von Klaus Hart, São Paulo
In bestimmten europäischen Medien, in Feuilletonredaktionen, Verlagen und PR-Agenturen herrscht seit Jahrzehnten panische Angst vor diesem Thema, jeder kleinste Hinweis wird unterdrückt. Indessen existieren die Fakten: Der vielfach preisgekrönte brasilianische Dokumentarfilmer Vladimir Carvalho hörte von einem Blutbad, gar einem Massaker an protestierenden Bauarbeitern Brasilias im Jahre 1959, und holte zahlreiche Zeitzeugen vor die Kamera. Für den – das erste Mal auf dem Brasilia-Filmfestival von 1990 gezeigten – Streifen erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, sogar von der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB und von der Kritikerassoziation São Paulos.
In einem langen Exklusivinterview äußerte sich Carvalho zu den Vorgängen und Hintergründen bei der Errichtung Brasilias. Einer, der die Bauarbeiten beaufsichtigte, war Oscar Niemeyer.
Es wird gern und häufig jene Heldensage, jener regelrechte Mythos um die Errichtung der brasilianischen Hauptstadt verbreitet, nach dem der große Architekt Niemeyer immer nahe bei seinen geliebten Arbeitern gewesen sei, im Staub der Savanne. Alle hätten an einem Strang gezogen und gemeinsam das gingantische Werk vollbracht, das schon bald darauf zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt wurde.
Aber es existieren auch dem widersprechende Darstellungen, darunter Carvalhos DokumentarfilmConterraneos Velhos de Guerra und ein Exklusivinterview mit einem der Bauarbeiter.
»Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen«, sagt Carvalho, »alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Entsprechend wurden die Arbeiter behandelt. Wie berichtet wird, gab es sogar verdorbenes Essen. Und während eines Karnevals verstieg sich die Bauleitung dazu, das Wasser im Bauarbeiterlager abzustellen, um zu verhindern, daß sich die Arbeiter waschen konnten, um danach in Nachbarstädten des Teilstaates Goias Karneval zu feiern.
Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter verloren die Geduld, warfen die Teller mit dem Essen aus dem Fenster, aus Protest. Da rief man die Bauplatzpolizei, die Guarda Especial de Brasilia, die sollte eingreifen.
Die Arbeiter wehrten sich nach Kräften, schafften es sogar, die Bauplatzpolizei zurückzutreiben. Der Tag verging – doch nachts, als alle im Bauarbeitercamp schliefen, kam die Polizei erneut und feuerte mit Maschinenpistolen in das Lager. In Brasilien sagt man, das Volk übertreibe, aber erfinde nichts – O povo aumenta, mas nao inventa. Das Volk könnte also die Vorfälle übertrieben geschildert haben – es hat aber nichts erfunden, sondern ging von einem konkreten Fall aus.
So könnte man die Zahl der Ermordeten zu hoch angegeben haben. Im Film sagt einer dreißig Tote, ein anderer sechzig, wieder ein anderer 120, einer sogar etwa fünfhundert. Ich habe im Dokumentarfilm Positionen von Personen aneinandergereiht, die damals dabei waren, oder die Vorfälle mitbekommen hatten. Ich kann nichts beweisen. Der Film ist lediglich ein Wort gegen alle, die heute behaupten, es habe kein Blutbad gegeben – und die in der Regel mit der damaligen Administration liiert waren und den damaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek loben.
Es handelte sich damals um eine Repressalie gegen revoltierende Arbeiter. In Brasilia kann man noch heute Ältere, darunter Taxifahrer von damals, treffen, die davon berichten und deutlich sagen: Ja, es gab diese Toten! Nur eine einzige Zeitung, O Binomio aus Belo Horizonte, die in Opposition zur Kubitschek-Regierung stand, wagte über eine Revolte von Bauarbeitern zu berichten, die gewaltsam unterdrückt worden sei und daß es offenbar Tote gegeben habe.
Wegen dieser Toten, wegen des ganzen Falles wurde übrigens Brasiliens erste Bauarbeitergewerkschaft gegründet. Es gab damals viele Unfälle. Viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten, Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren, und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Zeugen sagten: Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, sie sollten den Bau ja beenden. Die Arbeiter waren schlichtweg fix und fertig, deshalb kam es zu diesen Unfällen. Weil man eben die Sicherheitsbestimmungen stark gelockerte hatte.«
Vladimir Carvalho befragte für den Dokumentarfilm auch Oscar Niemeyer: »Ich ging zu ihm, weil ich dachte, er kenne die ganze Geschichte, könne alles bezeugen, könne bestätigen, was die anderen mir sagten. So wie eine einfache Wäscherin: Am Tage des Massakers wollte sie den Arbeitern die gewaschenen Sachen ins Lager bringen, doch man ließ sie nicht hinein. Sie hob die Sachen ein ganzes Jahr lang auf – und als sie erfuhr, was da im Lager passiert war, verschenkte sie die Sachen der Bauarbeiter an andere Leute.
Doch Oscar Niemeyer verneinte, daß das Blutbad geschehen sei, er sagte: Davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört. Er war ein großer Freund von Juscelino Kubitschek. Auch über die Arbeitsunfälle wollte Niemeyer nicht reden. Und heute will gleich gar keiner von den Leuten oben über die Vorfälle sprechen. Niemeyer wird jetzt hundert Jahre alt, niemand will ihn verärgern. Für dessen Biographie ist der Fall nicht gut.«
Carvalho befragte für den Film auch den Architekten Lucio Costa, der mit Niemeyer in Brasilia zusammenarbeitete. »Als ich Costa auf den Fall ansprach, sagte er mir: Was willst du denn, das war der Bau einer Stadt, kein Duett tanzender Kavaliere.«
Laut Carvalho wurde zwar eine Untersuchung zu den Vorgängen gestartet, doch seien, wie es heiße, die Unterlagen verbrannt. Laut der Aussagen eines Zeitzeugens im Film wurden die ermordeten Bauarbeiter dort verscharrt, wo heute in Brasilia der Fernsehturm steht. Einige hätten noch gelebt, als die Planierraupe die Erde über sie schob.
1997 wurde in Brasilien das Buch Conterraneos Velhos de Guerra herausgegeben, das das gesamte Drehbuch sowie die Kritike rstimmen über den Dokumentarfilm enthält. Es steht allen zur Verfügung, die über Niemeyer und Brasilia schreiben sowie Ausstellungen und PR organisieren.
Eiffel, Sao Paulo.
Das Massaker an Bauarbeitern Brasilias – in Mitteleuropa gewöhnlich verschwiegen:
Montreal
COPAN(etwa 5000 Bewohner)
Pritzkerpreisträger Paulo Mendes da Rocha: http://www.hart-brasilientexte.de/2009/10/10/paulo-mendes-da-rocha-sao-paulo-pritzker-preistrager-warner-aus-der-betonwuste-gesichter-brasiliens/
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
COPAN – vielgerühmt in Europa.
Joaquim Guedes bei Buchvorstellung in der “Livraria Cultura” von Pedro Herz in Sao Paulo.
Architekt Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker: ”In der Menschheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer – denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte. Er arbeitete für das Militärregime, obwohl er es gleichzeitig kritisierte. Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte. Ich bin traurig – mit dieser formalistischen Prestigearchitektur, die nichts taugt, aber furchtbar teuer ist, hat Niemeyer meiner Architektengeneration objektiv sehr geschadet. Doch leider leben wir heute in einer Zeit, in der die Erscheinung, die Fassade, das Spektakel, die Propaganda so ungemein wichtig genommen werden. ”
Niemeyer-Bauten unter Diktator Getulio Vargas: http://pt.wikipedia.org/wiki/Edif%C3%ADcio_Gustavo_Capanema
Vargas-Minister Gustavo Capanema war Mitgründer einer paramilitärischen Legion, die Prinzipien faschistischen Charakters pflegte und den Uniformschnitt von den deutschen Nazis übernahm, wie in Brasilien konstatiert wird. Als 1964 die brasilianischen Militärs erneut putschten, erneut ein Schreckensregime mit Folter und Terror in dem Tropenland installierten, stand Capanema auf der Seite der Putschisten.
Der Diktator und Judenhasser Getulio Vargas erhielt 1953 die höchste Stufe des Bundesverdienstkreuzes – brasilianische Historiker: Unter Vargas wurde im Namen des Staates gefoltert und gemordet. Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe, der Dominikanermönch Frei Betto: “Mein Vater kämpfte gegen die Vargas-Diktatur, wurde deshalb dreimal eingesperrt.”
http://pt.wikipedia.org/wiki/Conjunto_Arquitet%C3%B4nico_da_Pampulha
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/02/04/oscar
13. Jahrgang | Nummer 8 | 26. April 2010
Projektierte Apartheid
von Klaus Hart, São Paulo
Brasilia, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit, wird 50 – und im Tropenland erinnert man sich des Massakers an Bauarbeitern, des Terrors der Bauplatzpolizei damals, als Chefarchitekt Oscar Niemeyer, der sich immer Kommunist nennt, die Errichtung beaufsichtigt. Und wie er nach dem Militärputsch von 1964 mit den Folter-Diktatoren zusammenarbeitet, ihnen in Brasilia den Generalstab der Regime-Streitkräfte und noch vieles andere hinstellt. Obwohl doch bis heute in ungezählten deutschsprachigen Gazetten steht, Niemeyer sei während der 21 Jahre währenden Militärdiktatur verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt worden. Schon 1960, bei der Einweihung Brasilias, sind kritische Brasilianer über die vielen Baufehler, die Pfuscharbeit entsetzt: Risse in Beton und Asphalt, bröckelnder Putz allerorten, sodaß Nachbesserungskolonnen noch jahrelang zu tun haben – genauer gesagt, bis heute. Daß die Hauptstadt so überstürzt in nicht einmal vier Jahren errichtet wird, damit sie der damalige Präsident Juscelino Kubitschek noch in seiner Amtszeit einweihen kann, hat zudem offenbar en masse Architektenfehler begünstigt.
Nach scharfer Kritik der neuen Nutzer muß Oscar Niemeyer schon wenige Jahre später einräumen, daß in den offiziellen Gebäuden viel mehr Platz benötigt wird, zahlreiche nicht eben schöne Anbauten angeklebt werden müssen. Gleiches gilt für hingeschusterte, überaus hellhörige Wohnhäuser – sogar per Aushang wird aufgefordert, doch bitte, bitte beim Geschlechtsverkehr leiser zu sein, schon wegen der Kinder im Block. Wie es heißt, wurde der Präsidentenpalast für etwa 100 Menschen entworfen, doch heute arbeiten dort an die 700. Bereits jetzt, zum Stadtjubiläum am 21. April, fürchten sich den hiesigen Medien zufolge die Stadtbehörden vor dem Besuch von UNESCO-Experten im Juni, die zahlreiche Niemeyer-Bauten in sehr schlechtem Zustand oder sogar gesperrt antreffen werden. Womöglich droht die Aberkennung des Welterbe-Titels.
50 Jahre später bezeichnet Brasiliens führende Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo dieses von Slums umzingelte Brasilia als „projektierte Apartheid“ und die brasilianischen Architekturkritiker erinnern an entsetzliche Wahrheiten, dunkle Punkte der Errichtung Brasilias. Dort, wo die Bauarbeiter massakriert wurden, gibt es heute ein Kreuz und eine Gedenktafel, zeigte man gar im Freien jenen mehrfach im In-und Ausland preisgekrönten Dokumentarfilm vom Vladimir Carvalho. Der Regisseur befragt darin Niemeyer eingehend über das Blutbad, doch dieser sagt immer wieder höchst irritiert: davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört und will deshalb darüber auch nicht reden. Carvalho läßt im Film, wie Niemeyer ärgerlich wird, herumschimpft, das Abstellen der Scheinwerfer befiehlt, im Dunkeln weiterredet – ein ganz außergewöhnlicher Streifen, das Centre Pompidou in Paris hat ihn parat. Andere Zeitzeugen berichten in dem Film vom Massaker an bis zu 500 Bauarbeitern. „Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen“ sagt Carvalho im Interview, „alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Es gab damals viele Unfälle, viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten. Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, waren schlichtweg fix und fertig – deshalb kam es zu den Unfällen.
Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter protestierten – doch nachts kam die Bauplatzpolizei.“ Was dann geschah, hat eine Zeitung Brasilias inzwischen noch genauer rekonstruiert. Danach feuerte diese berüchtigte Spezialgarde zuerst mit Maschinenpistolen in die Bretterbaracken, bildete danach einen „polnischen Korridor“, zwang die überlebenden Arbeiter, dort durchzulaufen, grauenhaft mißhandelt zu werden. Zum Schluß, so das Blatt gemäß den aufgetriebenen Zeugen, mußten die Arbeiter ihre Toten und Verwundeten auf zwei LKW laden – die Opfer, sogar die Verwundeten, habe man dort, wo heute der TV-Turm Brasilias stehe, verscharrt – die LKW-Fahrer als lästige Zeugen ebenfalls liquidiert.
„Für Niemeyers Biographie ist das nicht gut“, meint Regisseur Carvalho. Völlig egal – wer weiß davon schon, in deutschsprachigen Medien oder Biographietexten beispielsweise wird seit 50 Jahren so gut wie ausnahmslos das Massaker, der Dokumentarfilm nicht erwähnt.
Eigentlich sollten die Reparaturen an prägenden Gebäuden wie dem Präsidentenpalast oder der Kathedrale rechtzeitig vor den 50-Jahr-Feiern fertig sein – doch nun dauern sie noch Monate, Staatschef Lula muß weiter vom Kulturzentrum einer Bank aus regieren. Zudem landete ausgerechnet der federführende Hauptstadtgouverneur wegen Abgeordnetenkauf im Gefängnis.
Doch an offiziellen Huldigungen für Oscar Niemeyer fehlt es natürlich nicht, wenngleich die brasilianischen Architekturkritiker und zahllose Leserbriefschreiber Brasilias die mangelnde Funktionalität der Niemeyer-Bauten betonen. So sind die eckigen Blöcke der Ministerien alle gleich und zudem in Ost-West Richtung aufgereiht. Das gilt für ein Tropenland als schlechteste Lösung, weil dann die Morgen-und Nachmittagssonne direkt auf die großen Fenster knallt, furchtbare, unerträgliche Hitze erzeuge, gegen die keine Klimaanlage ankomme. Staatsangestellte würden dann eben eher nach Hause geschickt, kriegen sozusagen hitzefrei.
Besonders vertrackt wird es, wenn man sich Niemeyers Aktivitäten zur Diktaturzeit widmet. Gemäß den deutschen, aber auch vielen brasilianischen Quellen haßte der famose Kommunist die nazistisch orientierten Putschgeneräle natürlich aus tiefstem Herzen, wollte mit ihnen nichts zu tun haben, ging flugs in Exil – das Arbeiten hatten sie ihm ohnehin verboten. „Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte“, sagt mir vor einigen Jahren der angesehene Architekt und Universitätsprofessor Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker, in Sao Paulo. Ich will es anfangs kaum glauben, doch eine seriöse Werke-Liste des „Stararchitekten“ und brasilianische Fachtexte bestätigen Guedes: 1967, drei Jahre nach der Machtübernahme, projektiert Niemeyer in Brasilia eine imposante, nach Diktator Costa e Silva benannte Brücke. Und ausgerechnet in der grausamsten, schwärzesten Phase der Folterdiktatur, unter Generalspräsident Medici, entwirft der „Kommunist“ den Generalstab in Brasilia, 1973 wird er mit großem Pomp eingeweiht. „Und dies unter dem Säbel der Medici-Regierung“, bemerkt der brasilianische Autor Marcos Sá Correa zu Niemeyers damaligem Wirken. 1971 realisiert dieser in der nordostbrasilianischen Millionenstadt Recife sogar ein Stadion, das just nach dem berüchtigten Diktator Medici benannt ist – und für die Fußball-WM 2014 genutzt wird. Laut Werke-Liste projektierte Niemeyer allein in Brasilia während des Militärregimes über 20 Bauten, auch eine Militärschule ist darunter. Guedes übrigens kann an ihm nichts Kommunistisches entdecken, nennt ihn einen Stalinisten.
2001 wird Niemeyer gefragt, warum er zwar Villen baue, aber keine einfachen Wohnhäuser, keine Viertel für die Armen. „Weshalb verzichteten Sie darauf, für jene, deren Schicksal Ihnen am Herzen liegt, ein architektonisch ansprechendes Zuhause zu errichten?“ Der Pritzker-Preisträger mag mit seiner Antwort manchen perplex machen:“Weil sich unsere Brüder in den Slums wohler fühlen als in geplanten Siedlungen, die keinerlei Komfort bieten und oft noch öder sind.“Komisch, daß europäische, darunter deutsche Architekturexperten, gar Architekturfeuilletonisten und Fernsehteams, dem in Brasilien wegen seiner originellen, umfassenden Niemeyer-Kritik so hochgeschätzten Guedes nicht die Bude einrannten. Jetzt ist es zu spät. 2008 wird Guedes auf nie geklärte Weise getötet. Direkt vor seinem Büro rast ein Stadtjeeplenker auf ihn zu, überrollt ihn, prescht gemäß den Zeugenberichten davon, und wird nie gefaßt. „In der Menschheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer“, sagt mir Guedes, „denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte.“ Besonders deutlich wird das im Propagandafilm “Oscar Niemeyer – das Leben ist ein Hauch”, der auch in den deutschen Kinos läuft. In Brasilien erntete der Film Verrisse, in Deutschland dagegen höchstes Lob.
