http://www.adital.com.br/site/noticia.asp?boletim=1&lang=PT&cod=75526
Deutsche katholische ADVENIAT: Die organisierte Kriminalität ist in Brasilien zu einem „Staat“ im Staate geworden und hat in den Peripheriegebieten zahlreicher Städte die De-facto-Herrschaft übernommen. Daran ändern auch punktuelle Aktionen von Polizei und Militär nichts, die angesichts der bevorstehenden Fußballweltmeisterschaften und der Olympischen Spiele eher wie der Versuch einer Imagepflege wirken.
tags: monsenhor luiz antonio pereira lopes, pastoral das favelas
Monsenhor Lopes beim Website-Interview 2012.
Laut Monsenhor Lopes dauert der Terror der Banditenkommandos gegen die Favelabewohner weiter an.
Die Slums von Rio de Janeiro vor Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen
In der Millionenstadt Rio de Janeiro hat ein weiteres Blutbad, bei dem mindestens acht junge Menschen ermordet wurden, jüngste Analysen der Kirche über gravierende Menschenrechtsverletzungen in den über eintausend Elends-und Armenvierteln bestätigt. Die Slum-Seelsorge wirft den Regierenden Brasiliens vor, viele Milliarden für die Vorbereitung von Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen auszugeben, statt für die Lösung dringlichster sozialer Probleme.
„Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung leben. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben“, sagt Priester Luis Antonio Lopes, der die Slum-Seelsorge der Erzdiözese von Rio leitet und zudem Gemeindepfarrer in einer Peripherie-Region ist. „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten der Polizei gibt, also in den allermeisten Favelas. Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“
http://www.welt-sichten.org/artikel/221/der-hoelle-hinter-gittern
Anfang September 2012 verübte ein Banditenkommando just im Seelsorgebereich von Padre Lopes ein Blutbad an mindestens acht jungen Menschen, deren Leichen mit grauenhaften Folterspuren an der Stadtautobahn gefunden wurden. Entsprechend empört ist die brasilianische Öffentlichkeit, zumal die meisten dieser Blutbäder den Medien garnicht bekannt werden. Denn in die Parallelstaaten der Slums, wie es Soziologen nennen, wagt sich kaum jemand hinein, der dort nicht gezwungenermaßen hausen muß. Padre Lopes von der Slum-Seelsorge macht folgende Rechnung auf:
“Alle mehr als eintausend Favelas von Rio de Janeiro haben gravierende Gewaltprobleme – der Staat müßte dort etwa 200000 Sicherheitsbeamte stationieren – tut es aber nicht. Wie die Investitionen für Fußball-WM und Olympische Sommerspiele in Rio zeigen, sind Mittel durchaus vorhanden – aber eben nicht für soziale Zwecke, nicht für menschenwürdige Behausungen. Wie kann man angesichts so vieler drängender Probleme soviel Geld für Sportevents ausgeben, die nur ganz kurze Zeit dauern!“
Ein mehrstündiger Gang durch Slums an der Seite eines Priesters, der von den Banditenkommandos die nötige Zutrittserlaubnis hat, führt zu den Brennpunkten der barbarischen, bedrückenden Situation. Zu den Verhaltensregeln zählt: Nicht fotografieren, keine Mikrophonaufnahmen, weil sonst sofortige Ermordung drohte. So tun, als ob man die überall lauernden bewaffneten Banditen garnicht bemerkt und fast durchweg ein angeregtes Gespräch mit dem Priester über Religiöses führt. Elendskaten, Müll und Gestank, Unmengen von geraubten und zu Schrott gefahrenen Autos, sadistischer Gangsta-Rap in Hardrock-Lautstärke rund um die Uhr.
