Marlui Miranda aus der Megametropole Sao Paulo ist die beste Kennerin der brasilianischen Indianermusik und verbringt einen beträchtlichen Teil des Jahres bei den Stämmen im Urwald. Sie fasziniert deren ganz anderes Zeitgefühl – manche Musiken können allen Ernstes bis zu achtundvierzig Stunden dauern.
Den Indios und ihrem musikalischen Nachwuchs gibt Marlui Miranda jede nur mögliche Hilfestellung, damit diese Traditionen bewahren, CDs herausbringen, aber auch mit der Musik der Weißen experimentieren können. Als im Jahre 1500 das heutige Brasilien entdeckt wurde, lebten dort über fünf Millionen Indianer – heute sind es nur noch höchstens 700000. Von einst über tausend brasilianischen Indiosprachen sind lediglich 180 übriggeblieben. Schwerbewaffnete Goldgräber, Holzfäller, Großfarmer, Siedler sowie Bergbaufirmen dringen weiterhin brachial in die Stammesgebiete ein – Indianerrechte werden permanent verletzt. Daher betrachtet Marlui Miranda als ihr Lebenswerk, sich für die Kultur der Ureinwohner, deren Menschenrechte einzusetzen. In Deutschland tritt sie regelmäßig als Sängerin auf und erhielt für ein Weltmusik-Album den Preis der Deutschen Phono-Akademie.
„Ich habe in den Dörfern der Indios gelernt, deren Lieder zu singen. Indianer haben ein ganz anderes Musikempfinden als wir. Sie setzen das Ohr aufs Wasser und hören den Gesang der Fische. Wenn Indios im Wald vernehmen, wie schwankendes Bambusrohr gegeneinanderschlägt, hören sie die Musik des Bambus und sind fähig, daraus eine Komposition zu formen. Im indianischen Universum existiert eine musikalische Ausbildung, für die man viel physische Kraft und eine besondere Eignung braucht. Die musikalische Technik beherrscht keineswegs jeder – die Schreie beispielsweise müssen einfach perfekt sein. Und wer das kann, ist hochgeschätzt, in der Stammeshierarchie ganz oben angesiedelt. Ihre Komponisten, sagen die Indianer, haben mehr Kontakt mit den Geistern, mit den Verstorbenen, außerdem mit Stimmen, die aus den Träumen kommen und Musik vermitteln. Der Komponist hört und erlernt Musik auch in seinen Träumen, verwandelt sie danach in ein Stück. Junge, akkulturierte Indios wissen oft nur wenig oder gar nichts von diesen Schaffensprozessen. Und ausgerechnet ich muß manchmal Indianern all diese Dinge erklären. Einem sagte ich, gehe mit den alten Musikmeistern deines Stammes ans Ufer eines Sees, wo es viel Echo gibt, und lasse dir die olympischen Schreie der Rituale beibringen, schreie dort so viel du kannst. Denn diese indianischen Schreie sind Musik, werden ganz exakt eingesetzt, da muß man eine bestimmte Note lange Zeit ganz perfekt halten, bis dann der Schrei-Partner auf genau derselben Tonhöhe weitermacht. Derzeit existiert ein Phänomen, das ich das Neue Traditionelle nenne. Die Indianer versuchen, mit allen Mitteln den Verlust ihrer Kultur aufzuhalten, Musik der Vergessenheit zu entreißen. Sie erkannten, daß alle von den Stammesältesten überlieferte Kultur nur zu retten ist, wenn einige Indianer sich modernste Multimedia-Techniken aneignen, die musikalische Vielfalt auf CDs und Videos festhalten, den Jüngeren dann diese Traditionen lehren. Eine schwierige, delikate Aufgabe, weil die brasilianischen Indianer in den letzten hundert Jahren sehr unruhige Zeiten durchlebten. Die Stämme mußten sich organisieren, restrukturieren, um ihre Lebensräume kämpfen, die Demarkation von Reservaten durchsetzen. So viel Unerwartetes, das ihren Lebensrhythmus völlig durcheinanderbrachte: Krankheiten wurden eingeschleppt, Siedlungsprojekte machten sich breit – und dann die