Brasilianisierung des Westens ist eine vom deutschen Soziologen Ulrich Beck Ende der 1990er Jahre in diesoziologische Debatte eingeführte Kurzformel für den von ihm vermutetensozialen Wandel Europas in Richtung einer zunehmenden sozialen Ungleichheit. So sagt er: Brasilianisierung meint den Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen, Flockigen, Informellen in die westlichen Bastionen der Vollbeschäftigungsgesellschaft. Damit breitet sich im Zentrum des Westens der sozialstrukturelle Flickenteppich aus, will sagen: die Vielfalt, Unübersichtlichkeit und Unsicherheit von Arbeits-, Biographie- und Lebensformen des Südens.[1]
Der Begriff wurde auch durch Franz Josef Radermacher in der Forderung nach einer Änderung des politischen Systems in Richtung einer weltweiten ökosozialen Marktwirtschaftaufgegriffen.[2]
Beck sieht als Folge der Globalisierung unter dem neoliberalen Paradigma eines vollständig freien Marktes Tendenzen zur Veränderung der Schichtung postindustrieller westlicherGesellschaften in Richtung auf eine Angleichung der Arbeitskultur an die Standards der Entwicklungsländer und auf einen Zerfall der Bürgergesellschaft voraus. Seine Skizze sagt somit den europäischen Staaten einen Entwicklungsrückgang voraus, der sich – seit den 1920er Jahren vorweggenommen – im (zu Europa relativen) Abstieg etlicher lateinamerikanischer Staaten bereits durchgesetzt hat, charakterisiert durch eine Zerrüttung der Mittelschichten, eine Öffnung der Einkommensschere und durchArmutsszenarien, die bislang nur aus Ländern der Dritten Welt bekannt waren. Brasilien, aber auch Chile, Argentinien, Uruguay oder Costa Rica könnten hier genannt werden.
-http://www.hart-brasilientexte.de/2008/12/10/brasilianisierung/
“Laut Beck droht die Brasilianisierung des deutschen Arbeitsmarktes”.
:http://gazette.de/Archiv2/Gazette10/Radermacher.html
DIE ZEIT:
…Brasilianisierung bedeutet für Beck, daß immer mehr Menschen ohne sozialen Schutz, als Scheinselbständige oder schlicht schwarz arbeiten, daß oft mehrere Jobs zum Überleben notwendig sind und daß Gewerkschaften nichts mehr zu sagen haben. “Länder der sogenannten ,Vormoderne’ mit ihrem hohen Anteil an informeller, multiaktiver Arbeit können den sogenannten ,spätmodernen’ Ländern des Kernwestens das Spiegelbild vorhalten”, schreibt Beck. Früher zeigte der Norden dem Süden, wie man arbeitet, heute ist es umgekehrt…
Brasilianisierung erst in den USA – dann beim Vasallen Deutschland – Hintergrundtext von 1997:
USA fürchten „Brazilianization“
Freiwillig eingesperrt
Privilegierten-Ghettos als Gesellschaftsmodell
Übermannshohe Mauern, obendrauf zusätzlich Hochspannungs-Drahtverhaue, Überwachungskameras, mißtrauisch dreinblickende Privatpolizei mit Walky-Talkys am pompösen Tor – dahinter Villen oder luxuriöse Penthouse-Blocks, viel Grün, Swimmingpools, Tennisplätze: Brasiliens Betuchte schotten sich immer perfekter gegen Misere und ausufernde Kriminalität ab. Fährt der Dominikaner Frei Betto durch die besseren Viertel der 18-Millionen-Stadt Sao Paulo, kommt er immer wieder an solchen „Condominios fechados“, geschlossenen Wohnanlagen vorbei, nennt sie ironisch „Luxusgefängnisse“. Über dreihundert gibt es bereits im größten deutschen Wirtschaftsstandort außerhalb Deutschlands, die Nachfrage ist enorm, auf den Wartelisten stehen auch deutsche Manager. Kein Tag ohne ganzseitige Farbanzeigen in den großen Blättern:“Komm und lebe in Freiheit, Sicherheit, Grün!“ – ob im neuen „Swiss Park“, im „Liberty Village“, der „Ville Versailles“. Familienfreundlichkeit ist ein wichtiges Werbeargument:“Hier werden Deine Kinder wie VIPs behandelt!“. Zehn Megaprojekte, jedes mit durchschnittlich 1300 Villen-Geländen, sind brasilienweit im Bau. Vor sechs Jahren lebte nur rund eine halbe Million in solchen Privilegiertenghettos, heute etwa dreimal soviel. Nimmt man die abgesperrten Villen-Privatstraßen der besseren Viertel hinzu kommt man brasilienweit sogar auf über sechs Millionen. Allein Rio de Janeiros Südzone der Strandviertel zählt rund sechzig „Ruas fechadas“. Pionier-„Ghetto“ Sao Paulos war Alphaville, gegründet vor fast dreißig Jahren – heute eine Stadt in der Stadt mit rund vierzigtausend Bewohnern, einziges Condominio Brasiliens in dieser Größenordnung. Zwischen Lateinamerikas Wallstreet, der Avenida Paulista in Sao Paulos City, und Alphaville pendeln ständig komfortable Sonderbusse.