Oscar Niemeyer gerühmte Bauten:
Die Militärdiktatur Brasiliens – wer mit ihr eng kooperierte: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/19/brasiliens-folter-diktatur1964-1985-mit-wem-bundesausenminister-willy-brandt-damals-bilaterale-vertrage-unterzeichnet-das-massaker-an-stahlarbeitern-unter-gouverneur-jose-magalhaes-pinto/
“Wir wollen mehr Demokratie wagen”: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/22/mehr-demokratie-wagen-willy-brandt-1969-jahr-in-dem-er-in-bonn-vertrage-mit-der-brasilianischen-folterdiktatur-unterzeichnete/
Wie Oscar Niemeyer mit der brasilianischen Militärdiktatur zusammenarbeitete – die Liste aller Projekte in den Jahren des Folterregimes von 1964 bis 1985. “Während der Militärdiktatur (1964-1985) wurde Niemeyer verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt.”(deutscher Medientext) Das Massaker an Bauarbeitern Brasilias – in Mitteleuropa gewöhnlich verschwiegen – ebenso wie die grauenhaften, inhumanen Arbeitsbedingungen bei der Hauptstadt-Errichtung. **
Liste der Niemeyer-Projekte laut Niemeyer-Stiftung – besonders interessant die Fülle der Projekte während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985: http://www.niemeyer.org.br/projetos.pdf
Niemeyer realisierte 1971 sogar in der nordostbrasilianischen Provinzhauptstadt Recife ein Stadion, das nach dem berüchtigten Generalspräsidenten Medici der nazistisch orientierten Militärdiktatur benannt wurde, nach wie vor so heißt – und für die Fußball-WM 2014 genutzt wird.http://www.zeit.de/2007/15/Traum-Oscar-Niemeyer
In seinem Buch “Oscar Niemeyer” schildert Autor Marcos Sá Correa, wie die Diktaturmilitärs Niemeyer baten, den Generalstab zu projektieren. “Und dies unter dem Säbel der Medici-Regierung…”
Ausriß, Oscar Niemeyer neben José Sarney, Chef der Diktaturpartei ARENA während des Militärregimes, danach Staatschef Brasiliens – bei der Besichtigung des Memorials für Lateinamerika, 1988. http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/19/brasiliens-folter-diktatur1964-1985-mit-wem-bundesausenminister-willy-brandt-damals-bilaterale-vertrage-unterzeichnet-das-massaker-an-stahlarbeitern-unter-gouverneur-jose-magalhaes-pinto/
Wie die brasilianische Militärdiktatur Frauen folterte: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/03/26/brasiliens-komplizierte-vergangenheitsbewaltigung-maria-amelia-de-almeida-teles-grauenhaft-gefolterte-regimegnerin-heute-mitglied-der-wahrheitskommission-des-teilstaats-sao-paulo-zur-aufklarung-der/
Ausriß: Folterdiktator Ernesto Geisel und sein für die Operation Condor(länderübergreifende Jagd auf Regimegegner) zuständiger Geheimdienstchef Joao Figueiredo. Im Hintergrund der von Oscar Niemeyer entworfene Präsidentenpalast in Brasilia.
Kriegsverbrecher Gustav Wagner, stellvertretender Kommandant des KZ Sobibor, SS-Oberscharführer, berüchtigter sadistischer Judenmörder – von der Militärdiktatur Brasiliens nicht ausgeliefert: “Die deutsche Regierung stellte ebenfalls ein Ersuchen auf Auslieferung, das jedoch vom Obersten Gerichtshof Brasiliens am 22. Juni 1979 zurückgewiesen wurde.” Wikipedia
Während des Militärregimes projektierte Niemeyer das Hauptquartier der Streitkräfte in Brasilia: “… o comunista desenhou o projeto do Quartel-General do Exército, no Setor Militar Urbano. A construção monumental saiu do papel nos anos mais difíceis da ditadura. Ainda nessa época, ele projetou o Palácio do Jaburu, que foi ocupado por alguns dos militares mais linha-duras do regime.”(Landesmedien)
1967, drei Jahre nach dem Putsch der Generäle, projektierte Niemeyer den brasilianischen Angaben zufolge in Brasilia eine imposante, nach Diktator Costa e Silva benannte Brücke.http://www.tagesspiegel.de/zeitung/gegen-jede-vernunft/1121822.html
“Während der Militärdiktatur (1964-1985) wurde Niemeyer verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt.”( Medientext in deutschsprachigen Ländern)
Buch zum Dokumentarfilm über das Massaker an Bauarbeitern Brasilias.
“Überzeugter Kommunist”: http://www.magazin-world-architects.com/ch_09_51_onlinemagazin_gemeldet_de.html
ETH Zürich: http://www.gta.arch.ethz.ch/ausstellungen/oscar-niemeyer-hommage
Architekt Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker: ”In der Menscheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer – denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte. Er arbeitete für das Militärregime, obwohl er es gleichzeitig kritisierte.
Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte.”
Die Folha de Sao Paulo gibt 2012 die Position des Herausgebers des Mondadori-Verlags in Milano über Oscar Niemeyer, den Architekten des Verlagsgebäudes, gegenüber einer brasilianischen Journalistin wieder:
“Sage ihm, daß es eine Folter ist, in diesem Ambiente zu sein. Das Licht von draußen knallt einem direkt ins Genick, die Belüftung ist unerträglich und thermisch, von der Wärmeregulierung her, ist es die Hölle.”
http://www.bpb.de/publikationen/JU16H0,0,Vom_Umgang_mit_der_Diktaturvergangenheit.html
Brasilia-Sinfonie von Tom Jobim und Vinicius de Morais: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/04/14/brasilia-sinfonia-da-alvorada-komponiert-getextet-von-den-bossa-nova-miterfindern-tom-jobim-und-vinicius-de-morais-engen-freunden-oscar-niemeyers-brasilia-permanente-botschaft-der-anmut/
http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43065536.html
Projektierte Apartheid(Hintergrundtext)
Brasilia, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit, wird 50 – und im Tropenland erinnert man sich des Massakers an Bauarbeitern, des Terrors der Bauplatzpolizei damals, als Chefarchitekt Oscar Niemeyer, der sich immer Kommunist nennt, die Errichtung beaufsichtigt. Und wie er nach dem Militärputsch von 1964 mit den Folter-Diktatoren zusammenarbeitet, ihnen in Brasilia den Generalstab der Regime-Streitkräfte und noch vieles andere hinstellt. Obwohl doch bis heute in ungezählten deutschsprachigen Gazetten steht, Niemeyer sei während der 21 Jahre währenden Militärdiktatur verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt worden. Schon 1960, bei der Einweihung Brasilias, sind kritische Brasilianer über die vielen Baufehler, die Pfuscharbeit entsetzt: Risse in Beton und Asphalt, bröckelnder Putz allerorten, sodaß Nachbesserungskolonnen noch jahrelang zu tun haben – genauer gesagt, bis heute. Daß die Hauptstadt so überstürzt in nicht einmal vier Jahren errichtet wird, damit sie der damalige Präsident Juscelino Kubitschek noch in seiner Amtszeit einweihen kann, hat zudem offenbar en masse Architektenfehler begünstigt.
Nach scharfer Kritik der neuen Nutzer muß Oscar Niemeyer schon wenige Jahre später einräumen, daß in den offiziellen Gebäuden viel mehr Platz benötigt wird, zahlreiche nicht eben schöne Anbauten angeklebt werden müssen. Gleiches gilt für hingeschusterte, überaus hellhörige Wohnhäuser – sogar per Aushang wird aufgefordert, doch bitte, bitte beim Geschlechtsverkehr leiser zu sein, schon wegen der Kinder im Block. Wie es heißt, wurde der Präsidentenpalast für etwa 100 Menschen entworfen, doch heute arbeiten dort an die 700. Bereits jetzt, zum Stadtjubiläum am 21. April, fürchten sich den hiesigen Medien zufolge die Stadtbehörden vor dem Besuch von UNESCO-Experten im Juni, die zahlreiche Niemeyer-Bauten in sehr schlechtem Zustand oder sogar gesperrt antreffen werden. Womöglich droht die Aberkennung des Welterbe-Titels.
50 Jahre später bezeichnet Brasiliens führende Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo dieses von Slums umzingelte Brasilia als „projektierte Apartheid“ und die brasilianischen Architekturkritiker erinnern an entsetzliche Wahrheiten, dunkle Punkte der Errichtung Brasilias. Dort, wo die Bauarbeiter massakriert wurden, gibt es heute ein Kreuz und eine Gedenktafel, zeigte man gar im Freien jenen mehrfach im In-und Ausland preisgekrönten Dokumentarfilm vom Vladimir Carvalho. Der Regisseur befragt darin Niemeyer eingehend über das Blutbad, doch dieser sagt immer wieder höchst irritiert: davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört und will deshalb darüber auch nicht reden. Carvalho läßt im Film, wie Niemeyer ärgerlich wird, herumschimpft, das Abstellen der Scheinwerfer befiehlt, im Dunkeln weiterredet – ein ganz außergewöhnlicher Streifen, das Centre Pompidou in Paris hat ihn parat. Andere Zeitzeugen berichten in dem Film vom Massaker an bis zu 500 Bauarbeitern. „Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen“ sagt Carvalho im Interview, „alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Es gab damals viele Unfälle, viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten. Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, waren schlichtweg fix und fertig – deshalb kam es zu den Unfällen.
Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter protestierten – doch nachts kam die Bauplatzpolizei.“ Was dann geschah, hat eine Zeitung Brasilias inzwischen noch genauer rekonstruiert. Danach feuerte diese berüchtigte Spezialgarde zuerst mit Maschinenpistolen in die Bretterbaracken, bildete danach einen „polnischen Korridor“, zwang die überlebenden Arbeiter, dort durchzulaufen, grauenhaft mißhandelt zu werden. Zum Schluß, so das Blatt gemäß den aufgetriebenen Zeugen, mußten die Arbeiter ihre Toten und Verwundeten auf zwei LKW laden – die Opfer, sogar die Verwundeten, habe man dort, wo heute der TV-Turm Brasilias stehe, verscharrt – die LKW-Fahrer als lästige Zeugen ebenfalls liquidiert.
„Für Niemeyers Biographie ist das nicht gut“, meint Regisseur Carvalho. Völlig egal – wer weiß davon schon, in deutschsprachigen Medien oder Biographietexten beispielsweise wird seit 50 Jahren so gut wie ausnahmslos das Massaker, der Dokumentarfilm nicht erwähnt.
Eigentlich sollten die Reparaturen an prägenden Gebäuden wie dem Präsidentenpalast oder der Kathedrale rechtzeitig vor den 50-Jahr-Feiern fertig sein – doch nun dauern sie noch Monate, Staatschef Lula muß weiter vom Kulturzentrum einer Bank aus regieren. Zudem landete ausgerechnet der federführende Hauptstadtgouverneur wegen Abgeordnetenkauf im Gefängnis.
Doch an offiziellen Huldigungen für Oscar Niemeyer fehlt es natürlich nicht, wenngleich die brasilianischen Architekturkritiker und zahllose Leserbriefschreiber Brasilias die mangelnde Funktionalität der Niemeyer-Bauten betonen. So sind die eckigen Blöcke der Ministerien alle gleich und zudem in Ost-West Richtung aufgereiht. Das gilt für ein Tropenland als schlechteste Lösung, weil dann die Morgen-und Nachmittagssonne direkt auf die großen Fenster knallt, furchtbare, unerträgliche Hitze erzeuge, gegen die keine Klimaanlage ankomme. Staatsangestellte würden dann eben eher nach Hause geschickt, kriegen sozusagen hitzefrei.
Besonders vertrackt wird es, wenn man sich Niemeyers Aktivitäten zur Diktaturzeit widmet. Gemäß den deutschen, aber auch vielen brasilianischen Quellen haßte der famose Kommunist die nazistisch orientierten Putschgeneräle natürlich aus tiefstem Herzen, wollte mit ihnen nichts zu tun haben, ging flugs in Exil – das Arbeiten hatten sie ihm ohnehin verboten. „Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte“, sagt mir vor einigen Jahren der angesehene Architekt und Universitätsprofessor Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker, in Sao Paulo. Ich will es anfangs kaum glauben, doch eine seriöse Werke-Liste des „Stararchitekten“ und brasilianische Fachtexte bestätigen Guedes: 1967, drei Jahre nach der Machtübernahme, projektiert Niemeyer in Brasilia eine imposante, nach Diktator Costa e Silva benannte Brücke. Und ausgerechnet in der grausamsten, schwärzesten Phase der Folterdiktatur, unter Generalspräsident Medici, entwirft der „Kommunist“ den Generalstab in Brasilia, 1973 wird er mit großem Pomp eingeweiht. „Und dies unter dem Säbel der Medici-Regierung“, bemerkt der brasilianische Autor Marcos Sá Correa zu Niemeyers damaligem Wirken. 1971 realisiert dieser in der nordostbrasilianischen Millionenstadt Recife sogar ein Stadion, das just nach dem berüchtigten Diktator Medici benannt ist – und für die Fußball-WM 2014 genutzt wird. Laut Werke-Liste projektierte Niemeyer allein in Brasilia während des Militärregimes über 20 Bauten, auch eine Militärschule ist darunter. Guedes übrigens kann an ihm nichts Kommunistisches entdecken, nennt ihn einen Stalinisten.
2001 wird Niemeyer gefragt, warum er zwar Villen baue, aber keine einfachen Wohnhäuser, keine Viertel für die Armen. „Weshalb verzichteten Sie darauf, für jene, deren Schicksal Ihnen am Herzen liegt, ein architektonisch ansprechendes Zuhause zu errichten?“ Der Pritzker-Preisträger mag mit seiner Antwort manchen perplex machen:“Weil sich unsere Brüder in den Slums wohler fühlen als in geplanten Siedlungen, die keinerlei Komfort bieten und oft noch öder sind.“Komisch, daß europäische, darunter deutsche Architekturexperten, gar Architekturfeuilletonisten und Fernsehteams, dem in Brasilien wegen seiner originellen, umfassenden Niemeyer-Kritik so hochgeschätzten Guedes nicht die Bude einrannten. Jetzt ist es zu spät. 2008 wird Guedes auf nie geklärte Weise getötet. Direkt vor seinem Büro rast ein Stadtjeeplenker auf ihn zu, überrollt ihn, prescht gemäß den Zeugenberichten davon, und wird nie gefaßt. „In der Menschheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer“, sagt mir Guedes, „denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte.“ Besonders deutlich wird das im Propagandafilm “Oscar Niemeyer – das Leben ist ein Hauch”, der auch in den deutschen Kinos läuft. In Brasilien erntete der Film Verrisse, in Deutschland dagegen höchstes Lob.
Oscar Niemeyer: Der “Stararchitekt” und das Blutbad an Bauarbeitern von Brasilia(1 und 2). Der “vergessene” Doku-Hit von Regisseur Vladimir Carvalho über das Brasilia-Massaker. Die Niemeyer-Links. **
tags: architektur, brasilia, brasilien, dokumentarfilm, kultur, menschenrechte, oscar niemeyer
Kritische Stellungnahmen aus Brasilien – und eine Band, die an das Brasilia-Blutbad erinnert
In bestimmten europäischen Medien, manchen Feuilletonredaktionen, Verlagen und PR-Agenturen herrscht seit Jahrzehnten panische Angst vor dem Thema, wird jeder Hinweis unterdrückt. Indessen existieren die Fakten: Der vielfach preisgekrönte brasilianische Dokumentarfilmer Vladimir Carvalho hörte von einem Blutbad, gar einem Massaker an protestierenden Bauarbeitern Brasilias von 1959, holte zahlreiche Zeitzeugen vor die Kamera, erhielt für den das erste Mal auf dem Brasilia-Filmfestival von 1990 gezeigten Streifen zahlreiche Auszeichnungen, sogar von der brasilianischen Bischofskonferenz CNBB, von der Kritikerassoziation Sao Paulos. In einem langen Website-Exklusivinterview äußerte sich Carvalho zu den Vorgängen beim Bau Brasilias, der von Oscar Niemeyer mitbeaufsichtigt wurde. Es gibt jene Heldensage, jenen regelrechten Mythos um die Errichtung der brasilianischen Hauptstadt, wonach der große Architekt immer nahe bei seinen geliebten Arbeitern war, im Staub der Savanne – alle ziehen an einem Strang, vollbringen das große Werk, schließlich zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Und es gibt viele widersprechende Darstellungen, darunter Carvalhos Dokumentarfilm „Conterraneos Velhos de Guerra” und einen ebenfalls exklusiv für diese Website interviewten Bauarbeiter.
„Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen”, sagt Carvalho, „alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Entsprechend wurden die Arbeiter behandelt. Wie berichtet wird, gab es sogar verdorbenes Essen, wurde während eines Karnevals das Wasser des Bauarbeiterlagers abgestellt, um zu verhindern, daß diese sich waschen konnten, um danach in Nachbarstädten des Teilstaates Goias Karneval zu feiern. Eines Tages war das Essen wieder verdorben “ das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter verloren die Geduld, warfen die Teller mit dem Essen aus dem Fenster, aus Protest. Da rief man die Bauplatzpolizei, die Guarda Especial de Brasilia, die sollte eingreifen. Die Arbeiter wehrten sich nach Kräften, schafften es sogar, die Bauplatzpolizei zurückzutreiben. Der Tag verging “ doch nachts, als alle im Bauarbeitercamp schliefen, kam die Polizei erneut und feuerte mit Maschinenpistolen in das Lager. In Brasilien sagt man, das Volk übertreibt, aber erfindet nichts („O povo aumenta, mas nao inventa”). Das Volk könnte also die Vorfälle übertrieben geschildert haben “ hat aber nichts erfunden, ging von einem konkreten Fall aus. So könnte man die Zahl der Ermordeten zu hoch angegeben haben. Im Film sagt einer “ 30 Tote, ein anderer 60, wieder ein anderer 120, einer sogar etwa 500. Ich habe im Dokumentarfilm Positionen von Personen aneinandergereiht, die damals dabei waren, oder die Vorfälle mitbekommen hatten. Ich habe nichts bewiesen “ der Film war ein Wort gegen alle, die heute sagen, es gab kein Blutbad. Und die in der Regel mit der damaligen Administration liiert waren, den damaligen Staatspräsidenten Juscelino Kubitschek loben. Es handelte sich damals um eine Repressalie gegen revoltierende Arbeiter. In Brasilia kann man heute noch Ältere, auch Taxifahrer von damals treffen, die davon berichten und klar sagen, ja, es gab diese Toten! Nur eine einzige Zeitung, „O Binomio” aus Belo Horizonte, die in Opposition zur Kubitschek-Regierung stand, berichtete über eine Revolte von Bauarbeitern, die gewaltsam unterdrückt worden sei, daß es offenbar Tote gegeben habe. Wegen dieser Toten, wegen des ganzen Falles wurde Brasiliens erste Bauarbeitergewerkschaft gegründet. Es gab damals viele Unfälle. Viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten, Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren, der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Zeugen sagten: Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, mußten den Bau ja beenden. Die Arbeiter waren schlichtweg fix und fertig, deshalb kam es zu den Unfällen. Weil man eben die Sicherheitsbestimmungen stark gelockerte hatte.”