technologische Invasion! Die Mentalität der Jüngeren wandelte sich durch den Kontakt mit heutiger Technologie – die Stammesältesten verloren teils an Autorität, halten, so gut es geht, noch den Zyklus der Rituale. Doch unglücklicherweise wurde die ganze Indianerkultur verändert, modifiziert. Auch durch ausländische Religionen und Kirchen, angefangen mit den Jesuiten und Franziskanern. Indios werden heute zu Produzenten, Botschaftern der eigenen Kultur – im Dienste des Überlebens. Die Indianer brauchen nicht mehr nur Holz zu verkaufen – sie haben sich politisiert und lernten, daß ihre Kultur ebenfalls einen Marktwert hat. Andererseits mögen sie auch die Musik der Weißen, machen sie selber, spielen nationale Rhythmen wie Forró oder Sertaneja, nutzen Instrumente der Weißen, wie Geigen und Gitarren, das Akkordeon selbst bei Ritualen. Viele sind auf verzweifelter Suche nach ihrem Platz in der brasilianischen Musik, wollen Kontakt mit dieser Welt. In jedem Stamm mögen heute die einen mehr Musik der Weißen, die anderen mehr die eigene, traditionelle, wenngleich schon modifizierte Musik. CDs kommen ständig heraus, doch einen echten Markt für brasilianische Indianermusik gibt es längst noch nicht. Im Xingu-Reservat nehmen die Indios einerseits Eintrittsgeld für Aufführungen, holen andererseits zu bestimmten Ritualen absichtlich keine Zuschauer, wollen keine Zeugen von außerhalb. Die Indios wissen einfach, daß sie vieles ihrer Kultur regelrecht geheimhalten müssen, nicht alles herzeigen dürfen. Alles, was mit dem dörflichen Leben, ihren Mythen, der übernatürlichen Welt zu tun hat. Da ihre traditionelle Kultur ja bereits zum Konsumprodukt wurde, in den Shopping Centers und Geschäften der ganzen Welt ausliegt. Es gibt Indianer, die sich in einer Stadt wie Sao Paulo einlebten, aber innerlich gespalten sind – und andere, die es hier nicht lange aushalten. Einer sagte mir: In der Stadt sind wir unglücklich, aber merken es gar nicht – erst nach der Rückkehr in unser Stammesgebiet, wo wir tatsächlich glücklich leben. Doch um überleben zu können, müssen die Indios heute die gesellschaftlichen Mechanismen der weißen Zivilisation kennen, ob sie die nun mögen oder nicht.
Ich habe zuletzt mit fünf Amazonas-Stämmen und einem städtischen Orchester das Projekt „Brücke zwischen den Völkern” realisiert. Denn in Amazonien gibt es verrückterweise eine Tradition klassischer Musik aus der Zeit des Kautschukbooms, als man im Theater von Manaus sogar Verdi-Opern aufführte. Bei meinem Projekt begleiteten die Indianer total begeistert mit ihren Instrumenten Mozarts Kleine Nachtmusik, rissen unter anderem Schildkrötenschalen an. Ich habe die Indios nach Sao Paulo geholt, wir haben alles wie eine Ethno-Oper aufgeführt, dazu drei CDs herausgebracht. Heute interpretiere ich bei den Stämmen Musik, die eigentlich nur Männern vorbehalten ist – aber man läßt mich! Indiomusik liegt mir einfach, für deren Erhalt kämpfe ich. Der Unterschied zwischen weißer und Indio-Zivilisation liegt in der Nutzung der Zeit. Die Indios genießen sie, wir dagegen nutzen sie nur, haben nie welche, können da viel von den Indios lernen.“
http://www.hart-brasilientexte.de/2009/03/03/hakani-suruwaha-und-der-kindermord-in-brasilien/
« Brasilien: Sklavenarbeit in Coteminas-Konzern von Lulas Vize José Alencar. Aufnahme in „Schmutzige Liste“ droht. „Trabalho escravo“. Alencars Republikanische Partei von Sektenkirche dominiert. – MASP, Avenida Paulista, Sao Paulo. Gesichter Brasiliens. Xavier Plassat. »
Noch keine Kommentare
Die Kommentarfunktion ist zur Zeit leider deaktiviert.