Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Wahrsagerin neben der Präfektur Sao Paulos. Gesichter Brasiliens. Schlingensief.

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Capoeira in Sao Paulo:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/02/14/capoeira-in-sao-paulo2-gesichter-brasiliens/

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Osterprozession in Tiradentes:  http://www.hart-brasilientexte.de/2011/04/06/osterprozession-in-tiradentes-brasilien/

MUSIKTHEATER/002: Schlingensief in Sao Paulo (Klaus Hart)

Schlingensief in Sao Paulo

Von Klaus Hart, November 2007
„Da rechts ist der Revolutionsraum“

18. November 2007
In Lateinamerikas Kulturhauptstadt Sao Paulo errichtet Regisseur Christoph Schlingensief, 47, derzeit mit mehreren Dutzend Mitarbeitern aus Brasilien und Deutschland eine „Operngeisterbahn“, Teil seines Projekts einer „mobilen Opernwerkstatt“ – Start ist am kommenden Donnerstag. 1200 Quadratmeter Fläche, überdeckt von einem riesigen Zelt, sechs Räume mit verschiedenster Thematik, Opernsänger und Chöre in Aktion, Filme mit der Callas und anderen Stars sowie Schlußszenen berühmter Opern, gar eine Drehbühne, Straßenmusikanten, Bar und Kneipe, Platz für Gespräche von jedermann mit den Opernleuten. „Es ist auch eine Geisterbahn-Fahrt durch die Operngeschichte, von der Steinzeit an, als die ersten Menschen getrommelt und gesungen haben“, erläutert Christoph Schlingensief im Blog-Exklusivinterview. „Und dann geht es weiter über Mendelssohn und Mozart bis in die Moderne, in die Villa Wahnfried. Da rechts ist der Revolutionsraum. Da bricht schon wieder der Wille auf, daß sich etwas verändern muß. Da nehme ich das Manifest von Richard Wagner ganz wörtlich, das ja längst nicht umgesetzt ist.“ Oper und Revolution? „Erinnern wir uns an 1830, als in Brüssel die „Stumme von Portici“ aufgeführt wird und die Leute in der Pause rufen: Zu den Waffen, zu den Waffen! Da beginnt die belgische Revolution – das hat eine Oper geschafft! Das ist natürlich der Traum! So etwas wird man garantiert nicht in Bayreuth und auch nicht an der Metropolitan Opera oder sonstwo schaffen. Vielleicht ja ein bißchen in Brasilien…“ Schlingensief lacht ironisch. Seine Aufführung von Wagners „Fliegendem Holländer“ in der Amazonas-Oper von Manaus ist unvergessen – wer sich auf die Geisterbahnfahrt einläßt, kriegt davon reichlich Filmaufnahmen zu sehen.

Bohren, Sägen, Hämmern, Schleifen, E-Schweißen – Staub und irrer Krach im Geisterbahn-Zelt. Aus hunderten Metern Packpapier wird eine Steinzeithöhle. „Das alles hier ist jetzt schon Oper, sie läuft bereits. Die Idee ist, Proesse zu zeigen. Oper ist ja nicht erst fertig, wenn der Vorhang aufgeht. In Deutschland muß man schon sechs Monate vorher seine Pläne abgeben, genau sagen, wo dann wer steht – der Sänger geht also sechs Takte zum Stuhl, zehn Takte zur Tür, so ist es dann eine schlüssige Inszenierung. Ich glaube sowas nicht mehr, ich hab’s anders erlebt. Wir zeigen hier sogar das Sonnenrad, eine Übernahme aus Area 7 von der Wiener Burg, und mit großen Figuren all die großen Operngesten, die zum Himmel oder die große Geste nach unten, natürlich auch die Callas-Geste. Da hinten der Premierenraum, der VIP-Bereich – in dem lebt nur ein Schwein, mit’n paar Blumen im Haar. Wir haben natürlich echte Opernsänger hier, ‚ne brasilianische Folkband, ‚ne Sambagruppe, wir mischen!“