Eine Mitarbeiterin des Priesters berichtet über zahlreiche willkürliche Morde und Folterungen, teils direkt vor ihrer Katentür. Wer sich von den Slumbewohnern weigert, Raubgut oder Drogen zu transportieren, wird sofort erschossen – wer des Kontakts mit der Polizei verdächtigt wird, ebenfalls. Indessen – oft innerhalb von nur Monaten sind die Killer ebenfalls tot – kamen beispielsweise bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banditenkommandos um. Und schon werden andere die neuen Slum-Herrscher. Für Padre Lopes von der Slum-Seelsorge handelt es sich bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich zu bilden und zu entwickeln. Laut neuesten Studien ist beispielsweise der Handel mit harten Billig-Drogen wie Crack und Kokain landesweit der einfachste Weg für junge Menschen, um an Geld für schicke Markenklamotten und andere attraktive Dinge zu kommen.
“Wir haben jetzt bei der UNO und bei Amnesty International Anzeige erstattet, weil wegen der Fußball-WM gleich drei Stadtautobahnen durch Favelas gezogen werden, Zehntausende von Slumbewohnern ihre Behausung verlieren.“
Brasiliens Menschenrechtsministerin Maria do Rosario räumte wegen des neuesten Blutbads von Rio ein, daß bei den Heranwachsenden des Landes Gewalt die Haupt-Todesursache sei. Die katholische Kirche hatte deshalb bereits vor Jahren eine „Kampagne gegen Gewalt und gegen die Ausrottung von Jugendlichen“ gestartet. Priester Geraldo Nascimento zählt zu den Wortführern, den Organisatoren.
“Wir wollen, daß die ganze Welt sieht, was hier vor sich geht. Der brasilianische Polizeiapparat dient nicht dem Verteidigen der Bevölkerung – alle Arten von Verbrechen existieren weiter, weil die Polizei verwickelt ist.“
Derartige neofeudale Machtstrukturen existieren in den Slums von Rio seit Jahrzehnten – der dokumentarische Spielfilm “Tropa de Elite 2? zeigt auch, wie politisch einflußreich das organisierte Verbrechen ist.
Die Situation u.a. in den Rio-Slums 2012 zeigt anschaulich, daß von ernsthafter Bekämpfung der Drogenmafia keine Rede sein kann – zumal die Wachstumsbranche Crack weiter stark im Aufwind ist. Daher wird viel offizielle Propaganda über Drogenbekämpfung nach Europa durchgeschaltet.
Weil die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slumbewohner von den zuständigen Autoritäten zugelassen wird, stößt auch die Seelsorge der katholische Kirche, deren Sozial-und Politisierungsarbeit auf immense, für durchschnittlich über Brasilien informierte Mitteleuropäer schwerlich vorstellbare Schwierigkeiten.
Die Kirche – von den Gemeindemitgliedern in gemeinsamer Arbeit errichtet.
http://www.ila-web.de/brasilientexte/slumdiktatur.htm
Geistliche, kirchliche Menschenrechtsaktivisten wirken in den Favelas in permanenter Lebensgefahr, erleben tagtäglich bizarre, empörende Situationen. Das in mitteleuropäischen Ländern wie Deutschland u.a. vom neoliberalen Mainstream gezeichnete Bild der katholischen Kirche ist angesichts ihrer Menschenrechtsarbeit daher entsprechend.
http://www.matrizsantarosadelima.com.br/
Lage in Sao Paulo: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/
Tags: Luis Antonio Pereira Silva, Menschenrechte, Rio de Janeiro, Slum-Pastoral
”Die Slumbewohner wurden ihrer Basis-Menschenrechte beraubt – die tatsächlichen Opferzahlen werden verschleiert. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Slums in Rio verdoppelt, liegt jetzt offiziell bei 1043. Ein Drittel der Rio-Bewohner haust in Favelas. Die jüngsten Ereignisse haben das Desaster der Sicherheits-und Menschenrechtspolitik offenbart.
