Monsenhor Lopes beim Website-Interview 2012.
Laut Monsenhor Lopes dauert der Terror der Banditenkommandos gegen die Favelabewohner weiter an.
Die Slums von Rio de Janeiro vor Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen
In der Millionenstadt Rio de Janeiro hat ein weiteres Blutbad, bei dem mindestens acht junge Menschen ermordet wurden, jüngste Analysen der Kirche über gravierende Menschenrechtsverletzungen in den über eintausend Elends-und Armenvierteln bestätigt. Die Slum-Seelsorge wirft den Regierenden Brasiliens vor, viele Milliarden für die Vorbereitung von Fußball-WM und Olympischen Sommerspielen auszugeben, statt für die Lösung dringlichster sozialer Probleme.
„Die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slums bedeutet, daß die Bewohner wie in einem System der Sklaverei, der Versklavung leben. Daß der Staat diese Menschen allein läßt, kostet soviele Menschenleben“, sagt Priester Luis Antonio Lopes, der die Slum-Seelsorge der Erzdiözese von Rio leitet und zudem Gemeindepfarrer in einer Peripherie-Region ist. „Das organisierte Verbrechen herrscht ungehindert dort, wo es keine sogenannten Befriedungseinheiten der Polizei gibt, also in den allermeisten Favelas. Und selbst in einigen Slums, wo der Staat angesichts der herannahenden Sportevents solche Befriedungseinheiten stationierte, geschehen weiter Morde.“
Anfang September 2012 verübte ein Banditenkommando just im Seelsorgebereich von Padre Lopes ein Blutbad an mindestens acht jungen Menschen, deren Leichen mit grauenhaften Folterspuren an der Stadtautobahn gefunden wurden. Entsprechend empört ist die brasilianische Öffentlichkeit, zumal die meisten dieser Blutbäder den Medien garnicht bekannt werden. Denn in die Parallelstaaten der Slums, wie es Soziologen nennen, wagt sich kaum jemand hinein, der dort nicht gezwungenermaßen hausen muß. Padre Lopes von der Slum-Seelsorge macht folgende Rechnung auf:
“Alle mehr als eintausend Favelas von Rio de Janeiro haben gravierende Gewaltprobleme – der Staat müßte dort etwa 200000 Sicherheitsbeamte stationieren – tut es aber nicht. Wie die Investitionen für Fußball-WM und Olympische Sommerspiele in Rio zeigen, sind Mittel durchaus vorhanden – aber eben nicht für soziale Zwecke, nicht für menschenwürdige Behausungen. Wie kann man angesichts so vieler drängender Probleme soviel Geld für Sportevents ausgeben, die nur ganz kurze Zeit dauern!“
Ein mehrstündiger Gang durch Slums an der Seite eines Priesters, der von den Banditenkommandos die nötige Zutrittserlaubnis hat, führt zu den Brennpunkten der barbarischen, bedrückenden Situation. Zu den Verhaltensregeln zählt: Nicht fotografieren, keine Mikrophonaufnahmen, weil sonst sofortige Ermordung drohte. So tun, als ob man die überall lauernden bewaffneten Banditen garnicht bemerkt und fast durchweg ein angeregtes Gespräch mit dem Priester über Religiöses führt. Elendskaten, Müll und Gestank, Unmengen von geraubten und zu Schrott gefahrenen Autos, sadistischer Gangsta-Rap in Hardrock-Lautstärke rund um die Uhr.