Er erinnert an kuriose Ereignisse aus der Geschichte Brasiliens, die zum Konzept des „Trem Fantasma“ von Sao Paulo gehören: Indios vom Stamme der Caetès essen kannibalistisch den ersten brasilianischen Bischof, Pero Fernandes Sardinha. Und dann der Begriff des Antropofagismo – ein Element der brasilianischen Kultur, abgeleitet von einer indianischen Praxis: Verspeist, verschlungen werden nur die intelligentesten Feinde, die besten Krieger, in der Absicht, deren besten Qualitäten zu absorbieren. Später wird der Begriff metaphorisch in der Kulturszene, in Avantgarde-Gruppen benutzt: Das Beste aus kulturellen Bewegungen Europas verschlingen und verdauen, absorbieren – und mit der brasilianischen Kultur verquicken, verbinden, vermischen. Brasilianerinnen, die Schlingensief bei der Arbeit beobachten, empfinden ihn als auffallend sinnlichen, sensiblen, attraktiven Mann – noch dazu für einen Deutschen, aus einer nordamerikanisch enterotisierten Gesellschaft.
*
„Wagner pelo Filtro da Antropofagia“

22. November 2007
Der deutsche Regisseur Christoph Schlingensief, 47, hat in Lateinamerikas widerspruchsvoller Kulturhauptstadt Sao Paulo mit mehreren Dutzend Mitarbeitern eine riesige Installation namens „Operngeisterbahn“ aufgebaut. Vom kommenden Freitag bis Anfang Dezember kann man in Jahrmarktwägelchen eine akustische und bildhafte Reise durch die Geschichte der Oper absolvieren, echte Sänger und Chöre, aber auch Callas-Filme erleben. Das Projekt ist eine Koproduktion des Goetheinstituts Sao Paulo sowie des Sozial- und Kulturwerks (SESC) der lokalen Handelsbranche.

Unweit der lateinamerikanischen Leitbörse, von Lepra-Slums und einem gigantischen Sektentempel für ekstatische Wunderheilungen und Exorzismus prüft, testet, experimentiert Schliengensief noch kurz vor dem offiziellen Geisterbahnstart. Brasiliens Kulturkritiker halten dessen Idee für hochinteressant, Richard Wagner einmal durch den Filter der „Antropofagia“ zu sehen. „Die Idee, jemanden zu verspeisen, ihn aufzunehmen, ihn zu verschlucken, zu verdauen, ist eine ganz großartige Idee“, sagt Schlingensief im Blog-Interview. „Einerseits freß‘ ich was, andererseits wird das gefressen. Deshalb liebe ich auch Brasilien, diese Idee des Einverleibens. In Deutschland kennt man immer nur ein Präsentieren in veredelter Form – siehe die Oper. Und hier verleibt man sich also durch ‚ne Fahrt im Schnellgang verschiedene Bilder, die eben auch was Gefressenes haben, die fressen also einerseits im Ritual, versuchen sie etwas zu verdauen, Methoden. Das hier, die Operngeisterbahn, ist etwas, was man begehen kann – man kann da drin ne Stunde bleiben, 10 Minuten, ne Minute, gar nicht kommen. Man wird’s schon irgendwie hören. Man muß sich auch mal der Bevölkerung nähern, also man muß das dahin flanschen, wo das Leben ist. Und das Leben transformiert, nicht mein Kopf in den vier Wänden. Diese ständige Metamorphose, dieses ständige Verwandeln, das findet hier in Brasilien statt, das mag ich. Opernkomponist Wagner profitierte davon, nach Manaus in Amazonien gebracht zu werden. Eigentlich habe ich kapiert, bei Wagnerianern darf man das ja gar nicht sagen, daß Wagner in einer gewissen Form von Unpräzision eigentlich erst zu Kraft kommt. Der Fliegende Holländer ist im Präzisionswahn deutscher Opernhäuser, überhaupt der ganzen Welt, zu einem Musical verkommen.“ Dann zitiert er Wagner: „Alles, was besteht, muß untergehen, das ist das ewige Gesetz der Natur… Ich will zerstören von Grund auf die Ordnung der Dinge… Ich will zerstören jeden Wahn, der Gewalt hat über den Menschen!“