Damit die Favela-Bewohner überleben können, müssen sie sich mit den Banditen gut stellen, eine Politik der guten Nachbarschaft pflegen, wie wir es nennen. Befehle, Regeln müssen unbedingt eingehalten werden. Jene jungen Gangster sind Brasilianer, denen man keinerlei Chance gab, sich persönlich zu entwickeln und zu bilden. Das organisierte Verbrechen bietet indessen Pseudo-Chancen an, alles was ein junger Mensch möchte. Dazu zählt schicke Kleidung, ein tolles Auto – doch der Preis dafür ist eben das eigene Leben. All diese jungen Banditen leben nur kurz, sterben sehr früh. Doch bei solchen Gefechten wie jetzt werden auch viele unbeteiligte, völlig unschuldige Slumbewohner getötet. In den Slums fehlt der Staat, fehlen Institutionen, die den Kindern ethische Prinzipien beibringen. Auch die Kirche müßte dort viel präsenter sein. Denn wer erzieht denn die Jugend dort, wenn deren Eltern abwesend sind, außerhalb des Slums irgendwo Geld verdienen müssen ? Jene, die dort ständig präsent sind – also die Banditen. Sie sind gerissen und wissen gut, mit den Kindern umzugehen, brauchen diese ja künftig als Arbeitskräfte, damit die kriminellen Geschäfte weiterlaufen können. Aus all diesen Gründen hat die Bischofskonferenz ihre diesjährige Brüderlichkeitskampagne der öffentlichen Sicherheit gewidmet. Und die gespannte Lage in Rio de Janeiro beweist, daß die Kirche ein hoch aktuelles Thema aufgriff, das den Menschen auf den Nägeln brennt.”
Mitarbeiter der bischöflichen Slum-Pastoral von Rio de Janeiro
Banditenkommandos von Rio de Janeiro nutzen immer wieder Kirchtürme, sogar die Wallfahrtskirche im Stadtteil Penha als Beobachtungsstützpunkte der Polizeibewegungen.
Tags: Banditendiktatur, Brasilien, José Murilo de Carvalho, Lula, Menschenrechte, organisiertes Verbrechen und hohe Politik, Systemstabilisierung
Brasilianische Sozialwissenschaftler analysieren die bürgerliche Demokratie des Tropenlandes und spezielle Menschenrechtsverletzungen.
Die rasch wachsenden Slums der brasilianischen Millionenstädte sind nach Darstellung von Sozialwissenschaftlern und Sicherheitsexperten regelrechte Parallel-Staaten, No-Go-Areas, in denen hochbewaffnete Banditenkommandos des organisierten Verbrechens neofeudal die Normen bestimmen, die Bevölkerung terrorisieren. Dies habe verheerende Auswirkungen auf die Sozialbeziehungen der Slumbewohner und paralysiere Protestpotential. In den Diktaturjahrzehnten habe das Militär die Ghettos “niedergehalten “ – heute habe das organisierte Verbrechen diese Rolle übernommen. Immer wieder wird daher die Frage gestellt, wem derartige Slumstrukturen am meisten nützen.
Brasiliens wichtigster Befreiungstheologe Frei Betto über die Präsenz hochbewaffneter Banditen in Slums von Sao Paulo:
“Ao percorrer a favela, por becos e vielas, avistei a barreira humana formada pelo pessoal do narcotráfico, que em plena tarde de uma sexta-feira exibia armas.” (2012)
„Die Tyrannei des organisierten Verbrechens verhindert jegliche demokratische Partizipation der Slumbewohner, das Protestpotential der Armenviertel wird von den lokalen Despoten völlig erstickt”, analysiert Luiz Eduardo Soares, einer der renommiertesten brasilianischen Sozialwissenschaftler, der das Bestseller-Buch zum sozialkritischen Berlinale-Film „Tropa de Elite” mitverfaßt hatte, im Website-Exklusivinterview.
„Das Interessante ist: Beim Übergang von der Militärdiktatur zur Demokratie am Anfang der achtziger Jahre wurden in den Slums geradezu massenhaft Verbände, Organisationen, Bürgerrechtsgruppen gebildet, erlebten die Sozialbewegungen einen enormen Aufschwung. Doch dann haben die schwerbewaffneten Verbrecherkommandos dies alles wieder zunichte gemacht. Sie kontrollieren ihre Territorien mit brutaler Gewalt – und in Politik und Wirtschaft kann es durchaus Leute geben, die das begrüßen. Solche Zustände gelten für Rio de Janeiro und alle anderen brasilianischen Städte – überall wird eine Selbstorganisation der Armen und Verelendeten blockiert.”