Vladimir Carvalho befragte für den Dokumentarfilm auch Oscar Niemeyer:”Ich ging zu ihm, weil ich dachte, er kennt die ganze Geschichte, kann alles bezeugen, kann bestätigen, was die anderen mir sagten. So wie die einfache Wäscherin. Am Tage des Massakers wollte sie den Arbeitern die sauberen Sachen ins Lager bringen, doch man ließ sie nicht hinein. Sie hob die Sachen ein ganzes Jahr lang auf “ und als sie wußte, was da im Lager passiert war, hat sie die Sachen der Bauarbeiter an andere Leute verschenkt. Doch Oscar Niemeyer hat verneint, daß das Blutbad geschehen ist, er sagte, davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört. Er war ein großer Freund von Juscelino Kubitschek. Auch über die Arbeitsunfälle wollte Niemeyer nicht reden. Und heute will gleich gar keiner von den Leuten oben über die Vorfälle sprechen. Niemeyer wird jetzt hundert Jahre alt, niemand will ihn verärgern. Für dessen Biographie ist der Fall nicht gut.”
Carvalho befragte für den Film auch den Architekten Lucio Costa, der mit Niemeyer in Brasilia zusammenarbeitete. „Als ich Costa auf den Fall ansprach, sagte er mir, was willst du denn, das war der Bau einer Stadt, kein Duett tanzender Kavaliere.”
Laut Carvalho wurde zwar eine Untersuchung zu den Vorgängen gestartet, doch seien, wie es heiße, die Unterlagen verbrannt.
Gemäß den Aussagen eines Zeitzeugen im Film wurden die ermordeten Bauarbeiter dort verscharrt, wo heute in Brasilia der Fernsehturm steht. Einige hätten noch gelebt, als die Planierraupe über sie Erde geschoben habe.
1997 wurde in Brasilien das Buch „Conterraneos Velhos de Guerra” herausgegeben, welches das gesamte Drehbuch sowie die Kritikerstimmen über den Dokumentarfilm enthält. Es liegt allen vor, die über Oscar Niemeyer und Brasilia schreiben, Ausstellungen, PR organisieren.
Oscar Niemeyers Fehlleistungen Anklicken.
Massaker, Karneval, Mythen & Brasilienklischees
Im mehrfach preisgekrönten Dokumentarfilm „Conterraneos Velhos de Guerra” von Vladimir Carvalho wird Oscar Niemeyer gefragt, wie er zu jenem Massaker stehe, das 1959 in einem Bauarbeiterlager Brasilias verübt worden sei. Oscar Niemeyer, der die Errichtung Brasilias mitbeaufsichtigte, antwortet:”Davon weiß ich nichts, was denn für ein Blutbad?”
Brasilia-Bauarbeiter Wagner M. , 2007 bei Sao Paulo auf das Blutbad angesprochen, erinnert sich im Website-Exklusivinterview sofort: „Ja, das ist damals tatsächlich passiert.”
Es heißt, bei Protesten, etwa gegen verdorbenes Essen, seien Hunderte von der Bauplatzpolizei erschossen worden? „Das gab es immer wieder, ich habe das gesehen, ich war Zeuge. Es war diese Bauplatzpolizei, die gemordet hat. Doch man konnte sie nicht anzeigen, alle hatten Angst vor ihr. Es gab Repression. Und wer gar etwas gesehen hatte und darüber offen redete “ solche Zeugen wurden liquidiert. So war das damals in Brasilia.”
Im Drehbuch zum Dokumentarfilm, das im gleichnamigen Buch nachzulesen ist, sagen Arbeiter von damals, daß es keinen Arbeitsschutz gegeben habe, sich deshalb viele tödliche Unfälle ereigneten, die Leichen sofort weggeschafft wurden. Fiel einer vom Gerüst, liefen seine Kollegen rasch nach unten, wo er aufgeschlagen sein könnte “ doch die Leiche war bereits nicht mehr da, wird berichtet.
Dann die Schilderungen über das „Massacre” von 1959. „Es gab einen Protest gegen verdorbenes Essen, fehlendes Wasser, verspätete Lohnzahlungen…Das geschah so ungefähr am zweiten Tag des Karnevals…Man hat die aus dem Lager rausfahrenden LKWs gesehen – die Leute sagten, alle beladen mit Toten, die in Gruben bei Brasilia geworfen werden sollten…”
Architekt Lucio Costa wird befragt “ hätte er damals Kenntnis von dem Blutbad gehabt, wie hätte er reagiert? „Ich hätte dem nicht die geringste Bedeutung gegeben. Keine. Das sind Episoden. Vom Gesichtspunkt der Errichtung dieser Stadt her, sind das Episoden ohne die geringste Bedeutung…Ich sehe kein Motiv, das zu dramatisieren.”
Zeitzeuge Heraldo: „ Ja, da sind viele Männer umgekommen. Wir haben auf die alle gewartet, aber keinen mehr gesehen. Zwei Tage später mußten wir wieder arbeiten “ die Armee dabei mit Maschinengewehren, damit wir arbeiten. Denn der ganze Bau sollte eben nie stocken.”
Das Buch enthält zahlreiche Kritikerstimmen. Während des Karnevals von 1959 seien etwa 500 Bauarbeiter erschossen und an einem nie identifizierten Ort verscharrt worden “ ein Fakt, der wie viele andere von den Autoritäten dieser Zeit vor der Öffentlichkeit versteckt worden sei, ist zu lesen. Präsident Kubitschek habe von dem Massaker gewußt, doch Lucio Costa und Oscar Niemeyer lehnten es ab, den Fall zu kommentieren. Was Lucio Costa sage, sei enttäuschend “ was Oscar äußere, sei bedrückend. „Man lernt – unter den monumentalen Palästen von Brasilia liegen Kadaver, viele Kadaver.”
Ex-Bildungsminister Cristovam Buarque, heute Kongreßsenator, zählt zu den Qualitäten des Films die „Authentizität”.
Erinnert wird im Buch, daß der Streifen auf dem Festival des neuen lateinamerikanischen Films in Havanna den großen Preis der Jury erhalten hat. Brasiliens Presse, die Präsident Kubitschek unterstützte, habe das Massaker bewußt versteckt, auffällig sei, wie nervös sich im Film Oscar Niemeyer während seiner Äußerungen gebärde. „Übrigens “ diese niederträchtige Episode wurde mit absoluter Scheinheiligkeit durch Zeitzeugen der Epoche verborgen, verheimlicht “ allen voran durch Niemeyer”, schreibt die in Paris erscheinende Zeitung „Temoignage Chretien”.
Der Dokumentarfilm von Carvalho, so ein brasilianisches Blatt, sei die „Geschichte der Zerstörung von Mythen”. Demontiert würden Figuren wie Oscar Niemeyer “ als „Architekt des Sozialen”. Nicht zufällig hätten sich Niemeyer und Costa stets geweigert, sich den Dokumentarfilm anzusehen.
Der Streifen wurde in der DDR auf dem Dokumentarfilmfestival von Leipzig gezeigt, ferner in Paris, Havanna und Toulouse.
Wie Vladimir Carvalho im Blog-Exklusivinterview sagte, befindet sich eine Kopie des Films im Centre Pompidou von Paris “ mit dem Titel ”Glanz und Elend von BrasÃlia.
Die brasilianische Nachrichtenagentur Agencia Camara über das Massaker an Bauarbeitern während der Errichtung Brasilias
Zeitzeuge: Arbeiter sogar im Schlaf getötet
Em 1991, um desses operários gravou um depoimento ao Arquivo Público do Distrito Federal. Eronildes Guerra de Queiroz foi servente de pedreiro e depois cozinheiro nos canteiros de obra da empresa Pacheco Fernandes Dantas. Ele tinha 22 anos quando chegou em BrasÃlia, em 1957, vindo de Sáo José de Siriji (PE). Da cozinha do acampamento da empresa, perto do Palácio da Alvorada, Eronildes presenciou um episódio até hoje envolto em mistério: um massacre de operários que a história oficial nega ter ocorrido.
Era sábado de carnaval de 1959. Eronildes conta que três operários começaram a quebrar o refeitório. Alguém chamou a GEB e os peões da obra uniram-se para impedir a prisáo dos companheiros. Os policiais pediram reforços. “O comandante, me parece que era o major Gastáo, mandou a turma entrar e todo mundo fazer fila para apanhar. Quem corresse levava chumbo. A turma, coitada, ficou apavorada e começou a correr. Aà eles meteram fogo. Sem dó”, afirmou o ex-operário, acrescentando que muitas balas perdidas fizeram vÃtimas nos dormitórios. “Teve gente que morreu na cama, dormindo. Justamente aqueles que trabalhavam a noite inteira e iam levantar para trabalhar novamente”.
Versáo oficial
Um detalhe do depoimento de Eronildes coincide com a versáo oficial do episódio. Ele garante que os corpos foram levados para Formosa, em Goiás. Só um ficou para trás, o de um operário que tinha se escondido depois de ferido e foi achado morto no dia seguinte. Oficialmente, só houve um morto no confronto. Eronildes náo sabe quantos morreram, mas lembra que, depois do massacre, metade dos 4 mil operários da Pacheco Fernandes abandonou a empresa e vários colegas desapareceram. Oficialmente, o massacre da Pacheco Fernandes náo existiu. Náo passou de um acidente isolado com o saldo de um morto e três feridos graves.
Reportagem especial da Rádio Câmara sobre o aniversário de BrasÃlia
Die brasilianische Linkspartei PSTU erinnert an den Dokumentarfilm von Vladmir Carvalho über das in Brasilia verübte Blutbad an Bauarbeitern, die gegen “absurde Ausbeutung” revoltierten - siehe die Stellungnahmen von Oscar Niemeyer und Lucio Costa (Website-Texte)
Olhares mais realistas sobre JK
Wilson H. Silva
da redaçáo do Opiniáo Socialista e membro da Secretaria Nacional de Negros e Negras dos PSTU
Outros textos deste(a) autor(a)
¢ Diante do fantasioso e heróico retrato que a Rede Globo vem fazendo do ex-presidente Juscelino Kubitschek através de sua minissérie (vide artigo no Opiniáo Socialista 245), cabe revisitar algumas produções cinematográficas que trataram a figura de JK e sua época de uma forma muito mais complexa e ”realista.
Para tal, pelo menos dois documentários, disponÃveis em vÃdeo, servem como interessantes contrapontos para a minissérie global.
Os Anos JK: uma trajetória polÃtica (SÃlvio Tendler, 1980)
Apesar de ainda estar impregnado por uma certa exaltaçáo do presidente, principalmente por ter sido feito sob o impacto de sua morte “ e da presença massiva de pessoas em seu funeral “ e ainda durante a vigência da ditadura que o havia cassado JK, o filme de Tendler explora muito mais as contradições históricas do perÃodo e o real papel do ex-presidente.
Um ponto inquestionavelmente forte do filme é localizar a trajetória de JK dentro de um contexto internacional, apresentando outros ”personagens como Kennedy, Fidel Castro e Che Guevara. Também é dado um importante destaque para o ambiente cultural da época, marcado pelo advento da bossa nova, do cinema-novo e tantas outras manifestações estéticas e comportamentais.
Conterrâneos velhos de guerra (Vladimir Carvalho, 1990)
Excelente retrato sobre a construçáo de BrasÃlia concebido a partir do olhar dos operários que participaram da construçáo da cidade (os candangos, na sua maioria migrantes nordestinos como o próprio diretor, que é paraibano e também transferiu-se para a capital federal). Gente que viu na construçáo da capital uma perspectiva de melhoria de suas condições de vida e, depois de trabalharem sob condições subumanas nos canteiros de obra, foi expulsa para as cidades satélites.Além desta perspectiva rara no cinema brasileiro, também merece destaque o resgate que o filme faz de um episódio que todos os envolvidos no processo de construçáo da cidade “ inclusive o próprio JK “ sempre procuraram abafar: o massacre de um grupo de trabalhadores da empreiteira Pacheco Fernandes Dantas que se rebelaram contra a absurda exploraçáo a que estavam submetidos.
Einfach mal in deutschsprachigen Buchtexten über Niemeyer und Brasilia nachschauen, was dort über das Massaker vermerkt ist.
Pacheco Fernandes – eine brasilianische Band erinnert mit ihrem Namen an das Massaker von Brasilia – verübt an protestierenden Bauarbeitern während der Errichtung der Hauptstadt. Erinnerung an die ermordeten BauarbeiterDer Protestsong: Massacre Pacheco Fernandes
por: LauroConstruçáo de um nova cidade
Iniciu de uma capital
Náo nós mostraram a realidade
Kein “teurer Murks” von “Stararchitekt” Oscar Niemeyer in Potsdam
Aus für hochgejubeltes Spaßbad – doch Niemeyer sackte eine Million Euro ein
Potsdams Präfekturspitze unter SPD-Oberbürgermeister Jann Jacobs hatte ausgerechnet den wegen seiner zahlreichen Fehlleistungen stark umstrittenen brasilianischen Architekten Oscar Niemeyer damit beauftragt, für die Stadt ein “Spaßbad” zu entwerfen. Nicht wenige Propagandajournalisten – im Internet nachzulesen – wurden damit beauftragt, das fragwürdige Projekt, Niemeyers schwache Entwürfe in den deutschen Medien hochzujubeln. Die Sache ging indessen daneben – zahlreiche Potsdamer Bürger, aber auch Experten und Politiker durchschauten die Tricks und protestierten erfolgreich. “Stararchitekt” Niemeyer sackte zwar für seine Entwürfe rund eine Million Euro ein, doch das Bauprojekt mußte zurückgezogen werden. In den deutschen Architekturmedien waren Niemeyers Pläne stark kritisiert worden, das Architekten-Netzwerk “Baunetz” sprach bereits vor dem Projektstopp von “uninspiriertem und teurem Murks”: Wie lange darf man eigentlich als Architekturjournalist schweigen, ohne sich mitschuldig zu machen?
Mitschuldig an baukulturellem Unfug? Denn genau dieser soll offenbar in Potsdam gebaut werden. Die neuesten Modellsimulationen der Stadtwerke Potsdam zeigen banale Architektur-Versatzstücke, die man von einer Messebaufirma erwarten würde, nicht jedoch von einem „Klassiker der Moderne”, als der Oscar Niemeyer in Potsdam gern apostrophiert wird.
Die Geschichte dieses Unfugs beginnt damit, dass irgendwelche Granden der Potsdamer Lokalpolitik und -verwaltung unbedingt einen Bilbao-Effekt für ihre Stadt herbeiführen wollen. Jemand muss ihnen eingeflüstert haben, der heute 98-jährige Niemeyer sei der einzige lebende Architekt, der eine solche Aufgabe bewältigen könnte. Man kauft also “ gegen bestehende Vergaberegeln, die einen Wettbewerb erfordert hätten “ einen „Stararchitekten” und nimmt diesem gläubig jedwede noch so hanebüchene Hervorbringung als begnadeten Entwurf eines Pritzker-Preisträgers ab.
Tatsächlich sehen wir vier verschieden große und schematisch verglaste Kugelsegmente, die an Schalenbauten von Heinz Isler in der Schweiz erinnern “ Sixties-Science-Fiction, aber kein Beitrag zur aktuellen Architektur. Verbunden sind die Kuppeln mit einem dazwischen ausgekippten Flachbau, dessen Außenwände im Grundriss leicht wellenförmig angeordnet sind. Davor steht, den Flachbau halb durchdringend, eine entsetzlich banale, kreisrunde Keksdose, die man auf dem Hof einer Gebrauchtwagenhandlung im Gewerbegebiet verorten würde, nicht aber am Potsdamer Brauhausberg. Das Absurdeste ist aber, dass die bestehende Schwimmhalle nun einbezogen wird und ebenfalls „niemeyermäßig” überdacht werden soll. Damit verliert die Halle ihr bestimmendes architektonisches Ausdrucksmittel, das Hängeseiltragwerk mit 40 Metern Spannweite, eine Errungenschaft der DDR-Moderne von 1969.
Niemand will Niemeyer seine Verdienste absprechen, aber seine Potsdamer Freizeitbad-Entwürfe sollte man als das bezeichnen dürfen, was sie sind: uninspirierter und teurer Murks. Solange man (nur) den großen Namen will, wird sich an den Plänen der Stadt und ihrer Stadtwerke wenig ändern “ dann muss eben die nächsthöhere Instanz den Geldhahn zudrehen. Wenn aber die Bedürfnisse der Bevölkerung nach einem funktionierenden und gut gestalteten Freizeitbad vernünftigerweise die Oberhand gewännen, dann sollte man das machen, was zu Beginn dieser Geschichte versäumt wurde: einen offenen Architekturwettbewerb durchführen. Dann werden die Architekten aus Berlin und Brandenburg beweisen, dass sie innovativer, besser und preiswerter bauen können als der alte Herr aus Rio.”
