neymar wurde von Anfang an wegen seiner Spielweise kritisiert, darunter “Täuscherei, Schauspielerei”, wie es hieß.
“Acreditem… esse moleque era o câncer da seleção… me critiquem, mas vocês verão como o jogo coletivo será a arma da seleção… sem a obrigação de tocar a bola em todas as jogadas para o neymala….”
Wirbelbruch von Neymar – Reaktion der brasilianischen Protestbewegung: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/05/brasilien-geldfusball-wm-2014-wirbelbruch-von-neymar-wie-die-nationale-protestbewegung-reagiert/
“Neymar kommt ins Hospital, weiß, daß er überleben wird und zudem Tausende in Brasilien sich über ihn sorgen. Tausende in Brasilien warten seit Jahren auf einen simplen Arzttermin und wenige stört das. Was hat da Priorität?”
Ausriß, Kranke auf nacktem Hospitalfußboden. Foto der Protestbewegung.
Adveniat und WM-Berichterstattung: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/26/ds-lateinamerika-hilfswerk-adveniat-kritisiert-die-berichterstattung-der-offentlich-rechtlichen-sender-von-der-fusball-wm-in-brasilien/
Ausriß, zu Ronaldo-Reaktion auf Anti-WM-Proteste: “Eine WM macht man nicht mit Hospitälern.”
“Und wo gehe ich jetzt hin, Ronaldo?”
Willy Brandt, Brasilien, das Stadion von Belo Horizonte: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/28/wm-spiel-brasilien-chile-2014-im-stadion-von-belo-horizonte-was-hat-das-mit-willy-brandt-deutschland-zu-tun-eine-menge-wm-stadion-in-belo-horizonte-nach-militarputsch-teilnehmer-magalhaes-pinto-be/
Diktator Ernesto Geisel, in dessen Amtszeit der jüdische Journalist Herzog gefoltert und ermordet wurde – und Willy Brandt, Ausriß.
Demonstranten in Kiew und Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/26/brasilien-und-kiew-der-auffallig-unterschiedliche-umgang-mitteleuropaischer-politiker-parteien-und-medien-mit-demonstranten-die-vom-maidanharter-aktivster-kern-rechtsextrem-antisemitisch-neonaz/
WM-Texte:
Angela Merkel – WM-Besuch 2014 in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/16/deutsche-bundeskanzlerin-angela-merkel-reist-zur-wm-2014-nach-brasilien-trotz-gravierender-menschenrechtslage-bei-treffen-mit-staatschefin-dilma-rousseff-in-brasilia-waren-schwere-menschenrechtsve/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/20/merkels-wm-besuch-kommt-bei-den-deutschen-schlecht-an/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/17/brasilien-geldfusball-wm-2014-spielort-fortaleza/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/18/die-dunkle-seite-der-wm-bild-zeitung/
http://www.hart-brasilientexte.de/2014/06/18/brasilien-geldfusball-wm-sao-paulo/
Fußball-WM und Berichterstattungsvorschriften: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/05/19/fusball-wm-2014-und-strenge-berichterstattungsvorschriften-deutscher-medien-selbst-in-kommentaren-halt-sich-der-deutsche-mainstream-bisher-offenbar-strikt-an-das-vorschriftendiktat/
“Soziale Apartheid”: http://www.hart-brasilientexte.de/2014/01/25/in-brasilien-herrscht-soziale-apartheid-wallstreet-journal-2014/
“Heute haben wir eine Zivildiktatur”.
Bischof Erwin Kräutler im Interview mit dem brasilianischen Nachrichtenmagazin “Epoca”, Juni 2012:
“Lula und Dilma Rousseff werden als Zerstörer Amazoniens in die Geschichte eingehen…Ich habe Lula zweimal getroffen…Jene Leute, die früher mit uns kämpften, auf unserer Seite waren, die selbe Sache verteidigten, verteidigen jetzt das Gegenteil…2009 war ein sehr freundschaftliches Treffen mit Lula – ich hoffte noch, er ließe sich überzeugen. Und schrieb sogar: Gottseidank, Lula hat verstanden…Doch es war Theater, politisches Spiel. Er hielt damals meinen Arm und sagte: Dom Erwin, wir werden dieses Projekt niemandem aufzwingen. Du kannst auf mich zählen…Ich dachte, gut – der Präsident würde nicht so reden, wenn es nicht die Wahrheit wäre… Nein, Lula würde mir nicht ins Gesicht lügen…In diesem Moment glaubte ich wirklich an den Dialog…”
Epoca-Frage: “Sie hatten tatsächlich an Lulas Dialog-Versprechen geglaubt?”