Die nordöstliche Küstenstadt Fortaleza hat annähernd so viele Einwohner wie Berlin und belegt ebenfalls die These von Sozialwissenschaftler Soares. In den riesigen Slums der Peripherie haben die Bewohner geradezu panische Angst vor Greueltaten, Gewaltexzessen marodierender Banditenkommandos. Allein an den Weihnachtsfeiertagen von 2007 wurden mehr als einhundert Menschen ermordet, waren selbst Heiligabend überall Schüsse zu hören. Die meisten Geschäfte sind sogar tagsüber, während der Öffnungszeiten, mit Stahlgittern verriegelt. Abends und nachts sind die meisten Straßen und Gassen der dichtbesiedelten Peripherie wie ausgestorben, haben sich viele Menschen in ihren Katen hinter Gitterstäben und dem überall frei verkauften NATO-Stacheldraht verbarrikadiert. Gesellschaftliche Apathie, Mißtrauen und Entsolidarisierung sind in diesen No-Go-Areas deutlich zu spüren. ”Das ist eine biblische Plage “ solche Gewalt wird bereits in der Heiligen Schrift beschrieben”, betont Ricardo Mendes, Pastor einer der vielen Sekten in den Slums von Fortaleza. „Hinter dieser Gewalt steckt der Satan – ohne das Evangelium hätten wir hier die pure Barbarei.”
Die Anthropologin Alba Zaluar, eine der führenden Gewalt-Forscherinnen Brasiliens, argumentiert indessen ähnlich wie der Soziologe Soares: ”Die Slum-Assoziationen waren selbst in der Diktaturzeit sozusagen die Seele der Ghettos, hatten eine enorme Bedeutung für das kulturelle, soziale Leben, für den Karneval und selbst für den Fußball. Doch dann intervenierten die Verbrecherorganisationen und haben diese Strukturen zerschlagen. Heute können die Slumbewohner nicht mehr gegen die Verletzung ihrer Bürgerrechte protestieren – denn sie leben in einer brutalen Diktatur. Die Slums sind heute voller psychisch gestörter Menschen – dort herrschen soziales Chaos und Verwahrlosung.”
José Murilo de Carvalho, Mitglied der brasilianischen Dichterakademie und Lehrstuhlinhaber für Geschichte an der Bundesuniversität von Rio de Janeiro, schlußfolgert, daß diese bedrückende Lage indessen systemstabilisierend wirkt. ”Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung von politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Natürlich würden sie das nie eingestehen. Ohne Zweifel gehört zum strategischen Kalkül auch der jetzigen Regierung, daß es wegen der so hilfreichen Gangsterkommandos keine soziale Explosion geben wird – und das ist natürlich reiner Zynismus. Wir haben soviele Gewalttote wie in Bürgerkriegen.” Falls die Lage in den Slums doch einmal außer Kontrolle gerät, setzt der Staat die Armee oder Sondereinheiten der Polizei in Marsch. Nicht zufällig ist der Spielfilm „Tropa de Elite” der erfolgreichste und meistdiskutierte Streifen der letzten Jahre.
Hintergrundtext:
Aasgeier über umkämpftem Leichen-Slum Rio de Janeiro Kirche fordert Menschenrechte für Elendsviertel der Olympia-StadtWeiter heftige Feuergefechte zwischen Banditenkommandos und der Polizei Gefahren für die Olympischen Spiele von 2016?
