Fall Pastor Marcos Pereira: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/09/23/brasilien-kultur-jose-junior-leiter-von-afroreggae-in-rio-de-janeiro-wegen-morddrohungen-durch-zehn-wachleute-beschutzt-klagt-verwicklung-von-evangelikalen-kirchen-ins-organisierte-verbrechen-an/
Wo Pastor Salles von der Assembleia de Deus auftritt, sind die Kirchen rappelvoll, können es Tausende kaum erwarten, daß er in seiner unnachahmlichen Weise schreit, stöhnt, schluchzt, heult wie ein Schloßhund. Wer als Mitteleuropäer da hineingerät, Brasiliens religiöse Szenerie noch nicht kennt, versteht womöglich die Welt nicht mehr. Darf das denn wahr sein, bin ich wirklich in einer Kirche und nicht im grotesken Spektakel eines gerissenen Scharlatans – und wieso protestiert denn keiner? Doch je stärker der Tobak von Pastor Salles, je lauter die zustimmenden Halleluja-Rufe der Gläubigen. „Ich war reich, hatte Villen und tausende Frauen – in Rio de Janeiro hörten tausende schwerbewaffnete Banditen auf mein Kommando”, beeindruckt der Prediger. „Ich war ein Bankräuber und Berufskiller – so viele Opfer flehten vergeblich um Barmherzigkeit!”
Pastor Salles wild gestikulierend vorm Altar, tadellos gekleidet in feinstem Tuch, mit weißem Hemd und Krawatte – noch unlängst ein Bandenchef, der gnadenlos mit der Mpi um sich schoß, Rivalen und Polizisten ins Jenseits beförderte; das läßt die Leute mehr und mehr erschauern. „Ich war besessen vom Teufel, ich war ein Monster, ein Psychopath”, ruft er aus und kommt zu weiteren gräßlichen Details:”Jawohl – wie von den Dämonen gefordert, habe ich mit meiner Frau unseren sechs Monate alten Sohn getötet, in der Pfanne gebraten, sein Fleisch gegessen – so viele barbarische Verbrechen habe ich begangen, ich war schon in der Hölle!” Sechzehn Kugeln bekam er in den Leib, überlebte die Folter im Knast, machte Russisch Roulette. Doch dann, oh Wunder, wurde er bekehrt, ließen die Teufel von ihm ab, holte er, „von Gott auserwählt”, die eigene, tot im Sarg liegende Mutter zum Leben zurück. „Die Umstehenden lachten, als ich sagte, Mama, erhebe dich – und sie stand wirklich auf!” Wo Pastor Salles predigt, lacht auch bei dieser Stelle niemand schallend oder fordert gar Beweise – mit aufgerissenen Augen und Mündern glaubt man ihm aufs Wort. Ist derartiges denkbar in einer katholischen Kirche des Riesenlandes? Natürlich nicht – dort wäre er chancenlos, würde von Anfang bis Ende heftig verspottet. Doch im größten katholischen Land der Erde sind Sekten und Religionsgemeinschaften auf dem Vormarsch, die vor nichts zurückschrecken, den extrem niedrigen Bildungsgrad der Unterschicht nur zu oft schamlos ausnutzen. Um die Gottesdienste spektakulär „aufzupeppen”, noch mehr gebefreudige Anhänger zu gewinnen, kamen diese evangelikalen „Kirchen” bereits in den achtziger und neunziger Jahren auf die Idee, unter Ex-Gefangenen und selbst in den Haftanstalten nach geeigneten Predigern zu suchen. Im fortgeschrittenen Alter, oft mit schweren Behinderungen nach vielen Einschüssen, haben Männer aus der Welt des Verbrechens gewöhnlich auf dem Arbeitsmarkt keinerlei Chancen. Soziologin Mariana Cortes von der Bundesuniversität Ueberlandia stellte bei mehrjährigen Untersuchungen fest, daß allein in Brasiliens Kultur-und Wirtschaftsmetropole Sao Paulo, der immerhin drittgrößten Stadt der Welt, tausende Banditen daher zu Priestern mutierten, eine regelrechte religiöse Szene bilden. „Die dunkelsten Punkte ihrer Biographie machen sie zum Trumpf, zu einem Spektakel – wollen auf diese Weise nicht nur Geld verdienen, sondern auch gesellschaftliche Anerkennung, Sozialprestige gewinnen.” Denn das hatten sie bereits als Banditenchefs im Parallelstaat der Slums, der von Verbrechersyndikaten dominiert, terrorisiert wird. Ein tolles Gefühl, mit der umgehängten Mpi durchs Gassengewirr der Elendsviertel zu schlendern und als Herr über Leben und Tod von den Bewohnern mit tiefster Unterwürfigkeit respektiert zu werden. Heute gehen sie teilweise durch die selben Viertel, ernten wiederum tiefen Respekt, werden oft als Wundertäter, Wunderheiler verehrt, die man alle paar Schritte um Rat und Hilfe bittet. Probleme mit den einstigen Kumpanen vom organisierten Verbrechen gibt es nicht – die in den Slums agierenden Sekten kommen mit den Banditenmilizen gewöhnlich bestens zurecht.
