Klaus Hart Brasilientexte

Aktuelle Berichte aus Brasilien – Politik, Kultur und Naturschutz

Ukraine 2014: ZDF-Moderator Claus Cleber wird von Frank Schirrmacher, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Journalist alter Schule, auf bemerkenswerte Weise wegen des kuriosen Interviews mit Siemens-Chef Joe Kaeser kritisiert: „Inquisition, Selbstinszenierung, Vaterlandsverratsrhetorik, journalistisches Übermenschentum.“ Schwenkt die FAZ um, wegen der (Auflagen-) Gefahren des enormen Glaubwürdigkeitsverlusts durch bisherige Ukraine-Berichterstattung?

Freitag, 28. März 2014 von Klaus Hart

http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/echtzeitjournalismus-dr-seltsam-ist-heute-online-12867571.html?printPagedArticle=true#pageIndex_2

Als am Mittwochabend der deutsche Fernsehmoderator Claus Kleber über den Siemens-Vorstandsvorsitzenden Joe Kaeser wie ein Strafgericht hereinbrach, erlebte der Zuschauer eine Sternstunde der Selbstinszenierung des Journalismus. Unerbittlich nahm Kleber den Mann in die Zange: Kaeser war, lange geplant, nach Moskau gefahren („Was haben Sie sich bei Ihrem Freundschaftsbesuch gedacht?“), er hat nicht nur Putin besucht („Wie lange mussten Sie warten?“), sondern auch den mit Einreiseverbot belegten Eisenbahnchef („Und Sie haben mit dem geredet!“) – und das alles, so Kleber, „als Repräsentant eines Unternehmens, das auch für Deutschland steht“. Nicht viel, und wir hätten in einer der nächsten „heute-journal“-Sendungen den armen Herrn Kaeser in einer Datscha neben Edward Snowden gesehen.

Diese Inquisition, die auch in ihrem nur dem Remmidemmi verpflichteten Desinteresse daran, was Kaeser von Putin denn gehört haben könnte, alles in den Schatten stellt, was man an Vaterlandsverratsrhetorik aus dem wirklichen Kalten Krieg kannte, ist überhaupt nur als Symptom journalistischen Übermenschentums diskutierbar und wird dadurch allerdings auch über den peinlichen Anlass hinaus interessant. Beharren auf einer normativen Deutung dessen, was die westlichen Sanktionen angeblich bedeuten, verwandelt Journalismus in Politik und das Fernsehstudio in einen Ort, wo der Interviewer plötzlich außenpolitische Bulletins abgibt: Claus Kleber zeigt der deutschen Wirtschaft die rote Linie auf.

Wäre ja eine denkbare Frage gewesen

Die Deutschen sollten nicht erfahren, was Joe Kaeser in Moskau tat, sondern, wie Claus Kleber darüber denkt – ein Ereignis immerhin, von dem selbst die Bundesregierung noch lernen könnte, die am selben Tag mitteilte, dass die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Russland weitergehen müsse. Russland fühlt sich gedemütigt? (Wäre ja eine denkbare Frage gewesen.) Sei’s drum. Putin lässt dafür den Verräter-Chef eines Unternehmens, „das Deutschland ist“, im Vorzimmer warten, und der lässt sich das auch noch gefallen!

 

Das ist nicht nur komisch, sondern auch bedrohlich. Journalismus, der, zwingend angesichts des Settings dieses Interviews, nicht wenigstens die Rolle erwähnt, die beispielsweise der Ost-Ausschuss der Deutschen Wirtschaft noch in den Eiszeiten der Weltmächte spielen konnte, unterschlägt nicht etwa nur eine historische Information – er unterschlägt eine Information, die sich in die Köpfe aller heute handelnden Personen eingegraben hat und die zur Bewertung ihres Handelns notwendig ist.

Es nutzt gar nichts, Klebers High Noon inhaltlich zu debattieren. Der Nachrichtenwert ist gleich null, der formale Wert ungleich höher. Denn Kleber, der, da Putin selbst nicht zur Verfügung stand, einer staunenden Welt demonstrieren wollte, wie Joe Kaeser sich unter Druck verhält, ist selbst nur ein Symptom. Die formalen Kriterien dieser fünf Minuten „heute journal“ sind mittlerweile eins zu eins übertragbar auf einen aktuellen Echtzeit-Eskalationsjournalismus, der Lebenssendezeit füllen und Storys erzählen muss.

Das Herz schlägt im Kriegs- und Erregungsmodus

Es stimmt: Nichts in der europäischen Presse und ihren Öffentlichkeiten klingt nach der herzrasenden, fiebrigen, hurra-patriotischen Prosa der Welt von gestern. Es gibt heute keine Journalisten, die, um Karl Kraus zu zitieren, ihre „Feder in Blut tauchen und ihre Schwerter in Tinte“. Stattdessen entsteht eine permanente Echtzeit-Erzählung, in der das Herz gleichsam unablässig im Kriegs- und Erregungsmodus schlägt. Formal ist nicht zu unterscheiden, ob es um Uli Hoeneß, den Konflikt auf der Krim oder den heroischen Verteidigungskampf von Ritter Sport gegen die Sanktionen der Stiftung Warentest geht.