Über dem Bergslum „Morro dos Macacos“(Affenhügel) unweit der City kreisen derzeit soviele große Aasgeier wie lange nicht. Für Carla Rodrigues, die mitten im Gassenlabyrinth ihre Hütte hat, ein untrügliches Zeichen. Die jüngsten schweren Gefechte zwischen rivalisierenden Banditenkommandos haben viel mehr Tote gefordert als offiziell gemeldet. „Wenn so viele Geier kommen, liegen noch viele Leichen an den Hängen, im Wäldchen, wurden noch nicht entdeckt – es traut sich ja derzeit auch keiner raus.“ Rio de Janeiros Lokalzeitungen haben immer wieder Fotos von Geiern veröffentlicht, die Getötete auffressen. Am Tag, als die hochgerüsteten Gangster über dem „Morro dos Macacos“ den zweiten Polizeihubschrauber vom Himmel holen, zählen Bewohner vor ihren Baracken über zwanzig Leichen. Feuergefechte im Slum, die Geierschwärme anlocken, sind leider keine Seltenheit – und eine zusätzliche Herausforderung für die bischöfliche Favela-Seelsorge der Erzdiözese Rio de Janeiro. “Wegen der Schießereien sind die Bewohner vieler Slums derzeit regelrecht in ihren Hütten eingesperrt, leben in Angst und Panik“, sagt Priester Luis Antonio Pereira Lopes, der die Seelsorgeaktivitäten leitet. „Kindergärten, Schulen bleiben leer, weil sich niemand heraustraut – es sind schon genug Unschuldige, Unbeteiligte von verirrten Kugeln getötet worden!“ Padre Lopes steigt fast täglich in die Hangslums über Rio de Janeiro hinauf, hält dort in den kleinen Gemeindekirchen Gottesdienste ab. Nicht selten werden sie von Schießereien unterbrochen, müssen sich die Gläubigen auf den Boden werfen. „Das alles ist ein Desaster – es gibt keine wirkliche Sicherheits-und Menschenrechtspolitik des Staates, die verfassungsmäßigen Rechte der Slumbewohner werden einfach nicht respektiert. Die Menschen brauchen Arbeit, Bildung, ein funktionierendes Gesundheitswesen – und keine sporadischen Polizeieinsätze, die das Problem nicht lösen.“
Seit Jahrzehnten ist es in Rio immer das Gleiche: Falls Gefechte rivalisierender Gangstersyndikate von den Slums auf die angrenzenden Mittel-und Oberschichtsviertel übergreifen, sogar Stadtautobahnen gesperrt werden müssen, Unterricht für Zehntausende von Schülern ausfällt, stürmen Sondereinheiten der Polizei tagsüber in die Armenviertel und versuchen, die Banditenkommandos zu vertreiben. Die Beamten kommen indessen nur wenige Zeit und bleiben nie nachts. Günstig für die Gangster, die sich in wohltrainierter Guerillataktik kurz zurückziehen und nach dem Abzug der Polizei sofort wieder das Zepter übernehmen. Deshalb prangert Brasiliens Kirche an, daß der Staat auch in den Slums von Millionenstädten wie Rio de Janeiro nicht präsent ist und die Bewohner sich deshalb dem neofeudalen Normendiktat der Verbrechersyndikate unterwerfen müssen. So werden häufig Ausgangssperren verhängt. Wer dagegen verstößt, bezahlt dies mit dem Leben. Zur Abschreckung werden Mißliebige sogar zerstückelt oder auf Scheiterhaufen aus Autoreifen lebendig verbrannt. Im Berlinale-Gewinner von 2008, dem brasilianischen Spielfilm „Tropa de Elite“, wurde erstmals eine Scheiterhaufen-Szene gezeigt, Rio-Zeitungen haben diese mittelalterliche Barbarei häufig abgebildet. Padre Lopes versucht immer wieder, auch Gläubigen aus Europa das schwierige Los der Slumbewohner drastisch-plastisch nachvollziehbar zu machen: “Damit die Leute dort überleben können, müssen sie sich zwangsläufig mit den Banditen gut stellen, sozusagen eine Politik der guten Nachbarschaft pflegen. Befehle, Regeln müssen unbedingt eingehalten werden.“ Für Padre Lopes und seine Mitarbeiter handelt es sich bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich persönlich zu entwickeln und zu bilden. „Das organisierte Verbrechen bietet aber Pseudo-Chancen an – alles, was junge Menschen gerne haben wollen: Schicke Markenklamotten, ein tolles Auto – doch der Preis dafür ist eben das eigene Leben. All diese jungen Banditen leben nur kurz, sterben sehr früh, werden höchstens 25.“ Bei solchen Gefechten wie jetzt werden zudem viele unbeteiligte, völlig unschuldige Slumbewohner getötet.