Alles nicht nur für den in Deutschland durch Bücher, soziologische Vorträge bekannten Frei Betto ein Absurdum: “Die Stadt sollte Ort des Zusammentreffens, Austauschs, der Solidarität sein – wurde stattdessen zur Geisel der Banditengewalt – mit Condominios provozierender Opulenz, eingekesselt von Misere. Wir sind Fußball-Weltmeister – aber unglücklichweise auch Weltmeister in sozialer Ungleichheit.“ Vierundsechzig Prozent des Volkseinkommens, so der einstige enge Berater von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, seien in der Hand von nur zehn Prozent der Brasilianer, also von nur siebzehn Millionen. Ein Bauarbeiter, der solche “Luxusgefängnisse“ miterrichtet, verdient nur umgerechnet zwischen siebzig Cents und zwei Euro die Stunde, wohnt deshalb an der ausgedehnten Slumperipherie. „Anstatt die Ursachen von Misere, Armut und Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen, flieht Lateinamerikas Elite vor den Folgen eigener Politik, zieht es vor, den eigenen Reichtum herauszustellen, baut deshalb diese Condominios fechados, Inseln der Phantasie – voller Angst vor denen auf der Straße, vor dem öffentlichen Raum.“ Denn dort schlägt dieser Elite nur zu oft blanker Haß der in Jahrhunderten durch Elend Brutalisierten entgegen, wie Brasiliens größte Qualitätszeitung, die „Folha de Sao Paulo, kommentiert.
Die Gewaltbereitschaft vor allem der perspektivlosen Unterschichtsjugend ist so groß, daß etwa in Sao Paulo selbst Großdiskotheken und Samba-Ballhäuser nachts vorsorglich von schwerbewaffneter Militärpolizei und Munizipalgarde umstellt werden.
Man muß sich nur einige Basisfakten vor Augen führen: In Südamerikas reichster Stadt genießen gemäß einer neuen Präfekturstudie gerade 3,46 Prozent der Bevölkerung einen europäischen Sozialstandard und nur zehn Prozent den durchschnittlich asiatischen – doch über die Hälfte lebt wie in Afrika, fast ein Drittel wie in Indien. Etwa alle acht Tage entsteht ein neuer Slum, obwohl allein in der City ganze Wohnblocks, mit über vierzigtausend meist gutausgestatteten Appartements, teils seit sieben Jahren leerstehen. Besetzer werden gnadenlos von der Polizei herausgeprügelt.