–„Der Teufel wars, nicht ich!”–
Was Mariana Cortes am Fragwürdigsten, Absurdesten findet: „Morde und andere grauenhafte Verbrechen werden stets dem Teufel in die Schuhe geschoben, er wird zum Sündenbock. Damit stellen sich diese Priester als Opfer dar, leugnen die eigene Schuld und Verantwortung für ihre Taten, gebärden sich gar als Sieger und Hoffnungsträger.” Sogar die Wissenschaftlerin kann es bis heute kaum fassen, daß das funktioniert, selbst beim Massenpublikum solcher als „gemäßigt” geltenden Pfingstkirchen wie der „Assembleia de Deus”(Gottesversammlung), großartig ankommt. Das ist Brasiliens führende Religionsgemeinschaft, die manche wegen ekstatischer Wunderheilungen und Teufelsaustreibungen, wegen Massensuggestion und anderen Psychotricks den Sektenkirchen zurechnen. Sie hat über zehn Millionen Anhänger und ist besonders politisch einflußreich. Brasiliens Ex-Umweltministerin Marina Silva und die bisherige Sozialministerin Benedita da Silva gehören ebenso wie dutzende Abgeordnete und Senatoren zur Assembleia de Deus, die sich in zahlreiche Nebenrichtungen aufspaltete. Durch solche Pastoren wie Pastor Salles an Glaubwürdigkeit zu verlieren, scheint diese Kirche nicht zu befürchten. Doch auch Pastor Paulinho Bang Bang, Renato Cesar oder Francys Lins ziehen ähnlich melodramatisch-wild vom Leder, ihre Geschichten, schärfer als die schrillsten Krimis, gibt es auf CD und DVD. In Sao Paulo hat sich eine Plattenfirma nur auf diese Klientel spezialisiert, veröffentlichte bereits Tonträger von fünfzig solcher Priester, hat rund dreihundert weitere Kandidaten auf der Warteliste. Aber stimmen denn deren bombastische Aussagen – oder ist alles erstunken und erlogen? Laut Soziologin Mariana Cortes läßt sich nur schwer sagen, was davon Dichtung und Wahrheit ist. In den brasilianischen Slums ereignen sich unter der Banditendiktatur täglich barbarische Dinge, die das Vorstellungsvermögen eines Mitteleuropäers gewöhnlich weit übertreffen. „Solche Priester montieren nicht selten reale Slumereignisse zu einer Story und stellen sich als Täter, Urheber dar, basteln sich manchmal eine Biographie zusammen.” Viele sind damit höchst erfolgreich, ziehen im ganzen Land herum, können von jedermann gegen entsprechende Gage engagiert werden. Oder gründen sogar eine eigene Kirche. Absolute Religionsfreiheit ist in der brasilianischen Verfassung garantiert. Jedermann kann eine neue Glaubensrichtung ausrufen, sich von heute auf morgen zum Priester erklären – denn eine theologische Ausbildung wird nicht verlangt. „Eine neue Kirche zu eröffnen, ist einfacher als eine Kneipe aufzumachen”, sagt der Soziologe Ricardo Mariano. In Sao Paulo startet jeden zweiten Tag eine nichtkatholische Kirche mit Gottesdiensten. „Nie zuvor wurden so viele Tempel gegründet, um Geld zu machen”, sagt Theologe Fernando Altemeyer von der Katholischen Universität der Megacity. Mancher Neupriester hat rasch Erfolg, wird reich – doch andere gehen mit ihren Kirchen pleite. Religionsexpertin Mariana Cortes weiß, was die in etwa 17000 verschiedene Richtungen geteilten Pfingstkirchen Brasiliens natürlich verschweigen:”Gar nicht so wenige dieser ehemaligen Gangster packen es nicht, verkaufen nicht genug CDs und DVD, geben schließlich auf – und entsinnen sich ihres früheren Gewerbes, kehren zum Verbrechen zurück.” Auf den Tonträgern sind stets die Kontakt-Telefonnummern. Ruft man dort an, will den Pastor für eine Show-Predigt ordern, hört man nicht selten von den Angehörigen: „Der ist schon wieder im Knast.”