Die Kirche unterhält in zahlreichen umkämpften Slums Sozialprojekte, darunter sogar Schulen und Kindergärten, Hospitäler und Arztpraxen, muß sich ebenfalls an die Banditenregeln halten. Doch häufig wird den Mitarbeitern sogar für Monate der Zutritt zu den Elendsvierteln verboten, vor allem dann, wenn ein rivalisierendes Gangstersyndikat nach langen Kämpfen die Macht übernahm. Und nicht nur in Rio de Janeiro werden immer wieder Priester getötet. Luis Antonio Pereira Lopes von der Slum-Seelsorge bedrückt, daß in den Favelas die Werte der Gewalt und der Rache dominieren, die Vermittlung christlicher Werte sehr kompliziert ist: „Dort fehlt der Staat, fehlen Institutionen, die den Kindern ethische Prinzipien beibringen. Auch die Kirche müßte dort viel präsenter sein. Denn wer erzieht die Jugend dort, wenn deren Eltern außerhalb des Slums irgendwo Geld verdienen müssen ? Jene, die ständig präsent sind – also die Banditen. Sie sind gerissen und wissen gut, mit den Kindern umzugehen. Diese werden ja künftig als Arbeitskräfte gebraucht, damit die kriminellen Geschäfte weiterlaufen können. Aus all diesen Gründen hat die Bischofskonferenz ihre diesjährige Brüderlichkeitskampagne der öffentlichen Sicherheit gewidmet. Und die gespannte Lage in Rio de Janeiro beweist, daß die Kirche ein hoch aktuelles Thema aufgriff, das den Menschen auf den Nägeln brennt.“
Der Drogenhandel ist nur ein Teilbereich der Banditenaktivitäten – hinzu kommen Bank-und Frachtraub, Auftragsmorde, Geiselnahmen und internationaler Waffenhandel.
Brasilien ist zwar die zehntgrößte Wirtschaftsnation, auf dem neuesten UNO-Index für menschliche Entwicklung aber vom siebzigsten auf den fünfundsiebzigsten Rang zurückgefallen. Denn die sozialen Kontraste sind schärfer geworden, wie das rasche Wachstum der Elendsviertel von Rio de Janeiro zeigt. “In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Slums selbst nach offiziellen Zahlen auf 1043 verdoppelt“, sagt Padre Lopes , „über zwei Millionen Menschen, also ein Drittel der Rio-Bewohner, hausen bereits in solchen Vierteln.“ Unweit der umkämpften Slums, so fällt jedermann auf, sind Kasernen von Luftwaffe, Infanterie und Marine – doch die Soldaten werden nicht gegen die Gangstersyndikate eingesetzt. Denn Teile der Eliten und sogar Politiker profitieren von kriminellen Geschäften, argumentieren brasilianische Sozialwissenschaftler. Nicht wenige Geistliche stimmen zudem mit José Murilo de Carvalho, Historiker und Mitglied der nationaler Dichterakademie, überein, der die Banditen-Diktatur über den Parallelstaat der Slums sogar „systemstabilisierend“ nennt. „Die Existenz des organisierten Verbrechens in den Slums“, so Carvalho, „blockiert die Politisierung der Bewohner, hält sie ruhig, verhindert eine Rebellion, Protestaktionen jeder Art. Das Protestpotential der Armenviertel wird von den lokalen Despoten total erstickt. Die Gangsterkommandos dienen damit der Aufrechterhaltung politischer Stabilität im Lande – und das ist den Autoritäten sehr recht, ist gut für sie. Natürlich würden sie das nie eingestehen.“ In solches Kalkül paßt, daß man sich um die Sicherheit während der Olympischen Spiele von 2016 in Rio keine Sorgen zu machen braucht. „Die offenen Wunden der Stadt werden dann unter einem dicken Make-up versteckt“, betonen Pressekommentatoren. Zudem gibt es, wie durchsickerte, während internationaler Großveranstaltungen stets Stillhalteabkommen mit den Gangstersyndikaten, werden zudem Unmengen von Polizei und Soldaten in der Zuckerhutmetropole eingesetzt.