Kräutler:”Ich glaubte daran…Aber es gab nie einen Dialog…Was Lula da machte, war nur Show, um dem Bischof gefällig zu sein…Nach meinen Informationen sind 61 Wasserkraftwerke in Brasilien geplant, die meisten in Amazonien…Hier hat sich der Widerstand gegen Belo Monte mit der Arbeiterpartei identifiziert…Bis dann Lula sein Präsidentenamt antrat. Als wir entdeckten, daß Lula seine Position geändert hatte, sind wir aus allen Wolken gefallen. Mein Gott, wie ist das möglich? Und die Leute der Arbeiterpartei hier wechselten auch die Seite…Das alles war Verrat, ein gewaltiger Schlag. Es ist sehr hart, von Leuten verraten zu werden, denen du die Hand gereicht hattest. Man hatte mich gefragt, Bischof, wen werden sie wählen? Ich sagte, ich stimme für Lula…Später sagte dann das Volk: Jetzt schluckt der Bischof…Jetzt sagen sie: Der Bischof war sogar für diese Leute von der Arbeiterpartei. Und jetzt muß ich Kröten schlucken…Lula hat Amazonien nie verstanden…Und am Ende seiner Amtszeit fiel er ins Delirium, berauschte sich an Ziffern, Statistiken…Heute haben wir eine Zivildiktatur…Wenn die Regierung sich verfassungswidrig verhält, leben wir erneut in einer Diktatur…Ich mag eine Frau als Präsidentin, aber ich dachte, als Frau wäre sie sensibler gegenüber unserer Lage…Man kann soviel protestieren wie man will. Sie verhindert jeglichen Dialog schon im Ansatz. Belo Monte ist kein Thema für eine Diskussion. Sie ist sehr hart, unnachgiebig, akzeptiert keine abweichende Meinung…Die Geschichte Amazoniens, Brasiliens und der Erde wird bald Lula und Dilma sehr genau als skrupellose Zerstörerverurteilen – als Verursacher von Einwirkungen, die unumkehrbar das Klima des Planeten veränderten…”
Brasilien – Daten, Statistiken: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
“Fußball-WM ist ein Unglück für Brasilien.” – auflagenstärkste Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo
Anpfiff ist am 12. Juni in der Megacity São Paulo, drittgrößte Erzdiözese der Welt. Von prima Klima, gar Vorfreude keine Spur – stattdessen tagtäglich Straßenproteste. Menschenrechtspriester Julio Lancelotti ist stets dabei. Militärpolizei feuert eine Tränengas-Blendgranate genau in seine Richtung – die Explosion reißt ihm das Bein auf, Blut fließt auf den Asphalt, doch er schleppt sich weiter, solange es geht. Den Menschen, die trotz der Polizeiübermacht, darunter Kavallerie mit schweren Säbeln, immer wieder zu Anti-WM-Demonstrationen gehen, ist der geistliche Beistand durch Lancelotti, die Hilfe von Aktivisten der Sozialpastoralen enorm wichtig.
In der Hauptstadt Brasilia gehen sogar protestierende Indianer mit Pfeil und Bogen auf berittene Polizei los.
Weniger als die Hälfte der rund 200 Millionen Brasilianer, so seriöse Umfragen, sind noch einverstanden, daß die „Copa“, wie man hier sagt, in ihrem Land stattfindet. Eine wachsende Mehrheit lehnt das FIFA-Spektakel vehement ab, weist auf gravierende soziale Probleme.
Deutschland, Ausrichter von 2006, liegt auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung auf Platz 5 – Brasilien jedoch nur weit abgeschlagen auf Platz 85. Padre Lancelotti, Bischöfe, ungezählte katholische Menschenrechtsaktivisten, doch auch professionelle Fußballexperten halten 2006 daher bereits die WM-Bewerbung durch Brasilia für absurd, sozial unvertretbar, für Idiotie und einen schlechten Witz – und haben Recht behalten. Bis letztes Jahr werden sie oft ausgelacht. Selbst in Deutschland heißt es, die WM werde dem Tropenland mehr Wohlstand, wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg bescheren. Doch nun sind die Fakten nicht mehr zu übersehen – Stagnation statt Konjunktur und Wachstum, dazu Hochinflation und Entlassungen .
