“Da sein, wo gelitten wird”: http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/religionen/1624771/
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Rio de Janeiros Erzbischof Orani Joao Tempesta war während einer Fahrt durch eine von paramilitärischen Milizen beherrschte Favela des Strand-Stadtteils Barra da Tijuca bereits einmal darauf angewiesen, daß die Milizen ihre Waffen senkten und ihn passieren ließen.
Auf dem UNO-Index für menschliche Entwicklung besetzt Brasilien lediglich den 84. Platz.
Aktivisten der katholischen Basisgemeinde von Cachoeirinha, Sao Paulo. „Die Mafia der Drogengangster ist hier sehr stark, die beobachten alles und jeden hier, das ist furchtbar. Wer jemanden aus dem Drogenmilieu, aus der Sucht rausholen will – also jemanden, der für deren Profit sorgt, da werden die böse, da wird man gnadenlos verfolgt. Die Polizei kommt und geht wieder – aber die Banditenkommandos bleiben, terrorisieren, zwingen den Bewohnern das Gesetz des Schweigens auf. Wer sich nicht unterwirft, weiß, was ihn erwartet. 2014 ist die Fußball-WM, da will man Brasilien als Land der Ersten Welt erscheinen lassen – aber hier an der Peripherie ist es nach wie vor triste. Die meist kinderreichen Familien haben monatlich nur so um die 200, 220 Real maximal. Doch im Ausland wird verbreitet, alles toll, alles gut in Brasilien. Wir merken, es ist schwierig, Menschen von außerhalb für diese Situation zu sensibilisieren, die das hier nicht kennen, es sich nicht vorstellen können. Wir haben unsere christlichen Kriterien, und wir haben Ausdauer – das macht den Unterschied. Denn entweder ist man Christ – oder ist mans nicht, halbe-halbe geht nicht.”
Hintergrund:
Banditendiktatur über Brasiliens Slumbewohner nützt Regierung und Eliten, verhindert Kampf für Menschenrechte
Historiker bestätigt Kirchenposition
Unten, an den Stränden der schicken Viertel Ipanema und Copacabana, tummeln sich die ausländischen Touristen, wohnen in feinen Hotels – oben an den Steilhängen kleben die Elendsviertel, Favelas der Zuckerhutmetropole, hausen über anderthalb Millionen Menschen dichtgedrängt wie Ameisen. Viele Besucher fragen sich angesichts extremer Sozialkontraste, warum die Favelados eigentlich nicht von den Hügeln in die Mittel-und Oberschichtsviertel heruntersteigen, protestieren und rebellieren, ihre Menschenrechte einfordern. Schließlich ist Brasilien die dreizehnte Wirtschaftsnation der Erde, dazu größte Demokratie Lateinamerikas. Etwa fünfzig Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze, die hohen Einkommen mehr als das dreißigfache über den niedrigen. „Warum gibt es einfach keine soziale Explosion?“, fragt auch der angesehene Historiker Josè Murilo de Carvalho, „warum organisieren sich die Massen der Slums nicht nach dem Vorbild der Landlosenbewegung?“ Er weist auf die Banditendiktatur über die Slumbewohner, hat eine brisante Erklärung parat:“Die Herrschaft des organisierten Verbrechens blockiert die Politisierung der Favelados, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion. Die hochbewaffneten Gangsterkommandos dienen somit der Aufrechterhaltung politischer Stabilität – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Natürlich würde man das nie eingestehen.“ Professor Carvalho, 65, von der Bundesuniversität in Rio de Janeiro, wirft auch der Regierung von Staatschef Luis Inacio da Silva, dem ehemaligen Gewerkschaftsführer, vor, am grauenhaften Status Quo der Favelas nichts ändern zu wollen. „Zum strategischen Kalkül Brasilias gehört, daß es wegen der so hilfreichen Verbrechersyndikate keine sozialen Unruhen geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben so viele Gewalttote wie in Bürgerkriegen. Die Slumbewohner besitzen nicht einmal die elementarsten Bürgerrechte, können sich nicht frei bewegen, haben nicht einmal das Recht auf das eigene Leben, von den sozialen Rechten ganz zu schweigen.“ Historiker Carvalho erregte mit seiner Analyse jetzt auf einer nationalen Wissenschaftlertagung großes Aufsehen.