Das umstrittene Wasserkraftprojekt Belo Monte – Amazonasbischof Erwin Kräutler:
Mit heftiger Kritik an Brasilias Amazonaspolitik hat der 73-Jährige noch nie gespart – doch seine neueste Analyse in Brasiliens Nachrichtenmagazin „Epoca“ läßt besonders aufhorchen. Erstmals nennt er Ex-Staatschef Lula und dessen Amtsnachfolgerin Dilma Rousseff „skrupellose Amazonas-Zerstörer, die Wirkungen verursachten, durch die sich das Klima des Planeten unumkehrbar veränderte.“ Belo Monte werde einen Domino-Effekt haben und sei der „Dolchstoß“ mit dem Lula und Dilma Rousseff das Herz Amazoniens tödlich träfen. „Nach meinen Informationen sind in Brasilien 61 Wasserkraftwerke geplant, die meisten davon in Amazonien.“ Derzeit werden neben Belo Monte bereits mehrere andere errichtet.
Wer meint, daß da ein katholischer Bischof mit seinen Vorwürfen maßlos übertreibt, lediglich Stimmung macht, braucht nur die Qualitätszeitungen Brasiliens aufzuschlagen. Die berichten fast täglich über Streiks, Arbeiterrevolten auf den Baustellen, heftige Zusammenstöße mit der Militärpolizei, eine stark in die Höhe geschnellte Mordrate sowie Kinderprostitution, „Chaos und Gewalt“, dazu die Aktionen der sich wehrenden Indianer.
Wohl ebenso unvorstellbar in Deutschland: Wegen Massenelend und zunehmender Armut lösen in einem Land wie Brasilien derartige Großbaustellen stets eine regelrechte Völkerwanderung aus, machen sich Hunderttausende aus den Slums der südlichen Großstädte nach Amazonien auf, kampieren direkt neben den Großbaustellen in Zelten und Hütten, hoffen auf einen Job, eine Gelegenheitsarbeit. Bischof Kräutler hat dies alles jetzt sozusagen vor der Haustür – und sieht sich dann als Seelsorger gedrängt, „Schritte zu unternehmen, die man als Bischof in Deutschland oder Österreich nicht tun müßte“. Dazu gehört, der Welt die Vorgeschichte eines Staudammprojekts zu erklären, das die Foltergeneräle des Militärregimes geplant hatten, viele mit deren Abtreten 1985 daher auch Belo Monte für abgehakt hielten. Mit dem Amtsantritt von Lula 2003 erst recht. Noch 2009 sichert er Kräutler im Präsidentenpalast von Brasilia zu: “Dieses Projekt zwinge ich niemandem auf – Erwin, du kannst mit mir rechnen.“ Heute urteilt der Bischof: „Das war Theater, politisches Spielchen, nur Show. Der Widerstand gegen Belo Monte identifizierte sich mit Lulas Arbeiterpartei PT. Als wir entdeckten, daß Lula seine Position geändert hatte, sind wir aus allen Wolken gefallen. Das war Verrat. Ich selbst fühle mich verraten. Lula hat Amazonien nie verstanden – und versteht auch die Indianer nicht.“
Aber Brasilien ist doch eine Demokratie, ein Rechtsstaat, heißt es. Auch in diesem Punkte urteilt der Bischof auffällig konträr:“Heute haben wir eine Zivildiktatur – denn Belo Monte wurde aufgezwungen, ohne die Verfassung, darunter die Indianerrechte zu respektieren.“ Das derzeitige Chaos in Altamira sei anschaulicher Beweis, daß die Regierung eine ganze Stadt wie „Abfall“ behandele.