Die eigens für die WM auch mit Hilfe deutscher Firmen, deutscher Sponsoren errichteten Stadien sind inzwischen dreimal teurer als geplant – während oft ganz in deren Nähe neue Elendsviertel entstehen. Selbst in Sao Paulo, der reichsten Stadt ganz Lateinamerikas mit weit über 2600 Slums, hat die Bewegung der wohnungslosen Arbeiter(MTST) nur zwei Kilometer vom nagelneuen Itaquerao-Stadion auf besetztem Gelände mehrere Tausend Hütten und Baracken errichtet, wird beim WM-Eröffnungsspiel für Protest-Überraschungen sorgen.
Auch in Sao Paulo brechen Kranke in der Warteschlange vor öffentlichen Hospitälern tot zusammen, sterben andere auf dem harten Boden von Klinikkorridoren, weil Ärzte und Pfleger, Medikamente und Krankenbetten fehlen. Bei jedem Gottesdienst in Sao Paulos Kathedrale werden solche skandalösen Kontraste angeprangert: „Diese milliardenteuren Stadien sind eine Beleidigung der Menschenwürde, da es den einfachen Brasilianern an Wohnung fehlt, unser Gesundheits-und Bildungswesen unzumutbar schlecht ist wie der öffentliche Nahverkehr“, Padre Tarcisio Mesquita. „Laßt uns beten für alle, die auf den WM-Baustellen umkamen, Opfer gefährlicher und armselig bezahlter Arbeit wurden.“
Und dann nennt er einen weiteren Skandal: Jene WM-Trikots, die jetzt überall im Lande zu teils gepfefferten Preisen auch an ausländische Touristen verkauft werden, fertigen häufig Sklavenarbeiter aus Bolivien in dunklen, stickigen Hinterhoffabriken Sao Paulos. „Das ist eine Schande!“
Ob dem deutschen Team auffällt, daß sich ihr luxuriöses WM-Quartier just im nordöstlichen Teilstaat Bahia befindet, der für systematische Folter, Todesschwadronen, Gefängnis-Horror und Lynchjustiz berüchtigt ist?
Vor der „Copa“ hat Brasiliens Bischofskonferenz erneut die gravierenden Menschenrechtsverletzungen im Lande verurteilt, darunter das „Klima des Terrors“ in ganzen Regionen. Die Gesellschaft werde als Resultat des wirtschaftlich-sozialen Modells immer gewalttätiger, was zu mehr extremer Ausbeutung, darunter sexueller, sowie Selbstzerstörung durch Drogen führe.
Auch Padre Lancelotti widmet in der Kathedrale von Sao Paulo ein Gebet all jenen, „die Opfer von Repression und Folter sind.“ Soetwas im Land der Fußball-Weltmeisterschaft? Die bischöfliche Gefangenenseelsorge, doch auch Soziologen und Historiker haben vor der WM betont, daß die während des Militärregimes angewandte Folter weiterhin allgemeine Praxis ist. Brasilien sei sogar das einzige Land Lateinamerikas, in dem die Folter nach der Militärdiktatur zugenommen habe.
Lancelotti:”Während der Fußball-WM wird die Repression zunehmen.”
Auch ein ganz Prominenter, der in Deutschland vielgelesene brasilianische Bestsellerautor Paulo Coelho, erhebt seine Stimme: „Die derzeitige Regierung ist ein Desaster – die Proteste sind absolut gerechtfertigt. Ich kriege alle WM-Eintrittskarten gratis – doch ich nutze sie nicht, gehe zu keinem einzigen Spiel. Ich kann doch nicht in einem Stadion sitzen und wissen, was draußen in den Krankenhäusern passiert, mit der Schulbildung – all das, was die Vetternwirtschaft der Arbeiterpartei von Lula bewirkt hat!“
Rodrigo Bueno aus Sao Paulo zählt zu den führenden brasilianischen Fußballexperten, hat während der WM in Deutschland für die auflagenstärkste Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“ sowie für einen TV-Sportkanal die Spiele kommentiert. Nach der Rückkehr trifft ihn wie üblich der Kulturschock – Bueno sieht die Slums, das Massenelend, Desorganisation und Gewalt, die ganze geballte Häßlichkeit des abgasvergifteten Betonmeers von Sao Paulo. Der Entwicklungsabstand zu Europa wird ständig und deutlich spürbar größer. “Wie die Brasilianer leiden, was sie tagtäglich ertragen müssen, macht mich traurig und unzufrieden.”