Projektierte Apartheid(Hintergrundtext)
Brasilia, UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit, wird 50 – und im Tropenland erinnert man sich des Massakers an Bauarbeitern, des Terrors der Bauplatzpolizei damals, als Chefarchitekt Oscar Niemeyer, der sich immer Kommunist nennt, die Errichtung beaufsichtigt. Und wie er nach dem Militärputsch von 1964 mit den Folter-Diktatoren zusammenarbeitet, ihnen in Brasilia den Generalstab der Regime-Streitkräfte und noch vieles andere hinstellt. Obwohl doch bis heute in ungezählten deutschsprachigen Gazetten steht, Niemeyer sei während der 21 Jahre währenden Militärdiktatur verfolgt und mit einem Arbeitsverbot belegt worden. Schon 1960, bei der Einweihung Brasilias, sind kritische Brasilianer über die vielen Baufehler, die Pfuscharbeit entsetzt: Risse in Beton und Asphalt, bröckelnder Putz allerorten, sodaß Nachbesserungskolonnen noch jahrelang zu tun haben – genauer gesagt, bis heute. Daß die Hauptstadt so überstürzt in nicht einmal vier Jahren errichtet wird, damit sie der damalige Präsident Juscelino Kubitschek noch in seiner Amtszeit einweihen kann, hat zudem offenbar en masse Architektenfehler begünstigt.
Nach scharfer Kritik der neuen Nutzer muß Oscar Niemeyer schon wenige Jahre später einräumen, daß in den offiziellen Gebäuden viel mehr Platz benötigt wird, zahlreiche nicht eben schöne Anbauten angeklebt werden müssen. Gleiches gilt für hingeschusterte, überaus hellhörige Wohnhäuser – sogar per Aushang wird aufgefordert, doch bitte, bitte beim Geschlechtsverkehr leiser zu sein, schon wegen der Kinder im Block. Wie es heißt, wurde der Präsidentenpalast für etwa 100 Menschen entworfen, doch heute arbeiten dort an die 700. Bereits jetzt, zum Stadtjubiläum am 21. April, fürchten sich den hiesigen Medien zufolge die Stadtbehörden vor dem Besuch von UNESCO-Experten im Juni, die zahlreiche Niemeyer-Bauten in sehr schlechtem Zustand oder sogar gesperrt antreffen werden. Womöglich droht die Aberkennung des Welterbe-Titels.
50 Jahre später bezeichnet Brasiliens führende Qualitätszeitung Folha de Sao Paulo dieses von Slums umzingelte Brasilia als „projektierte Apartheid“ und die brasilianischen Architekturkritiker erinnern an entsetzliche Wahrheiten, dunkle Punkte der Errichtung Brasilias. Dort, wo die Bauarbeiter massakriert wurden, gibt es heute ein Kreuz und eine Gedenktafel, zeigte man gar im Freien jenen mehrfach im In-und Ausland preisgekrönten Dokumentarfilm vom Vladimir Carvalho. Der Regisseur befragt darin Niemeyer eingehend über das Blutbad, doch dieser sagt immer wieder höchst irritiert: davon weiß ich nichts, davon habe ich noch nie etwas gehört und will deshalb darüber auch nicht reden. Carvalho läßt im Film, wie Niemeyer ärgerlich wird, herumschimpft, das Abstellen der Scheinwerfer befiehlt, im Dunkeln weiterredet – ein ganz außergewöhnlicher Streifen, das Centre Pompidou in Paris hat ihn parat. Andere Zeitzeugen berichten in dem Film vom Massaker an bis zu 500 Bauarbeitern. „Der Bauplatz von Brasilia war damals ein Wilder Westen“ sagt Carvalho im Interview, „alles mußte schnell gehen, die Fristen waren kurz. Es gab damals viele Unfälle, viele Bauarbeiter fielen von den Gerüsten. Tote wurden rasch beseitigt, damit die Lebenden nicht die Lust verloren und der Bau in hohem Tempo fortgesetzt werden konnte. Die Bauarbeiter konnten nur wenige Stunden schlafen, sich nur wenig ausruhen, waren schlichtweg fix und fertig – deshalb kam es zu den Unfällen.
Eines Tages war das Essen wieder verdorben – das brachte das Faß zum Überlaufen. Die Arbeiter protestierten – doch nachts kam die Bauplatzpolizei.“ Was dann geschah, hat eine Zeitung Brasilias inzwischen noch genauer rekonstruiert. Danach feuerte diese berüchtigte Spezialgarde zuerst mit Maschinenpistolen in die Bretterbaracken, bildete danach einen „polnischen Korridor“, zwang die überlebenden Arbeiter, dort durchzulaufen, grauenhaft mißhandelt zu werden. Zum Schluß, so das Blatt gemäß den aufgetriebenen Zeugen, mußten die Arbeiter ihre Toten und Verwundeten auf zwei LKW laden – die Opfer, sogar die Verwundeten, habe man dort, wo heute der TV-Turm Brasilias stehe, verscharrt – die LKW-Fahrer als lästige Zeugen ebenfalls liquidiert.
„Für Niemeyers Biographie ist das nicht gut“, meint Regisseur Carvalho. Völlig egal – wer weiß davon schon, in deutschsprachigen Medien oder Biographietexten beispielsweise wird seit 50 Jahren so gut wie ausnahmslos das Massaker, der Dokumentarfilm nicht erwähnt.
Eigentlich sollten die Reparaturen an prägenden Gebäuden wie dem Präsidentenpalast oder der Kathedrale rechtzeitig vor den 50-Jahr-Feiern fertig sein – doch nun dauern sie noch Monate, Staatschef Lula muß weiter vom Kulturzentrum einer Bank aus regieren. Zudem landete ausgerechnet der federführende Hauptstadtgouverneur wegen Abgeordnetenkauf im Gefängnis.
Doch an offiziellen Huldigungen für Oscar Niemeyer fehlt es natürlich nicht, wenngleich die brasilianischen Architekturkritiker und zahllose Leserbriefschreiber Brasilias die mangelnde Funktionalität der Niemeyer-Bauten betonen. So sind die eckigen Blöcke der Ministerien alle gleich und zudem in Ost-West Richtung aufgereiht. Das gilt für ein Tropenland als schlechteste Lösung, weil dann die Morgen-und Nachmittagssonne direkt auf die großen Fenster knallt, furchtbare, unerträgliche Hitze erzeuge, gegen die keine Klimaanlage ankomme. Staatsangestellte würden dann eben eher nach Hause geschickt, kriegen sozusagen hitzefrei.
Besonders vertrackt wird es, wenn man sich Niemeyers Aktivitäten zur Diktaturzeit widmet. Gemäß den deutschen, aber auch vielen brasilianischen Quellen haßte der famose Kommunist die nazistisch orientierten Putschgeneräle natürlich aus tiefstem Herzen, wollte mit ihnen nichts zu tun haben, ging flugs in Exil – das Arbeiten hatten sie ihm ohnehin verboten. „Gerade während der Militärdiktatur von 1964 bis 1985 realisierte Niemeyer viele Projekte“, sagt mir vor einigen Jahren der angesehene Architekt und Universitätsprofessor Joaquim Guedes, bestinformierter Niemeyer-Kritiker, in Sao Paulo. Ich will es anfangs kaum glauben, doch eine seriöse Werke-Liste des „Stararchitekten“ und brasilianische Fachtexte bestätigen Guedes: 1967, drei Jahre nach der Machtübernahme, projektiert Niemeyer in Brasilia eine imposante, nach Diktator Costa e Silva benannte Brücke. Und ausgerechnet in der grausamsten, schwärzesten Phase der Folterdiktatur, unter Generalspräsident Medici, entwirft der „Kommunist“ den Generalstab in Brasilia, 1973 wird er mit großem Pomp eingeweiht. „Und dies unter dem Säbel der Medici-Regierung“, bemerkt der brasilianische Autor Marcos Sá Correa zu Niemeyers damaligem Wirken. 1971 realisiert dieser in der nordostbrasilianischen Millionenstadt Recife sogar ein Stadion, das just nach dem berüchtigten Diktator Medici benannt ist – und für die Fußball-WM 2014 genutzt wird. Laut Werke-Liste projektierte Niemeyer allein in Brasilia während des Militärregimes über 20 Bauten, auch eine Militärschule ist darunter. Guedes übrigens kann an ihm nichts Kommunistisches entdecken, nennt ihn einen Stalinisten.
2001 wird Niemeyer gefragt, warum er zwar Villen baue, aber keine einfachen Wohnhäuser, keine Viertel für die Armen. „Weshalb verzichteten Sie darauf, für jene, deren Schicksal Ihnen am Herzen liegt, ein architektonisch ansprechendes Zuhause zu errichten?“ Der Pritzker-Preisträger mag mit seiner Antwort manchen perplex machen:“Weil sich unsere Brüder in den Slums wohler fühlen als in geplanten Siedlungen, die keinerlei Komfort bieten und oft noch öder sind.“Komisch, daß europäische, darunter deutsche Architekturexperten, gar Architekturfeuilletonisten und Fernsehteams, dem in Brasilien wegen seiner originellen, umfassenden Niemeyer-Kritik so hochgeschätzten Guedes nicht die Bude einrannten. Jetzt ist es zu spät. 2008 wird Guedes auf nie geklärte Weise getötet. Direkt vor seinem Büro rast ein Stadtjeeplenker auf ihn zu, überrollt ihn, prescht gemäß den Zeugenberichten davon, und wird nie gefaßt. „In der Menschheitsgeschichte gab es keinen anderen Architekten, für den der Staat soviel nationale und internationale Reklame organisierte wie für Niemeyer“, sagt mir Guedes, „denn Niemeyer machte ja auch kräftig Reklame für den Staat. Über Niemeyer wurde nur verbreitet, was dieser selber hören wollte.“ Besonders deutlich wird das im Propagandafilm “Oscar Niemeyer – das Leben ist ein Hauch”, der auch in den deutschen Kinos läuft. In Brasilien erntete der Film Verrisse, in Deutschland dagegen höchstes Lob.
Die Folha de Sao Paulo gibt 2012 die Position des Herausgebers des Mondadori-Verlags in Milano über Oscar Niemeyer, den Architekten des Verlagsgebäudes, gegenüber einer brasilianischen Journalistin wieder:
“Sage ihm, daß es eine Folter ist, in diesem Ambiente zu sein. Das Licht von draußen knallt einem direkt ins Genick, die Belüftung ist unerträglich und thermisch, von der Wärmeregulierung her, ist es die Hölle.”
Die Niemeyer-Links: http://www.hart-brasilientexte.de/2012/12/08/wurdigung-niemeyers-wie-angeli-karikaturist-von-brasiliens-groster-qualitatszeitung-folha-de-sao-paulo-das-thema-reflektiert/
Wahlhilfe für Diktaturaktivisten: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/10/kommunist-oscar-niemeyer-macht-wahlwerbung-fur-den-oligarchie-rechten-marco-macieldem-maciel-ist-intelligent-und-uberaus-ehrlich-wie-brasiliens-politik-funktioniert-stalin-war-phantasti/
Niemeyer-PR in Deutschland: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/01/14/oscar-niemeyer-das-leben-ist-ein-hauch-pr-film-nun-auch-in-den-deutschsprachigen-kinos-was-alles-fehlt/
Deutschlandfunk: – Der Betonmythos bröckelt –
Brasilien stürzt das Archi-
tektendenkmal Oscar Niemeyer
vom Sockel – http://www.podcast.de/episode/1467036/Der_Betonmythos_br%C3%B6ckelt_-_Oscar_Niemeyer
http://www.ila-bonn.de/brasilientexte/niemeyer.htm
Joaquim Guedes in Sao Paulo beim Website-Interview.
Brasilia-Bauarbeiter Wagner M. , 2007 bei Sao Paulo auf das Blutbad angesprochen, erinnert sich im Website-Exklusivinterview sofort: „Ja, das ist damals tatsächlich passiert.”
Es heißt, bei Protesten, etwa gegen verdorbenes Essen, seien Hunderte von der Bauplatzpolizei erschossen worden? „Das gab es immer wieder, ich habe das gesehen, ich war Zeuge. Es war diese Bauplatzpolizei, die gemordet hat. Doch man konnte sie nicht anzeigen, alle hatten Angst vor ihr. Es gab Repression. Und wer gar etwas gesehen hatte und darüber offen redete – solche Zeugen wurden liquidiert. So war das damals in Brasilia.”
Brasiliens Staatsarchitekt Oscar Niemeyer:
Die Kurven-Idee hat er vom Barock, nicht von den Frauen (2007)
Selbst zum hundertsten Geburtstag wiederholt Niemeyer die seit Jahrzehnten immergleichen Klischee-Phrasen, amüsieren sich in diesen Tagen brasilianische Kulturkritiker. Niemeyer weiß, daß der Spruch, wonach seine Inspiration die Formen, die sinnlichen Kurven schöner Frauen seien, gerade im Ausland, selbst bei weiblichen Autoren, am meisten ankommt. Daniel Piza, wichtigster Feuilleton-Kritiker der Qualitätszeitung “O Estado de Sao Paulo”, erinnert ein weiteres Mal daran, daß Niemeyers PR-Idee mit den Frauen-Kurven natürlich Unsinn ist. “Niemeyer inspirierte sich ausschließlich am Barock und dessen geschwungenen Linien, an den kurvigen Barockbauten des Teilstaates Minas Gerais und an Brasiliens berühmtestem Barock-Architekten Aleijadinho.” Doch in einer Zeit, in der man zu banalen Vereinfachungen neigt, werde es nur zu oft so hingestellt, als seien die Rundungen, Wölbungen, geschwungenen Linien in der Architektur geradezu Niemeyers Erfindung, dessen Markenzeichen. “Ich gebe hier einen Hinweis. Niemeyer mag es, sich als den Pionier des Gebrauchs von Kurven, Bögen hinzustellen und erklärt, er sei es gewesen, der Le Corbusier angeregt habe, diese zu verwenden – was der Schweizer Architekt dann so brillant an der Kapelle von Ronchamps umgesetzt habe. Doch die Kurven waren keine Neuheit in der Architektur – beginnend mit Aleijadinho und seiner Kirche des Heiligen Franziskus in Ouro Preto…”
Daniel Piza vom “O Estado de Sao Paulo” ist natürlich aufgefallen, daß im In-und Ausland die jetzigen Würdigungen zum hundertsten Geburtstag Niemeyers in Bezug auf Lob und Hudel oft nahezu deckungsgleich sind. “Niemeyer e a unanimidade” (Niemeyer und die Einstimmigkeit) überschreibt Piza deshalb seine vielgelesene Kolumne – und erinnert damit hintergründig gleichzeitig an einen populären Ausspruch des großen brasilianischen Theatermachers Nelson Rodrigues: Toda unanimidade è burra – Alle Einstimmigkeit ist blödsinnig, dumm. Von solcher, so Piza, könne indessen, was Oscar Niemeyer betrifft, keine Rede sein, selbst wenn manche es so interpretierten. Der “Stararchitekt” ernte reichlich ätzende Kritik. In Brasilien sei ein gängiger Vorwurf, daß Niemeyer-Bauten nicht funktionierten. Häufig beeindruckten diese am meisten, wenn man sie aus der Ferne, in günstigem Panorama betrachte. Daß Niemeyer große, öde, leblose Plätze aus Beton schaffe, werde von ausländischen Essayisten wie Kenneth Frampton und Marshall Berman auf seine stalinistische Ideologie zurückgeführt. Fehlende Belüftung und Beleuchtung, schlechte Raumverteilung zählt Piza ebenfalls zu den großen Mankos der Niemeyer-Architektur, welche zwischen genialen Momenten und beklagenswerten Fehlleistungen oszilliere.
Der Kulturkritiker analysiert ähnlich wie der Architekt und Uni-Professor Joaquim Guedes, der angesichts des überbordenden Personenkults zum hundertsten Geburtstag Niemeyers einige Dinge klarstellt. Guedes zählt ebenso wie Niemeyer zu den Größen der brasilianischen Architektur, bekam viele Preise, realisierte hunderte Projekte. Andreas Hempel, Präsident des Internationalen Architekturkongresses von 2002 in Berlin, holt Guedes nicht zufällig ins wissenschaftliche Komitee des Expertentreffens. “Niemeyers Diskurs paßt weder zu seinen professionellen Kontrakten aus einer inakzeptablen offiziellen Marktreserve – seit Juscelino Kubitschek, von 1960 – noch zu seiner Architektur, der eine echte soziale Funktion fehlt”, betont Guedes. Der Hundertjährige habe in den letzten Monaten mehrere Staatsaufträge erhalten, darunter die Restaurierung des Präsidentenpalasts von Brasilia – was ihm, seinen Angehörigen, seinem Team Millionenhonorare einbringen werde. “Alles ohne Ausschreibung”, betont Guedes, “Niemeyer hat seine garantierte Marktreserve, braucht sich um Ausschreibungen, gar Mitbewerber nicht zu scheren.” Derartige Staatsprojekte dienten Politikern und deren Anhang dazu, sich schamlos zu bereichern, stets sei viel Betrug im Spiel. “Ich habe keinerlei Möglichkeiten, all dies öffentlich zu machen – viele Intellektuelle Brasiliens schweigen über Niemeyer.”
Während der Militärdiktatur war Guedes im französischen Exil, lehrte als Professor an der Universität von Strasbourg Architektur. “Brasilianische Intellektuelle gaben in Frankreich die Parole aus, wer hierzulande Niemeyer kritisiere, sei für das Militärregime. Man wollte auch von mir, daß ich den Mund halte und in meinen Uni-Vorlesungen nicht sage, was ich über Niemeyer denke. Ich antwortete diesen Figuren, ich werde mir meine intellektuelle Freiheit von euch nicht rauben lassen, werde mich diesem Druck, all diesen Pressionen nicht beugen.” Guedes erinnert heute an Kurioses: “Oscar Niemeyer erhielt die höchsten, jemals an einen Architekten gezahlten Honorare just während der Militärdiktatur, weil ja vieles in der Hauptstadt Brasilia erst nach dem Putsch von 1964 fertiggestellt wurde. Für mich ist Niemeyer kein echter Architekt, weil er keine Ahnung vom Menschen, von der menschlichen Persönlichkeit hat.”
