Zu den sehr speziellen Gründen in Brasilien für durchschnittlich niedrige schulische, studentische und andere Leistungen zählt der für europäische Begriffe auffällig hohe Konsum von Rauschgift, darunter harten Drogen wie Crack, Kokain, LSD etc. Der “Kifferkinder”-Effekt ist seit Jahrzehnten bereits von westdeutschen Schulen bekannt.
Eine Studie in Sao Paulo und Rio ergab, daß 15 Prozent der Uni-Studenten nie im Leben ein einziges Buch lasen. Die Mehrheit habe nicht die Gewohnheit, etwas zu lesen.
“Deutschland und Brasilien sind erfolgreiche Forschernationen.” Universität Münster
In der politisch korrekten Szene der deutschsprachigen Länder ist das Thema strengstes Tabu – in Sektoren, die mit Fakten und Effizienzkrititerien arbeiten, dagegen bekannt und vieldiskutiert:
Laut einer Studie der Headhunter-Consultingfirma Heldrick & Struggles geraten Brasiliens Studenten wegen der schlechten Schulausbildung ins Hintertreffen:”Eine schwache Grundschulbildung führt zu einer armseligen Mittelschulbildung und zu einer nur leidlichen Hochschulbildung.”
Mancher, der brasilianische Abschlußarbeiten, gar Doktorarbeiten durchliest, kommt daher oft aus dem Staunen nicht heraus.
Pedro Herz, jüdischer Besitzer der größten brasilianischen Buchkaufhauskette “Livraria Cultura” bedrückt 2011, daß der größte Teil der Brasilianer wegen des immer schlechteren Schulsystems garnicht verstehe, was er lese. “Die Leute könnten nicht mal einen kleinen Text lesen und wiedergeben, kapieren den Text nicht – und das ist grauenhaft.” Der Kulturverlust, die Medienkrise schreite fort – ob in Brasilien oder im Rest der Welt. “Alle träumen von der erlebten Vergangenheit, weil das Heute reizlos, enttäuschend ist.”
http://www.hart-brasilientexte.de/2011/09/20/brasilien-daten-statistiken-bewertungen-rankings/
Die dunkelhäutige Helena Rossi aus der Megacity Sao Paulo hatte sich das Studium an der Privatuni regelrecht vom Munde abgespart, war schließlich aus der Unterschicht und saß dann im Kurs unter lauter Weißen aus der Mittelklasse. Die lachten sie jedesmal aus, weil sie Examensarbeiten jeder Art, und auch die Diplomarbeit, selber schrieb. Denn die Mittelschichtler machten sich die Mühe nicht, beauftragten die Büros der landesweit operierenden Betrugsindustrie, solche Arbeiten anzufertigen. Und waren sicher daß der jeweilige Professor womöglich den Betrug bemerken, aber nicht aufmucken würde.
Nach dem Abschluß der Privatuni landeten alle weißen Kollegen dank guter Beziehungen in ordentlichen Jobs, nicht selten gar im Staatsdienst, Helena Rossi mußte sich schon dank ihrer Hautfarbe mit einem minderbezahlten Posten begnügen. Und sich damit abfinden, daß weiße Absolventen dieser Art auf der Karriereleiter immer wieder an ihr vorbeizogen. Letztlich fatal für die zehntgrößte Wirtschaftsnation, die von vielen hausgemachten Problemen tief gezeichnet ist.
–“Ethisch-moralische Krise”
Brasilien ist nicht nur das größte Land Lateinamerikas, sondern gemäß neuesten Studien auch das korrupteste – in der Öffentlichkeit, in den Medien wird die tiefe ethisch-moralische Krise alle Tage heftig beklagt. Sie hat indessen auch die Universitäten und Hochschulen heimgesucht. Ein Großteil der Studenten fertigt akademische Arbeiten, sogar Dissertationen, nicht selbst an, sondern kauft sie skrupellos bei einer regelrechten Industrie, der „Industria de Trabalhos Academicos”, die sich auf dieses profitable Produkt spezialisiert hat. Die öffentlichen Universitäten kämpfen gegen die Plage an, die Privatunis drücken gewöhnlich beide Augen zu. Bildungsexperten sehen in gekauften, erschlichenen Abschlüssen eine Gefahr für die Entwicklung der Nation. Unternehmen, Institutionen, die Arbeitskräfte suchen, müssen notgedrungen in aufwendigen, teuren Prüfungsverfahren die Spreu vom Weizen trennen, da man Höchstnoten, scheinbar ausgezeichneten Abschlüssen nicht trauen kann.