Ein landesweit zu hörender Protest-Sprechchor – an Staatschefin Dilma Rousseff gerichtet: „Dilma, escuta, na Copa vai ter luta!“ („Dilma, hör zu, während der WM wird es Kampf geben!“)
Priester Luis Antonio Lopes, Leiter der bischöflichen Slum-Seelsorge in Rio de Janeiro:
“Wie kann man denn eine Fußballweltmeisterschaft und olympische Sommerspiele in einem Land veranstalten, das solche enormen sozialen Kontraste aufweist?”
„Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung leben. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben“, sagt Priester Luis Antonio Lopes, der die Slum-Seelsorge der Erzdiözese von Rio leitet und zudem Gemeindepfarrer in einer Peripherie-Region ist. „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten der Polizei gibt, also in den allermeisten Favelas. Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“
Brasilien ist die siebtgrößte Wirtschaftsnation, rund 24-mal größer als Deutschland, geprägt von teils unglaublichen soziokulturellen Kontrasten. Gut möglich, daß jemand nach einigen Tagen Rio sagt, nie zuvor so ein fröhliches, lebenslustiges, feier-und tanzfreudiges Volk gesehen zu haben, von Brasiliens Schokoladenseiten, ob Gastronomie oder Naturstrände, entzückt ist. „As aparencias enganam“, der Schein trügt, hört man hier häufig. Denn je nach persönlichen Wertvorstellungen und Wahrnehmungsfähigkeit stellt sich nahezu alles ganz anders dar, wenn man Jahre, Jahrzehnte den Alltag intensiv erlebt. Wohl kein anderes Land ist so absurd mit Klischees behaftet, kultivieren zudem die Bewohner über den Nationalcharakter mancherlei Mythen. Sich davon verabschieden zu müssen, kann schmerzhaft sein. Rio – auch eine Stadt der Scheiterhaufen, systematischer Folter und Todesschwadronen? Die berühmte Karnevalsparade ist gar kein Karneval, der dort getrommelte Rhythmus kein Samba? Und weiterhin überall Militärpolizei – Relikt der Militärdiktatur.
Deutschland belegt auf dem aktuellen UNO-Index für menschliche Entwicklung den fünften Rang – doch Brasilien, gelegentlich als kommende Großmacht, Global Player bezeichnet, folgt weit abgeschlagen erst auf Platz 85, hinter Peru, der Ukraine, gar Albanien und Kasachstan, Libyen und Kuba. Im Supermarkt kosten viele Basisartikel mehr als in Mitteleuropa, doch in Rio de Janeiro und sogar in Lateinamerikas reichster Großstadt Sao Paulo liegt das Durchschnittseinkommen selbst laut amtlichen Zahlen nur bei umgerechnet rund 500 Euro, Billigstlöhne allerorten. Nach wie vor sind die Einkommensunterschiede immens, genießen nur wenige Prozent einen europäischen Sozialstandard, sieht man täglich Brasilianer in extremer Misere, todkrank, auf den Straßen. Die Regierung rühmt sich, viele Millionen aus Armut und Elend befreit, in die Mittelschicht katapultiert zu haben, zu der inzwischen über die Hälfte der Brasilianer gehöre. Doch amtliche Daten sind gewöhnlich arg geschönt, frisiert – wer monatlich um die 20, 25 Euro verdient, gilt offiziell allen Ernstes nicht mehr als arm. Mit einem Pro-Kopf-Familieneinkommen von etwa 100 Euro ist man gemäß den Bemessungsgrenzen gar schon Mittelschicht. Da wundert nicht, daß gemäß solcher verqueren Logik ein beträchtlicher Teil der „Classe media“ in den rasch wachsenden Slums haust, viele jener neuen “Mittelschichtler” gar Analphabeten sind, über die Hälfte nur wenige Jahre in der Grundschule war, mit dem bekannt niedrigen Niveau. Brasiliens Intellektuelle, darunter nicht wenige Architekten, analysieren solche Regierungspropaganda täglich in den Qualitätsmedien mit Hohn und Spott, haben eine viel kritischere Sicht des Tropenlandes als ihre mitteleuropäischen Kollegen.