Baukrach von allen Seiten

„Es ist ein sehr lautes Unternehmen. Die ganze Geisterbahn plärrt aus zig Hochdrucklautsprechern, es gibt einen Grund-Musiksound – und dann noch mal die große Opernbühne mit dem Finale immer von einzelnen Opern, gar der Liebestod. Ich kann nur staunen, und das ist was ganz Tolles. Ich glaube, in Deutschland habe ich das Staunen verlernt. Ich habe in Deutschland das Gefühl, ich habe alles, kenne ich schon alles. Genau das, worüber ich mich beschwere, habe ich auch schon in der Birne.“

Schlingensief attackiert Zeitgeist- und Kulturverlust-Details, die deutschen Luxusleiden angesichts brasilianischer Zustände, dazu die wachsende Realitätsfremdheit in der heutigen Desinformationsgesellschaft. PR-Lügen werden sehr gut bezahlt. Eine ganze Welt, von Ostdeutschland bis Rio, politisch korrekt verfälscht. Früher mußten, sollten Reporter, Journalisten, Redakteure, Politiker, Sozialwissenschaftler möglichst nahe ran an die Realität – heute beurteilt, analysiert man Phänomen-Länder wie Brasilien sicherheitshalber lieber aus der Ferne, aus sicherer deutscher Distanz, gemäß politisch korrekter Vorschrift und wohltrainierten Verdrängungstechniken. Ja nicht ganz nahe heran gehen, bitte keine drastisch-dramatischen Eigenerfahrungen! Früher reisten junge Deutsche noch intensiv, heute steigen zu viele lieber in Luxusherbergen, Resorts ab, bekommen kaum etwas mit von den Realitäten vor Ort, gebärden sich aber zuhause – beispielsweise – als Brasilien-Experten, rutschen so in Entscheider-Positionen. Schlingensief dürfte seine Brasilienerfahrungen zuhause nur mit sehr wenigen teilen können. „Ich merk das auch bei Mitarbeitern – wenn die ihre Ideen nur aus dem Internet rausholen, ja dann sieht das so aus wie! Das eigene Nicht-Wissen, das eigene Nicht-Glauben veranlaßt manchmal dazu, den anderen zu bedrohen, und vielleicht auch zu töten – weil ich es nicht glauben kann! Man muß eigentlich Sao Paulo in Berlin vertreiben! Städte wie Sao Paulo – das sind Orte, wo etwas geschieht! Das muß man bekanntmachen in Deutschland. Ich lebe hier etwas, das gibt mir Gänsehautzustände! Man kann das hier nicht exportieren, transportieren – aber man kann dort erzählen von Dingen, die noch möglich sind. Für mich ist der kleine Moment der Verunsicherung wichtig, der Moment der Irritation, auch der Schnelligkeit, und manchmal auch der Metaphysik, wo sich etwas verselbständigt, wo ich nicht mehr eingreifen kann, und wo ich plötzlich merke, hier sind Schwebezustände erreicht, was ist da eigentlich los?“

Joachim Bernauer, Kulturdirektor des Goetheinstituts der Megacity, erinnert an Schlingensiefs Inszenierung des „Fliegenden Holländers“ vergangenen April in der Amazonasmetropole Manaus. „Nach dieser Tropenerfahrung in Manaus ist es jetzt natürlich sehr interessant, Sao Paulo einzubeziehen, den Großstadtdschungel sozusagen. Das Goetheinstitut in Südamerika überlegte sich vor’n paar Jahren, wir möchten etwas zu den Tropen machen – zu den Tropen, den Ländern in den Tropen und den deutschen Projektionen auf die Tropen. Deutschland geht mit dem Begriff der Tropen eigentlich täglich um und für die deutsche Kunst, für die deutsche Geistesgeschichte waren die Tropen immer sehr fruchtbar. Aber häufig handelte es sich dabei auch um Mißverständnisse, nicht nur um Verständnisse. Wir haben gesagt, wir wollen das mal untersuchen und einige Projekte anregen, was zwischen Deutschland und den tropischen Ländern heute an Kunst möglich ist. Und welches Verständnis und welche Mißverständnisse da ‚ne Rolle spielen. Das Goetheinstitut hat Schlingensief eingeladen, sich mit Südamerika auseinanderzusetzen – das hat er angenommen – er ist ja ein äußerst kreativer Mensch, der das gleich mit eigenen Ideen gefüllt, weitergedacht hat. Und das war für Christoph Schlingensief ein Assoziationssturm, der losging, vom Geisterschiff in die Geisterbahn.“ Bernauer schätzt, daß der Ansturm groß sein wird – zumal die Eintrittskarten umgerechnet weniger als zwei Euro kosten. Sein Institut investierte 60000 Euro, der starke Partner SESC eine halbe Million Euro.
SESC wollte seit langem unbedingt Schlingensief.