Über die brasilianischen Sektenkirchen wird wegen der politisch heiklen Hintergründe in deutschsprachigen Medien aus politischer Korrektheit meist nur sehr unkritisch berichtet. Daß die neoliberale, von der katholischen Kirche heftig kritisierte Umweltpolitik der Lula-Regierung von einem Sektenmitglied mitgeführt wurde, ist gewöhnlich kein Thema. Bezeichnend ist, daß evangelikale Sekten, auf die Frei Betto Bezug nimmt, nach dem Umbrüchen von 1989/1990 nun auch erstmals in osteuropäischen Ländern angesiedelt werden, sogar in Rußland.
Befreiungstheologe und Bestsellerautor Frei Betto über USA, CIA und Sektenförderung weltweit
Joachim Gauck in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/05/17/brasilien-historischer-besuch-des-deutschen-bundesprasidenten-joachim-gauck-im-tropenland-trotz-gravierender-menschenrechtslage-folter-todesschwadronen-gefangnis-horror-sklavenarbeit-etc-b/
Guido Westerwelle in Brasilien: http://www.hart-brasilientexte.de/2013/12/26/guido-westerwelle-war-gestern-der-spiegel-westerwelle-in-brasilien-keinerlei-kritik-an-gravierenden-menschenrechtsverletzungensystematische-folter-todesschwadronen-liquidierung-von-menschen/
Brasilien ist mit seiner Lebendigkeit, Kreativität und kulturellen Vielfalt ein ungemein inspirierender Partner, der gleichzeitig durch Exzellenz in Wirtschaft und Wissenschaft besticht. Guido Westerwelle, FDP 2013
Hintergrundtexte:http://www.hart-brasilientexte.de/2013/11/05/brasilien-%E2%80%93-kirche-und-gesellschaft-sammelbandtexte/
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
http://www.hart-brasilientexte.de/tag/brasilien-kultur-und-gesellschaft-sammelbandtexte/
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Jüdische Allgemeine – 2009-2016:
http://www.juedische-allgemeine.de/autoren/klaus-hart
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Neue Zürcher Zeitung: http://www.nzz.ch/aktuell/feuilleton/uebersicht/schlechte-menschen-1.1247073
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DER SPIEGEL:http://www.hart-brasilientexte.de/2015/03/25/der-falsche-kardinal-das-spiegel-video-anklicken/
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Deutschlandfunk-Deutschlandradio-Beiträge – Kirche und Religion:
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http://www.deutschlandfunk.de/jesusmarsch-der-brasilianischen-pfingstler.886.de.html?