Die größtenteils in Aachen aufgewachsene Afghanin Maryam Alekozai machte in einem Slum Sao Paulos, der jährlich über fünfhundert Mordtote zählt, ihr soziales Jahr, zeigte sich über die Sozialkontraste schockiert:“Tagsüber, nachts fallen Schüsse, immer wieder verlieren Kinder ihre Väter. Das ist hier gar nicht so anders wie damals in Afghanistan, als ich klein war. Der Unterschied zwischen einem fünfjährigen Mädchen hier und in Deutschland ist so groß! In den Augen der brasilianischen Kinder sehe ich Haß, ganz tiefen Haß – und Wut. Man blickt nicht in Kinderaugen, sondern eigentlich in Augen von Erwachsenen, die voller Aggressionen sind. Gewalt und Ungerechtigkeit, die in diesem Land herrschen, spiegeln sich in deren Augen – unübersehbar!“ In Sichtweite glitzernder Hightech-Geschäftshäuser und Condominios sind neofeudale Banditenmilizen, die Maschinenpistolen der NATO-Armeen tragen, unumschränkte Herrscher, terrorisieren Bewohner, verhängen Ausgangssperren – manche minderjährige Kindersoldaten Sao Paulos killten bereits bis zu vierzig Menschen. Immer wieder werden auch in Rio de Janeiro Slumbewohner, die sich dem Normendiktat widersetzen, zur Abschreckung lebendig verbrannt. Hätte Deutschland eine Gewaltrate wie Brasilien, würden dort jährlich nicht über tausend, sondern weit über zwanzigtausend Menschen umgebracht, befänden sich mehr als zehn Millionen illegaler Waffen fast jeden Kalibers in Privat-bzw. Gangsterhand.
–granatensichere Bunker im Penthouse –
Der neueste Hit – Spezialbunker in der Villa, im Luxusappartement, sogar granatensicher. Falls doch einmal hochspezialisierte Einbrecherbanden, Geiselnehmer die „erste Verteidigungslinie“ des Condominio fechado durchbrechen sollten, hätte man hier noch eine Rückzugsmöglichkeit. Kostenpunkt – ab umgerechnet 150000 Euro aufwärts. Damit es möglichst nicht soweit kommt, haben manche Condominios mehr als 180 Überwachungskameras in Korridoren, Treppenhäusern, Liften, Garagen, Sportanlagen, am Schwimmbad – Big Brother is watching you. Das Verrückteste – neuerdings haben vielerorts auch die Bewohner per Internet Zugang zum Monitor der Sicherheitsleute, können damit beobachten, was Nachbarn, Gäste gerade im Aufzug oder anderswo tun und treiben.
Lateinamerikas Betuchten geht es materiell prächtig. Die Zahl der brasilianischen Millionäre wuchs seit 1997 um die Hälfte, 2001 gar um zwölf Prozent – im Rest der Welt nur um drei. Brasiliens Vermögende bedankten sich beim sozialdemokratischen Staatschef und FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso – seine neoliberale Politik war für sie in dessen zweiter, bis Ende 2002 reichender Amtszeit besonders segensreich, förderte die Einkommenskonzentration enorm. Unter Lula ging es so weiter – gleich im ersten Amtsjahr schlitterte Brasilien zwar in die Rezession, verzeichnete Rekordarbeitslosigkeit, starken Reallohnverlust, doch immerhin fünftausend Betuchte wurden interessanterweise (Dollar-)Millionäre, erhöhten deren Zahl im Lande auf etwa neunzigtausend. Inzwischen sind es über hunderttausend. Unter den ersten zehn Milliardären des Erdballs sind auch zwei Brasilianer, leben wie die meisten Reichen in Sao Paulo, haben allerdings wie die anderen Begüterten an den traditionellen Elitedistrikten nicht mehr viel Freude. Entführungen gleich in Serie schlagen aufs Gemüt; auch fast alle ausländischen Manager, darunter die deutschen, fahren nur in gepanzerten Limousinen. Und nur in Indien gibt es mehr Arbeitslose als in Brasilien, Misere und Kriminalität nehmen unaufhörlich zu; pro Jahr werden selbst nach den geschönten offiziellen Daten in der immerhin vierzehnten Wirtschaftsnation über vierzigtausend Menschen ermordet. Da auch unter dem neuen sozialdemokratischen Staatschef Lula Slumwachstum und Arbeitslosigkeit bisherige Rekorde brechen, dauert die Flucht in die Condominios weiter an, freuen sich Baufirmen und Architektenbüros über ein regelrechtes „Boom-Fieber“.