Unterdessen wird vereinzelt an Niemeyersche Fehlleistungen erinnert, darunter an die Probleme mit den halbhohen, nicht bis zur Decke hochgezogenen Wänden in über 500 öffentlichen Schulen Rio de Janeiros. Oder an fehlende Funktionalität in Regierungsgebäuden Brasilias, wo weder ein günstiger Lichteinfall noch eine ordentliche Belüftung bedacht wurden: “Wenn die Air Condition ausfällt, müssen die Staatsangestellten wegen der extremen Hitze und des Fehlens von Fenstern, die für Ventilation sorgen, nach Hause geschickt werden.” Die Kulturkritikerin Lisandra Paraguassu hat sich in diesen Tagen solche Bauten Brasilias angesehen: “In Brasilia, das für seine besondere Helligkeit und ein mildes Klima bekannt ist, sind die Nutzer eines Großteils der Niemeyer-Gebäude dazu gezwungen, den ganzen Tag mit Klimaanlage und künstlicher Beleuchtung zu verbringen.” Das betreffe immerhin den Nationalkongreß, die Bundesanwaltschaft, das neue Museum der Republik sowie einen Teil des Außenministeriums.
Sylvia Ficher, Professorin für Architektur und Urbanismus an der Bundesuniversität von Brasilia: “Ich halte das für tragisch, gegen die Umwelt und eine sinnvolle Energienutzung gerichtet.” Die Expertin erinnert daran, daß Brasilia-Architekt Lucio Costa ursprünglich vorhatte, kulturelle Gebäude Brasilias mit einem Wäldchen zu umgeben, damit die Leute dort Schatten suchen könnten, um nicht auf nacktem Beton heißer Tropensonne ausgesetzt zu sein. “Niemeyer hat das gar nicht gefallen. Er dachte, das Wäldchen würde seine Gebäude verdecken.” All diese Fehlkonstruktionen seien sehr triste. Der bekannte brasilianische Umweltexperte Fabio Feldmann aus Sao Paulo erklärte während seiner Zeit als Kongreßabgeordneter über Brasilias Niemeyer-Bauten: “Hier sieht man überall, daß die Architektur von Oscar Niemeyer nicht funktional ist, schlecht in Bezug auf Komfort und inadequat in Bezug auf Belüftung und Beleuchtung. Seine Gebäude sind wunderbar für jenen, der sie von außen betrachtet, doch unbewohnbar, unangenehm, wenn man darin arbeiten, leben soll.”
Schlecht nur für Menschen? Ein Blick in etwas Fachliteratur, beispielsweise aus Europa, hätte Niemeyer davor warnen müssen, ein Gebäude wie Brasiliens Bundesanwaltschaft in der jetzigen Form zu entwerfen. Jeder einigermaßen ökologisch gebildete Schüler Mitteleuropas hätte Niemeyer gesagt, daß sein Entwurf die reinste Vogelfalle ist. Kurz nach der Einweihung im August 2002 fand man täglich getötete, stark verletzte Vögel direkt unter der kurvigen, wie ein Spiegel funktionierenden Total-Glasfassade, andere verendeten weiter entfernt. Unter den Opfern viele streng geschützte Arten, wie seltene Kolibris. Niemeyers naturfeindliches Werk sorgte für soviel Unruhe und Diskussion, daß schließlich eine Expertengruppe der Universität Brasilias gerufen wurde. In Europa, so hiesige Qualitätsmedien, pflanze man vor derartige Fassaden im Interesse des Naturschutzes hohe Bäume oder realisiere andere Lösungen gegen Vogelschlag. Miguel Marini, Leiter der Expertenstudie: “Die Leute von Architektur und Bau pflegen sich um mögliche Umweltschäden nicht zu kümmern. Die schauen nur auf die Ästhetik. Es fehlt einfach Verantwortungsbewußtsein bei der Planung.”
Ist die offizielle Liste der Werke Niemeyers komplett – oder fehlt da gewöhnlich einiges? Die über 500 Betonmonster-Schulen Rio de Janeiros werden häufig unterschlagen. Und wie die brasilianische Kunsthistorikerin Daniela Viana Leal herausfand, fehlen auch zahlreiche Kommerzbauten in und um Sao Paulo, weil diese im Widerspruch zu Niemeyers Diskurs über dessen eigene Architektur stünden. Laut Diana Viana Leal unterhielt Niemeyer in Sao Paulo ein Architekturbüro, dessen Existenz er heute abstreite. Die Kunsthistorikerin mußte daher nach dem Dementi Niemeyers mühselig und aufwendig alte Zeitungs-und Anzeigenarchive durchsuchen, um mehr über die sogenannte “fase renegada” des Architekten zu erfahren.
Architekturprofessor Paulo Bruna von der Bundesuniversität Sao Paulo charakterisiert mehrere lokale Bauten Niemeyers schlichtweg als “Fiasko, schlechte Projekte.”
“Castorf – viel Lärm um nichts”. Kritik aus Sao Paulo, Brasilien. **
Brasiliens Theaterszene heute – scharfe Kritik an Frank Castorf von der Volksbühne
Das Tropenland erlebt derzeit einen Theaterboom, eine Hochphase des Theaters, wie es sie zuletzt vor der Militärdiktatur gegeben hat. Am besten läßt sich dieses Phänomen in Sao Paulo, Lateinamerikas Kulturhauptstadt, beobachten. Stücke von erstaunlicher Qualität, volle Häuser, ein außerordentlich interessiertes, wohlinformiertes Publikum, deshalb auch Kulturtouristen aus aller Welt.
Sao Paulo ist in Sachen Theater landesweit so gut wie konkurrenzlos, Rio de Janeiro, Belo Horizonte oder Porto Alegre können bei weitem nicht mithalten. Regisseur Frank Castorf von der Berliner Volksbühne inszenierte unlängst in Sao Paulo zwei Stücke, die indessen weder vor dem Publikum noch vor der Kritik bestehen konnten. Die Verrisse fielen teils sehr drastisch aus.
Deutschland hat laut Statistik über vierhundert Theater, Sao Paulo, drittgrößte Stadt der Welt, immerhin an die einhundert, ein Teil davon im Netz gut administrierter öffentlicher Kulturhäuser. In der Megacity werden jährlich sage und schreibe rund eintausend Theaterstücke inszeniert, was vermutlich weltweit einmalig ist. Beth Nèspoli zählt zu den wichtigsten Theaterkritikern Brasiliens und beschreibt den Theaterboom geradezu überschwenglich:
”Unser brasilianisches Theater ist derzeit herrlich unruhig, in einer wunderbaren Phase, ganz besonders in Sao Paulo. Leider haben wir nicht wie in Deutschland Theater mit festem Ensemble, sondern Theatercompagnien, Theatergruppen, die indessen in Sao Paulo seit einigen Jahren durch ein Stadtgesetz speziell gefördert, subventioniert werden und verblüffend gute Arbeiten zeigen. Das Stadtgesetz wurde von der Bewegung „Kunst gegen die Barbarei” vorgeschlagen. Just wegen dieser Qualität der Stücke ist das Publikum unglaublich gewachsen, wollen die Leute Theater wie nie zuvor, sind enorm neugierig, sehen Theater als hochinteressantes Kulturphänomen. In Sao Paulo ist es heute schwierig, Karten zu kriegen. Unser Theater will den internationalen Austausch, den Dialog – aber Lektionen von anderswo brauchen wir wirklich nicht.”
Die Kritikerin bezog sich damit auf Frank Castorf, der in Sao Paulo das Brechtstück „Im Dickicht der Städte” sowie den „Schwarzen Engel” des grandiosen brasilianischen Autors Nelson Rodrigues inszeniert hatte. Castorf, so hieß es in den Qualitätszeitungen, sei wie ein Genius empfangen worden, doch als Überheblicher, Anmaßender wieder gegangen. Mitten in seinem Brechtstück sei jeweils die Hälfte des Publikums aufgestanden und habe das Weite gesucht. Castorf mußte sich an hiesigen Brechtinszenierungen messen lassen – und „Im Dickicht der Städte” vom brasilianischen Regisseur Zé Celso Martinez just in Sao Paulo gilt als historisch, erntete hervorragende Kritiken. Beth Nespoli:
”Castorfs Inszenierung war einfach schlecht, amateurhaft, kindisch, armselig, ohne Ideen und Sinn – mit dieser ganzen Herumschreierei, einer zersplitternden Melone, der explodierenden Bühne nur noch infantil. Hätte ein brasilianischer Regisseur das Stück exakt genauso inszeniert, wäre er in dieses Theater wegen der geltenden Qualitätskriterien nie hineingekommen. Die Frage war gar nicht, ob man Castorfs Philosophie, Castorfs Stil mochte oder nicht – denn hier war nur Leere, sah man nur Albernheiten, schlechten Geschmack, platte Aggression. Kein Vergleich mit dem Kaukasischen Kreidekreis Brechts, zeitgleich von einer brasilianischen Gruppe hervorragend inszeniert.”
Andere Kritiker urteilten fast genauso, ebenso Zuschauer in Leserbriefen. Der häufigste Vorwurf: Leerer Klamauk statt Theater – kein Spur von Avantgarde, von Innovation, wie stets lautstark vorgegeben. So als habe Castorf seinen Schauspielern gesagt: Los, alle auf die Bühne, spielt irgendwas, egal wie.
Beth Nespoli hat Castorf mehrfach interviewt und vermißt bei ihm Selbstkritik, gesunden Zweifel an der eigenen Arbeit: ”Mitten im Stück Schwarzer Engel läßt er einen Schauspieler fragen, ob denn die Kritiker, die Intellektuellen, die Journalisten schon alle weg, rausgegangen seien. Da zeigt sich eben Arroganz. Da wird so getan, als seien jene, die rausgingen, alle Idioten. Castorf ging offenbar nicht in den Kopf, daß das Stück tatsächlich schlecht gemacht war, armselig und ohne Sinn. Motto: Was ich inszeniere, darf nicht infragegestellt werden. Ob Brecht oder Tenessee Williams “ Castorf arbeitet stets mit den gleichen Banalitäten, Vulgaritäten, den gleichen Späßen; und da verliert alles natürlich seinen Sinn. Wenn man ein Resümee der jüngsten Castorf-Inszenierungen in Sao Paulo zieht, könnte man mit Shakespeare sagen: Da war viel Lärm um nichts.”
Der renommierte brasilianische Schriftsteller und Feuilletonkolumnist Marcelo Rubens Paiva warf Castorf in der Qualitätszeitung „O Estado de Sao Paulo” nach:” Hau ab, Mann, mach Theater für deine Deutschen!”
http://www.welt.de/print-welt/article707894/Frank_Castorf_Manchmal_muss_der_Samba_raus.html
Beth Nespoli, “O Estado de Sao Paulo” – Brasiliens wichtigste Theaterkritikerin. “Castorf – viel Lärm um nichts.” **
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/02/22/castorf-viel-larm-um-nichts/#more-135
Brasilien, Oscar Niemeyer: “Memorial da America Latina” in Sao Paulo. Architekturkritik von Joaquim Guedes. Fotoserie. Niemeyers Wahlhilfe für Diktaturaktivist. Massaker an Bauarbeitern Brasilias in Mitteleuropa gewöhnlich verschwiegen – ebenso wie die grauenhaften, inhumanen Arbeitsbedingungen bei der Hauptstadt-Errichtung. **
Kritik von Joaquim Guedes:
Kritik von Fernando Serapiao:
Chris Dercon, Direktor des Hauses der Kunst in München: “Aber immerhin erreicht er mit seiner Ideologie unglaublich sinnliche Architektur.”
Ausriß, Oscar Niemeyer neben José Sarney, Chef der Diktaturpartei ARENA während des Militärregimes, danach Staatschef Brasiliens – bei der Besichtigung des Memorials 1988. http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/19/brasiliens-folter-diktatur1964-1985-mit-wem-bundesausenminister-willy-brandt-damals-bilaterale-vertrage-unterzeichnet-das-massaker-an-stahlarbeitern-unter-gouverneur-jose-magalhaes-pinto/
Niemeyers Wahlhilfe für Diktaturaktivist: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/09/10/kommunist-oscar-niemeyer-macht-wahlwerbung-fur-den-oligarchie-rechten-marco-macieldem-maciel-ist-intelligent-und-uberaus-ehrlich-wie-brasiliens-politik-funktioniert-stalin-war-phantasti/
„Unglaublich sinnliche Architektur“.
„Unglaublich sinnliche Architektur“.
„Unglaublich sinnliche Architektur“.
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/11/11/brasilia-50-und-das-massaker-an-bauarbeitern/
Restauranteingang
Eingang zum “Brasilianischen Zentrum für Lateinamerika-Studien”
Zentrum rundum fensterlos.
Simon Bolivar, am Auditoriumseingang.
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/02/02/memorial-da-resistencia-in-sao-paulo-goethe-institut/
Joaquim Guedes in Sao Paulo beim Website-Interview.
Deutsche Baukultur:
Theatermacher Zé Celso, Sao Paulo. Gesichter Brasiliens. Schlingensief-Teamfotos. **
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/06/07/2532/
Schlingensief-Teamfotos: http://www.schlingensief.net/teamfotos-hart.html
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/08/22/sao-paulo-ibirapuera-park/
Menschenrechtsaktivist und Künstler – Emanoel Araujo: http://www.brasiliennachrichten.de/index.php?option=com_content&task=view&id=61&Itemid=30
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/01/24/catira-botas-de-ouro-sao-paulo-gesichter-brasiliens/
Christoph Schlingensief: So schön wie hier kanns im Himmel gar nicht sein. Sao Paulo 2007. “Jetzt kommen wir zum Kotzraum.” Trem Fantasma, anklicken. Schlingensief-Fotoserie. **
http://www.zeit.de/2009/18/Spitze-18
Fotoserie: http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/11/die-schlingensief-fotoserie3/
In Sao Paulo 2007
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/04/mit-schlingensief-in-sao-paulo-operngeisterbahn-fahren/
http://www.hart-brasilientexte.de/2008/03/02/schlingensief-in-sao-paulo-texte-fotos-reflexionen/
Die Schlingensief-Fotoserie(2) **
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/11/11/die-schlingensief-fotoserie3/
http://www.hart-brasilientexte.de/20
»GEISTER IN SÃO PAULO«
TREM FANTASMA – Erster Prototyp einer Operngeisterbahn
Ein Projektlibretto in 3 Akten
Von Klaus Hart 1. „Da rechts ist der Revolutionsraum“ (18. November 2007)
In Lateinamerikas Kulturhauptstadt Sao Paulo errichtet Regisseur Christoph Schlingensief, 47, derzeit mit mehreren Dutzend Mitarbeitern aus Brasilien und Deutschland eine „Operngeisterbahn“, Teil seines Projekts einer „mobilen Opernwerkstatt“ – Start ist am kommenden Donnerstag. 1200 Quadratmeter Fläche, überdeckt von einem riesigen Zelt, sechs Räume mit verschiedenster Thematik, Opernsänger und Chöre in Aktion, Filme mit der Callas und anderen Stars sowie Schlußszenen berühmter Opern, gar eine Drehbühne, Straßenmusikanten, Bar und Kneipe, Platz für Gespräche von jedermann mit den Opernleuten. „Es ist auch eine Geisterbahn-Fahrt durch die Operngeschichte, von der Steinzeit an, als die ersten Menschen getrommelt und gesungen haben“, erläutert Christoph Schl ingensief im Blog-Exklusivinterview. „Und dann geht es weiter über Mendelssohn und Mozart bis in die Moderne, in die Villa Wahnfried. Da rechts ist der Revolutionsraum. Da bricht schon wieder der Wille auf, daß sich etwas verändern muß. Da nehme ich das Manifest von Richard Wagner ganz wörtlich, das ja längst nicht umgesetzt ist.“ Oper und Revolution? „Erinnern wir uns an 1830, als in Brüssel die „Stumme von Portici“ aufgeführt wird und die Leute in der Pause rufen: Zu den Waffen, zu den Waffen! Da beginnt die belgische Revolution – das hat eine Oper geschafft! Das ist natürlich der Traum! So etwas wird man garantiert nicht in Bayreuth und auch nicht an der Metropolitan Opera oder sonstwo schaffen. Vielleicht ja ein bißchen in Brasilien…“ Schlingensief lacht ironisch. Seine Aufführung von Wagners „Fliegendem Holländer“ in der Amazonas-Oper von Manaus ist unvergesse n – wer sich auf die Geisterbahnfahrt einläßt, kriegt davon reichlich Filmaufnahmen zu sehen.