Brasilien erlebte die letzten Jahre keineswegs einen Wirtschaftsboom, leidet unter Deindustrialisierung, absackender internationaler Wettbewerbsfähigkeit, geringer Effizienz. In der Schlange vor der Schnellkasse des Supermarkts verbringt man leicht 30, 40 Minuten, an den Nahverkehrshaltestellen fehlen Abfahrtszeiten. Die Kultur der Langsamkeit und Unpünktlichkeit hat dramatische Konsequenzen. Brasiliens Produktivität ist niedrig, erreicht nur etwa ein Drittel der entwickelten Länder – ein US-Arbeiter stellt soviel her wie fünf brasilianische. Inseln, Enklaven sind da hochmoderne multinationale Unternehmen aus den USA und Europa, die von hier aus für die Welt produzieren.
Zum Bild vom Global Player paßt zudem schwerlich, daß Brasilien zu den bürokratischsten Staaten zählt, auch deshalb der Anteil am Welthandel nur bei etwa einem Prozent liegt, am Welt-Kulturexport gar nur bei 0,2 Prozent. Gravierendes Entwicklungshindernis ist zudem die Infrastruktur, schlechter als in manchen afrikanischen Staaten. 2013 wurde in Sao Paulo ein Rekord-Stau von 763 Kilometern registriert, in Rio von über 455 Kilometern. Dies bedeutet, daß auch Vertreter hochqualifizierter Berufsgruppen, darunter Ärzte, etwa in Sao Paulo spätestens sechs Uhr ins Auto steigen müssen, um noch vor den grauenhaften, unberechenbaren Morgen-Staus in Praxis oder Klinik zu sein, viel zu früh. Metro und S-Bahn sind nur rudimentär, zwischen den beiden Wirtschaftsmetropolen existiert nicht einmal Zugverkehr. Den hat man abgeschafft, wie anderswo im Lande auch, und auf viel langsamere, dazu stauabhängige Busse umgestellt. Radwegenetze wie in Europa gibt es nicht.
Das heutige Brasilien wird 1500 von den Portugiesen entdeckt. Sie treffen auf Indianerstämme, die sich heftig bekriegen, gegenseitig versklaven, in Jagd und Handel von Menschen geübt sind. Das Kolonialreich importiert an die vier Millionen Sklaven aus Afrika, das Geschäft ist für für die dortigen Könige extrem lukrativ. Bedeutende, schwerreiche brasilianische Händler der Menschenware sind ebenfalls Schwarze. Jahrzehnte vor der offiziellen Sklaverei-Abschaffung von 1888 – die Unabhängigkeit wurde bereits 1822 erklärt – kommt es zu einem bezeichnenden Phänomen: Manche humaner gesinnten weißen Sklavenhalter geben Schwarzen die Freiheit, nicht wenigen Afrikanern gelingt es, sich freizukaufen. Kamen diese zu Geld, erwerben sie damit auf den Menschenmärkten Rio de Janeiros oder Bahias Afrikaner, werden selber Sklavenhalter, handeln mit ihren eigenen Brüdern. Archaische Gesellschaften auf beiden Seiten des Atlantik sind durch bestimmte Wertvorstellungen verbunden, die längst nicht ausstarben. Indianerstämme sind heute meist akkulturiert, doch weiter verfeindet – Sklaverei, die verbreitete Sklavenarbeit ist in Brasilien nach wie vor ein Dauerthema. Im größten katholischen Land spricht auch die Kirche von tiefverwurzelter kolonialistischer Sklavenhaltermentalität, weist auf die kraß ungerechte Einkommensverteilung, verdeckte Apartheid, die soziale Zusammensetzung der Slums. Dort hausen meist Sklavennachfahren, die Indianer-oder Schwarzenmischlinge, leichte Beute für Wunderheilersekten. In Rios gänzlich untouristischer Rua Camerino nahe dem Hafen erinnert keine Tafel, kein Denkmal daran, daß sich hier Brasiliens größter, entsetzlichster Menschenmarkt befand, in einer der bedeutendsten Sklavenhalterstädte der Weltgeschichte.