Doch auch Rios deutschstämmiger Kardinal und Erzbischof Eusebio Scheid prangert seit Jahren den Banditenterror gegen die Favelados, die Ausgangssperren, das neofeudale Normendiktat an, die Verantwortung der Eliten. „Wenn in der Favela einer den Mund aufmacht“ so Scheid, „werden ihm von den Gangstern die Ohren abgeschnitten, wird er völlig verstümmelt. Die Verbrechersyndikate sind eine Parallelmacht, ein Staat im Staate, gestützt auf die Feuerkraft ihres großen Waffenarsenals.“ Zu den drakonischen Strafen gehört auch Handabhacken, lebendig Verbrennen. Viele Slumpfarrer und selbst der Dominikaner Frei Betto, heute Staatschef Lulas Sonderberater für Hungerfragen, argumentieren genauso. „Die Deutschen haben offenbar keine Vorstellung von der gravierenden Situation hier.“
Die von den deutschen Kirchen stark unterstützte Landlosenbewegung MST, so Historiker Carvalho, vertritt zwar nur die Minderheit der Brasilianer des Hinterlands, ist aber politisch sehr erfolgreich, hervorragend organisiert und effizient, zwingt die Regierung, den Boden gerechter zu verteilen. Doch über achtzig Prozent der mehr als 175 Millionen Brasilianer, das Gros der sozial Ausgeschlossenen, leben in großen Städten. Dort, so der Historiker, hätte eine Bewegung der Slumbewohner, der Arbeitslosen, die beispielsweise leerstehende Gebäude und Wohnungen besetzen, natürlich ganz andere Wirkungen. „Nicht zufällig sind in den Großstädten enorme Truppenkontingente konzentriert, falls die Lage doch einmal außer Kontrolle gerät. Jetzt organisiert der MST wieder viele Bodenbesetzungen – derartige Aktionen in den Städten, mit Millionen von Favelados, wären ein Schlag gegen die Stabilität des Systems. Man müßte Truppen einsetzen, um die Ruhe wiederherzustellen.“ Für Kardinal Scheid und Historiker Carvalho ist keine Lösung der Favelaprobleme in Sicht. Mit ironischem Galgenhumor fragt der Wissenschaftler:“Warum wohl werden aber weder Brasiliens Grenzen noch die Drogenmafia in der Bucht von Rio streng überwacht, greifen die Streitkräfte nicht ein, um den Gangstersyndikaten das Rückgrat zu brechen?“
Banditen-Okay für Brasiliens Kulturminister Gilberto Gil
„In Deutschland würde deshalb die Regierung gestürzt“
Völlig ohne Begleitschutz, nicht einmal Body-Guards, fahren Kulturminister Gilberto Gil und Arbeitsminister Ricardo Berzoini scheinbar tollkühn und todesmutig mit der schwarzen Regierungslimousine in Rios riesigen Slum „Complexo da Marè“ ein. Denn der wird von berüchtigten, mit Mpis und Granaten bewaffneten Banditenmilizen beherrscht, die beide Minister rasch in ihre Gewalt bringen könnten. Doch die Gangsterkommandos lassen den ganzen Troß völlig in Ruhe – Gil und Berzoini belustigen sich bei Breakdance und Rap, stellen Qualifizierungsprogramme für Jugendliche vor. Laut Landespresse hatte man zuvor die lokalen Verbrecherbosse um eine Besuchserlaubnis gebeten und diese auch bekommen. Zum Banditen-Okay gehörte natürlich, auf Polizeischutz zu verzichten. „Ein Skandal erster Ordnung“, erregt sich Anfang Januar Paulo Sergio Pinheiro, Experte für Gewaltfragen an der Universität von Sao Paulo. „Geschähe derartiges in Deutschland, Frankreich oder Großbritannien, würde das im Parlament heiß debattiert, würde die Regierung gestürzt!“ Doch in Brasilien passiere gar nichts, als wären Ministervisiten mit Banditenerlaubnis das Normalste von der Welt. Für Pinheiro und zahlreiche andere Sozialwissenschaftler wurde damit die neofeudale Diktatur der Banditenmilizen über ihren Parallelstaat der Armenviertel sozusagen offiziell anerkannt. „Die Gangsterkommandos verbreiten in ihrem Territorium des Terrors Angst, foltern und morden, beherrschen das gesamte Leben der Slumbewohner – alles toleriert vom Staat, von den Autoritäten.“ Durch Gil und Berzoini sei bestätigt worden, daß der brasilianische Staat große Teile seines Territoriums nicht mehr kontrolliere. Im „Complexo da Marè“, unweit des internationalen Flughafens, hausen immerhin mehr als 135000 Menschen. Vor der Ministervisite sagten Bewohner:“Wir sind Geiseln der Banditen, die im Gassenlabyrinth mit ihren chromblitzenden Maschinenpistolen patrouillieren, sich fast jede Nacht Gefechte mit rivalisierenden Kommandos liefern. Es ist die Hölle!“ Viele Hütten und Katen haben Einschüsse, immer wieder werden Unbeteiligte, sogar Kinder, durch verirrte Kugeln getötet.