Hübsch politisch korrekt, mögen manche auch in Europa nur ungern die Rolle von Staatspräsidentin Dilma Rousseff bei den Kraftwerksplanungen kritisch hinterfragen – schließlich war sie in der Lula-Regierung just als Energieministerin für derartige Projekte, auch weitere neue Atomkraftwerke, zuständig. Bischof Kräutler zögert mit Klarstellungen nicht:“Wir können soviel protestieren, wie wir wollen – Dilma Rousseff verhindert jeglichen Dialog schon im Ansatz. Belo Monte ist kein Thema für eine Diskussion. Sie ist sehr hart, unnachgiebig, akzeptiert keine abweichende Meinung. Umwelt, Indianer, die Flußuferbewohner, das Volk von Altamira – für Dilma Rousseff zählt dies alles nicht.“
Am Bauplatz von Belo Monte wurde bereits kräftig Urwald abgeholzt, bewegten Bagger und Planierraupen mehrere Millionen Kubikmeter Erde. Viele in Brasilien halten daher weiteren Widerstand gegen den künftig drittgrößten Stausee der Erde für sinnlos. Auch Bischof Kräutler? „Nein, keineswegs. Ich bin nicht der Typ, der klein beigibt. Wir werden alle gewaltlosen Mittel anwenden, um dieses Monsterprojekt doch noch zu verhindern.“
Kritische Töne aus der Kirche Brasiliens zum Auftreten des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck in Sao Paulo und Rio de Janeiro 2013 . “Armutszeugnis“
Aus der Kirche Brasiliens, darunter der Gemeinde der deutschen evangelischen Kirche in Brasilien, hat es differenzierte Kritik u.a. an der fehlenden Positionierung des deutschen Bundespräsidenten Joachim Gauck zur gravierenden Menschenrechtslage Brasiliens gegeben. Gauck wisse über die gravierenden Menschenrechtsverletzungen in Brasilien genau Bescheid. Wie verlautete, waren entsprechende Stellungnahmen Gaucks durchaus erwartet worden – indessen gingen manche Christen davon aus, daß sich der deutsche Bundespräsident nicht anders als deutsche Staatsgäste vor ihm verhalten würde:“Er vertritt ja nicht die Kirche“. Ein Pastor habe sich politischem Druck gebeugt, Gauck sei „eingebunden in verschiedenste politische Zusammenhänge“. In Brasilien hätte er es sich indessen nicht so leicht machen dürfen.
Erwartet wurde u.a. in Sao Paulo ein Treffen Gaucks mit kirchlichen Seelsorgern, etwa der katholischen Gefängnispastoral, sowie mit anderen kirchlichen Menschenrechtsaktivisten. Verwiesen wurde auf Gaucks Image u.a. in Bezug auf seine Rolle in Ostdeutschland vor 1989.
„Gauck ist als Bundespräsident doch eigentlich angetreten, sich nicht den Mund verbieten zu lassen, jedenfalls nicht total. Doch dies bringt er nicht zustande“, lautete eine Einschätzung in Brasilien.
Sein Auftreten in Brasilien sei ein „Armutszeugnis“ gewesen – Kritik an Gauck müßte jetzt aus der evangelischen Kirche Deutschlands kommen.” Diese müsse klar die für Brasilien wichtigen Themen benennen und sagen: Doch von Gauck sind sie nicht angesprochen worden. Stattdessen habe es einen „Eiertanz um Deutsche und Brasilianer“ gegeben. „Motto: Wir sind doch alle Freunde“. Wenn beispielsweise in der täglichen Erfahrung von Sao Paulo systemimmanente Gewalt eine so wichtige Rolle spiele, die Politik aber nicht entsprechend aktiv werde – „wieso hat das Gauck nicht angesprochen?“
Der deutsche Bundespräsident hatte eine „Wertegemeinschaft“ zwischen Deutschland und Brasilien betont. Dazu wurde aus der deutschen evangelischen Kirchengemeinde teils spöttisch-ironisch angemerkt:“Wenn das hier unsere Werte sind, dann gnade uns Gott!“
Unter Bezug auf die von Bundespräsident Gauck während seiner Brasilienreise gehaltenen Reden hieß es:”Der braucht einen neuen Redenschreiber.”
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