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http://www.deutschlandradiokultur.de/da-sein-wo-gelitten-wird.1278.de.html?dram:article_id=192907
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http://www.deutschlandradiokultur.de/koscher-in-sao-paulo.1079.de.html?dram:article_id=176195
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Deutschlandfunk-Deutschlandradio-Beiträge – Landeskunde, Kultur:
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http://www.deutschlandfunk.de/idyll-fuer-gestresste-staedter.1242.de.html?dram:article_id=189399
http://www.deutschlandfunk.de/angepasste-denker-unter-dem-zuckerhut.691.de.html?
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Deutschlandfunk-Deutschlandradio-Beiträge – Wissenschaft und Forschung:
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Wikipedia-Einträge mit Links zur Website: http://pt.wikipedia.org/wiki/Marlui_Miranda
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Kir
http://das-blaettchen.de/schlagwort/klaus-hart
http://www.tagesspiegel.de/hart-klaus/4462200.html
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http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de/2011/09/11/prostitution-fur-einen-hotdog/
http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de/2012/06/22/viel-skepsis-im-gastgeberland/
Der Freitag:https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/weisser-schnee-am-zuckerhut
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/das-kappchen-kilometerweit-fliegen-sehen
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/die-geheimen-friedhofe-der-fazendeiros
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/unappetitlicher-wahlkampf
Hintergrundtexte:
“Pressefreiheit“ in Brasilien: Engagierten, investigativen Journalisten droht die „Mikrowelle“, der moderne Scheiterhaufen aus Autoreifen
Unten, an den Stränden von Copacabana und Ipanema, tummeln sich auch Touristen, Diplomaten, NGO-Leute aus Deutschland – doch schon in Sichtweite, oben in den Hangslums von Rio, lodern seit Jahrzehnten regelmäßig die Scheiterhaufen. Banditenkommandos stapeln Autoreifen über die gefesselten Opfer, übergießen sie mit Benzin, entzünden ein Streichholz. Auf der nächsten Berlinale wird die „Microonda“ im brasilianischen Spielfilm „Tropa de Elite“ in allen Details erstmals zu sehen sein.
In der größten Demokratie Lateinamerikas beschränkt die neofeudale Herrschaft des organisierten Verbrechens über erhebliche Teile der brasilianischen Städte die Pressefreiheit, die Recherchemöglichkeiten der Journalisten brutal. Falls sie die Aktivitäten der Banditenkommandos im Parallelstaat der Slums konkret kritisieren, droht ihnen die Ermordung. 2002 wurde der bekannte Fernsehreporter Tim Lopes per „Mikrowelle“ bestialisch liquidiert. Seine Kollegin Carla Rocha vom Medienkonzern „Globo“, eine der führenden investigativen Journalistinnen des Tropenlandes, hat jetzt gemeinsam mit ihrem Team für eine unter hohem Lebensrisiko recherchierte Artikelserie just über die Slum-Diktatur den wichtigsten brasilianischen Menschenrechts-und Medienpreis erhalten. Der „Premio Vladimir Herzog“ erinnert an einen jüdischen Journalisten, der vom brasilianischen Militärregime ermordet worden war.
Kurz vor der Auszeichnung in der Megametropole Sao Paulo hatte im fernen Paris die Menschenrechtsorganisation „Reporter ohne Grenzen“ Brasilien auf ihrer neuesten Rangliste über Medienfreiheit vom 75. Platz im Vorjahr auf die 84. Position heruntergestuft. Denn Gewalttaten gegen brasilianische Journalisten nehmen deutlich zu. In keinem Land der Erde sind zudem mehr Gerichtsprozesse gegen Journalisten im Gang. Erst kürzlich wurde an der Peripherie Brasilias ein Attentat auf den Reporter Amaury Ribeiro verübt, der wie Carla Rocha anschauliche Analysen über die Slum-Diktatur publizierte und deshalb Morddrohungen erhielt.
„Eine solche Serie zu schreiben, ist für mich auch Kampf für Menschenrechte“, sagt Carla Rocha gegenüber „Berliner Journalisten“ zu ihren Motiven. „Millionen leben in einer grauenhaften Realität, die viele Bessergestellte hier in Brasilien und auch im Ausland einfach nicht sehen wollen, einfach verdrängen. Ich kann das nicht, ich will diese Zustände ändern, wenigstens dazu beitragen.“
Die Serie „Os Brasileiros que ainda vivem na Ditatura“ (Brasilianer, die noch in der Diktatur leben) macht fassunglos, verstört angesichts der auch von deutschen Medien, der Tourismuswerbung massiv gepflegten Brasilienklischees.