Selbst in den besseren Vierteln am Zuckerhut, in mehrere tausend Kilometer entfernten Städten und Dörfern sind Straßen von übermannshohen Stahlgitterzäunen gesäumt, von auffällig viel NATO-Stacheldraht vor Häusern und Appartementblocks. Will man jemanden besuchen, ähnelt das Procedere dem europäischer Militärobjekte, wird man von Wachleuten überprüft. Die Krone sind Privilegiertenghettos, große geschlossene Wohnanlagen, mit denen sich inzwischen auch weniger Betuchte immer perfekter gegen Misere und ausufernde Kriminalität abschotten. Bei gepanzerten PKW ist Brasilien Weltspitze. In keinem Land der Erde wird mehr gemordet, trifft es über 50000 jährlich. Schon in Sichtweite glitzernder Hightech-Geschäftshäuser sind neofeudale Banditenmilizen, die Maschinenpistolen der NATO-Armeen tragen, häufig unumschränkte Herrscher der Favelas, terrorisieren Bewohner, verhängen Ausgangssperren, paralysieren Protestpotential – manche minderjährige Kindersoldaten killten bis zu vierzig Menschen. Man lebt in Brasilien unter permanenter physischer Bedrohung, in einem Klima des Mißtrauens. Das hat negative Konsequenzen für die Sozialbeziehungen, auch für Liebe, Sex und Erotik. Streß und Depression sind Massenleiden, Psychopharmaka werden mehr konsumiert als in Mitteleuropa, man bemerkt auffällig viel Pflicht-und Scheinfröhlichkeit. Auch die Feierlaune leidet – am Karneval beteiligt sich nur eine Minderheit. Denn wegen fehlender öffentlicher Sicherheit ist nicht nur der größte Teil der Städte, sondern des gesamten Landes No-Go-Area. Einfach mal so, wie von zuhause gewohnt, im Wald spazieren zu gehen, ist unmöglich. Von Favela-Besuchen wird dringend abgeraten, lautet die Reisewarnung des Auswärtigen Amtes – ein beträchtlicher Teil sehr komplexer brasilianischer Realität bleibt den allermeisten Ausländern daher verborgen.
Längst spricht man in den USA und Europa von Brasilianisierung, wenn es um gesellschaftliche Wandlungsprozesse hin zu mehr Ungleichheit, prekären Lebensverhältnissen, sozialer Unübersichtlichkeit geht. Brasiliens Eliten mochten ihr Land noch nie, fühlten sich in Paris, New York, London oder Zürich stets viel mehr zuhause, gehen daher mit diesem Riesenstaat und seinen rund 200 Millionen Bewohnern nicht eben pfleglich um, agieren wie Fremde im eigenen Land, schaffen nichts Solides, das überdauern soll. Unfertiges, groteske Provisorien, Naturvernichtung allerorten. Beim Vergleichen mit lateinamerikanischen Nachbarn wie Argentinien, Uruguay oder Chile, die auf Weltrankings viel besser abschneiden, fällt dies sofort auf. Allein die Hauptstadt Brasilia – unfunktional, unpraktisch, fehlkonstruiert – in wenigen Jahren unter Aufsicht von Oscar Niemeyer hochgezogen. Das Massaker an Bauarbeitern, die damaligen inhumanen Arbeitsbedingungen bleiben gewöhnlich auch in Mitteleuropa unerwähnt. Für die meisten Brasilianer sind der Regierungssitz, der Nationalkongreß mit seinen vielen Millionären heute Symbole für Korruption und Nepotismus, die Skandalserie um gigantische Mittelabzweigungen und Machtmißbrauch reißt nicht ab. Weil auch deshalb selbst die Qualität des Bildungs-und Gesundheitswesens für ein Land dieser wirtschaftlichen Möglichkeiten so absurd niedrig ist, protestieren immer mehr Staatsbürger auf den Straßen, lassen aufgestaute Wut ab. Brasilien hat die weltweit größte Lepra-Dichte, die Aids-Epidemie ist längst nicht unter Kontrolle, die Behindertenrate etwa zwanzigmal höher als in Deutschland.
