http://www.hart-brasilientexte.de/2009/02/07/karneval-in-rio-portela-3/
Sofort nach Desfile in Ohnmacht gefallen…
Wegen zunehmender Brutalisierung, Gewalt, serienweisen Raubüberfällen bei Straßenumzügen, erstmals besonders auffälliger Desorganisation beim Defilee im Sambodrome war der Rio-Karneval 2009 der schlechteste seit Jahren. Zu den neuen Verhaltensphänomenen zählte, daß ungezählte Männer sogar auf fahrenden Rolltreppen der Metro-Eingänge völlig ungeniert urinierten. Unmengen von Frauen pinkelten zudem ganz offen und sogar neben Restaurants am Opernhaus Rios, daß der Urin zwischen Tische floß. Bei jeder Frau, die vor den Restaurantgästen ihren Hintern und das Geschlechtsteil  entblößte und urinierte, gab es Beifall oder Buh-Rufe – manche fotografierten, filmten die ungewöhnlichen Szenen. Nie zuvor stank Rio de Janeiro bei einem Karneval so barbarisch nach Urin – in zahlreichen Medien-und Leserkommentaren wurde dies scharf kritisiert.
Fotostrecke 2008: http://www.hart-brasilientexte.de/wp-content/themes/red-minimalista-2.3/fotostrecke/html/fotostrecke-start.html
Hintergrund:
Wie funktioniert sozialpsychologisch Karneval in einer Scheiterhaufenstadt, die von täglichen Schießereien, Feuergefechten, zahlreichen Morden und No-Go-Areas geprägt ist? Auf der Berlinale 2008 wird im brasilianischen Wettbewerbsbeitrag „Tropa de Elite” erstmals auch eine u.a. zur Einschüchterung der Slumbewohner übliche barbarische Tötungsart, der Scheiterhaufen aus aufgestapelten Autoreifen, genannt „Microondas”, Mikrowelle, gezeigt.
Beim Drehen der Szene in der Favela ”Morro dos Prazeres waren laut Presseberichten Dutzende von Banditen, die Mpis, Pistolen und Handgranaten trugen, in der Nähe und schauten zu, gaben aus eigener Scheiterhaufen-Praxis Tips.Po, der Typ stirbt nicht so, der schreit viel mehr, sagte einer von ihnen zu den Schauspielern. Die hielten sich, wie es hieß, an die Anweisungen der Banditen, produzierten die Microondas-Szene exakt so. Scheiterhaufen dieser Art loderten bereits häufig in der Amtszeit von Rio de Janeiros Gouverneur Leonel Brizola, der Vizepräsident einer großen weltweiten Parteienassoziation war. Die Favela „Morro dos Prazeres” befindet sich unweit der weltberühmten Paradestraße des Karnevals, dem Sambodrome.
Mancher europäische Zuschauer dürfte sich fragen, wie mittelalterliche Scheiterhaufen und ein weltberühmter Karneval in derselben Stadt möglich sind. In Sao Paulo berichteten Augenzeugen, daß in den achtziger und neunziger Jahren bei einer der berühmtesten Sambaschulen der Megacity auf beinahe jeder öffentlichen Vor-Karnevals-Probe im Getümmel Menschen erschossen wurden. Wie es hieß, wurden die Leichen weggeschleift – und das Sambafest ging weiter.
Der aus Rio de Janeiro stammende renommierte Therapeut und Kolumnist Jorge Forbes erläuterte entsprechende soziokulturellen Besonderheiten des Tropenlandes in einem Exklusivinterview und kritisierte dabei auch den Rio-Karneval. „In unserem Land geschehen viele Tragödien, viele schockierende soziale, wirtschaftliche Desaster. Die Brasilianer müßten jedesmal innehalten, und sich einfach sagen: Schluß mit dem Lachen. Doch damit haben Brasilianer im allgemeinen große Probleme “ sie sind Selbstbesinnung, Selbstbeobachtung und eben dieses Innehalten nicht gewöhnt. Als ob sie fürchten, an Kreativität, an Lebenslust zu verlieren. Oder gar in eine ausweglose Depression zu verfallen.” Therapeut Forbes bezog sich u.a. auf das letzte große Flugzeugunglück von Sao Paulo, bei dem rund zweihundert Menschen größtenteils in den Flammen eines Airbus umgekommen waren. Von solchen Geschehnissen wolle sich der Brasilianer so rasch wie möglich entfernen, tue dies indessen auf krankhafte Art. Daß direkt am Schauplatz der Flugzeugkatastrophe lachende Menschen waren, Regierungsfunktionäre minutenlang lachten, zudem obszöne Gesten machten, nennt Therapeut Jorge Forbes ebenfalls manisch, krankhaft. Brasiliens Nachrichtenmagazin „Veja” veröffentlichte Fotos von hohen Funktionären der staatlichen Luftaufsichtsbehörde Infraero, die am Unglücksort auf den brennenden Airbus zeigen, irgendeine Bemerkung machen und dann etwa fünf Minuten lang lachen. Auch über die Scheiterhaufen von Rio werden immer wieder Witze gerissen.