„Gottseidank oder leider – ich kann die Schnauze nicht immer halten. Ich gelte ja in Deutschland als Enfant terrible und Provokateur – kann man nichts machen. Im Notfall fällt dem Redakteur nichts besseres ein – dann ist es das wieder. Der interessante Teil daran ist aber, daß wahrscheinlich die wahre Provokation ist, wenn man versucht, das Leben zu berühren – das ist das, was die meisten nicht mehr aushalten.“
*
„Kotzraum, Erlösung, Walkürenritt und Revolution“

23. November 2007
„Merda, merda“, Scheiße, Scheiße, schreien, rufen unüberhörbar alle Sänger, Schauspieler im Operngeisterbahnprojekt, kurz vor der Premiere. Nervt sie das Projekt, ist das gar Protest? Im Gegenteil – auf diese Weise wünscht man sich fröhlich, wenn’s endlich losgeht, im brasilianischen Theater Glück und Erfolg. Der „Trem Fantasma“ von Sao Paulo ist komplett, startet täglich nachmittags ab fünf, enorme Schlangen an der Kasse. In großen Lettern: Bayreuth für das Volk. Bis nach draußen vor’m Riesenzelt dringt die infernalische bis lyrisch-romantische, irre, doch hochoriginelle Klangmischung – sogar Wagners Walkürenritt, Cavalgada das Valkirias und Mangueira-Karnevalssamba, es geht fast alles. Was ist live, was ist Konserve? Entlang der Geisterbahnstrecke werden gleichzeitig verschiedenste Opern nachgespielt, von Händel bis Mozart, Verdi und Donizetti, mit echten Opernsängern. Schlingensief mischt sogar zwei Opern – Parsifal und den Fliegenden Holländer. Man kann sich die gesamte Szenerie, zu der außerdem eine große Drehbühne, eine Bar und eine Opern-Tanzkneipe gehören, von einer über die gesamte Installation führenden Brücke ansehen. Phasenweise wird die Geisterbahn gestoppt – soll sich jedermann zu Fuß in den Operndschungel stürzen, alles zu Fuß erkunden. So nahe kommt man in keiner Oper an die Sänger heran – kann sich mit ihnen unterhalten, gar mitspielen, mitsingen. Alles genial und brennend interessant.

Schlingensief kommentiert bei einer Blog-Exklusivfahrt im Geisterbahnwägelchen kurz die Szenerie. „Rechts erst mal zwei Musikanten, ältere Herren mit Tuba und Schlagzeug. Jetzt kommen wir in den Erlösungsraum, hier haben wir die Gralsritter“ – die uns ansingen, anschreien, sich schier über uns werfen. „Die Gralsritter treffen jetzt Parsifal und den Fliegenden Holländer. Also Erlösung! Erbarmen, Erbarmen!!! Da, der Ritualort, jetzt wird geheilt, jedenfalls wird’s versucht!“ Ein Grab, ein Kreuz, Auferstehung, viel Blut, das sogar aufs Mikro tropft. Sehr klebrig, muß Sirup sein. „Oh je, jetzt fahren wir zehn Leute um“, reichlich Besucher auf der Strecke. Wand-Schriften. „Hier, no beauty without a wound, keine Schöne ohne Wunde; da kommt eine alte Dame unter die Räder. Jetzt an den Ratten vorbei, rein in den schwarzen Tunnel, raus in die Realität, Oper aufarbeiten.“ Ein Steinzeitmensch attackiert uns wütend, „Morra Maldito, Morra!“ Jetzt schon sterben, so früh? Schnell weg und weiter. „Hier die Sezierabteilung, da wird das Auge rausgeschnitten. Wagners berühmtes Manifest, auf Portugiesisch an schwarze Seitenwände geschrieben. Szenen aus der Zauberflöte, eine Sopranistin auf der Badewanne schmettert die berühmte Arie der Königin der Nacht, daneben Donizettis „Liebeselixier“, dann Händels „Julius Cesar“. Wagnermusik wird lauter und lauter. „Tristan und Isolde, der Liebestod! Und hier die ewig Gequälte, die ewig Leidende, die immer Fertige. Nebenan die Frau, die noch Briefe schreibt, noch Briefe an den Geliebten. Hier die Frau, die schon keinen Geliebten mehr hat, nur noch Kopfschmerzen.“ Dramatik, überall an der Strecke viel Dramatik, Stöhnen, Heulen, Hinwerfen, Ächzen.

