Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Wie Brasilien tickt – der Fensterstreit von Sao Paulo(3), ein soziokulturelles Experiment. Gerichtsentscheidung 2014 – doch Prozeßverlierer halten sich nicht an Richterspruch…Richterin ordnet Rückzahlung eines illegal eingetriebenen Bußgelds innerhalb von 15 Tagen an – doch auch nach 7 Monaten warten die Prozeßgewinner noch auf ihr Geld, haben weitere, sehr zeitaufwendige bürokratische Hürden zu überwinden…

http://www.hart-brasilientexte.de/2013/09/10/wie-brasilien-tickt-der-fensterstreit-von-sao-paulo2-kleiner-teilerfolg/

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Bizarrer Streit um neue Fenster, die nur zu 50 % Belüftung und Lichteinfall ermöglichen, sich allen Ernstes nur zur Hälfte öffnen lassen. (Fenster dieser Art gibt es in Brasilien allen Ernstes massenhaft…)

Nach über einem Jahr des Wartens, einer Prozeßverschiebung fiel schließlich 2014 das Urteil – die Gegenseite, mit einem Anwalt angerückt, war absolut siegessicher. Indessen gab die Richterin überraschend den Klägern recht – ein Austausch der Fenster, so hatte die Hausverwaltung ja selbst formuliert, müsse sich an Profil und Qualität der zuvor existierenden Holzfenster orientieren. Als einzige, so die Richterin anhand der Beweisfotos, hätten just die Kläger in ihrer Wohnung diese Vorschrift verwirklicht, Fenster installiert, die sich 100-prozentig öffnen ließen, und nicht nur zur Hälfte. Alle anderen ausgetauschten Fenster des Gebäudes seien unkorrekt, weil Belüftung und Lichteinfall um die Hälfte eingeschränkt seien. Der gegen die Interessen der Kläger gemacht Fehler sei umso größer, da man sie just mit einer hohen  Geldbuße dafür bestraft habe, die einzig korrekten Fenster eingebaut zu haben. Daher müsse diese Geldbuße innerhalb von 15 Tagen an die Kläger zurückgezahlt werden. Dies indessen, man ahnt es schon, geschah auch Monate nach dem Richterspruch nicht – die Prozeßverlierer denken nicht im Traume daran, sich an das Urteil der Richterin zu halten.  Deren Anwalt empfiehlt auf entsprechende Nachfrage den Klägern dreist, doch einen Anwalt einzuschalten. Dies würde die ohnehin schon enormen Kosten der Kläger weiter erhöhen – denn unter brasilianischen Verhältnissen ist jegliche Entschädigung für verlorene Arbeitstage, Transportkosten, Anwaltskosten etc. defacto nicht realisierbar. Es sei denn, man ginge mit erneutem immensem Zeitaufwand erneut das Risiko einer Klage ein. 

Die Verliererseite betont indessen vehement und sogar öffentlich, die Richterin habe völlig falsch entschieden, man sehe sich weiterhin im Recht.

Die Erkenntnis der Kläger – brasilianische Durchschnittsbürger, Angehörige der Unterschicht haben in derartigen Streitfällen, von Ausnahmefällen abgesehen,  nicht die geringste Aussicht, ihnen zustehendes Recht auch zu bekommen – u.a. immense Bürokratie, grotesker Zeit-und Geldaufwand bilden unüberwindliche Hürden. Und genau darauf baut das System. Ob sich doch irgendwie das Bußgeld, immerhin Hunderte von Euro, mehr als die meisten Brasilianer im Monat verdienen, zurückbekommen läßt?

 http://www.hart-brasilientexte.de/2014/07/07/brasilien-verstos-gegen-gesetze-nimmt-zu-laut-studie-bruch-von-normen-und-regeln-immer-leichter/

Die Rechtsprofessorin Flavio Piovesan von der Katholischen Universität Sao Paulo hat in einer Analyse konstatiert, daß nur 30 % der in juristisch zu klärenden Streitfälle verwickelten Personen sich auch an die Justiz wenden. 2014 gab es zudem 95 Millionen nicht bearbeitete Strafsachen bei der Landesjustiz – auf zwei Landesbewohner entfiel damit statistisch ein solcher Fall. In unterentwickelten Regionen Brasiliens wende sich zudem ein weit geringerer Teil der Bevölkerung als in entwickelteren Regionen an die Justiz. Bemerkenswert ist der chronische Mangel an Richtern, Anwälten, öffentlichen Verteidigern. Entsprechend hoch ist die Rate an Selbstjustiz, bis hin zu Lynchen, lebendigem Verbrennen etc.

Piovesan fordert deshalb 2014, den Zugang zur Justiz zu demokratisieren, vor allem für die am meisten betroffene Unterschicht. International übliche Rechtsinstrumente zum Schutz der Menschenrechte müßten auch in Brasilien angewendet werden. 

Aus Sicht auch des deutschen Mainstreams handelt es sich bei Brasilien um eine gereifte Demokratie, um einen Rechtsstaat etc. 

Dieser Beitrag wurde am Montag, 10. November 2014 um 19:55 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Politik abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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