Die kosmopolitische Einwanderernation hat 26 Teilstaaten, frappierend unterschiedlich. Beliebteste nationale Tourismusdestination ist just der relativ kleine südliche Teilstaat Santa Catarina, mit der höchsten Lebensqualität, den niedrigsten Kriminalitätsraten, unübersehbar geprägt durch deutsche Einwanderer, weit überdurchschnittlich stark in Industrie und Landwirtschaft. Das Oktoberfest der Catarinenser wurde nach dem Karneval zum zweitpopulärsten Volksfest des Landes, selbst Amazonas-Indios vergnügen sich dort. Zwei weitere Einwanderergruppen, Japaner und Juden, haben trotz relativ geringer Kopfzahl im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des Landes eine erstaunliche Position erreicht, müssen indessen viele Vorurteile ertragen. 1985 endete nach 21 Jahren das nazistisch-antisemitisch orientierte Militärregime, doch von Vergangenheitsbewältigung, gar Bestrafung der Diktaturverbrecher kann keine Rede sein. So ist Brasilien heute nur formell eine Demokratie, ein Rechtsstaat – wann er funktionieren wird wie in der Verfassung skizziert, ist völlig offen.
“Correio da Cidadania”, Internet-Medium der Sozialbewegungen Brasiliens:
Uma Copa que não respeita os direitos civis básicos |
ESCRITO POR PABLO ORTELLADO |
A cada dia que passa, recebemos notícias mais graves da suspensão dos direitos civis no Brasil. Desde a semana da abertura da Copa, quase todas as manifestações públicas programadas foram dissolvidas preventivamente, ou seja, foram impedidas por força policial de se concentrarem, numa flagrante violação da Constituição.Centenas de ativistas em todo o território nacional estão sendo regularmente visitados de maneira intimidatória pela polícia, que também os está intimando a depor coercitivamente durante datas de manifestação com o intuito de privá-los de um direito que deveria ser sagrado em qualquer democracia. Até a Polícia Federal está fazendo uso da infame Lei de Segurança Nacional, um dos mais abjetos resquícios da ditadura militar. Tudo isso para que um torneio de futebol ocorra “sem transtornos”.Todos os níveis de governo, os meios de comunicação de massa, o judiciário e a esquerda aliada ao governo federal estão se calando contra as gravíssimas violações aos direitos civis. Oficialmente, 50 mil famílias foram removidas de suas residências para que a Copa acontecesse por aqui – estamos falando de 200 mil pessoas, um em cada mil brasileiros. Boa parte foi mandada para longe – alguns não foram indenizados e a maioria contesta o valor da indenização. Por outro lado, a FIFA e seus parceiros comerciais receberam mais de um bilhão de reais de isenção tributária, valor que permitiria aumentar em 20 mil reais a indenização para cada uma das famílias “oficialmente” removidas.O movimento que protesta contra a Copa fez uma porção de erros estratégicos e não conseguiu organizar a insatisfação. Mas nada, absolutamente nada, justifica o que está acontecendo e a conivência das nossas instituições.Um pequeno grupo de vozes dissidentes que inclui ativistas, movimentos sociais e organizações de direitos humanos segue isolado e falando para as paredes, enquanto a direita, a maior parte da esquerda e quase todas as instituições democráticas fingem que nada acontece. A única coisa que oferece consolo é que a imprensa internacional, ao contrário da brasileira, está minimamente fazendo seu papel e tem produzido boas análises críticas da FIFA (afinal, verdade seja dita, a submissão do Brasil à FIFA nada tem de excepcional).Se sairmos desse episódio com um crescimento da consciência crítica do papel desse monstro privado transnacional, talvez os sacrifícios não tenham sido em vão. Mas talvez nossa oposição não tenha tido força ou organização suficiente para tanto.Hoje, queria mesmo era estar me divertindo com o meu filho, como meus pais fizeram comigo em 1982. Mas não estou conseguindo separar o futebol de tudo isso que está acontecendo. É uma pena. |
tags: , befreiungstheologie, brasilien, demokratie, lula, menschenrechte, slum-diktatur
The exodus of the population of the Vigario Geral district in Rio de Janeiro, harassed by the shootings between drug traffickers and the police, has deprived 3071 children from attending school, closed local businesses and stopped the people who live there from the elementary right to come and go.