“In diesen Slumregionen der brasilianischen Millionenstädte“, so Carla Rocha, „gelten weder Gesetz noch Verfassung, nur das Diktat bewaffneter Gruppen. Der Staat ist nicht präsent und läßt zu, daß dort Verbrecherorganisationen, Gangsterbosse, paramilitärische Milizen die Regeln gewaltsam bestimmen. Wer sich den Normen widersetzt, wird sogar mit dem Tode bestraft, zerstückelt, lebendig verbrannt – auf diesen Microondas aus Autoreifen. Folter ist gängige Praxis – alles eine mittelalterliche Barbarei.“
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„Brasiliens Strafvollzug ist purer Wahnsinn!“/2008
Österreichischer Pfarrer und Gefangenenseelsorger Günther Zgubic: In Brasilien weiter Folter in allen Varianten
„Eine deutsche Frau wurde unglaublich mit Elektroschocks kaputtgemacht – psychisch, nervlich zerstört“
Ist Pfarrer Zgubic sprichwörtlich jener Rufer in der Wüste, dessen Botschaft nur zu viele ablehnen, um sich nicht von sozialromantischen Klischeevorstellungen über das Land von Karneval, Samba und Traumstränden trennen zu müssen? Wie hält der Mann das psychisch aus, fast täglich in der Hölle auf Erden Seelsorge zu leisten, die Leiden von über einer halben Million Gefangenen im Blick zu haben, unermüdlich für deren Rechte zu streiten, Augenzeuge so vieler nie gesühnter Blutbäder an Häftlingen zu sein? Und immer wieder einstecken zu müssen, daß offenbar in jener Weltregion, aus der er stammt, die meisten denken: Na und – mir doch egal! Zgubic wohnt, arbeitet in einem Armenviertel der Megacity Sao Paulo, bekommt Morddrohungen, wirkt wegen der neuesten Ereignisse noch angespannter, nervöser als sonst. Jeden Moment kann eine neue Welle blutiger Häftlingsrevolten in Brasiliens Gefängnissen losbrechen, die er mit nazistischen Konzentrationslagern vergleicht. „Was da drinnen passiert, ist Folter – eine deutsche Frau wurde unglaublich mit Elektroschocks kaputtgemacht, psychisch zerstört. Leute werden mit Schlagstöcken zusammengehauen, man schiebt Nadeln unter die Fingernägel, preßt Menschen mit dem Kopf in Wassereimer. Bis die Polizei merkt, er könnte sterben. Und dann wird ihm eine Chance gegeben: Willst du sprechen oder nicht?“ Laut Pfarrer Zgubic werden auf diese Weise viele zu Geständnissen gezwungen, bekennen sich viele unter der Folter zu Verbrechen, die sie gar nicht begangen haben. „Andere werden solange traktiert, bis sie falsche Zeugenaussagen machen, völlig Unschuldige schwer belasten.“ Das nenne sich dann gute schnelle Aufklärungsarbeit… Die totale Überfüllung der Haftanstalten nennt Zgubic „strukturelle Folter“, was endlich auch die UNO anerkannt habe. „Überfüllung heißt, weniger Essen und weniger ärztliche Betreuung – die Leute beginnen durchzudrehen, starten riesige Rebellionen.“ Wer dort lebend herauskommt, ist traumatisiert, hat nichts mehr zu verlieren. „Oft höre ich dann: Ein paar Polizisten umzulegen, ist das erste, was wir machen.“ In der Tat wird in Brasilien alle paar Stunden ein Polizeibeamter ermordet. Gerade hat das UNO-Hochkomissariat für Menschenrechte erneut Folter und Rassismus, Straflosigkeit und erschreckende Sozialkontraste in Brasilien angeprangert – Basisinformationen und Statistiken des Berichts stammen größtenteils von Pfarrer Zgubic, dem Leiter der nationalen Seelsorge, und seinen Mitarbeitern. Zynisch-ironisch hat ausgerechnet Staatschef Luis Inacio Lula da Silva auf überraschende Weise die Kritik von Zgubic, der UNO vollauf bestätigt. „Wenn man durch Zusammenschlagen die Leute erziehen könnte, dann müßte der Bandit das Gefängnis eigentlich als Heiliger verlassen“, rief Lula bei einer Kundgebung in Rio