Bohren, Sägen, Hämmern, Schleifen, E-Schweißen – Staub und irrer Krach im Geisterbahn-Zelt. Aus hunderten Metern Packpapier wird eine Steinzeithöhle. „Das alles hier ist jetzt schon Oper, sie läuft bereits. Die Idee ist, Proesse zu zeigen. Oper ist ja nicht erst fertig, wenn der Vorhang aufgeht. In Deutschland muß man schon sechs Monate vorher seine Pläne abgeben, genau sagen, wo dann wer steht – der Sänger geht also sechs Takte zum Stuhl, zehn Takte zur Tür, so ist es dann eine schlüssige Inszenierung. Ich glaube sowas nicht mehr, ich hab’s anders erlebt. Wir zeigen hier sogar das Sonnenrad, eine Übernahme aus Area 7 von der Wiener Burg, und mit großen Figuren all die großen Operngesten, die zum Himmel oder die gro&sz lig;e Geste nach unten, natürlich auch die Callas-Geste. Da hinten der Premierenraum, der VIP-Bereich – in dem lebt nur ein Schwein, mit’n paar Blumen im Haar. Wir haben natürlich echte Opernsänger hier, ‚ne brasilianische Folkband, ‚ne Sambagruppe, wir mischen!“ Er erinnert an kuriose Ereignisse aus der Geschichte Brasiliens, die zum Konzept des „Trem Fantasma“ von Sao Paulo gehören: Indios vom Stamme der Caetès essen kannibalistisch den ersten brasilianischen Bischof, Pero Fernandes Sardinha. Und dann der Begriff des Antropofagismo – ein Element der brasilianischen Kultur, abgeleitet von einer indianischen Praxis: Verspeist, verschlungen werden nur die intelligentesten Feinde, die besten Krieger, in der Absicht, deren besten Qualitäten zu absorbieren. Später wird der Begriff metaphorisch in der Kulturszene, in Avantgarde-Gruppen benu tzt: Das Beste aus kulturellen Bewegungen Europas verschlingen und verdauen, absorbieren – und mit der brasilianischen Kultur verquicken, verbinden, vermischen. Brasilianerinnen, die Schlingensief bei der Arbeit beobachten, empfinden ihn als auffallend sinnlichen, sensiblen, attraktiven Mann – noch dazu für einen Deutschen, aus einer nordamerikanisch enterotisierten Gesellschaft. 2. „Wagner pelo Filtro da Antropofagia“ (22. November 2007)
Der deutsche Regisseur Christoph Schlingensief, 47, hat in Lateinamerikas widerspruchsvoller Kulturhauptstadt Sao Paulo mit mehreren Dutzend Mitarbeitern eine riesige Installation namens „Operngeisterbahn“ aufgebaut. Vom kommenden Freitag bis Anfang Dezember kann man in Jahrmarktwägelchen eine akustische und bildhafte Reise durch die Geschichte der Oper absolvieren, echte Sänger und Chöre, aber auch Callas-Filme erleben. Das Projekt ist eine Koproduktion des Goetheinstituts Sao Paulo sowie des Sozial- und Kulturwerks (SESC) der lokalen Handelsbranche. Unweit der lateinamerikanischen Leitbörse, von Lepra-Slums und einem gigantischen Sektentempel für ekstatische Wunderheilungen und Exorzismus prüft, testet, experimentiert Schliengensief noch kurz vor dem offiziellen Geisterbahnstart. Brasiliens Kulturkritiker halten dessen Idee für hochinteressant, Richard Wagner einmal durch den Filter der „Antropofagia“ zu seh en. „Die Idee, jemanden zu verspeisen, ihn aufzunehmen, ihn zu verschlucken, zu verdauen, ist eine ganz großartige Idee“, sagt Schlingensief im Blog-Interview. „Einerseits freß‘ ich was, andererseits wird das gefressen. Deshalb liebe ich auch Brasilien, diese Idee des Einverleibens. In Deutschland kennt man immer nur ein Präsentieren in veredelter Form – siehe die Oper. Und hier verleibt man sich also durch ‚ne Fahrt im Schnellgang verschiedene Bilder, die eben auch was Gefressenes haben, die fressen also einerseits im Ritual, versuchen sie etwas zu verdauen, Methoden. Das hier, die Operngeisterbahn, ist etwas, was man begehen kann – man kann da drin ne Stunde bleiben, 10 Minuten, ne Minute, gar nicht kommen. Man wird’s schon irgendwie hören. Man muß sich auch mal der Bevölkerung nähern, also man muß das dahin flanschen, wo das Leben ist. Und das Leben transformiert, nicht mein Kopf in den vier Wände n. Diese ständige Metamorphose, dieses ständige Verwandeln, das findet hier in Brasilien statt, das mag ich. Opernkomponist Wagner profitierte davon, nach Manaus in Amazonien gebracht zu werden. Eigentlich habe ich kapiert, bei Wagnerianern darf man das ja gar nicht sagen, daß Wagner in einer gewissen Form von Unpräzision eigentlich erst zu Kraft kommt. Der Fliegende Holländer ist im Präzisionswahn deutscher Opernhäuser, überhaupt der ganzen Welt, zu einem Musical verkommen.“ Dann zitiert er Wagner: „Alles, was besteht, muß untergehen, das ist das ewige Gesetz der Natur… Ich will zerstören von Grund auf die Ordnung der Dinge… Ich will zerstören jeden Wahn, der Gewalt hat über den Menschen!“ Baukrach von allen Seiten „Es ist ein sehr laut es Unternehmen. Die ganze Geisterbahn plärrt aus zig Hochdrucklautsprechern, es gibt einen Grund-Musiksound – und dann noch mal die große Opernbühne mit dem Finale immer von einzelnen Opern, gar der Liebestod. Ich kann nur staunen, und das ist was ganz Tolles. Ich glaube, in Deutschland habe ich das Staunen verlernt. Ich habe in Deutschland das Gefühl, ich habe alles, kenne ich schon alles. Genau das, worüber ich mich beschwere, habe ich auch schon in der Birne.“ Schlingensief attackiert Zeitgeist- und Kulturverlust-Details, die deutschen Luxusleiden angesichts brasilianischer Zustände, dazu die wachsende Realitätsfremdheit in der heutigen Desinformationsgesellschaft. PR-Lügen werden sehr gut bezahlt. Eine ganze Welt, von Ostdeutschland bis Rio, politisch korrekt verfälscht. Früher mußten, sollten Reporter, Journalisten, Redakteure, Poli tiker, Sozialwissenschaftler möglichst nahe ran an die Realität – heute beurteilt, analysiert man Phänomen-Länder wie Brasilien sicherheitshalber lieber aus der Ferne, aus sicherer deutscher Distanz, gemäß politisch korrekter Vorschrift und wohltrainierten Verdrängungstechniken. Ja nicht ganz nahe heran gehen, bitte keine drastisch-dramatischen Eigenerfahrungen! Früher reisten junge Deutsche noch intensiv, heute steigen zu viele lieber in Luxusherbergen, Resorts ab, bekommen kaum etwas mit von den Realitäten vor Ort, gebärden sich aber zuhause – beispielsweise – als Brasilien-Experten, rutschen so in Entscheider-Positionen. Schlingensief dürfte seine Brasilienerfahrungen zuhause nur mit sehr wenigen teilen können. „Ich merk das auch bei Mitarbeitern – wenn die ihre Ideen nur aus dem Internet rausholen, ja dann sieht das so aus wie! Das eigene Nicht-Wissen, das eigene Nicht-Glauben veranlaßt manchmal dazu , den anderen zu bedrohen, und vielleicht auch zu töten – weil ich es nicht glauben kann! Man muß eigentlich Sao Paulo in Berlin vertreiben! Städte wie Sao Paulo – das sind Orte, wo etwas geschieht! Das muß man bekanntmachen in Deutschland. Ich lebe hier etwas, das gibt mir Gänsehautzustände! Man kann das hier nicht exportieren, transportieren – aber man kann dort erzählen von Dingen, die noch möglich sind. Für mich ist der kleine Moment der Verunsicherung wichtig, der Moment der Irritation, auch der Schnelligkeit, und manchmal auch der Metaphysik, wo sich etwas verselbständigt, wo ich nicht mehr eingreifen kann, und wo ich plötzlich merke, hier sind Schwebezustände erreicht, was ist da eigentlich los?“ Joachim Bernauer, Kulturdirektor des Goetheinstituts der Megacity, erinnert an Schlingensiefs Inszenierung des „Fliegenden Hol länders“ vergangenen April in der Amazonasmetropole Manaus. „Nach dieser Tropenerfahrung in Manaus ist es jetzt natürlich sehr interessant, Sao Paulo einzubeziehen, den Großstadtdschungel sozusagen. Das Goetheinstitut in Südamerika überlegte sich vor’n paar Jahren, wir möchten etwas zu den Tropen machen – zu den Tropen, den Ländern in den Tropen und den deutschen Projektionen auf die Tropen. Deutschland geht mit dem Begriff der Tropen eigentlich täglich um und für die deutsche Kunst, für die deutsche Geistesgeschichte waren die Tropen immer sehr fruchtbar. Aber häufig handelte es sich dabei auch um Mißverständnisse, nicht nur um Verständnisse. Wir haben gesagt, wir wollen das mal untersuchen und einige Projekte anregen, was zwischen Deutschland und den tropischen Ländern heute an Kunst möglich ist. Und welches Verständnis und welche Mißverständnisse da ‚ne Roll e spielen. Das Goetheinstitut hat Schlingensief eingeladen, sich mit Südamerika auseinanderzusetzen – das hat er angenommen – er ist ja ein äußerst kreativer Mensch, der das gleich mit eigenen Ideen gefüllt, weitergedacht hat. Und das war für Christoph Schlingensief ein Assoziationssturm, der losging, vom Geisterschiff in die Geisterbahn.“ Bernauer schätzt, daß der Ansturm groß sein wird – zumal die Eintrittskarten umgerechnet weniger als zwei Euro kosten. Sein Institut investierte 60000 Euro, der starke Partner SESC eine halbe Million Euro. SESC wollte seit langem unbedingt Schlingensief. „Gottseidank oder leider – ich kann die Schnauze nicht immer halten. Ich gelte ja in Deutschland als Enfant terrible und Provokateur – kann man nichts machen. Im Notfall fällt dem Redakteur nichts besseres ein – dann ist es das wieder. Der in teressante Teil daran ist aber, daß wahrscheinlich die wahre Provokation ist, wenn man versucht, das Leben zu berühren – das ist das, was die meisten nicht mehr aushalten.“
3. „Kotzraum, Erlösung, Walkürenritt und Revolution“ (23. Nov. 2007)
„Merda, merda“, Scheiße, Scheiße, schreien, rufen unüberhörbar alle Sänger, Schauspieler im Operngeisterbahnprojekt, kurz vor der Premiere. Nervt sie das Projekt, ist das gar Protest? Im Gegenteil – auf diese Weise wünscht man sich fröhlich, wenn’s endlich losgeht, im brasilianischen Theater Glück und Erfolg. Der „Trem Fantasma“ von Sao Paulo ist komplett, startet täglich nachmittags ab fünf, enorme Schlangen an der Kasse. In großen Lettern: Bayreuth für das Volk. Bis nach draußen vor’m Riesenzelt dringt die infernalische bis lyrisch-romantische, irre, doch hochoriginelle Klangmischung – sogar Wagners Walkürenritt, Cavalgada das Valkirias und Mangueira-Karnevalssamba, es geht fast alles. Was ist live, was ist Konserve? Entlang der Geisterbahnstrecke werden gleichzeitig verschiedenste Opern nachgespielt, von Händel bis Mozart, Verdi und Donizetti, mit echten Opernsängern. Schlingensief mischt sogar zwei Opern – Parsifal und den Fliegenden Holländer. Man kann sich die gesamte Szenerie, zu der außerdem eine große Drehbühne, eine Bar und eine Opern-Tanzkneipe gehören, von einer über die gesamte Installati on führenden Brücke ansehen. Phasenweise wird die Geisterbahn gestoppt – soll sich jedermann zu Fuß in den Operndschungel stürzen, alles zu Fuß erkunden. So nahe kommt man in keiner Oper an die Sänger heran – kann sich mit ihnen unterhalten, gar mitspielen, mitsingen. Alles genial und brennend interessant. Schlingensief kommentiert bei einer Blog-Exklusivfahrt im Geisterbahnwägelchen kurz die Szenerie. „Rechts erst mal zwei Musikanten, ältere Herren mit Tuba und Schlagzeug. Jetzt kommen wir in den Erlösungsraum, hier haben wir die Gralsritter“ – die uns ansingen, anschreien, sich schier über uns werfen. „Die Gralsritter treffen jetzt Parsifal und den Fliegenden Holländer. Also Erlösung! Erbarmen, Erbarmen!!! Da, der Ritualort, jetzt wird geheilt, jedenfalls wird’s versucht!“ Ein Grab, ein Kreuz, Auferstehung, viel Blut, das sogar aufs Mikro tropft. Sehr klebrig, muß Sirup sein. „Oh je, jetzt fahren wir zehn Leute um“, reichlich Besucher auf der Strecke. Wand-Schriften. „Hier, no beauty without a wound, keine Schöne ohne Wunde; da kommt eine alte Dame unter die Räder. Jetzt an den Ratten vorbei, rein in den schwarzen Tunnel, raus in die Realität, Oper aufarbeiten.“ Ein Steinzeitmensch attackiert uns wütend, „Morra Maldito, Morra!“ Jetzt schon sterben, so früh? Schnell weg und weiter. „Hier die Sezierabteilung, da wird das Auge rausgeschnitten. Wagners berühmtes Manifest, auf Portugiesisch an schwarze Seitenwände geschrieben. Szenen aus der Zauberflöte, eine Sopranistin auf der Badewanne schmettert die berühmte Arie der Königin der Nacht, daneben Donizettis „Liebeselixier“, dann Händels „Julius Cesar“. Wagnermusik wird lauter und lauter. „Tristan und Isolde, der Lieb estod! Und hier die ewig Gequälte, die ewig Leidende, die immer Fertige. Nebenan die Frau, die noch Briefe schreibt, noch Briefe an den Geliebten. Hier die Frau, die schon keinen Geliebten mehr hat, nur noch Kopfschmerzen.“ Dramatik, überall an der Strecke viel Dramatik, Stöhnen, Heulen, Hinwerfen, Ächzen. Affen und andere wilde Tiere – wir passieren die brasilianische Oper „Il Guarany“ von Carlos Gomes. „Das ist hier alles einfach Fellini – ich glaube, Fellini hat reichlich in Brasilien geklaut!“ Da – ist das nicht dieser deutsche Schauspieler? Er brüllt: „Ja, ich bin Stefan Kolosko aus Berlin, ich arbeite auf Portugiesisch Texte auf, zum Beispiel aus dem Fliegenden Holländer. Quando todos os Mortos, soll heißen, wann kommt er, der Vernichtungsschlag?“ Ach, die Liebe hat bunte Flügel, singt die Sopranistin gleich in vier, fünf Sprachen, jede Arienzeile wird gewechselt. „Da, die Casa das Fantasmas, das Geisterhaus“, ruft Schlingensief. „Hier riecht es, und jetzt kommen wir zum Kotzraum – und da gleich ist die Revolution!“ Schauspieler skandieren bedrohlich nahe: „Auf die Guillotine, jetzt, sofort!“ Wohin flüchten, bevor sie zupacken? Von der zweiten Installationshälfte, auf der die Geisterbahn nicht fährt und Amazonas-Schlingensief-Filme laufen, knallen wieder von der großen, zum Aufspringen einladenden Drehbühne Walkürenritt, Opernchöre und Samba herüber. Das Wägelchen prescht in den Ausgangstunnel. „Die Revolution der Antropofagia – also, ab jetzt wird alles selber gemacht! Und Klappe!“ Jede halbe Stunde beunruhigende Sirenenklänge im Megazelt – keine Sorge, Turno Um, die Hälfte de r beteiligten Künstler, galoppiert in den Ruheraum zu Expresso und Keksen, Turno Dois ist dran. In der Tanzkneipe mit den kostümierten Opernleuten sieht einer wie Bob Dylan aus, eine japanische Senhora singt alte Nippon-Schlager, zwei Typen mit E-Gitarre veralbern die stumpfe brasilianische Konsumgesellschaft – banale Weibchen aufreißen im Shopping Center, kommst du mit? Später in der U-Bahn lachen Leute plötzlich auf, haben das Trem-Fantasma-Programm unterm Arm geklemmt, erinnern sich offenbar an wüste, peitschende Szenen. Auf der Brücke stehen, Schlingensiefs „gesamtkunstwerk“ von oben genießen – aber diese bildhübsche, sinnliche Mulattin, was will sie? Einem Arien vorsingen, was sonst, mitten im Brückengewühl. „Nee, sowas Verrücktes, aber irre Interessantes gab’s hier in Sao Paulo noch nie“, kommentieren Studenten, Elektriker, Klofrauen, Reporter. „Trem Fantasma – Singen, bis der Arzt kommt“, steht im Programmheft. Wäre keine schlechte Idee, Schlingensief einen Rio-Karneval organisieren zu lassen. Dann würde er wieder so lustig und komisch, grell und bizarr wie früher, in den Anos Dourados. Zum Autor: Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Materialübersicht zu Trem Fantasma
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Die Schlingensief-Fotoserie(1). Operngeisterbahn in Sao Paulo.(2007) **
”Gottseidank oder leider – ich kann die Schnauze nicht immer halten. Ich gelte ja in Deutschland als Enfant terrible und Provokateur – kann man nichts machen. Im Notfall fällt dem Redakteur nichts besseres ein – dann ist es d a s wieder. Der interessante Teil daran ist aber, daß wahrscheinlich die wahre Provokation ist, wenn man versucht, das Leben zu berühren – das ist das, was die meisten nicht mehr aushalten.” (Schlingensief im Website-Interview)
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/05/09/christoph-schlingensief-sao-paulo/
http://www.hart-brasilientexte.de/2010/01/25/sao-paulo-ist-456-interessanten-megacity-rundblick-an
Hanna Schygulla wieder in Sao Paulo. “Die Unerträglichkeit des Seins ist hier bis auf die Spitze getrieben.” Filmfestival zeigt Schygulla-Streifen. **
Hintergrundtext von 2002:
Hanna Schygulla, brasilianisch
Vorm ersten Brechtabend in dem Tropenland brauchte sie nur raus aus der Hotelsuite Sao Paulos, runter auf die Rua Augusta, hatte Mackie-Messer-Szenerien pur: Kleine, große Gangster, Top-Manager, Dealer, Nutten, Luxuslimousinen, Absteigen, teure und billige Restaurants, Geistesgestörte und Besoffene, abgerissene Straßenkinder und verelendete Familien, die in stinkenden Müllsäcken nach Eßbarem wühlen, nachts im Dreck der Bürgersteige schlafen. Gleich daneben Lateinamerikas Wallstreet, Bankenpaläste von Milliardären, Globalisationsgewinnern. Nur Schritte entfernt, trat die von der Kritik als „Amazone, brechtische Anti-Walküre” Gefeierte vors Publikum, hatte, absichtlich oder nicht, überdeutliche Bezüge auf die brasilianische Realität en masse im Programm, durchweg in exzellentem Spanisch.