Aber nehmen wir den Jugendlichen Alvaro, aus guter Anwaltsfamilie, der in Rio de Janeiros Strandviertel Barra da Tijuca realitätsfremd fast ständig hinter Gittern lebt – in einem weitläufigen Bilderbuch-Kondominium der Mittel-und Oberschicht mit allem Drum und Dran. Swimmingpools, Spiel-und Tennisplätze, Golfwiesen und etwas Park, ferner eine Bäckerei, eine Apotheke, ein Fitneß-Center und vor allem Sicherheit im Übermaß. Denn der ganze Condomínio ist von hohen Gitterstäben umgeben und wird von einer bewaffneten Spezialgarde überwacht – ein Berufsstand, dreimal so kopfstark wie die brasilianischen Streitkräfte. Auch Alvaros Familie hat natürlich mehrere Hausangestellte – am stabilen Portal mit den TV-Kameras werden sie wie andere Ortsfremde gefilzt, die Gutbetuchten lassen sich ihre Sicherheit jährlich nicht weniger als 28 Milliarden Dollar kosten.
Das Kontroll-Ritual an der Einfahrt erinnert an das von Militär-oder Geheimdienst-Objekten: Will ein Wagen hinein, wird er zunächst mißtrauisch beäugt, passiert dann die erste übermannshohe Sperre, die sich hinter ihm sofort wieder schließt. Doch die zweite Sperre wird erst nach eingehender Kontrolle des Wagens und seiner Insassen geöffnet.
Ein Fahrer bringt den jungen Alvaro morgens zur Privatschule, nachmittags zurück. Für ihn besteht kaum noch die Notwendigkeit, den Condomínio, gelegentlich „goldener Käfig“ genannt, zu verlassen, andere Viertel oder gar den nahen Atlantikstrand zu frequentieren. In Barra da Tijuca, einer Miami-Kopie für Neureiche und Aufsteiger, zählt Alvaro zu jenen Kids, die von Rest-Rio weit weniger kennen als der oberflächlichste Copacabana-Tourist. Das berühmte Opernhaus, Klöster und Kirchen der Altstadt haben sie bestenfalls auf Prospektfotos gesehen. Besorgte bildungsbeflissene Eltern organisieren deshalb regelmäßig Bustouren, die den Sightseeing-Trips für Ausländer aufs Haar gleichen – auch Alvaro mußte einmal mit. Sein bester Freund Patrick wohnt im selben Condominio, der Vater, ein Unternehmer, bedauert:“Mit meinen Geschwistern habe ich früher noch vor dem Elternhaus auf der Straße Fußball gespielt, sind wir mit dem Rad einfach so rumgefahren – für meine Kinder wäre das alles heute dort völlig unmöglich, wegen der Kidnapper und Straßenräuber viel zu gefährlich. Nur hier, im Condominio, brauche ich mir um sie keinerlei Sorgen zu machen.“
Schon absurd – in Barra da Tijuca werden die neuesten Wohnanlagen mit immer größeren Freizeitparks, Pools, Spaßbädern bestückt – als läge einer der schönsten, saubersten Strände der Welt nicht wenige Fußminuten entfernt. „Das ist der neueste Trend beim Condominio-Bau“, erläutert ein Chefarchitekt, „keineswegs zusätzlicher Luxus, sondern eine Notwendigkeit.” Denn die Zehn-Millionen-Stadt Rio sei nun einmal nicht sicher. Für Sao Paulo und die anderen Millionenstädte gilt das gleiche – und solange die Prominentenghettos noch nicht über Privatschulen verfügen, wird für Alvaros Altersgenossen an den College-Toren täglich ein Sicherheits-Zirkus veranstaltet, der Mitteleuropäern den Mund offenstehen läßt: Damit nach Schulschluß alle Privilegiertenkids wohlbehütet wieder zu ihren Condominios und Villen gelangen, wird beispielsweise am „Colègio Dante Alighieri“ Sao Paulos das halbe Viertel durch Militärpolizisten und Body-Guards abgeriegelt, sperrt die Verkehrspolizei sogar Straßen ab, damit die Panzerlimousinen zügig davonbrausen können. Auch diese Kids sagen stets, die Stadt nur wenig zu kennen.