Das Problem ist sehr heikel und betrifft sogar Brasiliens größte und angesehenste Bundesuniversität in der Megacity Sao Paulo. Der zuständige Ethikrat lehnt gegenüber dem ausländischen Journalisten dazu Interviews ab. Professor Ruy Braga von der philosophischen Fakultät gibt indessen bereitwillig Auskunft: ”Ein heißes Eisen, ohne Zweifel – und wir haben es in der Tat mit einer regelrechten Industrie zu tun, zu der Profis aller Fachgebiete gehören. Diese Industrie, dieser Markt boomt und ist Teil unserer ökonomischen, politischen und moralischen Krise. Das Problem wird immer explosiver. Die Branche bietet ihre Dienste im Internet an oder hängt sogar Werbeanzeigen direkt in den Universitäten aus. Ich ertappte mal einen Studenten, der Texte als eigene ausgab, die von der Betreuerin meiner Doktorarbeit stammten. Ein Student kann nicht eine exzellente Arbeit vorlegen, wenn er nicht in den entsprechenden Kursen war.”
–“An Privatunis wird am meisten betrogen”
In Brasilien besuchen nur dreißig Prozent der Studenten öffentliche Universitäten und Hochschulen, doch siebzig Prozent studieren an privaten – vor etwa zehn Jahren war das Verhältnis noch genau umgekehrt. Über vier Millionen sind derzeit immatrikuliert. Es dominiert Massenbetrieb.
”Der Anteil der Studenten, die betrügen, sich Arbeiten anfertigen lassen, ist erschreckend hoch – am höchsten an den Privatunis. Dort sind es mit Sicherheit über fünfzig Prozent aller Studierenden. Die Professoren müßten das verhindern. Doch sie sind nachsichtig – und wissen, daß das falsch ist. Doch würden sie eingreifen, den Betrug stoppen, machten sie sich unbeliebt, würden die Studenten deren Entlassung durchsetzen. Die Professoren, Dozenten haben nur Zeitverträge, sind in ein perverses System eingebunden, von der Akzeptanz durch die Studenten abhängig. Die Studenten haben ja bezahlt, wollen rasch ihre Abschlüsse. Und die Privatunis sind nur an Gewinn, nicht an Qualität interessiert. Das Bildungsministerium kommt seiner Kontrollfunktion nicht nach. Alles sehr schlecht für die Qualifikation der brasilianischen Arbeitskräfte, für die akademische Ausbildung. Sie ist ein Gigant auf tönernen Füßen. Dieses System ist nicht in der Lage, das Profil der Arbeitskräfte Brasiliens radikal zu verbessern – wie es nötig wäre. ”
Professor Braga und andere Dozenten der Bundesuniversität bekämpfen den Betrug: Mehr schriftliche Prüfungen, begrenzte, vorgegebene Bibliographien, Verwarnung der Studenten. Werbeanzeigen der Betrugsindustrie werden systematisch entfernt. ”An der philosophischen Fakultät ist das Problem jetzt viel geringer “ wir Lehrkräfte haben inzwischen mehr Erfahrung, sehen eher Indizien. Andererseits haben wir viel mehr Studenten als früher. Das erschwert es, jeden Verdachtsfall minutiös zu prüfen.”
Danilo Frei und Eduardo Moreto studieren an der Bundesuniversität, wissen, wie es läuft: ”Am meisten wird an den Fakultäten für Wirtschaft, Administration und Rechtswissenschaften betrogen. Viel weniger bei den Philosophen, denn die Profs dort merken es einfach. Einmal kam heraus, daß eine Dissertation nichts weiter als die Übersetzung einer Doktorarbeit aus Spanien war. Logisch, daß sich von der Uni-Leitung niemand zu dem Problem äußern will, weil es für die Institution demoralisierend ist. Alles wissens, aber niemand sagt es offen.”