Den Mackie-Messer -Song brachte sie zweimal, spielte ihn außerdem mit Brechts Stimme ein – in einem Land extrem korrupter, zynischer Machteliten, die auch im jetzigen Präsidentschaftswahlkampf nach Kräften versuchen, wieder ihre Leute an die Spitze zu hieven. Damit alles so bleibt, wie es ist: Die weltweit fast krassesten Unterschiede zwischen Arm und Reich, Elend wie in Afrika und sogar noch Sklaverei – in der immerhin elftgrößten Wirtschaftsnation der Welt. ”Die Unerträglichkeit des Seins”, sagt sie mir im Exklusivinterview, „ist hier bis auf die Spitze getrieben, gibt es diese Art von Obszönität – und deshalb denke ich , daß Brecht eben nicht tot ist, sondern hochaktuell, die Haifische schwimmen nach wie vor in den Meeren der großen, umlaufenden Gelder. Globalisacion zielt doch nur auf Maximierung der Profite.”
Und Haifisch, Tubaráo ist in Brasilien geradezu ein fester Begriff, wenn es um Figuren der Geld-und Politikerelite geht, denen auch die größten Bestechungsskandale, Enthüllungen über absurdesten Machtmißbrauch letztlich nichts anhaben können. Hanna Schygulla interessiert natürlich brennend, wie Künstler, Musiker, die einfachen Leute mit diesen Problemen, dieser Realität umgehen. ”Die Lichtseite dieses großen Schattens ist, daß die Menschen viel mehr im Jetzt leben, weil alles so unstabil ist. Da man nicht weiß, ob morgen etwas noch so sein wird wie heute, gibt man sich dem Heute wirklich mehr in die Arme. Während wir doch in Europa doch sehr krampfen, sehr am Festhalten immer sind und am Planen. Und ist das Leben? In diesem höchst gefährdeten, höchst unausgeglichenen, durch viele Erdbeben sozialer Art erschütterten Brasilien sind indessen trotz allem sehr viel Glücksmomente möglich, passiert kulturell sehr viel.” Anfang der Neunziger steckt ihr jemand bei Dreharbeiten auf Cuba eine Kassette mit Liedern von Maria Bethania zu, die hört sie jeden Tag, ist fasziniert. ”Es gibt ja Stimmen, da hat man das Gefühl, die möchte man trinken, die sind wie ein Elixier – und sie hat so eine – ist für mich eigentlich die Stimme Brasiliens.”1993 sieht, hört sie Maria Bethania in Rio de Janeiro erstmals auf der Bühne, beide treffen sich, werden enge Freundinnen, und jetzt, ebenfalls in Sao Paulo der erste gemeinsame Auftritt, im schönsten Konzertsaal der 17-Millionen-Stadt. Man war gespannt, welchen Titel Hanna Schygulla unbedingt mit Maria Bethania singen wollte. Die Wahl fiel auf Emoçoes, ganz intensiv gelebte Gefühle, ein sentimentaler Bolero-Hit von Roberto Carlos, Brasiliens seit Jahrzehnten erfolgreichstem Sänger, Komponisten und Texter – in Deutschland jedoch von den Worldmusic-Puristen als schnulziger Schlagersänger heruntergemacht, im Radio so gut wie nie gespielt. Für Hanna Schygulla liegt das auch an der Unfähigkeit vieler Deutscher, mit großen, romantischen Gefühlen umzugehen – für Brasilianer gewöhnlich kein Problem. „Deshalb sind auch die deutschen Schlager so schrecklich. Roberto-Carlos-Lieder, noch dazu von Maria Bethania gesungen, finde ich wunderbar. Die Musik des eigenen Landes ist das Blut, das durch die ganze brasilianische Kultur pulsiert, die Texte haben es in sich, das ist kein billiges Zeug, sondern lebendige Poesie!” Man spürt es, Hanna Schygulla liebt Lateinamerika, keine andere deutsche Künstlerin hat so enge Beziehungen zum Theater und zur Musik Brasiliens. Sämtliche ihrer Filme mit und nach Faßbinder hatten hier einen enormen Erfolg. Mit Maria Bethania singt sie nicht nur „Emoçoes” zusammen, auch Französisches, dazu „Lili Marlen”, das Publikum ist vorhersehbar aus dem Häuschen, man hörte beide gerne öfters. Das wird passieren , „Vidas paralelas”, parallele Lebensläufe, heißt ihr nächstes Projekt für Brasilien und sogar Europa, mit viel Wort und Musik, Persönlichem, ein Zeitporträt . „Wir sind nun mal jetzt alle in einem Boot – faszinierend, aus verschiedenen Kulturen zu kommen, die Sprache des anderen zu erlernen.”
Kurios, die Reflexionen von Hanna Schygulla 2010 erneut zu lesen. Die Künstlerin wird Sao Paulo, Brasilien sehr verändert vorfinden. Roberto-Carlos-Lieder, die sie so mag, kommen auch heute in Ländern wie Deutschland kaum durch die Musikzensur, “die Musik des eigenen Landes” hat es heute schwerer denn je – die Autoritäten, darunter ein Kulturminister namens Gilberto Gil, haben gemeinsam mit den interessierten Industrien für zügige Amerikanisierung gesorgt. Schygullas Freundin Maria Bethania nennt sich völlig aus der Mode, das Interesse europäischer Mainstream-Medien an Brasilien-Kultur ist noch weit geringer als 2002.
KULTUR HEUTE / ARCHIV / Beitrag vom 29.05.2009
Angepasste Denker unter dem Zuckerhut
Wie sich die brasilianische Kulturelite mit der korrupten Macht arrangiert hat
- Brasiliens Präsident Lula da Silva (im Bild) wäre längst abgewählt worden, wären Brasilianer nicht so desinteressiert – meint Santos. (AP)
Der prominente Schriftsteller Claudio Guimaraes dos Santos wirft der brasilianischen Gesellschaft Indifferenz und Apathie vor. Dies sei auf jahrzehntelange extreme sozialökonomische Ungleichheit im Land zurückzuführen, sowie auf mangelnde Bildung. In anderen Ländern wie Deutschland oder Großbritannien hätten vergleichbare Regierungsverhältnisse wie in Brasilien längst zu Protesten geführt.
Dr. Claudio Guimaraes dos Santos ist Mediziner, Psychotherapeut für Unfallopfer, die das Erinnerungsvermögen verloren haben, zudem Sprachwissenschaftler, Schriftsteller und auch noch bildender Künstler. Er zählt zu den wichtigsten, originellsten Denkern des Tropenlandes und veröffentlichte seine These sehr ausführlich just in der „Folha de Sao Paulo“, Brasiliens größter Qualitätszeitung. Die berichtet seit mehreren Jahren vor allem über haarsträubende Menschenrechtsverletzungen wie die alltägliche Folter, Todesschwadronen sowie politische Skandale um Machtmissbrauch, Korruption und Mittelverschwendung an der Staatsspitze, was nach Ansicht brasilianischer Politikexperten in Ländern wie Deutschland, Großbritannien oder Frankreich längst zu machtvollen öffentlichen Protesten, heißen Debatten und zum Abtreten der Regierung geführt hätte; nichts davon in Lateinamerikas größter Demokratie, stattdessen Indifferenz und Apathie, wie Santos anprangert:
„Der Charakter eines Volkes bildet sich historisch – und in Brasilien ist die Sklavereivergangenheit dabei ein wichtiger Faktor. Bestimmte Herrschaftsbeziehungen blieben im kollektiven Unterbewusstsein. Und in einem Land extremer sozialökonomischer Ungleichheit reproduzieren sich Abhängigkeitsverhältnisse ohne Ende. Die auffällige Passivität des Brasilianers wird teils durch fehlende Bildung und Kultur verursacht. Denn politisch aktiv kann man nur sein, wenn man Bildung hat und zum kritischen Denken erzogen wurde. In Brasilien haben wir daher die unglückliche Situation, dass die Mehrheit den Schuldigen so vieler Skandale in Wahrheit nacheifern, diese imitieren möchte. Viele der einfachen Menschen würden auch gerne so abzweigen und rauben wie etwa die Politiker im Nationalkongress – und ärgern sich schwarz, dass sie das nicht können so wie diese. Solche Verhaltensmuster muss man verurteilen, das muss sich ändern!“
Theoretisch könnte das Volk sich andere Repräsentanten wählen und damit die Dinge grundlegend ändern – tut dies laut Santos indessen wegen solcher historisch begründeten Sichtweisen nicht; votiert noch dazu in Pflichtwahlen immer wieder für teils schwer belastete, korrupte Oligarchievertreter und sorgt dafür, dass immergleiche Machteliten nie abtreten.
„Die brasilianische Demokratie ist krank, denn eine der Säulen der Demokratie, der freie, kritische und bewusste Staatsbürger, existiert in Brasilien nicht. Die Politiker in Brasilia sind ein Reflex dessen, was das Volk denkt und wie es selber agiert. Wenn alle könnten, wären sie gerne Millionäre, würden rauben wie die oben – und anderen befehlen. Es gibt kein Bewusstsein dafür, dass man eine solidarischere Gesellschaft erbauen müsste. Die Fähigkeit unserer Politiker, die Massen zu manipulieren, ist immens. In mehreren hundert Jahren hat man eine unkritische, ungebildete Masse geformt, die nicht zu entscheiden weiß. Man sieht hier, dass sich die Dinge nicht ändern, kulturelle Werte aber verlorengehen.“
Santos gibt dafür auch dem jetzigen Staatschef Lula die Schuld, unter dessen Regierung das Land auf dem UNESCO-Bildungsindex innerhalb weniger Jahre vom 72. auf den 80. Platz zurückgefallen ist, sich das öffentliche Schulwesen spürbar verschlechtert hat. Lula äußerte wiederholt Abneigung gegen Lektüre und Weiterbildung, sagte sogar öffentlich, nicht einmal Zeitung zu lesen.
„Lula legt Wert darauf, seine fehlende Bildung und Kultur herauszustellen. Damit gibt er natürlich ein schlechtes Beispiel. Vielmehr müsste er den Leuten sagen: Studiert – und lebt nicht mit dem Trugschluss, dass man ohne ordentliche Schulausbildung doch sogar Staatspräsident werden kann!“
Gesellschaftliche Passivität paart sich für Santos bei den Brasilianern zudem mit niedrigem Selbstwertgefühl und schlechtestem Urteil über sich selbst.
„Solche Haltungen trifft man sogar bei Intellektuellen. Unser Selbstwertgefühl ist gering. Die Brasilianer entwerten sich gegenseitig, schätzen indessen stets hoch, was von draußen kommt. Daher imitieren wir sogar, was in den Ländern der Ersten Welt schlecht ist – und kopieren von dort just das Falsche. Wir vergeuden Talente, menschliche Fähigkeiten – hier fehlt auch intellektueller Dialog.“
Viele Intellektuelle und Künstler Brasiliens, so ein weiterer Vorwurf, agieren zudem als Komplizen der Macht, der jeweiligen Regierung. Sie schweigen, anstatt wie in den Zeiten des Militärregimes gegen die Zustände aufzubegehren, gar Staatschef Lula öffentlich zur Rede zu stellen. Konkret genannt werden stets Ex-Kulturminister Gilberto Gil und Idole der Nationalkultur wie Caetano Veloso und Chico Buarque. Letzteren hatte man vergeblich aufgerufen, 2008 in Sao Paulo als Jurymitglied eines Menschenrechtstribunals gegen alltägliche Folter und die Verfolgung von Sozialbewegungen zu fungieren.
„Jene, die sich damals gegen die Diktatur wehrten“, so argumentiert Santos, „hatten Idealismus, Ideale, wollten die Gesellschaft verändern. Heutige Künstler sorgen sich viel mehr um Geld und Gewinn, verlieren dabei jedes Maß. Sie verkaufen sich – was heute ja viel leichter ist. Zumal jene Ideale in der ganzen Welt verlorengegangen sind. Die Verarmung des Kulturniveaus der Menschheit empfinde ich sehr schmerzhaft.“
Allein auf weiter Flur steht Denker Santos mit seiner Passivitätsthese keineswegs. Der große brasilianische Schriftsteller Joao Ubaldo Ribeiro, einst DAAD-Stipendiat in Deutschland, drückt es drastischer aus:
„Wir sind ein Volk mit dem Temperament von Schafen, von Hammeln. Wir sind an Autorität gewöhnt. Hier reklamiert doch niemand. Das ist die nationale Mentalität.“
KULTUR HEUTE / ARCHIV / Beitrag vom 11.03.2009
Kindermord am Paraná
Praktiken der Kindstötung unter den indigenen Einwohnern
In Brasilien ist eine Debatte um Kindstötungen entbrannt, die bei mindestens dreizehn Indianerstämmen des Landes noch praktiziert werden. Kinder, die mit Behinderungen zur Welt kommen, dürfen bei diesen Stämmen durch Vergiften, lebendiges Begraben, durch Bogenpfeile und andere Methoden getötet werden und weiße Indioforscher sehen dabei tatenlos zu.
Der Kongressabgeordnete Henrique Afonso stammt aus Amazonien, zählt zur regierenden Arbeiterpartei von Staatschef Lula und ist zudem Presbyterianerpastor. Nach seiner Ansicht müssen die universelle UNO-Menschenrechtsdeklaration sowie internationale Abkommen über den Schutz des Lebens endlich auch für alle Indianerkinder Brasiliens gelten. Indiobabys nur deshalb zu töten, weil sie Mädchen sind, weil sie mit einem Hautfleck oder einem gewöhnlich längst heilbaren Geburtsfehler zur Welt kommen, nennt Afonso ein barbarisches, schändliches Verbrechen, ebenso wie erzwungenen Sex mit Indiomädchen sogar unter zehn Jahren.
„Bei mindestens 13 Indianerstämmen werden jährlich Hunderte von Kindern durch Vergiften, lebendiges Begraben, durch Bogenpfeile und andere Methoden getötet. Da es sich um Praktiken handelt, die bei diesen Stämmen gesellschaftlich akzeptiert sind, sieht mein Gesetz keine Bestrafung der beteiligten Indios vor, jedoch von Weißen, die von vorgesehenen Tötungen wissen und nicht eingreifen. Denn heute gibt es kaum noch Indiodörfer ohne Mitarbeiter der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI, des Gesundheitsdienstes FUNASA – ohne Anthropologen, Priester und Missionare. Zudem darf der Beginn des Sexuallebens bei Indianerkindern nicht länger erzwungen werden, denn schon Indiomädchen im Alter von acht, neun Jahren sind betroffen.“
Afonso nennt es eine unglaubliche Scheinheiligkeit, dass derartige Indiotraditionen von Anhängern sogenannter politischer Korrektheit über viele Jahrzehnte versteckt, unter der Decke gehalten wurden. Am jüngsten Weltsozialforum in Nordbrasilien nahmen zwar mehrere tausend Indianer teil, doch das Thema Kindermord und Pädophilie bei den Stämmen blieb dennoch tabu. In Brasilien reagieren gerade weibliche Indioforscher teils regelrecht geschockt, wenn man sie auf politisch unkorrekte Tatsachen aus der Indianerkultur anspricht.
Edgar Rodrigues vom Stamme der Barè ist Chefadministrator der staatlichen Indianerschutzbehörde FUNAI in Amazonien und nennt die Kindstötung unter Indios etwas Natürliches:
„Ein Kind mit Behinderungen, mit Mängeln würde aus deren Sicht nicht für die Arbeit hier auf der Erde nützen, hätte nicht alle Potenzen für den Dienst an der Gemeinschaft. Und damit dieser Mensch nicht das ganze Leben leidet, praktizieren sie diese frühe Euthanasie. Sie ist nicht nur bei den Yanomami, sondern auch bei anderen Stämmen Amazoniens üblich. Sex mit acht, neun Jahren ist sicherlich sehr früh, für Weiße abnorm und strafbar, aber in der Kultur der Apuriná-Indios eben erlaubt. Laut Kinderstatut handelt es sich um sexuellen Missbrauch. Doch das Statut wurde von Weißen geschaffen, ohne die Indianer zu hören und deren Kultur zu respektieren.“
Katholische Missionare in Amazonien sind Zeugen des Kindermords, nennen ihn einen gewaltigen Kulturschock, intervenieren aber nicht. Brasilianische Rechtsexperten fordern seit langem, die Mütter dafür zu bestrafen.
Saulo Feitosa, Vizepräsident des bischöflichen Indianermissionsrates, protestiert indessen gegen ein Verbotsgesetz:
„Wir meinen, eine Kriminalisierung des Infantizids ist nicht gerechtfertigt. Vom Gesichtspunkt unserer Moral sind wir gegen den Infantizid, aber wir können die Indianer deswegen nicht anklagen. Viele unserer Missionare sind Zeugen des Infantizids und leiden sehr darunter. Die katholische Kirche setzt den Infantizid derzeit nicht auf die Tagesordnung. Andere Kirchen stellen ihn zur Diskussion, ebenso wie die bei den Indios übliche Abtreibung.“
Kürzlich wird das Indianermädchen Hakani mit ihren weißen Adoptiveltern vom Generalsekretär der katholischen Bischofskonferenz in Brasilia empfangen, überreicht ihm Beweismaterial über die indianischen Kindermordpraktiken. Hakani wächst die ersten Lebensjahre nicht rasch genug, wird deshalb nach Stammessitte lebendig verscharrt. Glücklicherweise hört jemand das Wimmern, gräbt sie wieder aus, nichtkatholische Missionare retten Hakani mit ärztlicher Hilfe das Leben. Brasiliens Bischofskonferenz scheint erstmals bereit, das ungeliebte Tabuthema zu diskutieren.
KULTUR HEUTE / ARCHIV / Beitrag vom 28.03.2009
Die vergessene Diktatur
Erinnerungskultur in Brasilien
Die Militärdiktatur in Brasilien endete vor über 20 Jahren, doch eine Auseinadersetzung mit der Vergangenheit findet kaum statt. Nun ist es politischen Gefangenen von einst gelungen, in Sao Paolos früherem Folterzentrum zumindest vier Zellen in ein „Memorial des Widerstands“ umzuwidmen.
1985 endet nach 21 Jahren Brasiliens Militärdiktatur, doch erst jetzt, 2009, gelingt es politischen Gefangenen von einst nach langem Kampf, dass in Sao Paulos früherem Folterzentrum, einem fünfstöckigen Gebäude, wenigstens vier Häftlingszellen in ein „Memorial des Widerstands“ verwandelt werden.