Hat diese sogenannte Condominio-Generation ein bestimmtes Profil? Soziologen, Anthropologen haben sich der Frage bereits ausführlich gewidmet, Fallstudien angefertigt. Denn so nobel, kultiviert, geordnet, zvilisiert, wie manche denken, geht es in den Elite-Enklaven keineswegs zu – vieles erinnert vielmehr an Gepflogenheiten aus der Kolonialzeit. In einem Luxus-Condominio bei Sao Paulo bespielsweise wurden sogar schon Elf-und Zwölfjährige beim Haschischrauchen angetroffen, den Eltern offenbar egal. Gar nicht wenige erlauben zudem ihren Kindern, im Condominio mit dem schweren Wagen der Familie heraumzubrausen, dort sogar Rennen zu veranstalten. Natürlich versuchten die Wachleute einzugreifen, das Treiben unter Hinweis auf die Condominio-Ordnung zu beenden. Doch da griffen sofort die betuchten Eltern ein, verteidigten ihre Kids, verbaten sich solche Verbote. Und die schlechtbezahlten Wachleute ignorierten künftig alles, aus Angst, die Stelle zu verlieren. Gewöhnlich haben weder Militär-noch Zivilpolizei Zutritt zu den Condominios. Als ein besorgter Vater den ausufernden Konsum auch harter Drogen beenden wollte, deshalb eine Gruppe von Polizeibeamten hineinließ, wurde er von einer Elternkommission beinahe gelyncht: „Im Condominio bestimmen nur wir.“ Sogar Diebstähle werden in Brasiliens Reichenghettos vertuscht. Auch andere Straftaten, die außerhalb der Condominio-Mauern natürlich ein Fall für Justiz und Polizei wären, werden vergeben. Deshalb betont die angesehene Psychoanalytikerin Maria Rita Kehl, daß die schlimmsten Beispiele von Verantwortungslosigkeit und fehlender Bildung stets die nationale Elite liefere, seit jeher daran gewöhnt, mit einer Serie illegaler Praktiken verschiedenster Schwere zu leben. „Väter bieten dem Verkehrspolizisten ein Bestechungsgeld an, damit er von einer Bestrafung läßt, fordern in der Privatschule die Entlassung jenes Lehrers, der aus objektiven Gründen den Sohn nicht versetzte.“ Den Kindern werde von klein an gezeigt, daß sich mit Geld aber wirklich alles kaufen, erkaufen lasse. Und daß selbst aus Luxuskarossen immer wieder Flaschen, Büchsen anderer Müll auf die Straße geworfen werden, beobachtet jeder einmal in Brasilien – dieser Teil der Stadt, so Maria Rita Kehl, sei schließlich nicht ihrer, sondern jener „der anderen“. Zynismus und illegale Praktiken der Elite korrumpierten, bildeten für das Verbrechen sehr effizient einen beträchtlichen Teil der jungen Generation heran, schlußfolgert die Therapeutin. Elitekids, jene zukünftigen neoliberalen Entscheidungsträger der Mittel-und Oberschicht, werden in repräsentativen Studien als antisozial, superindividualistisch, apolitisch sowie zu Autoritarismus und Gewalt neigend beschrieben. Fast 98 Prozent nennen als allerersten Lebensinhalt einen guten Posten und ein hohes Gehalt, um absolut desinteressiert am Zustand und der Zukunft des Landes ein sorgenfreies Leben führen zu können. Ein Gefühl von Verantwortlichkeit für die soziale Misere, die kraß ungerechte Einkommensverteilung existiere nicht. Auffällig zudem, daß unter diesem Jugend-Segment der Einfluß der nordamerikanischen Kultur am stärksten sei.
