http://das-blaettchen.de/2008/02/karneval-in-leipzig-und-rio-6222.html
Copacabana, 2012.
Zu den symbolträchtigen Phasen, Szenen des Rio-Karnevals 2012 zählte diese: In den Mittel-und Oberschichtshäusern des Viertels Santa Teresa direkt über dem Sambodromo hockten die Leute bei dicht geschlossenen Fenstern und Türen vor dem Fernseher, um die Parade zu verfolgen, deren Klänge früher in angenehmer Lautstärke bis hinauf in die Wohnungen drangen. Indessen – in den Hangslums direkt unter den Häusern, im Bereich vor dem Sambodromo, wurden während der Parade illegal die berüchtigten, barbarisch Hardrock-lauten Bailes Fank mit Primitivrhythmen, Primitiv-Texten unter freiem Himmel veranstaltet, sodaß von den Samba-Enredos nichts mehr zu hören war. Eines der etwa eine halbe Stunde ununterbrochen in die Hügellandschaft der Hütten und Katen überm Sambodromo gehämmerten, brutalmachistischen Baile-Funk-Stücke ging so: „Ich will f…, ich will f…, ich will f… – los, umdrehen, hinknien, ich will von hinten!“ Oder auf eine Frau gemünzt:“Sie will f…, sie will f…, sie will f… – nimm sie von hinten!“
In den meisten Slums von Rio de Janeiro hat Baile Funk längst der typisch brasilianischen Musik-und Karnevalskultur den Garaus gemacht, Hinweis auf die heute dominierende soziokulturelle Sensibilität. Gewalttätige Bailes Funk, so die Lokalmedien Rio de Janeiros, wurden auch im angeblich befriedeten Complexo do Alemao von Banditenkommandos des organisierten Verbrechens veranstaltet.
Auffällig, daß viele der „blocos“ des Rio-Karneval keinerlei oder kaum noch Samba spielen – stattdessen Pop, Rock, Rap, Tecno, Rio-Funk – wie auf Festen außerhalb des Karnevals. Brasiliens populäre Musikkultur entbrasilianisiert sich immer mehr in den letzten Jahren – selbst auf traditionellen Tanzbällen sind brasilianische Rhythmen immer weniger zu hören – stattdessen zumeist anglo-amerikanische Popmusik wie beispielsweise in Europa.
Brasilianerinnen über den Karneval in Rio de Janeiro 2012: „Der Karneval ist nicht mehr sexy, Sex spielt im Karneval von Rio immer weniger eine Rolle.“
Von der noch in den siebziger und achtziger Jahren typischen Frivolität und Freizügigkeit des Rio-Karnevals ist kaum etwas übriggeblieben – Tugendwächter könnten gerade 2012 sehr beruhigt sein. Die in den deutschsprachigen Ländern verbreiteten Fotos von halbnackten Frauen der kommerziellen Karnevalsparade verleiten Uninformierte zu dem falschen Eindruck, man sehe auch Nackte zuhauf überall in Rio de Janeiro. Die Massen drängen sich indessen auffällig sittsam auf Straßen und Avenidas – Karneval in Rio besteht heute zuallererst aus Rumlaufen, Rumstehen und Büchsenbiertrinken – spontane Ausbrüche von origineller Lustigkeit sind eher selten. Wer noch die zahllosen ekstatisch-aufreizenden Karnevalsbälle früherer Jahrzehnte kennt, macht heute eine überraschende Entdeckung: Erstmals gibt es in traditionsreichen großen Klubs von Rio de Janeiro „Bailes“ mit bestenfalls einhundert, zweihundert Besuchern – statt früher weit über tausend. Auf der Tanzfläche machen die Rest-Karnevalisten das beste aus der Situation, haben zum Austanzen vor nach wie vor sehr guten Kapellen soviel Platz wie nie – die Szenerie erinnert an einen Haufen ausgelassener, unschuldiger Kindergartenkinder – keine Spur gar von Frivolität oder Flirt.
Sich einigen Lustgewinn beim Rio-Karneval zu verschaffen, ist heute mit Arbeit, Anstrengung verbunden – sofern man nicht zu den Ausländer-Deppen gehört, die sich mit dem üblichen banalen Touristen-Standardprogramm zufriedengeben, bei dem man wenig sieht, wenig erlebt.
Auch der Karneval von Rio de Janeiro, mit absurd überteuerten Preisen, war 2012 von sehr viel Gewalt geprägt – die Polizei der Stadt schien sich im Streik zu befinden, nie zuvor waren sowenige Beamte zum Schutz des Festes im Einsatz zu sehen. Entsprechend aggressiv waren die Aktionen der zahllosen, teils sogar mit Revolvern bewaffneten Straßenräuber, sogar in unmittelbarer Nähe von Polizisten – täglich wurde man zwangsläufig Zeuge von Überfällen, die nicht selten uninformierte Ausländer trafen. Rios Polizei hatte die Lage entgegen den Versprechen keineswegs im Griff – in den Leserbriefspalten der Zeitungen hagelte es entsprechende Kritik vieler Betroffener. Nicht ungewöhnlich, das Aufschnappen von Klappmessern kurz vorm Überfall etwa in den Straßen und Gassen von Santa Teresa zu sehen und zu hören. Eine Schießerei zwischen Banditen und einem Spezialkommando der Polizei in dem Hangslum Sao Carlos war sogar während der Karnevalsparade im Sambodrome zu hören. Daß die Polizei angesichts der Zehntausenden von Menschen ganz in der Nähe die Schießerei nicht zu verhindern wußte, Ungezählte von verirrten Kugeln hätten getroffen, getötet werden können, spricht Bände. Im Straßenkarneval erschoß ein Mann eine Frau, die sich nicht küssen lassen wollte und konnte unerkannt fliehen. Offenbar gab es auch Blitz-Entführungen von Ausländern. Viele Bewohner Rio de Janeiros scheinen geborene Super-Verdränger zu sein – tun alle derartigen Vorfälle, Verbrechen als „casos isolados“, Einzelfälle ab.
Tags: Landlosen-Karneval, Landlosenbewegung MST, Unidos da lona preta
http://www.hart-brasilientexte.de/2012/02/11/karnevalisten-in-sao-paulo-2012-gesichter-brasiliens/
Statt geplantem Straßenumzug Tanzen im Regen, teils unter Baum und Vordach.
Eine barfüßige obdachlose alte Frau mischt sich in die Menge.
Singender Obdachloser in Sao Paulo.
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« Brasiliens Atompolitik: Außenminister Westerwelle erhielt Protestnote von brasilianischen Atomkraftgegnern wegen der deutschen Unterstützung für das Atomkraftwerksprogramm Brasilias überreicht. – Karneval in Rio 2012 – Sambaschule Unidos da Tijuca gewann den Parade-Wettbewerb im Sambodromo laut „Einschätzung“ der sogenannten, jedes Jahr arg umstrittenen „Jury“, gefolgt von Salgueiro, Vila Isabel und Beija-Flor. »
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