„Ich wurde hier gefoltert – zu uns wurden auch Verwundete, Angeschossene reingeworfen, die schleifte man über die Korridore.“
Erinnert sich Francisca Soares bei der Einweihung des Erinnerungsortes in einer der Zellen an den Horror von damals, die erlittenen Torturen. Und sie erinnert sich gut an den damaligen Chef des Folterzentrums, an Romeu Tuma. Heute ist er Kongresssenator einer Rechtspartei, nennt sich einen Freund von Staatschef Lula, dem früheren Gewerkschaftsführer, trifft ihn öfters im Präsidentenpalast von Brasilia.
„Wir sind darüber empört und traurig – es ist sehr eigenartig, dass sich unsere linken Politiker so gut mit Romeu Tuma verstehen. Aber man kann nichts dagegen machen – so ist nun einmal Demokratie. Und da muss man eben ertragen, dass Romeu Tuma und andere solcher Figuren immer wiedergewählt werden.“
Elektroschocks, Kopf in den Wassereimer, Aufhängen an den Füßen – Francisco Prado erlitt sieben Jahre lang so ziemlich alle gängigen Foltermethoden, erinnert sich ebenfalls gut an Romeu Tuma.
„Tuma war ein sadistischer Folterer. Am Diktaturende säuberte er hier die Archive, nahm die Hälfte der Dokumente mit. Wir wissen, wo sie sind, aber man kommt nicht ran. Als Lula zum Staatschef gewählt wurde, dachten wir, er öffnet die Geheimarchive der Diktaturzeit – doch er tut es eben nicht. Heute werden auf allen Polizeiwachen Brasiliens die Festgenommenen, die Häftlinge gefoltert.“
Alle früheren Widerstandskämpfer entsetzt, dass Romeu Tumas damaliger Parteichef der Regimepartei ARENA, José Sarney, mit Unterstützung Lulas jetzt zum Präsidenten des Nationalkongresses gewählt wurde. Marcelo Araujo, Leiter des Widerstandsmemorials, vereinbarte daher mit Jana Binder vom Goetheinstitut Sao Paulo eine Serie von Veranstaltungen über die so grundsätzlich verschiedene Erinnerungskultur beider Länder.
„Marcelo Araujo kaum auf uns zu, sagte, dass Deutschland ja eine sehr, sehr starke Tradition hat, sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen, was ja in Brasilien ganz anders ist. Die Eröffnung von diesem Memorial, dieser Erinnerungsstätte ist ja für die Brasilianer was relativ Neues. Wir müssen quasi erinnern, nur wenn sich alle daran erinnern, wird es nicht noch einmal passieren – das ist ja der deutsche Zugang zu dem Thema. Und in Brasilien ist ja eher, wir vergessen das, wir lassen das Alte hinter uns, wir fangen neu an und gucken gar nicht zurück.“
Dass ausgerechnet jemand wie Romeu Tuma heute ein hoher, einflussreicher Politiker ist, nennt Jana Binder daher aus deutscher Sicht eine „total verrückte Situation“.
Brasiliens deutschstämmiger Bundesstaatsanwalt Marlon Weichert aus Sao Paulo klagte in Washington vor der Menschenrechtskommission der Organisation Amerikanischer Staaten und wirft seiner eigenen Regierung vor, Diktaturverbrecher unter Berufung auf ein Amnestiegesetz nicht zu bestrafen – und damit gegen internationale Menschenrechtsabkommen zu verstoßen. Straffreiheit für Diktaturverbrecher sporne die Folterer von heute regelrecht an:
„Viele wollen über ihre Mitwirkung bei Diktaturverbrechen nicht aussagen – denn käme die Wahrheit heraus, müssten Biographien völlig umgeschrieben werden. Doch es gibt eben die Überzeugung, dass man die Wahrheit vertuschen müsse, dass es vorteilhafter sei, über all diese Probleme nicht zu reden. Das ist eine Frage der Werte und der Kultur.“
FAZIT / ARCHIV | Beitrag vom 01.10.2007
„Mein Kampf“: ein Bestseller in Brasilien
- Adolf Hitler im Jahr 1937 (AP-Archiv)
In den Buchläden und im Internet Brasiliens, der größten Demokratie Lateinamerikas, wird derzeit eine neue Auflage von Adolf Hitlers „Mein Kampf“ in portugiesischer Übersetzung angeboten und findet laut Händlerangaben wie üblich reißenden Absatz. Keineswegs überraschend – denn das Tropenland ist von Antisemitismus gezeichnet, bot zahlreichen Kriegsverbrechern Unterschlupf und hat auffällig viele Hitler-Sympathisanten. Nicht wenige Brasilianer tragen amtliche Vornamen wie Hitler, Himmler oder Eichmann.
„Mein Kampf“, auf Portugiesisch „Minha Luta“, kostet umgerechnet rund 30 Euro und wird von Sao Paulos Verlag „Editora Centauro“ als Prachtausgabe angepriesen. Auf dem braunen Hartpappe-Einband sind ein Porträt Hitlers sowie das Foto eines Reichsparteitags zu sehen, bei dem Hitler zwischen zackig grüßenden SA-Leuten eine Tribünentreppe hinaufsteigt, gefolgt von hohen Offizieren.
In Lateinamerikas Wirtschafts- und Kulturmetropole Sao Paulo hat natürlich auch die angesehene Spezialbuchhandlung „Martins Fontes“ das Buch vorrätig. Sie liegt direkt an der Avenida Paulista, der lateinamerikanischen Wallstreet, und hat neben zahlreichen Banken auch Universitäten und Hochschulen ganz in der Nähe.
„Diese neue Ausgabe ist sehr gefragt“, sagt der Fachverkäufer Josè Dantas:
„Hitler ist eine widersprüchliche Persönlichkeit und deshalb wollen eben viele an Geschichte und Philosophie Interessierte genauer wissen, was er wirklich dachte. Dass Hitler-Sympathisanten aus dem Buch falsche Schlüsse ziehen, ist nicht zu verhindern. Auch wegen des Internets ist heutzutage der Informationsfluss ohnehin nicht mehr zu kontrollieren. Zudem findet man derzeit weit üblere, aggressivere Bücher als jenes von Hitler. Man muss sich nur einmal bestimmte Werke bekannter Islamisten anschauen, die sich viel drastischer, derber ausdrücken als Hitler in ‚Mein Kampf‘. Hitlers Text hat längst nicht diese Wucht – aber es hängt eben alles von der Interpretation durch jeden Einzelnen ab. Und da steckt das Problem, das kann man nicht kontrollieren.“
Keineswegs nur auf den nazistischen Websites von Brasilien wird die neue Ausgabe besonders von jüngeren Frauen und Männern regelrecht gefeiert, mit grob rassistischen und antisemitischen Tiraden. „Hitler ist der größte Politiker aller Zeiten“, heißt es da, „Minha Luta“ sei ein sehr gutes, ein geradezu phantastisches Werk.
Renommierte Sozialwissenschaftler, darunter die Historikerin Maria Luisa Tucci Carneiro von der Bundesuniversität in Sao Paulo erinnern in diesem Kontext daran, dass in Brasilien der Diktator Getulio Vargas, ein Hitlerverehrer und notorischer Judenhasser, bis heute auch offiziell außerordentlich verehrt wird, erst 2003 für Vargas in Rio de Janeiro ein großzügig gestaltetes Memorial eingeweiht wurde.
Zur Nazizeit kooperierte Vargas sogar eng mit der Gestapo. Per Geheimdekret wurde Tausenden von Juden die Einreise verweigert – viele in Brasilien lebende, darunter Olga Benario, wurden nach Deutschland deportiert, endeten im KZ. Brasilien trage Mitverantwortung an der Judenvernichtung, die Vargas-Regierung sei mitschuldig an nazistischer Ausrottung, sagt Maria Luisa Tucci Carneiro.
„In den Tagebüchern von Vargas kann man alles über diese Geheimdekrete nachlesen. Vargas wusste genau, was damals mit den Juden in Europa geschah – und dennoch hat er die Deportations- und Ausweisungsdekrete unterzeichnet. Seine Beziehungen zu Nazideutschland waren ja sehr eng. Heute indessen existiert kein politisches Interesse, diesen Teil der brasilianischen Geschichte aufzuarbeiten, offenzulegen, die historische Bedeutung dieser Vorgänge zu untersuchen.“
Erst 1942 brach Diktator Vargas mit Nazideutschland, um nicht auf der Verliererseite zu stehen, beugte sich dabei auch dem Druck der USA. Nach 1945 gab Brasilien zwar zahlreichen berüchtigten Kriegsverbrechern wie Josef Mengele Unterschlupf und Aufstiegschancen, doch noch 1949, vier Jahre nach Kriegsende, wurden Einreisevisa für Juden per Geheimdekret verboten. Das offizielle Argument: Es handele sich um Überlebende der KZs, also psychisch gestörte Leute, an denen Brasilien kein Interesse haben könne.
Der polnische Jude Aleksander Laks war in Auschwitz, ist heute in Rio de Janeiro Präsident der örtlichen Vereinigung von Überlebenden des Holocaust. Seine Mutter wurde in Auschwitz vergast, sein Vater dort erschlagen, er selbst wurde von KZ-Arzt Josef Mengele selektiert. Laks ist stark enttäuscht, dass auch die jetzige Regierung weder amtliche Vornamen wie Hitler oder Himmler verbieten lässt, noch Naziornamente der Hitlerzeit aus Wohnhäusern und öffentlichen Gebäuden entfernt.
„Es gibt hier Nazis, auch entsprechende Websites, es gibt Antisemiten, die den Holocaust bestreiten. Selbst Kleiderständer in den großen Modegeschäften haben hier ein Hakenkreuzdesign, es ist kaum zu fassen.“
Und Rios Rabbiner Nilton Bonder betont:
„Antisemitismus in Brasilien ist eher unorganisiert, aber das Land ist gegenüber Juden voller Vorurteile. Viele davon stammen aus der iberischen Kultur – denn Länder wie Spanien sind bis heute extrem antisemitisch. Es gibt Skinheads, die Juden hassen – und Hitler wird hier in Brasilien als berühmte Persönlichkeit angesehen.“
Brasiliens heutiger Staatspräsident Luis Inacio Lula da Silva hatte bereits als Gewerkschaftsführer im Jahre 1979 klargestellt, wie er zu Hitler steht. In einem Interview sagte Lula damals: „Hitler irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Bereitschaft, die Kraft, die Hingabe.“
FAZIT / ARCHIV | Beitrag vom 12.10.2005
Hemmungslos romantische Volksmusik aus Brasilien
Musikfilm dokumentiert die Sertaneja-Szene
- Die brasilianischen Musiker Zeze (li.) und Luciano de Camargo (re.) in Brasilia (AP Archiv)
Der Musikfilm „Zwei Söhne von Francisco“ räumt auf intelligente Weise gleich mit einer ganzen Reihe von Brasilienklischees auf und zeigt unbekannte Seiten der brasilianischen Kultur und Mentalität. Er handelt von der hemmungslos romantischen Sertaneja-Musik, die vor allem im ländlichen Brasilien überaus populär ist. Der Film zur Musik ist gleichsam erfolgreich und soll als Oscar-Anwärter ins Rennen geschickt werden.
Ein Musikfilm aus Brasilien, der im Ausland ankommen soll und gar Oscar-Chancen hat, kann eigentlich nur von Samba, Bossa Nova, Karneval handeln. Also viel Rio de Janeiro, Zuckerhut und Traumstrände, heißblütige Tänzer und Trommler, viel nackte dunkle Haut, ein Blendfeuerwerk tropischer Exotik, vielleicht mit einer hübschen Liebesgeschichte verwoben.
Doch dieser neue Streifen namens „2 Filhos de Francisco“ hat nichts davon und könnte manchen deutschen Kinobesucher regelrecht erschrecken. Das soll Brasilien sein? Statt feuriger mitreißender Rhythmen nur Klänge dieser Art:
Filmmusik von Zezè di Camargo e Luciano
Das ist ein typisches Falsett-Duo des brasilianischen Hinterlands, annähernd so groß wie Europa. Die beiden Brüder Zezè di Camargo und Luciano mit Sertaneja-Musik. Die reicht von der schlichten Gitarrenballade der Viehtreiber nachts am Feuer bis zum brasilianischen Country-Pop; unverkennbar der Einfluss des Bolero, des mexikanischen Mariachi.
Von den Gebrüdern Zezè di Camargo und Luciano handelt der ganze Film, von ihrer armseligen, bedrückenden Kindheit in einer Kleinbauernkate und später in einem Großstadtslum; von Vater Francisco, der es sich in den Kopf gesetzt hat, aus wenigstens zweien seiner sieben Kinder ordentliche Musiker zu machen, die auf Dorffesten, Jahrmärkten aufspielen könnten. Um damit die mehr als knappe Familienkasse etwas aufzubessern, und wer weiß, vielleicht sogar dem Elend zu entfliehen.
Der Film hat ein grandioses Happy-End, denn Zezè di Camargo und Luciano wurden mit ihrer sentimentalen Sertaneja-Musik die Megastars Brasiliens. Und mit diesem anrührenden, teils melodramatischen Film bekennt sich das Tropenland erstmals zu seiner romantischen, ja ultraromantischen Seele. Regisseur Breno Silveira:
„Man muss unser Hinterland und seine Kultur gegen alle Ressentiments vieler elitärer Städter endlich einmal zur Kenntnis nehmen und mit diesen ganzen Vorurteilen einer Kulturschickeria gegen die so gefühlvollen Menschen dort, gegen deren Sertaneja-Musik endlich einmal aufräumen. Die Leute des Interior sind authentisch wie ihre Klänge, die doch nur Betonköpfe kalt lassen.“
Sertaneja-Klänge – vielleicht zu romantisch für coole Europäer, sagt in Sao Paulo der Musikexperte Biaggio Baccarin und trifft ins Schwarze. Denn auch in Deutschland wird Sertaneja so gut wie nie in den Radios gespielt, ist in der Weltmusikszene verpönt. Doch wider alle Klischees mögen die allermeisten Brasilianer, selbst die jungen, sentimentale Balladen weit mehr als hektisch aufgeregte Stücke nach Art der Karnevalssambas.
Sertaneja war in Brasilien schon immer weit populärer als Samba und ist bei Tonträgern daher unangefochtener Marktführer. An der Spitze Zezè di Camargo und Luciano mit über 22 Millionen verkauften CDs und ein Vielfaches an Raubkopien. Von solchen Plattenauflagen können Gilberto Gil, Caetano Veloso, Marisa Monte, Milton Nascimento und all die anderen in Deutschland mehr oder weniger bekannten Musikusse Brasiliens nur träumen.
Zezè di Camargo: „Wegen dieser Mischung der Rassen, Rhythmen und kulturellen Riten sind wir ein atypisches Land. Der Film zeigt viel von diesem Universum. Ja, wir sind bäuerlicher Herkunft, wir mögen den Geruch von Erde – und wir machen Musik für die Massen, für die einfachen Leute Brasiliens.“
Deshalb holte sich der heutige Staatschef Lula für den Wahlkampf von 2002 nicht etwa Sambastars als Anheizer seiner Kundgebungen, sondern Zezè di Camargo und Luciano, die schließlich sozialkritische Songs wie diesen, gegen den Hunger, das Elend im Lande, komponiert haben – und zweifellos zu Lulas Wahlsieg beitrugen.
Der Staatschef brach die Wahlversprechen, steckt im Korruptionssumpf – das Gebrüderpaar ist entsprechend frustriert. Dass indessen der Film zum Kinorenner des Jahres werden würde, hätten sie nie für möglich gehalten. Weltmusikpuristen dürfte schmerzen, dass ausgerechnet Ikonen wie Caetano Veloso und Maria Bethania den Streifen über alle Maßen lobten und im Soundtrack gleich mit mehreren hypersentimentalen Sertaneja-Titeln zu hören sind.
Ostern/Pascoa in Ouro Preto 2015, UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt in Brasilien. Leiden, Sterben, Auferstehung des Jesus von Nazareth, interpretiert von der katholischen Jugendpastoral auf den Stufen der Santa-Efigenia-Kirche – starke aktuelle Bezüge. “Auto da Paixão” – “Evangelizando através da Arte”. **
A Pastoral da Juventude da Paróquia de Santa Efigênia de Ouro Preto, realiza, mais uma vez, com o apoio da paróquia de Santa Efigênia e da Prefeitura Municipal de Ouro Preto, o Auto da Paixão nas escadarias da Igreja de Santa Efigênia.
Com o ideal “Evangelizando através da Arte” sempre em mente, os jovens chamam a atenção do cristão para refletir mais a vida, morte e ressurreição de Cristo. Além disso, esses jovens chamam a atenção do público pela realização e atuação.
A cada ano que avança, o auto surpreende mais o público e aflora o talento de cada um dos participantes encantando os moradores da paróquia e da cidade de Ouro Preto. E isso é o resultado de todo o amor e carinho de todos os organizadores por cada minuto dedicado para o ensaio, caracterização, concentração, organização e muito ensaio, é claro!
Todas as etapas da organização e realização são feito pelos jovens da Pastoral e alguns voluntários, com apoio principal da Paróquia de Santa Efigênia. O evento é totalmente gratuito e conta, mais uma vez com a participação dos moradores e turistas da cidade. Venham! Não deixe de prestigiar o trabalho desses lindos jovens que estão preparando o teatro com tanto carinho.
O Auto da Paixão 2015 será no dia 04 de abril, sábado as 19h:00. Venha e traga a sua família!
Texto-Rúbia Araújo Borges- Colaboradora da Divulgação
Brasilien . Kirche und Gesellschaft. Sammelbandtexte:
Die Santa-Efigenia-Kirche oben auf dem Hügel.
Porträtstudien von Mitwirkenden:
Padre der Kirchengemeinde Santa Efigenia.