aus. Die oberste Autorität der größten Demokratie Lateinamerikas redet über Verbrechen des Staates, als sei es die natürlichste Sache der Welt, empörten sich Menschenrechtsaktivisten. In Deutschland, Österreich gäbe es bei derartigen Präsidentenworten einen öffentlichen Aufschrei – kurz darauf zeigt eine repräsentative Meinungsumfrage, warum dieser in Brasilien ausbleibt: Jeder vierte Brasilianer würde Verdächtige foltern, falls er Polizist wäre. Unter Beserverdienenden und Hochschulabsolventen sind sogar mehr als vierzig Prozent erklärte Folterbefürworter. Kein harter Schlag mehr für Zgubic und die „Christliche Aktion zur Abschaffung der Folter“(ACAT), mit Sitz in Frankreich. Seit Jahrzehnten wissen sie um diese traurigen Tatsachen. „In Brasilien“, so Sao Paulos angesehener Menschenrechtspriester Julio Lancelotti bereits vor Jahren im Interview, „existiert eine Sklavenhalterkultur und eine Kultur der Folter – ein Großteil der Brasilianer befürwortet Torturen, die Todesstrafe, die Herabsenkung des Strafmündigkeitsalters auf sechzehn, teils sogar vierzehn Jahre.“ Für die Kirche ist dies eine enorme Herausforderung – Überzeugungsarbeit, das Vermitteln christlicher Werte ähneln nur zu oft dem Schwimmen gegen den Strom. Denn auch manche Sicherheitsexperten äußern Verständnis für die Folter-Befürworter: Daß 26 Prozent durchaus Verdächtige foltern würden, reflektiere den Grad der Verzweiflung in einem Land mit jährlich über fünfzigtausend Morden, von denen nicht einmal fünf Prozent aufgeklärt würden. In Rio de Janeiro oder Sao Paulo ist der größte Teil des Stadtgebiets besonders für Ausländer ein No-Go-Area – nur zu viele, die sich dennoch in die gewaltgeprägte Slumperipherie wagten, haben dies mit dem Leben bezahlt.
Für die allermeisten europäischen Menschenrechtsorganisationen ist keineswegs ein Thema, daß in Brasilien häufig Frauen und Mädchen in überfüllte Männerzellen gesperrt und dann massenhaft vergewaltigt werden. Zgubic nennt neueste Fälle – all dies habe Tradition. „Wir wissen, daß beispielsweise im neunzehnten Jahrhundert Frauen und Männer, also Arme, Bettler und Arbeitslose in den Gefängnissen zusammengepfercht wurden.“ Zgubic bringt auf, daß auch heute besonders die armen Brasilianer kriminalisiert werden:“Wegen Bagatelldelikten, etwa des Diebstahls von umgerechnet drei Euro oder von ein paar Tellern im Supermarkt kommen nach wie vor Menschen jahrelang hinter Gitter.“ Aber Brasilien ist doch ein reiches Land, immerhin die zehntgrößte Wirtschaftsnation des Erdballs? Zgubic weist auf extreme, perverse Sozialkontraste, die auch von der UNO erneut verurteilt worden waren. „Armut wird vom Staat und von den Oberschichten produziert, die sich nie für einen Sozialstaat geöffnet haben – schuld ist ein Wirtschafts-und Konsumsystem, für das ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung schlicht überflüssig ist.“
Sao Paulo, die reichste lateinamerikanische Metropole, wird wegen der über tausend deutschen Unternehmen auch „größte deutsche Industriestadt“ genannt. Kaum zu fassen, dort auf unzählige Elendshütten und Lepra wie in Kalkutta zu treffen. „Für Gesundheit, Schulwesen, für sozialpolitische Programme in den Slums, fürs Justizwesen sind keine Mittel da. Man fragt sich dann, wer ist für all das verantwortlich?“
Brasiliens katholische Kirche protestiert dagegen, daß in der Stadt Sao Carlos bei Sao Paulo seit 1980 eine Straße nach dem berüchtigten Diktatur-Folterer Sergio Fernando Paranhos Fleury benannt ist, der eine Todesschwadron gegründet, Oppositionelle ermordet, im Auftrage eines großen Drogenbosses sogar Konkurrenten liquidiert habe.