Es sei egal, so hatte Karl Kraus als Erster ein Kennzeichen der Massenmedien definiert, ob man eine Operette oder einen Krieg lanciert. Gemeint war: Die dramaturgischen, auf Kunden oder Klicks zielenden Strukturen von Konflikt, Eskalation, Krise und Katastrophe, mit denen man über die Welt redet, verändern die Welt beim Reden. Die Erzählung vom Kalten Krieg samt Atomwaffen-Angst und biblischer Apokalypse ist das schlechthin unüberbietbare Narrativ – Spannung pur, in der sich der sprachlose Siemens-Chef plötzlich in der Rolle des Spions wiederfindet, der aus der Kälte kam.

… Als die Russen zu Beginn der Ukraine-Krise eine atomare Langstreckenrakete testeten, berichteten darüber innerhalb von Minuten viele deutsche Online-Nachrichten im Sinne der Eskalation.

Die Amerikaner hielten sich zurück. Sie wussten, dass es solche Tests auch in Amerika gegeben hatte und die formalen Prozeduren der Anmeldung und Genehmigung bedurften. Wenig später meldete ABC, dass der Test lange vor Ausbruch der Krise angemeldet worden war. Weil der Routinevorgang zur Aufregung nicht passte, blieb nach eiliger Korrektur zurück, dass die Russen mit dem Test die Welt „irritierten“. Irritiert waren aber nur die Drehbuchautoren… FAZ

http://www.hart-brasilientexte.de/2014/03/28/die-wahrhaften-putin-versteher-telepolis-uber-die-klassische-manipulationsmethode-der-personalisierung-von-politik-in-den-deutschsprachigen-medien-entwickelte-sich-die-krim-krise-zur-one-man-s/

 http://www.hart-brasilientexte.de/2014/03/27/ukraine-kommentare-im-internet-meinungsschlacht-um-die-krim-nach-der-suddeutschen-zeitung-blamiert-sich-nun-auch-das-fruhere-qualitatsblatt-frankfurter-allgemeine-zeitung-mit-einer-analy/

“Der Ruf nach objektivem Journalismus” – Mediensteuerung, Medienzensur in Deutschland:  http://www.hart-brasilientexte.de/2014/03/26/berichterstattung-uber-die-krim-krise-suddeutsche-zeitung-halbgar-thema-verfehlt-heikle-punkte-wie-zensur-geheimdienst-und-regierungs-einflus-garnicht-erwahnt/

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“Des Brot ich esse, des Lied ich singe.” Wandbehang in öffentlichem historischen Gebäude einer idyllischen deutschen Stadt.

 http://www.hart-brasilientexte.de/2014/03/28/protests-resurge-in-kiev-over-radical-leader%E2%80%99s-killing-austerity-weiter-keine-reaktion-von-merkel-und-gauck-zu-timoschenko/

Wie FAZ-Leser auf Schirrmacher reagieren:

28.03.2014 13:18 Uhr

Wichtig und wahr – aber nicht die ganze Wahrheit Herr Schirrmacher!

Danke, für diesen wichtigen Artikel!

Ergänzend MUSS man aber sagen, dass es nicht allein die Reaktionszeit ist, die uns hier in der Fratze der Propaganda und Realitätsverzerrung begegnet, wie sie im heute-journal täglich in Erscheinung tritt.

Vielmehr ist es eine insbesondere bei ARD und ZDF evidente antirussische Voreingenommenheit, die sich selbst perpetuiert, steigert und in Hetze ausartet, wenn zB Lawrow und Putin in einer Grafik in den tagesthemen als Hunde diffamiert werden.

Putin (als Fotomontage) auf dem Panzer, Putin als Hund, Putin als Homohasser, Putin als Kriegstreiber. Ohne jeden Anlass wurde suggeriert, Russland würde das Baltikum, Polen oder gar Ost-Deutschland bedrohen.

All das hat nichts mit fiebrigem Echtzeitjournalismus zu tun, sondern mit gezielter Kriegspropaganda, dem Aufbau eines Feindbildes und der Verächtlichmachung des aufgebauten Feindbildes.

ARD und ZDF sind längst so verkommen, wie sie selbst es russischen Staatsmedien unterstellen.

28.03.2014 12:34 Uhr

Danke!

Danke Herr Schirrmacher. Man möchte fast in Tränen der Erleichterung ausbrechen, angesichts dieser Präzision, mit der sie die Zustände sogar vor ihrer eigenen Haustür freilegen. Es tut so gut, wieder einen richtigen Artikel zu lesen, mit echter Sprache, mit klaren Formulierungen, sachlich, nüchtern. Bitte Herr Schirrmacher, gehen sie jeden Tag in die Redaktion. Jeden Tag! Man kann nur abschließend sagen: Endlich ist jemand zur Arbeit erschienen. Aber es ist doch schon merkwürdig, wenn der Herausgeber der Zeitung sprachlich und thematisch weitaus souveräner daherkommt, als all seinen Angestellten. Vielleicht sollte man da mal bei der Einstellungspolitik etwas verändern.

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