Fragile Brazilian democracy is threatened in the larger cities. On the margin of the legal State an illegal State is expanding and becoming stronger. Barbarity is present where the government is absent. At most the State marks its sporadic presence with repressive but never administrative strength.The drug trade reigns in favelas (shanty towns) co-opting children and young people, charging protection from local businesses, administrating dances and sports clubs, severely punishing anyone who breaks the ”law of the jungle and even giving social assistance to neighbours such as finding hospital beds for the sick, purchasing medicine, providing scholarships, fixing household items and enlarging people™s shacks.On the cities™ periphery, militias, usually dominated by policemen, dictate norms and procedures: they collect money from inhabitants and businessmen, control the supply of gas, monopolise public transport (vans and mini buses) and impose their own candidates on those who vote in elections.
The more remiss the government is in areas densely populated by low income families, the greater is the empire of barbaritycracy “ the regime of barbarity imposed through terror.
In their immense majority, inhabitants of favelas and suburbs are honest hard working people as I wasschools are scrapped, teachers are badly paid (and there are still governments who react to a national standard wage) education is of low quality, public health is atrocious, sanitation is precarious, the number of low income housing built through public financing is minimal.
All we need to do is trace the works that the government puts into effect such as the expansion of the Rio de Janeiro subway to see that the priority is geared to the minority, the middle or high income population. They are the group who are capable of providing election dividends. It is this reduced but powerful segment of the population “ the opinion makers “ who deserve the best public services. The rest, considered as non existent and left to their own fate are pushed into the arms of scoundrels.
Between the municipalities of Rio de Janeiro and Sao Paulo there are at least two million young people between the ages of 14 and 24. Â 80% of homicides as well as 80% of the victims come from this group. This proves that urban violence is not due to poverty but to the lack of good quality education. Â
If the State were to stand firm in these explosive areas through the schools, training programmes and sports and artistic activities, the drug trade would certainly lose its strength in a short time. The drug trafficker himself does not want his son to follow in his footsteps.
When will the government bring about an ample reform regarding the selection and training of civil and military police? How to explain that many government agents commit murder, are involved in the drug trade and in the torturing and stealing of goods found in the hands of delinquents? Â
Unfortunately culture in Brazil is a luxury for the elite. We only need look at the Ministry of Culture™s budget. The few initiatives depend on the benevolence of businesses which rarely invest in the world of the poor.
This is the most perverse form of privatisation: that which gives drug traffickers and illicit militias the right to act as a State within the State. As everyone knows that they do not limit their actions to low income areas, the middle and upper classes become permanent hostages of the barbarity either due to the fear of the risk of violence or to the compulsory confinement behind the bars of their homes and the need to transform their cars into armoured vehicles.
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Just try to imagine the R$60 billion spent every year on private security in Brazil being invested in the education of poor children and youth and in the training of irreproachable policemen!
[1] <#_ftnref1> Â Cracy “ combining form denoting a particular form of government, rule or influence: autocracy, democracy. (Oxford Dictionary of English)
Â
*Frei Betto is a writer author of ”Calendário do Poder (Calendar of Power) (Rocco).
ABOUT THE AUTOR
He is a Brazilian Dominican with an international reputation as a liberation theologian.
Within Brazil he is equally famous as a writer, with over 52 books to his name. Â In 1985 he won Brazil™s most important literary prize, the Jabuti, and was elected Intellectual of the Year by the members of the Brazilian Writers™ Union.
Frei Betto has always been active in Brazilian social movements, and has been an adviser to the Church™s ministry to workers in Sáo Paulo™s industrial belt, to the Church base communities, and to the Landless Rural Workers™ Movement (MST). able to prove during the five years I lived in the Santa Maria favela in Vitória. However, they are unprotected as citizens. They do not have places for leisure, sport or culture,
Die Aufdringlichkeit der Sinne
Vom machtgeschützten Verlust der gesellschaftlichen Sehkraft – Oskar Negt(2000)
“Der Verlust jener in sinnlicher Erfahrung begründeten Urteilsfähigkeit der Menschen hat in unserem Jahrhundert für viele Menschen tödliche Folgen gehabt. Das Wegsehen, die machtgeschützte Sinnenblindheit, wenn Menschen verfolgt und getrieben, vergewaltigt und öffentlich gequält werden – das gehört nicht der Vergangenheit an.”
http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/19504/highlight/Klaus&Hart
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