Zahlreiche Brasilianer heißen ganz amtlich Hitler, Himmler, Eichmann – Straßen, Plätze und selbst ein Plenarsaal des Nationalkongresses sind nach Filinto Müller, dem von der GESTAPO ausgebildeten Chef der Politischen Polizei des Judenhassers und Diktators Getulio Vargas benannt. Die Prachtausgabe von Adolf Hitlers „Mein Kampf“, hier „Minha Luta“, ist ein Bestseller. Und Staatschef Lula machte bereits als Gewerkschaftsführer zur Diktaturzeit keinen Hehl aus gewissen Sympathien für Hitler:“Er irrte zwar, hatte aber etwas, das ich an einem Manne bewundere – dieses Feuer, sich einzubringen, um etwas zu erreichen. Was ich bewundere, ist die Veranlagung, Bereitschaft, Hingabe.“
Kein Zweifel, ein schwieriges Umfeld für kirchliche Bürgerrechtler wie Padre Zgubic. Immer wieder hatte er an Regierungen und Menschenrechtsorganisationen Europas appelliert, sich für die gravierenden Zustände in Brasilien zu sensibilisieren. Für die Fußball-WM 2006 in Deutschland hatte Zgubic angeregt, beispielsweise mit Spruchbändern auf die Lage im Lande des Favoriten Brasilien hinzuweisen. Auch da war er Rufer in der Wüste…
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Geriatrische Kliniken: “Casas do Terror”:
Zoraide Fernandez – eine ungewöhnliche brasilianische Anwältin:
Köpfen, vierteilen, lebendig verbrennen.Luxus und Elend von Rio:
“Subversive” beim Bier:
Yvonne Bezerra de Mello kämpft für Rios Straßenkinder – keine Angst vor heiklen Sex-Tabus:
Sextourismus vor dem Haus des Gouverneurs:
Rios Feudalstrukturen. Gangsterbosse begehrt bei Mädchen und Frauen:
Superstar Michael Jackson und die Banditen:
Ausriß. “Gerhard Wisnewski. ungeklärt – unheimlich – unfassbar. Die spektakulärsten Kriminalfälle 2013. KNAUR
“Moderne Scheiterhaufen aus Autoreifen”:
…auch die “Stadt der Scheiterhaufen”….
…
Ausriß.
Die Trauminsel, Sex mit Hunden und ein Linkspopulist:
Gefängnisse. Folter, Revolten, Aids:
Indianer unter Anpassungsdruck:
Unbequemer Bischof Pedro Casaldáliga:
Schulen im Kugelhagel:
Bordellgasse Vila Mimoza in Rio de Janeiro:
Operieren überm Ausguß – das Drama der Hospitäler:
« Brasiliens Heer der Geistesgestörten. In Sao Paulo leiden 40 Prozent unter psychischen Krankheiten – Geistesgestörte, geistig Verwirrte im Alltag häufig anzutreffen. Gewalt und Verbrechen machen psychisch krank – gestörte Sexualität. Wachstumsbranche Pharmaindustrie. Langtext. – Brasilien: Gefängnisinsel für den Tropenurlaub – Ilha Grande bei Rio de Janeiro. Bewegte Geschichte: politische Häftlinge mehrerer Diktaturen, spektakuläre Ausbrüche, Banditenkommandos. Bonns Beziehungen zur Militärdiktatur. »
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