Affen und andere wilde Tiere – wir passieren die brasilianische Oper „Il Guarany“ von Carlos Gomes. „Das ist hier alles einfach Fellini – ich glaube, Fellini hat reichlich in Brasilien geklaut!“ Da – ist das nicht dieser deutsche Schauspieler? Er brüllt: „Ja, ich bin Stefan Kolosko aus Berlin, ich arbeite auf Portugiesisch Texte auf, zum Beispiel aus dem Fliegenden Holländer. Quando todos os Mortos, soll heißen, wann kommt er, der Vernichtungsschlag?“

Ach, die Liebe hat bunte Flügel, singt die Sopranistin gleich in vier, fünf Sprachen, jede Arienzeile wird gewechselt.
„Da, die Casa das Fantasmas, das Geisterhaus“, ruft Schlingensief. „Hier riecht es, und jetzt kommen wir zum Kotzraum – und da gleich ist die Revolution!“
Schauspieler skandieren bedrohlich nahe: „Auf die Guillotine, jetzt, sofort!“
Wohin flüchten, bevor sie zupacken?
Von der zweiten Installationshälfte, auf der die Geisterbahn nicht fährt und Amazonas-Schlingensief-Filme laufen, knallen wieder von der großen, zum Aufspringen einladenden Drehbühne Walkürenritt, Opernchöre und Samba herüber. Das Wägelchen prescht in den Ausgangstunnel. „Die Revolution der Antropofagia – also, ab jetzt wird alles selber gemacht! Und Klappe!“
Jede halbe Stunde beunruhigende Sirenenklänge im Megazelt – keine Sorge, Turno Um, die Hälfte der beteiligten Künstler, galoppiert in den Ruheraum zu Expresso und Keksen, Turno Dois ist dran.
In der Tanzkneipe mit den kostümierten Opernleuten sieht einer wie Bob Dylan aus, eine japanische Senhora singt alte Nippon-Schlager, zwei Typen mit E-Gitarre veralbern die stumpfe brasilianische Konsumgesellschaft – banale Weibchen aufreißen im Shopping Center, kommst du mit?

Später in der U-Bahn lachen Leute plötzlich auf, haben das Trem-Fantasma-Programm unterm Arm geklemmt, erinnern sich offenbar an wüste, peitschende Szenen. Auf der Brücke stehen, Schlingensiefs „gesamtkunstwerk“ von oben genießen – aber diese bildhübsche, sinnliche Mulattin, was will sie? Einem Arien vorsingen, was sonst, mitten im Brückengewühl. „Nee, sowas Verrücktes, aber irre Interessantes gab’s hier in Sao Paulo noch nie“, kommentieren Studenten, Elektriker, Klofrauen, Reporter. „Trem Fantasma – Singen, bis der Arzt kommt“, steht im Programmheft. Wäre keine schlechte Idee, Schlingensief einen Rio-Karneval organisieren zu lassen. Dann würde er wieder so lustig und komisch, grell und bizarr wie früher, in den Anos Dourados.
Zum Autor:
Klaus Hart ist seit 1986 Brasilienkorrespondent
für Medien in Deutschland, Österreich und der Schweiz.
*
Quelle:
Klaus Hart, Sao Paulo, Brasilien – November 2007
Mit freundlicher Genehmigung des Autors
Internet: www.klaushart.blogger.com.br
veröffentlicht im Schattenblick zum 28. November 2007

Dieser Beitrag wurde am Dienstag, 12. April 2011 um 02:29 Uhr veröffentlicht und wurde unter der Kategorie Kultur abgelegt. Du kannst die Kommentare zu diesen Eintrag durch den RSS-Feed verfolgen.

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