Rio de Janeiros deutschstämmiger Kardinal und Erzbischof Eusebio Scheid, die gesamte Bischofskonferenz prangern ebenso wie die nationale Slum-Seelsorge seit Jahren die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in den Elendsvierteln Brasiliens an, fordern energische Maßnahmen. Wenn Staatsminister mit Verbrechersyndikaten verhandeln, diese als Parallelmacht akzeptieren und legitimieren, gilt dies auch für Menschenrechtler als bedrückendes Signal an die Slumbewohner, daß man sie im Stich läßt, der Banditenwillkür ausliefert. „Ein Eingeständnis der Schwäche, der Niederlage durch die Regierung, ein schwerwiegender politischer Fehler – doch kein Einzelfall“, betont Historiker Josè Murilo de Carvalho, Mitglied der nationalen Dichterakademie. „Die lokalen und regionalen Autoritäten schließen mit den Gangsterbossen häufig Abkommen – das zeigt die Probleme unserer Demokratie, ich bin tief pessimistisch, sehe keinerlei Lösung.“
Heiligabend und zum Jahreswechsel feuerten die Banditenmilizen der über sechshundert Rio-Slums wie üblich aus zehntausenden Maschinenpistolen stundenlang Salut zur Machtdemonstration. Kulturminister Gilberto Gil konnte es von seinem luxuriösen Strandappartement aus hören. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist er auch als Star der Weltmusik sehr bekannt – singt in einem seiner größten Hits:“In den Hütten der Stadt hat niemand mehr Illusionen über die Macht der Autoritäten, Maßnahmen zu ergreifen, sich den Haien entgegenzustellen – so viele stupide, scheinheilige Leute…“ Nach Minister Gils Slumvisite wirkt der Text auf manche wie böse Ironie.
Des Kulturministers Tochter, die bekannte Schauspielerin und Sängerin Preta Gil, spricht indessen anders als der Vater die Zustände offen an:“Die Polizei ist korrumpiert, die Regierung ist korrumpiert, nicht nur die Slums werden von der gutorganisierten Drogenmafia beherrscht. Alle sind doch verwickelt! Das ändert sich nie mehr, ist zu tief verwurzelt.“
Im mitteleuropäischen Mainstream wird auffälligerweise beim Thema Brasilien die gravierende Menschenrechtslage – ob alltägliche Folter, Todesschwadronen, Scheiterhaufen, Slum-Diktatur, Verfolgung von Menschenrechtsaktivisten, Morde an Systemkritikern oder Sklavenarbeit, durchweg u.a. von der Kirche und Amnesty International mit Fakten belegt – fast ausnahmslos gezielt ausgeklammert – was Bände spricht, zahlreiche interessante Rückschlüsse zuläßt.
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
« Internationaler Frauentag 2012 – Sklavennachfahrin, Hausbesetzerinnen, Slumbewohnerinnen Brasiliens. Mit wieviel Geld brasilianische Slum-Frauen überleben – Hintergrund. – „Brasilien steht für rasantes Wachstum – Hannover feiert Brasilien.“ Financial Times Deutschland. In Brasilien scharfe Kritik an schwachem Wirtschaftswachstum unter Weltdurchschnitt. „Wachstum der Industrie 2011 war ein Desaster.“ FIESP-Präsident Paulo Skaf. Brasilien und die unterschiedlichen Sichtweisen: „Boom, Wirtschaftswunder“. »
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