Eine Mitarbeiterin des Priesters berichtet über zahlreiche willkürliche Morde und Folterungen, teils direkt vor ihrer Katentür. Wer sich von den Slumbewohnern weigert, Raubgut oder Drogen zu transportieren, wird sofort erschossen – wer des Kontakts mit der Polizei verdächtigt wird, ebenfalls. Indessen – oft innerhalb von nur Monaten sind die Killer ebenfalls tot – kamen beispielsweise bei Schießereien zwischen rivalisierenden Banditenkommandos um. Und schon werden andere die neuen Slum-Herrscher. Für Padre Lopes von der Slum-Seelsorge handelt es sich bei jenen jungen Gangstern um Brasilianer, denen Staat und Gesellschaft keinerlei Chance gaben, sich zu bilden und zu entwickeln. Laut neuesten Studien ist beispielsweise der Handel mit harten Billig-Drogen wie Crack und Kokain landesweit der einfachste Weg für junge Menschen, um an Geld für schicke Markenklamotten und andere attraktive Dinge zu kommen.
“Wir haben jetzt bei der UNO und bei Amnesty International Anzeige erstattet, weil wegen der Fußball-WM gleich drei Stadtautobahnen durch Favelas gezogen werden, Zehntausende von Slumbewohnern ihre Behausung verlieren.“
Brasiliens Menschenrechtsministerin Maria do Rosario räumte wegen des neuesten Blutbads von Rio ein, daß bei den Heranwachsenden des Landes Gewalt die Haupt-Todesursache sei. Die katholische Kirche hatte deshalb bereits vor Jahren eine „Kampagne gegen Gewalt und gegen die Ausrottung von Jugendlichen“ gestartet. Priester Geraldo Nascimento zählt zu den Wortführern, den Organisatoren.
“Wir wollen, daß die ganze Welt sieht, was hier vor sich geht. Der brasilianische Polizeiapparat dient nicht dem Verteidigen der Bevölkerung – alle Arten von Verbrechen existieren weiter, weil die Polizei verwickelt ist.“
Derartige neofeudale Machtstrukturen existieren in den Slums von Rio seit Jahrzehnten – der dokumentarische Spielfilm „Tropa de Elite 2″ zeigt auch, wie politisch einflußreich das organisierte Verbrechen ist.
Die Situation u.a. in den Rio-Slums 2012 zeigt anschaulich, daß von ernsthafter Bekämpfung der Drogenmafia keine Rede sein kann – zumal die Wachstumsbranche Crack weiter stark im Aufwind ist. Daher wird viel offizielle Propaganda über Drogenbekämpfung nach Europa durchgeschaltet.
Weil die Herrschaft des organisierten Verbrechens über die Slumbewohner von den zuständigen Autoritäten zugelassen wird, stößt auch die Seelsorge der katholische Kirche, deren Sozial-und Politisierungsarbeit auf immense, für durchschnittlich über Brasilien informierte Mitteleuropäer schwerlich vorstellbare Schwierigkeiten.
Die Kirche – von den Gemeindemitgliedern in gemeinsamer Arbeit errichtet.
http://www.ila-web.de/brasilientexte/slumdiktatur.htm
Geistliche, kirchliche Menschenrechtsaktivisten wirken in den Favelas in permanenter Lebensgefahr, erleben tagtäglich bizarre, empörende Situationen. Das in mitteleuropäischen Ländern wie Deutschland u.a. vom neoliberalen Mainstream gezeichnete Bild der katholischen Kirche ist angesichts ihrer Menschenrechtsarbeit daher entsprechend.
http://www.matrizsantarosadelima.com.br/
Lage in Sao Paulo: http://www.hart-brasilientexte.de/2011/11/27/zdf-adveniat-gottesdienst-in-favela-cachoeirinha-von-sao-paulo-2011-brasiliens-kontraste-fotoserie/
Tags: Luis Antonio Pereira Silva, Menschenrechte, Rio de Janeiro, Slum-Pastoral
”Die Slumbewohner wurden ihrer Basis-Menschenrechte beraubt – die tatsächlichen Opferzahlen werden verschleiert. In den letzten zehn Jahren hat sich die Zahl der Slums in Rio verdoppelt, liegt jetzt offiziell bei 1043. Ein Drittel der Rio-Bewohner haust in Favelas. Die jüngsten Ereignisse haben das Desaster der Sicherheits-und Menschenrechtspolitik offenbart.