Aber ist es wirklich nur das immer wieder herausgestellte Sicherheitsargument, das Betuchte in die Condominio-Ghettos zieht? Die Soziologin Ana Roberts verneint dies nach ausgedehnten Untersuchungen. Am meisten habe sie überrascht, daß es den Bewohnern sehr wesentlich um Status gehe. Wer im Condominio lebe, betone damit vor aller Welt, „ich bin anders“, gehöre zu den Privilegierten. Ebenso werde immer die „bessere Bildung und Erziehung der Kinder“ als Wohnargument betont. Auch da sind laut Ana Roberts große Zweifel angebracht, weil innerhalb des Condominios nur zu oft den Heranwachsenden kaum Grenzen gesetzt würden. Sie nannte den Fall einer Mutter, die ihr Kind zwar seit sage und schreibe drei Tagen überhaupt nicht gesehen habe, dennoch völlig unbesorgt sei – in der Gewißheit, daß es irgendwo im Condominio stecke.
–USA fürchten „Brazilianization“–
Michel Lind, Buchautor, neokonservativer Herausgeber der US-Zeitschrift „The New Republic“, hat diese seit Jahrzehnten existierenden Sozialstrukturen nicht nur in Rio, sondern auch in São Paulo ausgiebig studiert, im Buch „The Next American Nation“ eine ernste Warnung an seine Landsleute gerichtet:“ Wir befinden uns in einem besorgniserregenden Prozeß der Brasilianisierung, hin zu einem tyrannischen System immer ungleicherer sozialer Klassen.“ Für Lind bedeutet Brazilianization, “daß sich die dominierende weiße amerikanische Klasse innerhalb der eigenen Nation noch weiter in eine Art Barrikadennation zurückzieht – in eine Welt abgeschirmter Viertel mit Privatschulen, Privatpolizei, privater Gesundheitsbetreuung und selbst Privatstraßen.“ Nicht anders als eine lateinamerikanische Oligarchie könnten die reichen und mit wohlfeilen Kontakten ausgestatteten Mitglieder der herrschenden Oberschicht prosperieren – draußen das dekadente Amerika mit Ungleichheit und Kriminalitätsraten ähnlich Brasilien, all die Miserablen, Bettler, Straßenkinder. Und ebenso wie in Brasilien sei dann die Mehrheit der Schwarzen und Mischlinge in der Unterschicht anzutreffen – und zwar für immer.
Schon 1996 urteilte Victor Bulmer-Thomas, Direktor des Zentrums für lateinamerikanische Studien an der Londoner Universität:“Ebenso wie die alte französische Aristokratie, fühlen sich die Eliten Lateinamerikas nur dann erst richtig reich, wenn sie von Armen umgeben sind.“ Cristovam Buarque, Brasiliens neuer Bildungsminister, geht sogar soweit, die Eliteangehörigen nicht zu den Staatsbürgern zu zählen:“Die Ungleichheit zwischen Reichen und Armen, ob in Einkommen, Bildung, Wohnniveau, Transport, Freizeitverhalten, Ernährung und Umgangsformen, ist so gewaltig, daß die Elite im Grunde nicht mit am gleichen Tisch sitzt, nicht über die gleichen Themen spricht, nicht jenes Gefühl hat, zum selben Volk zu gehören…Im Brasilien des 21. Jahrhunderts sieht sich die Elite so entfernt vom Volke wie im 19.Jahrhundert.“
Kirchliche Soziologen wie Eva Turin aus Sao Paulo machen bei den vielen betuchten Deutschen der Megametropole ähnliche Haltungen aus:“Sie benehmen sich wie die Elite der Elite, noch über den reichsten Brasilianern, mischen sich nicht mit uns, solidarisieren sich nicht.“
–„Sklavenhaltermentalität“—