”Ich wünschte mir, die Brasilianer würden anders reagieren. Denn daß wir nicht mit Schmerz, mit Schwäche und eigener Zerbrechlichkeit umgehen können, kommt uns teuer zu stehen. Wer die nötige Trauerarbeit nicht leistet, wird nur zu häufig krank, psychisch gestört oder eben gefühlskalt. Hier zeigen sich auch Entsolidarisierung und Individualismus in einer immer egoistischeren Welt. Man schaue sich nur den Karneval von Rio an “ er ist nicht mehr Ausdruck der Fröhlichkeit unseres Volkes, sondern eher ein Festival kollektiver Entfremdung, von Oberflächlichkeit und Scheinheiligkeit. Auf Regierungen können wir nicht mehr hoffen, die Zivilgesellschaft muß sich organisieren, jeder von uns muß Verantwortung übernehmen. Die brasilianischen Eliten schotten sich in ihren Privilegiertenghettos, ihren Privatstraßen ab, hinter Stacheldrahtverhauen unter Strom. Wenn man den anderen nicht mehr als potentiellen Freund, sondern potentiellen Feind ansieht, führt dies zu paranoiden Sozialbeziehungen, führt in die Katastrophe.”
Brasilianische Sozialwissenschaftler sowie bekannte Kommentaristen betonen seit Jahren, daß die Auslandspropaganda nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen das Karnevalsklischee weiterhin fördert. Das Klischeebild Brasiliens als Land von Samba, Karneval, Fußball, unbändiger Lebensfreude und Rassendemokratie sei kurioserweise von Diktator Getulio Vargas, einem Hitlerverehrer und Judenhasser, in den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts produziert worden. Diogo Mainardo, provokanter Kolumnist des führenden Nachrichtenmagazins „Veja”, formuliert es so:”D e r Brasilianer existiert gar nicht, ist eine Täuschung, eine Lüge. Wer den Typus des Brasilianers erfunden hat, war die Getulio-Dikatur. Die erfand eine Rasse, glorifizierte die Mischung zwischen Weißen, Schwarzen und Indianern “ Frucht einer kollektiven Vergewaltigung. Erfunden wurden Mythen, der Fußball, der Karneval, die Populärmusik. Die Getulio-Diktatur erfand d e n Brasilianer, um ihn besser beherrschen zu können.” Mussolinis Italien, aber auch Hitlers Deutschland seien hier vorbeigekommen, es habe ein „ambiente goebbeliano” gegeben. „Der Unterschied ist, daß sich Italien und Deutschland von jenem sechzig Jahre zurückliegenden totalitären Diskurs befreit haben. In Brasilien wird er gleich fortgesetzt, werden Ideen von 1930 wiedergekäut. Die großen Namen unserer Intelligentsia und unserer Kultur sind jene alten Kollaborateure der Getulio-Diktatur, die mitgeholfen haben, jenes Image vom Brasilianer zu schmieden.” Diogo Mainardo von „Veja” nennt den in Europa mit Lob und Hudel bedachten Architekten Oscar Niemeyer, aber auch Namen wie den Brasilia-Entwerfer Lucio Costa, ferner Gilberto Freyre und Vinicius de Morais.
Samstag, 03. März 2012 von Klaus Hart **
Wochen zuvor, auf der anderen Seite des Luz-Bahnhofs…
« Noch keine offizielle Entschuldigung Lulas bei der Schweiz wegen Fall Paula Oliveira. Viele Brasilianer fordern Stellungnahme Lulas, in der er seine Motive für Kritik an der Schweiz erläutert. Weiter scharfe Medien-Selbstkritik in Brasilien. Rio-Karneval, ein Folteroffizier, Lula. – Erfolgreiche und gut geplante Antisemitismus-Förderung in Deutschland: „Wir wollen keine Judenschweine!“ Dorothea Jung, Antisemitismus in der Einwanderergesellschaft. „Bad People.“ Politisch Verantwortliche schlugen eindringliche Warnungen seit Jahrzehnten bewußt in den Wind. »
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