–“Konfessionelle Unis passen auf”
Brasiliens angesehene katholische Universitäten, aber auch andere konfessionelle, zählen zwar zu den Privatunis, arbeiten indessen laut Statut lediglich kostendeckend. Sie setzen auf Qualität und haben deshalb sogar Untersuchungskommissionen gegen studentischen Betrug installiert. An der Katholischen Uni(PUC) von Sao Paulo zählt Professorin Anna Cintra zum Direktorium und wurde notgedrungen zur Detektivin. ”Natürlich fahnde ich auch per Google im Internet, entdecke kopierte Abschnitte, kopierte Arbeiten. Noch unlängst kamen Sonderbusse mit Studenten von Hochschulen des Hinterlandes, die in unserer Bibliothek massenhaft Abschlußarbeiten ausliehen, sofort kopierten und dann unter eigenem Namen einreichten. Wir “ und auch die Bundesuniversität “ geben deshalb solche Arbeiten nicht mehr heraus. Unsere eigenen Studenten begleiten wir intensiv und spüren daher, wenn etwas nicht stimmt. Ich sagte schon einer Studentin auf den Kopf zu: Das hast du nicht geschrieben! Sie gab es zu. Glücklicherweise sind solche Fälle bei uns nicht häufig. Ich bin für strenges Vorgehen gegen solche Studenten, denn solcher Betrug ist gravierend. Es handelt sich um Erwachsene, die wissen, was sie tun. Lassen wir derartiges zu, schaffen wir einen gefährlichen Präzedenzfall in einem so schwierigen Land wie Brasilien. Anzeigen der Betrugsindustrie sah ich hier in der PUC noch nie. ”
Auch Professorin Cintra sieht das Hauptproblem bei den gewinnorientierten Privatuniversitäten, deren Zahl ständig wächst. „Intellektuelles Kapital interessiert die nicht, nur Geld!”Unqualifizierte Absolventen, die sich ihre Abschlüsse kauften, nennt sie gar eine „große Gefahr für die Entwicklung der Nation”.
Das ist im Alltag Brasiliens längst überall zu spüren. Völlig inkompetente, dazu unethische und verantwortunglose Figuren besetzen nur zu oft wichtige Posten, schaden der Effizienz und dem Ruf ihrer Institution, ihres Unternehmens entsprechend, werden indessen, anders als zumeist in Deutschland üblich, nicht entfernt bzw. gemäß ihrer tatsächlichen Qualifikation eingesetzt.
Entsprechende politische Verantwortung für die gesamte Situation sieht PUC- Professorin Cintra bei der jetzigen Regierung. „Die ist ein Horror, eine Tristeza.”
–“Konstruiertes” Curriculum voller Lügen–
Elizabeth Leonetti hatte an der PUC von Sao Paulo studiert, ist heute Universitätsprofessorin und zugleich Personalchefin der brasilianischen Filiale des französischen Kulturkaufhaus-Multis FNAC. Sie bekräftigt im Interview, daß die Firmen sich bei der Mitarbeiterauswahl auf Zeugnisse, Diplome etc. kaum verlassen können. Das Curriculum der Bewerber sei lediglich ein Zusatzaspekt, da es nur zu oft “gekauft, konstruiert” worden sei. Nicht wenige Brasilianer ließen sich ihr Curriculum von einer Firma, einem Consultingbüro verfassen, das auch die ganze Bewerbung zusammenstelle. “Oft entdecken wir im Gespräch, daß die Angaben schlicht gelogen sind. Zeugnisse werden nicht nur gekauft – es gibt auch Professoren, die unfähige Leute durchschleusen. Viele schreiben in die Bewerbung, Hochschulabgänger zu sein, beherrschen aber simpelste Grundkenntnisse nicht. Wir sehen überall klar das Desaster des brasilianischen Bildungswesens, die Mitarbeiterauswahl gerät deshalb zu einem schmerzhaften Marathon.” Bildung bedeute indessen auch die Vermittlung humanistisch-ethischer Werte.
Vor dem Rückflug von der Fußballweltmeisterschaft tauschten sich brasilianische Studenten aus der Mittelschicht auf dem Berliner Flughafen Tegel in der Warteschlange laut darüber aus, wie sie sich in Deutschland mit den verschiedensten Tricks Waren und Dienstleistungen verschafften, ohne dafür zu bezahlen. Die Freude, als naiv und geradezu töricht gutgläubig empfundene Angehörige verschiedenster Berufsgruppen ausgetrickst zu haben, weil in Deutschland viele der in Brasilien üblichen Kontroll-und Überwachungsmechanismen nicht existieren, war allgemein. Einigen wenigen anderen Brasilianern war dieser “Erfahrungsaustausch” über das WM-Gastgeberland sehr peinlich, da sie bemerkten, daß des Portugiesischen kundige Deutsche zuhörten und sich ihren Reim machten.
Gemäß der FNAC-Personaldirektorin ist Brasiliens größtes Problem die Ethik.
“Von ethischem Verhalten hängt so viel ab – existiert keine Ehrlichkeit, geht gar nichts mehr. Wenn es in diesem Land eines Tages ehrlich zugeht, wenn man den Leuten die Wahrheit sagt, wenn es Transparenz gibt, lösen wir verschiedene Probleme, darunter das der Bildung.”