Brasiliens katholische Kirche hat die Abschottungs-und Ausgrenzungspolitik der Geld-und Politikerelite stets hart kritisiert – deutliche Worte kamen vor allem von dem deutschstämmigen Kardinal Aloisio Lorscheider und natürlich Kardinal Evaristo Arns in Sao Paulo, der die „Sklavenhaltermentalität“ immer noch tief verwurzelt sieht. Schwarze, Mulatten sind in Brasilien die typischen Slumbewohner und werden mittels eines verdeckten Systems der Apartheid am sozialen Aufstieg gehindert. Der zu PR-Zwecken noch von jeder brasilianischen Regierung um die Welt geschickte Multimillionär, Ex-Fußballspieler und Ex-Sportminister Pelè ist jene Ausnahme, die die Regel bestätigt. Die Brasilianisierungsdebatte wurde auch durch Roberto da Matta, einen der bekanntesten, derzeit in den USA lehrenden brasilianischen Anthropologen bereichert. Michel Lind habe die Dinge korrekt charakterisiert, die hierarchische Gesellschaftsstruktur genau beschrieben:“Die Elite hat immer Paris, London und New York viel mehr geliebt; im Grunde genommen heißt, zur Brasiliens Elite zu gehören, Ausländer im eigenen Land zu sein.“ Als schwerwiegendes Problem sieht Da Matta, daß die Oberschicht Brasilien nicht mag, „und was man nicht gern hat, kann man nicht kultivieren, pflegen.“
Seine Kollegin Teresa Caldeira hat über Condominios fechados sogar ein vielbeachtetetes Buch, „Stadt der Mauern“, geschrieben. Sie nennt es verhängnisvoll, daß sich die Elite einmauere, aus dem öffentlichen Raum der Städte zurückziehe, anstatt diesen zu verbessern.“Die Begüterten bewegen sich in gepanzerten Limousinen oder Helikoptern, mit Leibwächtern fort, kaufen in gutbewachten Shopping Centers ein, arbeiten in abgeschirmten Bürokomplexen, wohnen in den Condominios fechados.“
Der Vorgänger von Staatschef Luis Inacio Lula da Silva, der heutige UNO-Berater und FU-Berlin-Ehrendoktor Fernando Henrique Cardoso, war gerne in den Condominios, mied die Slums, verdrängte die dortigen Zustände, den Banditenterror. Für Marcelo Rubens Paiva, Kolumnist der auflagenstärksten Qualitätszeitung „Folha de Sao Paulo“, und Bestseller-Autor, ein besonders kurioser Sachverhalt: Der neoliberale Interessenvertreter der Oligarchien, Eliten war in den 50ern eingeschriebenes KP-Mitglied, ist gleichzeitig Großgrundbesitzer und Soziologe, der sich immer noch gelegentlich rühmt, einst als Dozent in Frankreich auch Daniel Cohn-Bendit unterrichtet zu haben. Für Paiva führte Cardoso eine Mitte-Rechts-Regierung aus Intellektuellen und Akademikern – auf dem Throne sitzend, schauten sie auf Brasilien aus der Distanz, seien der Ersten Welt indessen nahe.“ Bedenklich, daß Cardoso-Nachfolger Lula bislang einen sehr ähnlichen neoliberalen Kurs verfolgt, sich zum Vize den Milliardär und Großunternehmer Josè Alencar erwählte, der zu einer rechten Sektenpartei gehört. Vanilda Paiva, Schriftstellerin und Soziologie-Doktorin der Uni Frankfurt, schlußfolgert nicht zufällig, daß sich in der neoliberalen brasilianischen Gesellschaft heute „Ultraarchaisches mit Ultramodernem mischt.“
Unterdessen haben Sozialforscher und Demographen nachgezählt – über vier Millionen Nordamerikaner wohnen bereits in Condominios fechados a la Rio de Janeiro und Sao Paulo. In den USA werden die größten Fortschritte aus Kalifornien gemeldet – Braszilianization-Experte Dale Maharidge zeichnet es im neuen Buch „The Coming White Minority“ ausführlich nach: Weiße konzentrieren sich zunehmend in städtischen „Inseln“ – eingekreist von Minoritäten in regelrechten Enklaven und Ethno-Ghettos. Stabile Gitterstäbe vor sämtlichen Fenstern parterre und im ersten Stock – auch das wird in vielen nordamerikanischen Städten zunehmend normaler. Condominios fechados trifft man zunehmend häufiger in Johannesburg und Lagos, doch auch in anderen afrikanischen Millionenstädten schreitet diese Art der Ghettoisierung munter fort.
Bereits von deutschen Autoritäten erreichte Erfolge der Gewalt-und Kriminalitätsförderung:
Ausriß 2015. “So beherrschen Berliner Araber-Clans die Unterwelt”. Offenbar Stolz der Autoritäten von Regierung und Stadt auf bereits Erreichtes bei soziokultureller Transformation der deutschen Hauptstadt.